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******** 033. Tag: Mittwoch 95-09-20 ********

33.1 Der Steinhaufen

Die Arbeit geht weiter. Ich mache einen kurzen Ausflug zum Wald oben hinter den Klippen, um mich zu stärken. Danach werden weiter Steine getragen. Auch als ungefähr um 2 Uhr die Schlafperiode vorbeigehen muß, taucht niemand auf, um mich zu suchen oder mich zu holen. Es weiß ja niemand, wo ich genau bin, dafür weiß Osont schon um so genauer, daß ich wieder auftauchen muß, wenn ich jemals von Casabones herunter will.

Stunde um Stunde trage ich Steine, mit immer größeren Pausen dazwischen. Um Oom's Uferstück nicht unnötig zu verkleinern, hole ich viele Steine aus dem knie- bis hüfttiefen Wasser vor der Wasserlinie. Das hat auch den Vorteil häufigeren Abkühlens.

Der Steinhaufen darf nicht zu steil werden. Immer wieder erliegt man der Versuchung, mit möglichst wenig Material möglichst hoch zu bauen. Dann aber kann es einem passieren, daß plötzlich eine ganze Menge von Steinen ins Rutschen und Poltern kommen, und wenn man dann nicht flink genug beiseite springt, dann kann man sich dabei schon schwer verletzen - dazu sind die einzelnen Brocken schwer genug. An dem Felsenstrand von Lanzarote ist mir das beinahe passiert. Ich möchte nicht, daß es hier passiert und ich aus einem solch trivialen Grund verletzt auf Casabones zurückbleiben muß.

Ich habe zwar schon damals auf Lanzarote gemerkt, daß man auch aus unregelmäßig geformten Steinen steil und hoch bauen kann, wenn man nur ein einfaches Konstruktionsprinzip anwendet: In alle Lücken zwischen den Steinen verkeilt man passende kleinere Steine. In die neu entstandenen Lücken verkeilt man wiederum noch kleinere Steine und so weiter, solange man die Geduld dazu hat. Es ist sehr zeitraubend, aber da in einer solcherart hochgezogenen Mauer jeder Stein, der sich bewegt, zahllose andere Steine mitbewegen muß und die wiederum noch andere Steine bewegen, auch wenn es kleine sind, ist der mechanische Widerstand gegen ein Verrutschen von Steinen sehr hoch. Ganz senkrechte Mauern auf diese Weise hochzuziehen erfordert aber immer noch viel Konzentration.

Aber ich will keinen steilen Steinhaufen. Es soll ja für lange Zeit halten, und er soll auch unauffällig aussehen, was nicht der Fall wäre, wenn man die Hänge des Haufens unnatürlich steil werden ließe.

Immer wieder denke ich, daß der Steinhaufen hoch und massiv genug ist. Aber dies hier ist das letzte, was ich für - und mit - Charmion tun kann. Danach ist sie weg, ganz endgültig. Diese letzte Form des Beisammenseins soll noch andauern. Bis ich nicht mehr kann. Ich habe doch alle Zeit der Welt. Diese Meuterer werden in meiner Abwesenheit so schnell ihre Gleitschirme nicht fertig kriegen.

Außerdem ist das Auflegen und das gelegentliche Abrutschen von schweren Steinen in weitem Umkreis zu hören. Vielleicht dringt das Geräusch nicht über die Klippenkante über mir hinaus - die Schallwellen müßten zu sehr gebeugt werden. Aber gesetzt den Fall, daß doch irgendjemand einmal oben über die Klippenkante nachschaut und mich hier bei der Arbeit sieht, möchte ich doch, daß der Steinhaufen so massiv ist, daß auch jemand mit leichenfledderischer kannibalistischer Absicht es nicht der Mühe wert hält, diesen Haufen wieder abzutragen. Es ist einfach eine Sache, das Kosten-Nutzen Gleichgewicht auf einer möglichen Gegenseite abzuschätzen. Ich glaube, ich bin auf der sicheren Seite: Es gibt andere Nahrungsmittel, und daß Charmion's Leichnam in einem auch für Menschenfresser unappetitlichem Zustand ist, sollten alle wissen, und dann noch die Mühe des Abtragens des Steinhaufens. Dazu die doch hohe Wahrscheinlichkeit, daß hier niemand auftaucht. Nein - ihre Ruhe wird durch niemanden gestört werden.

Ich nehme mir vor, mich später noch häufiger ungesehen hierherzuschleichen. Wenn sich etwas am Steinhaufen verändert, dann kann ich ja weitere Steine auflegen.

Immer wieder geht mir die Frage durch den Kopf, warum sie sich nicht gewehrt hat. Warum ich selbst sowenig getan habe ist mir ja, unter schonungsloser Betrachtung meiner eigenen Person, klar. Aber Charmion war für mich eine Art Heldin. Dafür hat sie sich zu wehrlos gefangennehmen lassen.

Natürlich hat man als geplagter Ehemann schon im Laufe der Jahre einen gewissen Einblick in die weibliche Seele nehmen müssen. Gerade bei der Irene ist da viel Anschauungsmaterial für den psychiatrisch geschulten Beobachter. Wenn die Irene ihre Depressionen bekommt, dann ist die ganze Welt bei ihr nichts mehr wert, und in allererster Linie gehöre ich zu dieser wertlosen Welt. Dann schließt sie sich in ihr Zimmer ein und schläft oder sieht fern und grollt allgemein und mir speziell. Das Interessante ist dann, daß dieselben Dinge, die sie bei ausgeglichenem Bewußtseinszustand neutral oder positiv bewertet, dann argumentativ als schlimmste Vergehen oder Charakterschwächen gedeutet werden können.

Diese Perioden des krankenden Ehefriedens haben große Abstände voneinander. Innerhalb des ersten Monats, wo Irene und ich uns kennengelernt hatten, da ist so etwas noch nicht vorgekommen. Wenn Charmion ähnliche Charakterzüge hatte, dann könnte es durchaus sein, daß sie gerade in so einem seelischen Tief war, das erste Mal in dem Zeitraum, in dem wir uns schon kannten. Vielleicht ist das ausgelöst worden durch ihre glanzvolle und vielversprechende Flucht aus dem brennenden Fort, die ich so genial durch meine Dummheit vereitelt habe. In dem Moment muß es ihr vorgekommen sein, als stände die ganze Welt gegen sie. Das ist schon Grund genug für eine depressive Phase, auf für einen ausgeglichenen Menschen.

Andererseits weiß ich auch, am Beispiel von Irene, daß solche depressiven Phasen sich unter Einfluß drängender Probleme gelegentlich völlig verflüchtigen, manchmal schon in kurzer Zeit. Und welch drängenderes Problem gibt es als eine drohende Kreuzigung?

Charmion, ich verstehe dich immer noch nicht. So wie du auf dem Saurierfänger warst, hättest du dich doch von ein paar umstehenden Leuten mit gezogenen Schwertern nicht beeindrucken lassen! Warum hast du dich nicht gewehrt?

Oder hattest du eine Verletzung, von der ich nichts wußte? Schließlich hatten wir auf dem Hinaufweg auf Casabones einige gefährliche Situationen. Und bei der Flucht aus dem brennenden Fort kann sie sich auch etwas geholt haben, was nicht auf dem ersten Blick zu sehen war. Irgendwo eine gerissene Sehne zum Beispiel kann aus einer geübten Kämpferin einen Fast-Krüppel machen, gerade so, daß es im normalen Alltag nicht auffällt, aber etwa der virtuose Schwertkampf nicht mehr möglich ist, oder der schnelle Sprint. Charmion hätte mir diesen Zustand nicht unbedingt verraten.

Ich werde es nicht mehr erfahren, nichts von alledem. In unserer zivilisierten Gesellschaft da oben hätte man noch eine Autopsie vorgenommen, und vielleicht hätte man sogar noch etwas mehr herausgefunden. Aber auch eine Autopsie, das chiurgische Eindringen eines Messers in einen menschlichen Körper ist ein unerhörter Eingriff in die allerheiligste Privatsphäre, die ein Mensch hat. Wenn es nicht zum Heilen geschieht, oder um ein schweres Verbrechen aufzuklären, dann ist das eine sanktionierte Leichenschändung. Das wenigstens muß Charmion nicht über sich ergehen lassen.

12 Uhr. Ich bin restlos zerschlagen. Stellenweise ist der Steinhaufen höher als meine Körpergröße. Das ist viel mehr als ich es damals auf Lanzarote erreicht hatte. Selbst, wenn hier täglich Leute unwissend über diesen Steinhaufen rübertrampeln würden, würden sie ihn in Jahrzehnten nicht völlig abtragen. Ich bin da ein Fachmann im Abtragen von Steinhaufen, weil ich gelegentlich zu Hause, auf meinen langen Waldläufen, Bahnlinien überqueren muß. Dabei tritt man immer Schotter beiseite. Es stellt sich aber heraus, daß nur die ersten Tritte deutliche Spuren hinterlassen. Spätere Tritte drücken Schotter wieder zurück in die Löcher der früheren Tritte. Die Abtragungsrate sinkt schnell. Je flacher ein Steinhaufen ist, desto deutlicher ist dieser Effekt. - Jedenfalls ist es mir noch nicht gelungen, die Schienen unserer Münchner S-Bahn zu lockern oder sie gar zum Entgleisen zu bringen, bloß, indem ich gelegentlich, aber über Jahre hinweg, über den Bahndamm laufe.

Ich lege mich am Fuße des Steinhaufens auf den harten und unebenen Steinen zum Schlafen. Wegen der ungewohnten harten körperlichen Arbeit kommt der Schlaf schnell und dauert lange. Und er bringt mir keine Träume. So, wie auch Charmion jetzt keine Träume mehr hat.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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