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******** 032. Tag: Dienstag 95-09-19 ********
32.1 Charmion's Tod
Bis vielleicht drei Stunden nach Ende der Schlafperiode, also bis 2 Uhr, sitze ich in einer merkwürdigen Mischung von Dämmerzustand, Halbschlaf und Halbwachheit am Kreuz. Dann taucht ein Mann auf, der geradewegs auf mich zukommt. Osont hat ihn geschickt. Ich werde irgendwo gebraucht, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als mit ihm mitzugehen.
Aber selbst, als wir schon längst nicht mehr in akustischer Reichweite des Dorfplatzes sind, glaube ich immer noch, Charmion's Zwangsatmen zu hören.
Die Hauptaktivitäten laufen zwischen den Sumpfteichen und dem Steinbruch ab. Osont treibt die Leute unerbittlich an. Ich weiß nicht, ob jemand sogar während der Schlafperiode hat arbeiten müssen, aber ein bißchen ist auf dem Wege zur Fallschirmherstellung geschafft worden: Es gibt die erste Steinmühle, und es gibt die erste Holztrommelmaschine zur Faserstreckung. Beide können nur mit großem Kraftaufwand bewegt werden. Sogar ein Flachbecken für die Papierherstellung gibt es schon. Allerdings sieht man mit bloßem Auge, daß es nicht dicht ist. Sie werden es schon merken, wenn sie es füllen.
Vielleicht hat Osont die letzten verfügbaren Reste eines Fach-Know-How unter den Meuterern aufgespürt, und, genauso wichtig, er selbst will ja auch von Casabones weg. Er ist motiviert, und er hat, wenn vielleicht auch durch zweifelhafte Methoden, einen Teil dieser Motivation den anderen vermittelt.
Niemand redet über Och. Als ob er nie existiert hätte. Als ob es eine stillschweigende Übereinkunft gäbe, ihn nicht zu erwähnen. Ich habe den Eindruck, daß sehr viele der Meuterer inzwischen ganz genau wissen, was mit Och passiert ist, aber daß niemand von sich aus mich darüber aufzuklären wagt.
Letzten Endes ist es auch egal. Ich bin nicht in der Welt der Granitbeißer, um faire politische Methoden einzuführen. Ich will nach Hause. Auch wenn Osont ein Schwein ist - er ist im Moment notwendig. Irgendwann bringe ich ihn um - wenn wir von Casabones herunter sind. Dann bringe ich ihn um. Für Charmion.
Sie haben mich geholt, um mich über alle möglichen Dinge zu befragen, technische Kleinigkeiten, die ich auch nicht besser weiß oder auf die sie schon von selbst gekommen sind. Daß man eine Achse schmieren muß, wissen sie, und damit ist mein Latein auch am Ende. Ich glaube kaum, daß man erfolgreich aus Holz Kugellager herstellen kann. Für die Herstellung von rotationssymmetrischen Gegenständen arbeiten sie immer noch mit Messern. Da versuche ich, ihnen klarzumachen, was eine Drehbank oder eine Drechselmaschine ist. Die müßte aber auch erst gebaut werden, und ich habe keinen Überblick, ob sich das lohnt, weil niemand weiß, wieviel Gegenstände dieser Art noch gedrechselt werden müssen.
Die geernteten Schneidgras-Vorräte sind noch in keiner Weise weiterverarbeitet worden. Ich habe keine Ahnung, ob es dadurch besser oder schlechter wird. Aber an den Spuren auf den Holzeinschlagsplätzen sieht man, daß da schon sehr viel gearbeitet wurde. Na klar: Ich erinnere mich an den Rammbock, der beim Fort verwendet wurde.
Ob Holzfasern auch gut für reißfestes Papier sind, werde ich gefragt. Wie soll ich das wissen? Wüßte ich es, dann würde sich dieses Wissen auch nur auf die oberirdischen Holzarten beziehen und wäre hier nutzlos. Ich habe mal etwas von mineralisiertem Papier gehört, aber ich glaube, das macht Papier nur weiß und glatt und schwer, aber nicht unbedingt reißfester. Aber sicher bin ich auch nicht.
Ein paar handwerkliche Fertigkeiten kann ich korrigieren: Die Vorstellungen, wie man eine Säge hält, sind teilweise abenteuerlich, auch wenn es sich um umfunktionierte Schwerter handelt. Eine Raspel oder eine Feile, um Holzoberflächen zu glätten, gibt es nicht, und ich weiß auch nicht, wie man so etwas mit vertretbarem Aufwand aus anderen Metallwerkzeugen herstellen könnte. Es weiß auch nicht jeder, der mit einer Säge hantiert, daß man gut daran tut, die Zähne ab und zu zu schleifen. Daß man experimentieren muß, um den besten Winkel zu finden, in dem man eine Feile über die Sägezähne führen muß.
Osont redet nur über technische Dinge. Die Kreuzigung und Charmion bleiben unerwähnt, Och bleibt unerwähnt, die Rebellengruppen in den Wäldern bleiben unerwähnt. Da zu den Essenszeiten Fleisch verteilt wird, nehme ich fast an, daß die Abtründigen mit mehr oder weniger Erfolg gejagt werden.
Die ersten Arbeitsgruppen werden eingeteilt, die Schneidgras über Steine ziehen müssen, um es in die Längsfasern zu zerlegen. Auch da herrscht mehr ausprobieren als Sachkenntnis. Immerhin - es wird experimentiert. Der Grad der Aktivierung der Meuterer ist größer als er es noch zu Och's Zeiten war. Wahrscheinlich ist es unangenehmer, bei Osont in Ungnade zu fallen.
Osont geht auch immer mit einer Leibgarde von drei bis vier Mann herum. Diese haben offenbar nichts weiter zu tun als ihm permanent zur Verfügung zu stehen. Natürlich sind sie bewaffnet. Noch ein paar Chefscharfrichter - scheint eine häufige Kurzkarriere in Osont's Nähe zu sein. Sie sprechen mit niemandem. Niemand spricht mit ihnen.
Dann gehen wir - ich, Osont und seine Leibwache - wieder zu den Holzeinschlagsplätzen, obwohl wir dort heute schon waren. Aber diesmal geht es nicht darum, daß Osont mir noch eine Arbeitsstation zeigt - er selbst will sich mit mir über Fallschirme und Fluggeräte unterhalten, ohne daß allzuviele andere Leute in Hörweite sind. Ich begreife: Ich habe diese Dinge bis jetzt ja in persönlichem Gespräch nur mit anderen erläutert. Och zum Beispiel. Osont's Wissen darüber ist also nur aus zweiter Hand.
Aber das kann er natürlich nicht zugeben. Der Allgemeinheit gegenüber nicht, und eigentlich sich selbst und mir gegenüber auch nicht. Andererseits muß er etwas mehr darüber wissen als die Leute, die er beaufsichtigt. Im Moment sind wir noch in einem frühen Stadium, wo wir noch rauskriegen müssen, ob wir überhaupt etwas Fallschirmstoff-Ähnliches produzieren können. Aber irgendwann sollte man als Projektleiter schon etwas über rudimentäre Aerodynamik wissen. Und Osont sieht sich als Projektleiter.
Ich könnte ihn leicht so zusammenbürsteln, daß er nach wenigen Dutzend Minuten nicht einmal mehr den Unterschied zwischen rechts und links kennt. Immer wieder, seit den fernen Tagen auf der Uni, habe ich provokant behauptet, daß ich jeden noch so guten Prüfling dazu bringen könnte, daß er seine Unkenntnis eingesteht, und daß ich jeden noch so schlechten Prüfling durch jede Prüfung hindurchwürgen kann, dazu noch so, daß Beisitzer und Prüfling von der Qualität der Antworten aufrichtig überzeugt sind. Jeder Prüfer kann das. Wenn man ungerecht sein will, dann ist die Prüfungssituation für den Prüfer in dieser Hinsicht ein leichtes Schlachtfeld.
Aber hier will ich Osont ja nicht prüfen. Es ist zweckmäßig, daß Osont sogar selbst von seinen Kenntnissen überzeugt ist, und, da er diese Kenntnisse ja noch nicht hat, muß ich sie ihm beibringen. Ich muß ein verdammt guter Lehrer sein. Denn von Osont kann es wesentlich abhängen, ob unser Projekt gelingt.
Ich muß vergessen, daß er Charmion umbringt, ich muß vergessen, daß Charmion in dieser Sekunde am Kreuze ihr Leben aushustet oder vielleicht schon tot ist. Ich muß daran denken, daß vielleicht genau dies Art von Interview der eigentliche Grund ist, aus dem Osont mich nicht kreuzigen wollte. Genau jetzt bezahle ich eine der Rechnungen für mein Am-Leben-Bleiben.
Hätte ich das doch früher so deutlich gesehen! Dann hätte ich, vielleicht, ihm glaubhaft machen können, daß meine Qualitäten als Lehrer auch von meinem Wohlbefinden abhängen, und mein Wohlbefinden hängt von dem Charmion's ab. Vielleicht hätte sie das vor dem Kreuze gerettet. - Oder vielleicht auch nicht. Ansatzweise habe ich doch so oder so ähnlich argumentiert. Es hat ja nichts genutzt.
Also gehen ich und Osont zwischen den gefällten und teilweise zersägten Bäumen auf und ab und machen Aerodynamik. Ich muß mich konzentrieren, um die Thematik mit der Xonchensprache deutlich genug auszudrücken. Ich muß auf Osont eingehen und seine Mißverständnisse analysieren. Alles habe ich doch hier schon mehrfach gemacht. Es interessiert mich nicht. Aber es muß mich interessieren, wenn ich je wieder nach Hause will.
Seine Leibgarde hat er zurückgeschickt. Wie ich dachte: Niemand soll sehen, daß Osont noch etwas lernen muß.
Der ganze Tag vergeht mit diesen Dialogen. Dabei machen wir noch weitere Planungen. Wenn wir uns für den Gleitschirm entscheiden, dann brauchen wir einen Übungshang, und das könnte zum Beispiel dieser Kahlschlag sein, wenn man ihn völlig freiräumt. Wenn wir jedoch den klassischen Fallschirm herstellen, dann brauchen wir einen Sprungturm am See. Dafür brauchen wir viel Holz. Osont sieht kein Problem, zunächst beide Projekte parallel zu verfolgen.
Ich bin hundemüde. Fast so müde, daß die Müdigkeit den Gedanken an Charmion wegbetäubt. Aber nur fast. Ich glaube, Osont wartet darauf, daß ich für Charmion bitte. Aber ich tue es nicht. Ich habe ihre vergammelnden Arme und Beine gesehen. Niemand kann sie jetzt noch retten. Und Osont würde ohnehin nichts für sie tun, wenn das noch möglich wäre.
15 Uhr. Zwei Stunden bis zur Schlafperiode. Osont entläßt mich. Ich weiß nicht, wieviel er gelernt hat. Ist mir egal. Ich esse nicht mit den anderen, sondern renne zum Dorf zurück, zum Kreuzigungsplatz.
Sie hängt am Kreuz wie ich sie verlassen habe. Im ersten Moment glaube ich, daß sie tot ist. Aber es ist unglaublich: da sind immer noch Atemgeräusche. Ein Rasseln alle zwanzig Sekunden. Ihre Haut hat die Farbe alten Mooses angenommen und ist überall faltig und verklebt, und die abgebundenen Gliedmaßen sind blauschwarz.
Der Mann, der mir schon einmal prophezeit hat, daß es bei Charmion schnell gehen wird, tritt auf mich zu:
"Es hat doch etwas länger gedauert, als ich dachte. Aber nun muß es bald vorbei sein. Sie ist nahe dran, das Bewußtsein zu verlieren."
"Kann man eine Leiter anlegen?" frage ich. Es geschieht, ihr rechter Arm wird wieder als Widerlager mißbraucht, und ich steige hinauf.
Sie atmet tatsächlich. Aber als ich ihr über die Wangen fahre, reagiert sie in keiner Weise. Sie ist schon weit weg, und sie wird nicht wiederkommen.
"Charmion!" rufe ich, und wieder: "Charmion!" Nichts. Sie hat sich aus der Welt zurückgezogen, während ich nicht da war. Ebensogut könnte ich mit einer Mumie reden.
Ich hole wieder eine Wasserschale und bleibe dann auf der Leiter. Die da unten haben nichts mehr dagegen. Es ist ihnen schon langweilig. So gut es geht mache ich Charmion wieder sauber. Trinken oder lecken kann sie nicht mehr. Alle zwanzig Sekunden röchelt sie. Immer wieder. Meine Gegenwart nimmt sie nicht wahr. Vielleicht auch nicht das kühlende Naß auf ihrer Haut. Vielleicht wäre sie noch vor ein paar Stunden dazu in der Lage gewesen. Aber da mußte ich ja Osont etwas über Aerodynamik beibringen.
Und selbst, wenn sie noch etwas wahrgenommen hätte, was könnte ihr das jetzt noch bringen? Essen und Trinken mit Genuß geht nicht mehr, nur noch in rudimentärer Weise aus zwanghaftem Begehren des geschundenen Körpers, wenn überhaupt, Geschichten würde sie nicht mehr hören wollen, nicht von mir und nicht von meiner Welt. Ich denke an all die großen und kleinen Dinge aus unserer Welt, die ich ihr noch erzählen wollte. Nichts würde sie mehr erreichen, und ich könnte sowieso keine Auswahl treffen, wenn sie jetzt noch etwas hören wollte. Sie liegt außerhalb unserer Reichweite, nicht mehr in der Welt der Lebenden und noch nicht ganz in der Welt der Toten, sie liegt an einem Abhang, an dem sie sich nicht mehr halten kann, und sie rutsch tiefer und tiefer ab, und ich werde nicht sehen können, wohin der Fall führt.
Müßte ich nicht unendlichen Schmerz fühlen? Das tue ich nicht, denn ich kann ja noch denken. Und was ist schon unendlich in einem menschlichen Bewußtsein. Was tue ich denn, statt dessen? Nur Ausweichen und Flucht. Hilfloses Konstatieren und Kommentieren. Denken an mögliche Gedanken. Alles ist ganz unangemessen, und alles hilft ihr nichts. Jeder Sterbende ist beim Übertritt in das dunkle Land ganz allein. Kein Kult mit dem Tod ist eine Daseinsbewältigung, keine Philosophie und keine Religion. Die sind alle für die Lebenden gemacht. Jeder, der nicht das Glück hat, daß ihn der Tod hinterrücks und schnell überfällt, wird das in seiner letzten Stunde erfahren. Wie Charmion jetzt.
Es kommt ein Wind auf, bringt den Nebel in Bewegung, ohne ihn aufzureißen. Ein hohles Rauschen aus der Höhe. Er steigert sich nicht zum Sturm, aber in dieser meistens windstillen Gegend wirkt er bedrohlich. Eine schwache, zusätzliche Kühlung für die arme Charmion. Sie scheint es nicht zu spüren. Bald darauf legt sich der Wind wieder. Es war ein Bote eines fernen Unwetters in einer Gegend, wo man nichts darüber weiß, daß hier ein Mensch leidet.
Es ist kurz nach 16 Uhr - die Wasserschale ist längst leer und ich habe sie fallen lassen - da bleibt das Röcheln nach immer länger werdenden Pausen das erste Mal endgültig aus. Ich warte darauf, daß es wiederkommt. Es kommt aber nicht wieder. Ihre Reserven reichen nicht mehr für einen neuen Atemversuch.
Charmion ist tot.
32.2 Grabwahl
Der Aufsichtshabende der Wache steigt nach mir auf die Leiter, untersucht sie und bestätigt meine Diagnose. Das heißt für die Wache: Kreuz abbauen, Leiche versorgen und Dienstschluß.
38 Stunden hat es gedauert. Ich stehe dabei, wie sie die Leiter an die andere Seite des Kreuzes anlegen und die Seile lösen. Eines der Seile binden sie ihr um den Hals, um sie auf die Erde herunterzulassen. Noch eine entwürdigende Behandlung. Dann kommt der Wachhabende auf mich zu:
"Die kann man jetzt nicht mehr brauchen. Willst du sie haben?"
Er meint sicher die kannibalistische Verwendung ihres Körpers. Dazu ist der Leichnam jetzt definitiv zu abstoßend geworden. Vielleicht kann ich sie dann bestatten. Ich äußere den Wunsch, das zu tun, und niemand hat etwas dagegen. Vielleicht hat sich irgendwie die Kunde von unseren Bestattungsgewohnheiten hier verbreitet, oder die Männer sind einfach zu müde, um sich zu wundern. Sie ziehen sich zurück.
Charmion ist am Kreuz leicht geworden. Wasserverlust. Totale Dehydrierung. Ich werde sie überall dahin tragen können, wo ich sie begraben will, wenn es nicht zu weit ist. Aber wo soll das sein? Welcher Platz ist angemessen? Oom's Platz? Noch lieber wäre mir ja die Stelle, wo wir aus dem Höhlensystem von Casabones an das Tageslicht gekommen sind, kurz bevor wir das Fort erreichten. Dort haben wir uns geliebt und dort wußten wir noch nicht, was uns wenig später im Fort erwartete. Die romantische Schlucht, am Höhleneingang. Aber wie kommt man da runter, ohne den Weg über Zugbrücke und Fort und Steilaufstieg zum Fort? Und kann man da überhaupt ein Grab ausheben?
Einen Moment überlege ich, ob ich ihre Blöße bedecken sollte. Aber die Lederfetzen, die einmal ihre Bekleidung gewesen ist, liegen nicht mehr dort, wo sie ihr abgeschnitten worden sind. Wahrscheinlich hat irgendjemand das Material brauchen können. Ich habe nicht gesehen, wer es getan hat, aber ich denke daran, daß sie vom Kreuze aus gesehen hat, wer sich ihre wenigen restlichen irdischen Besitztümer angeeignet hat.
Ich habe sie über die Schulter gelegt. So kann ich leidlich gehen. Wenn sie noch am Leben wäre, dann wäre dieser Transport für sie sehr unangenehm. Aber sogar das läßt sich notfalls aushalten: Ich erinnere mich an einen Bundesbruder aus längst vergangenen Tagen, der wegen einer Wette einmal einen anderen Bundesbruder über der Schulter nächtens quer durch das alte Universitätsstädchen Clausthal getragen hat. Nie hätte ich in jenen jetzt so fernen und unwirklichen Tagen gedacht, daß ich einmal einen anderen Menschen so transportieren muß.
Ich bin gezwungen, häufiger die Schulter zu wechseln. Die unebenen Bodenstellen am Mauerdurchbruch sind mit dieser Last schwer zu bewältigen. Ich erwäge nicht, den Leichnam zu schleifen. Irrational, vielleicht, aber ich will Charmion nicht noch mehr beschädigen als sie es sowieso schon ist.
Ich habe unterwegs keine Wunschgedanken oder Visionen derart, daß sie eventuell doch noch am Leben sein könnte. Es ist nicht nur die rationale Untersuchung und medizinische Bewertung des Leichnams und der unmittelbare Eindruck seines Zustandes - irgendwie weiß man bei einer Gestorbenen instinktiv sehr genau, daß sie wirklich und unwiderruflich tot ist. Vielleicht ist das eine Wirkung des unerträglichen Gestanks, der von ihr ausgeht.
Ich bin froh, daß mir niemand begegnet. Es ist bereits Schlafperiode. Niemand hat Grund, sich in der Nähe des alten Forts aufzuhalten, oder am Steilufer des Binnensees. So sieht niemand, daß der überzeugte Atheist mit ihr redet, als ob er hofft, daß sie immer noch irgendwo zuhört.
"Charmion, warum hast du dich nicht gewehrt? Du kannst doch alles, was man hier zum Überleben braucht! Warum hast du dich aufgegeben?"
Und was ich noch so rede. Natürlich antwortet sie nicht. Sie wird mir immer schwerer, je länger der Weg ist. Am ehemaligen Fort muß ich sie absetzen, und wenig später schon wieder, nur wenige Dutzend Meter von dem Platz entfernt, von dem aus ich das brennende Fort beobachtet habe, und auch die virtuose Flucht von Charmion aus der Feuerhölle - nein, es gab keinen Grund, daß sie jetzt schon sterben mußte!
Der Abstieg zu Oom's Platz ist sehr schwer. Meine Knie werden weich, obwohl ich ja gut genug durchtrainiert bin. Aber die ungewohnte Last und der Schlafmangel tun ihre Wirkung.
Unten angekommen gehe ich zuerst daran, sie zu waschen, nicht nur, weil der Gestank unerträglich ist, sondern weil ich ihr wieder etwas von dem Menschsein wiedergeben will, das ihr am Kreuze genommen worden ist. Außerdem muß ich mich ausruhen. Es treibt mich ja niemand zur Eile.
Ich mustere die Mauersteine von Oom's verlassener Hütte und das Ufergeröll. Material genug für ein Hügelgrab wäre da. Aber ich will nichts von Oom's Hütte zerstören, solange ich nicht genau weiß, was aus ihm geworden ist. Der Platz hinten in der Schlucht - unser Platz - wäre mir lieber. Wenn ich den mit der toten Charmion überhaupt erreichen kann. Inzwischen habe ich da so meine Zweifel. Auch meine Kräfte sind nicht unbegrenzt. Und wenn ich sie dort nicht anständig unter die Erde bringen kann, dann muß ich wieder hierher zurück.
Während Charmion an der Wasserlinie liegt, untersuche ich das Uferstück näher. Hier, an der breitesten Stelle, wo der Klippenweg herunterkommt und wo sich Oom's Hütte befindet, hat das Geröllufer seine größte Breite von fast zweieinhalb Metern. In beiden Richtungen des Ufers nimmt die Breite dieses Streifens ab. Nach jeweils etwas mehr als hundert Metern fällt dann die Felswand des Steilufers direkt in das Wasser. Noch etwas weiter hört dann auch der Saum schilfähnlichen Grases auf, ein Zeichen, daß die Wassertiefe direkt unter dem Steilufer dann wieder sehr groß ist.
Der gesamte Uferstreifen besteht aus handlichen Geröllbrocken, die kleinsten sind leicht werfbare Steine, die größten könnte ich wohl nicht heben. Auch im Wasser, noch dicht vor dem Ufer, sind die Steine von derselben Größenordnung und könnten von dort geholt werden, wo immer es noch nicht zu tief dazu ist.
Für ein Grab für Charmion wäre mehr als genug Material vorhanden.
Ich sehe mich um. Ja. So soll es sein. Nicht die Schlucht, nicht unser Platz, wo wir so ahnungslos glücklich waren. Hier. Oom wird nichts dagegen haben, wenn er noch lebt. Überhaupt werde ich den Steinhaufen so groß machen, daß er ihn nicht abtragen kann, und die meisten wilden Tiere auch nicht.
Der Platz ist nicht schlecht für ein Grab. Immerwährender Nebel auf dem Wasser, man sieht nicht das andere Ufer, und nur schwacher Wellenschlag gluckst hier und dort unter den Ufersteinen. Das Uferschilf steht bewegungslos wie eine Trauerprozession. Über den Rand der Klippen oben sieht man nur an wenigen Stellen das grüne Blätterdach des Urwaldes sich weit genug vorwagen. Selten wird sich hier der Nebel so verziehen, daß ein Blick auf die ferne Höhlendecke frei wird, wie wir es einmal zusammen und gar nicht weit von hier erlebt haben. Es ist ein sehr einsamer Platz. Wenn die Meuterer Casabones verlassen haben werden, wird niemals mehr irgend jemand Casabones betreten. Es gibt ja keinen Weg mehr hinauf. Vielleicht wird Millionen von Jahren kein Mensch mehr hier vorbeikommen. Solange die Welthöhle besteht.
Nichts deutet auf Einflüsse hin, die einen großen Steinhaufen abtragen könnten, geologische oder biologische. Es sei denn, der Pilzberg Casabones bricht irgendwann auseinander, wozu dieser See wahrscheinlich schon der Anfang war. Aber dann ist es sowieso egal, wo Charmion liegt. Ich glaube aber, daß in Zeiträumen, in denen sich menschliche Schicksale abspielen, sich hier nichts mehr verändern wird.
Ja, Charmion, das ist dein Platz. Daran hast du nicht gedacht, als wir hier das erste Mal zu Oom abgestiegen sind. Auch ich habe nicht daran gedacht. Es heißt, man würde ein Grauen empfinden, wenn man sich an dem Ort seines Todes aufhält. Mittelalterliche Spruchweisheit. Ich kann sie jetzt nicht mehr fragen, ob und was sie an diesem Ort empfunden hat. - Ich glaube, sie wollte Liebe machen, wenn ich mich recht erinnere, und daß der Platz bewohnt war kam uns eben dazwischen. Hatten wir uns nicht danach gestritten? Warum eigentlich?
Dein Platz, Charmion. Das Ende deines Weges, deines ganzen Weges. Und das Ende unseres Weges zusammen, unseres Weges, der damals so merkwürdig auf der Mastspitze des Saurierfängers angefangen hat. Was heißt damals - vor einem Monat bin ich erst mit Irene in die Welthöhle eingestiegen, Charmion habe ich erst später kennengelernt. Ich kenne sie weniger als einen Monat lang - ist es wirklich so wenig? Oder lügt meine Digitaluhr? Verträgt sie den Druck nicht? Kippen die bits in ihren Zählregistern langsamer? Oder hat der Siebenundzwanzig-Stunden-Rhythmus dieser Welt mein Zeitgefühl gestört?
Schöne Charmion. Wie häßlich siehst du jetzt aus. Was haben sie dir angetan. Verfaulende Arme und Beine, faltige und eingefallene Haut. Linien im Gesicht wie bei einer Greisin. Da bin ich zu dir gekommen, nicht mit den antiquierten Ideen von Mission und Kulturtransfer. Nicht mit dem Schwert und nicht mit der Bibel. Wir sind Touristen, wir haben uns in diese Welt verirrt! Wir hatten nicht vor, hier irgend etwas zu bewirken oder nur zu verändern. Es hätte keinen Grund gegeben, dir das - mittelbar - anzutun! Und doch ist es passiert. Das meinte er, als er sagte, niemand ist ohne Schuld, er, der vor zweitausend Jahren genauso elendiglich getötet wurde wie du.
Wenn ich hier wieder rauskomme - wie soll ich in Bayern weiterleben? Dort gibt es an jeder Wegeskreuzung ein Kreuz mit dem Bild des Gekreuzigten. Immer und überall die Erinnerung. Wissen die, was sie tun, wenn sie überall diese widerliche Hinrichtungseinrichtung zur Schau stellen? Diese Ahnungslosen.
Steine, schwere Steine. Wie damals in Lanzarote. Vor fünf Jahren. Derselbe Urlaub, wo ich dieses kurze Erlebnis auf dem Mast der Marea Errota hatte. Eine einsame Lavabucht an der Südwestküste von Lanzarote. Irene sonnte sich auf den Felsen, und ich meinte, meine überschüssige Energie abbauen zu müssen, indem ich Steine zusammentrug und nichts anderes als einen Steinhaufen aus den vom Meer rundgeschliffenen Steinen aufbaute. Über eine Tonne Gestein habe ich damals bewegt. Jetzt muß es mindestens soviel werden, wahrscheinlich viel mehr.
Ich suche einen Platz, gehe die Küste aufwärts und abwärts, soweit es geht. Schließlich entscheide ich mich für eine Stelle, die vielleicht siebzig Meter vom Klippenpfad in Richtung ehemaliges Fort entfernt ist. Das Geröllufer ist dort noch hoch, aber nur noch einen Meter breit. Dahin bringe ich Charmion. Die letzte Ortsveränderung ihres Körpers in dieser Welt. Danach, als ich sie direkt unter der Felswand längs derselben auf das Geröll gelegt habe, beginnt die Arbeit.
Zunächst trage ich einen Wall um sie herum auf. Der Wall wird höher und höher. Ich habe einfach Hemmungen, die schweren Steine auf ihren Körper und auf ihr Gesicht zu legen - ich weiß ja, daß dann alles mit steigender Höhe des Steinberges zerbrochen und zerquetscht wird. Aber woher soll ich einen Sarg nehmen? Den Meuterern bei der Holzverarbeitung darf ich mit solch einem Anliegen nicht kommen. Ich darf nicht vergessen, daß sie mir Charmion nur überlassen haben, weil sie nicht mehr 'genießbar' ist.
Schließlich aber muß es sein. Die schwere Last schließt sie zunehmend ein. Für ihr Gesicht verwende ich die flachsten Steine, die ich finden kann. Dann sehe ich von ihr nichts mehr. Es ist ein ganz schrecklicher und einsamer Moment. Reiß dich zusammen, Herwig - du bist nicht der erste, der einen nahestehenden Menschen durch den Tod verliert. - Du bist nicht einmal der erste, der dabei indirekt mitgewirkt hat. Was zwischenmenschliche Dinge betrifft, bist du überhaupt in keiner Hinsicht der erste.
Ich kann nichts dafür. Ich kann die Steine nicht mehr so genau plazieren. Die Muskeln zittern, die körperliche Arbeit bei dieser hohen Temperatur und Luftfeuchtigkeit fordern ihren Tribut. Ich muß eine Pause machen. Gerade jetzt ist es 0 Uhr. Mitternacht in Europa, dicht vor dem Ende der Schlafperiode hier.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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