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******** 031. Tag: Montag 95-09-18 ********

31.1 Amateurgynäkologe

Es ist Osont mit weiteren vielleicht zwanzig Männern. Sie gruppieren sich um uns herum, manche mit dem Ausdruck von Schadenfreude oder gieriger Erwartung. Osont selbst stellt sich genau vor uns hin. Ich überlege mir, ob er erwartet, ob wir aufstehen sollten, um seine Stellung zu unterstreichen. Solche Erwartungen pflegen solche Charaktere ja manchmal zu haben. Ich entschließe mich aber, sitzen zu bleiben, vielleicht auch, weil Charmion auch keine Anstalten macht, aufzustehen, und wie käme dann ich dazu?

"Gut, gut." sagt Osont befriedigt, vielleicht, weil wir immer noch da sind, ohne einen erfolgreichen Ausbruchsversuch unternommen zu haben.

"Gut, gut. Ich nehme an, ihr habt euch gut erholt? Wie geht es deiner Krankheit?"

Das fragt er Charmion. Sie antwortet nicht.

"Hast du vielleicht etwas dagegen, daß wir so um dich besorgt sind?" fragt er sie. Mir gefällt sein Tonfall überhaupt nicht. Charmion wahrscheinlich auch nicht.

"Darf ich es noch einmal sehen?"

Charmion schweigt immer noch.

"Ist es dir unangenehm, wenn ich es tue? Hier, Freund Olbam hat Erfahrung. Er war Sklave in Grom. Nicht, Olbam?"

Ein kahlköpfiger Mann in mittlerem Alter tritt hervor.

"Er hat reiche Erfahrung," fährt Osont fort, "weil, er hatte besondere Aufgaben. Nichtwahr, Olbam? Seine lange, flexible Zunge wurde von seiner Besitzerin und ihren Gästen sehr geschätzt. Du kannst uns glauben, er hat schon viel gesehen!"

Als Charmion immer noch nicht reagiert, ändert sich sein Tonfall:

"Los! Rock hoch! Beine auseinander! Olbam?"

Zögernd kommt Charmion dieser Aufforderung nach. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, daß sie sich überhaupt nicht darauf einläßt, sondern daß sie erst mit Gewalt zu dieser Inspektion gezwungen werden müßte.

Der Mann, der 'Olbam' genannt wird, läßt sich auf die Knie nieder. Wie Osont es schon gestern getan hat beäugt er Charmion's äußere Geschlechtsteile aus allernächster Nähe. Er schnüffelt an ihr, als prüfe er das Bukett eines edlen Weines. Und er läßt sich Zeit.

"Nun, Olbam?" fragt Osont nach einer ganzen Weile, "Irgend etwas Ungewöhnliches? Irgend etwas Krankes?"

Olbam fährt fort, zu schnüffeln, als hätte er alle Zeit der Welt. Ich bin ziemlich sicher, wie es zu dieser Untersuchung gekommen ist: Wenn dieser Olbam in seinem früheren Leben, bevor er nach Casabones kam, vermöge seiner gelenkigen Zunge seine Herrin zu befriedigen pflegte, dann muß er etwas über Monatsblutungen wissen. Wahrscheinlich hat er sich selbst zu Wort gemeldet, als er die Beschreibung von Charmion's 'Krankheit' hörte. Nun kann er seine Expertise wieder einmal unter Beweis stellen, seit wer weiß wie langer Zeit schon.

Nun fängt er auch noch an, an ihren Schamlippen zu lecken. Jedenfalls sieht es von hier so aus.

"Laß dir ruhig Zeit, Olbam! - Schmeckt's?" ermuntert Osont ihn. Er sieht interessiert zu. Die anderen auch. Einige lachen obszön, und es werden Bemerkungen gemacht, die mir zeigen, daß es immer noch einige Dinge in der Xonchen-Sprache gibt, die ich noch nicht kann.

"Ich bin schon ziemlich sicher, daß dieses eine ganz gesunde Frau ist!" sagt Olbam und wendet Osont einen Moment den Kopf zu, "Ein sehr schönes Tier, sozusagen. Ich muß noch genauer nachsehen. Aber es ist, wie ich vermutet habe: Es sind die üblichen Blutungen, die bei Frauen in unregelmäßigen Abständen auftreten. Das ist harmlos! Ganz harmlos. Keine Krankheit."

'Unregelmäßige Abstände'. So ein Experte scheint Olbam nun wieder auch nicht zu sein. Außerdem auch wieder ein Hinweis auf seine vereinfachte Denkstruktur: Bloß, weil es eine allgemein verbreitete harmlose Ursache der monatlichen Blutungen bei Frauen gibt, schließt das noch lange nicht aus, daß es auch weniger harmlose Ursachen mit der gleichen Symptomatik gibt. Diese Art von 'Logik' kann mich immer aufregen. Man findet sie bei vielen Menschen.

Außerdem ist sein Verhalten merkwürdig und schwer zu beschreiben: Ihm ist, wie allen anderen auch, seit frühester Jugend eingebleut worden, daß Frauen die alleinigen Akteure auf der Bühne gesellschaftlichen Geschehens sind. Alle anderen zählen nicht. Männer schon gar nicht.

Jetzt ist nur eine Frau da, und sie ist in der Gewalt dieser Männer. Nach aller Erfahrung würde man erwarten, daß an ihr alle ihre lange unterdrückte Wut ablassen. Aber irgendwie ist das nicht so. Da ist noch immer eine Spur alter Unterwürfigkeit, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. An Olbam merkt man es ganz deutlich. Wenn Charmion ihm jetzt aus heiterem Himmel befehlen würde, einen Kopfstand zu machen, dann würde er es tun. Einen Moment lang wenigstens, bis ihm aufgeht, daß er ja nicht zu tun braucht, was Charmion ihm sagt.

Charmion muß das auch gemerkt haben. Nun mischt sie sich selbst ein: "Aber Olbam, siehst du nicht diese weißlichen Punkte?" fragt sie ihn. Olbam sieht noch einmal genau hin. Wenn er mit dem Kopf reinkriechen könnte, dann würde er es tun.

"Man sieht es nur aus etwas größerem Abstand - du wirfst nähmlich eine Schatten mit deinen Kopf, Olbam! Das Licht muß richtig drauf fallen. Und faß mal hier drauf - wie weich das ist! Das ist doch viel weicher als normal, oder?"

Was ist das denn? Charmion hat einen fast säuselnden Tonfall drauf. Sie plant irgend etwas. Ich spanne alle Muskeln. Olbam nimmt seinen Kopf etwas weiter zurück. Er gibt sich wirklich Mühe, aber er hat zwischen den Beinen einer Frau noch nie so angestrengt nachdenken müssen wie gerade jetzt. Er versteht einfach nicht, was Charmion ihm zeigen will.

"Noch etwas weiter. Dann sieht man es. Hier, und hier! Siehst du denn nichts? Sogar an meinen Oberschenkeln sieht man etwas. Oder bist du zu alt, um etwas aus der Nähe sehen zu können?"

Das ist Olbam natürlich nicht. Er nimmt seinen Kopf noch etwas weiter zurück. Eine Sekunde lang ist sein Kopf genau zwischen ihren unnötig weit gespreizten Knien.

Da schlagen ihre Knie zusammen, wie ein Paar Dampfhammer. Das Brechen von Olbam's Schädel ist laut und deutlich zu hören, und Charmion wird von einem Schwall von Blut, Augen und Gehirn, der aus den Augenhöhlen von Olbam's verformten Kopfes spritzt, bekleckert. Im Augenblick ist sie aufgesprungen.

Ich auch. Jetzt oder nie. Niemand achtet auf mich, deshalb gelingt es mir, einem der Umstehenden ein Schwert zu entreißen. Charmion gelingt das auch. Wir beginnen übergangslos mit der Schlachterei.

Und es ist eine Schlachterei, da gibt es kein beschönigendes Wort. Wir stehen gegen eine Übermacht, aber wir sind die körperlich leistungsfähigeren, und unsere Reaktionen sind schneller. Außerdem ist die Überraschung auf unserer Seite, ein Vorteil, der per definitionem nur wenige Sekunden währt.

Es geht um unser Leben. Ich habe keinerlei Hemmungen mehr. Ich will nicht geschlachtet werden, also schlachte ich. Das Schwert, das ich in der Eile ergriffen habe, ist gut.

Es sind unsere phlegmatischen Bewacher von vorhin, die uns am nächsten stehen. Es tut mir nicht leid, es darf mir keine Sekunde lang leid tun. Sie oder ich. Vier oder fünf strecke ich sofort nieder, und Charmion ist sogar noch effektiver. Nicht jeder Schwerthieb trifft, so daß manche mit schweren Verletzungen schreiend, aber wenigstens kampfunfähig zu Boden sinken. Wie träge sie zu ihren eigenen Waffen greifen! Osont bringt sich so ziemlich als allererster durch einen Sprung nach hinten in Sicherheit. Ziemlich schnell sind aber alle, die noch kampffähig sind, auf Distanz. Charmion und ich stehen in der Mitte. Ein erbarmungswürdiges Heulen liegt über der Szene - vor unserern Füßen liegt einer, dem ein Schwerthieb direkt durch beide Augen gegangen ist, und er schlägt dauernd vor Schmerzen mit dem klaffenden Schädel auf den Boden. Wir haben keine Zeit für einen Gnadenhieb.

Die Überraschung WAR auf unserer Seite, aber das ist jetzt schon Geschichte. Einige der Männer haben Bögen bei sich, die sie jetzt aus sicherer Entfernung auf uns richten.

"Schwerter fallen lassen!" brüllt Osont, "Sofort!"

Wir können sowieso nichts mehr tun. Durch ein paar Meter Abstand schwertkampfmäßig impotent geworden stehen wir in den Mitte. Vielleicht wäre da eine Sekunde lang Zeit gewesen, sich gezielt durchzuschlagen und erfolgreich einen Ausbruch zu machen. Diese Sekunde ist jetzt vorbei. Wir haben sie, in der Hitze des Gefechtes, damit verbracht, unsere unmittelbare Umgebung von Gegnern freizuhauen. Das ist jetzt ihr Vorteil. Wir sind von allen Seiten umstellt. Und in der Nähe liegt kein Bogen herum, den man sich mit schnellem Griff aneignen könnte.

"Schwerter fallen lassen!"

Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Wir haben verloren. Verloren trotz der zehn oder zwölf Gegner, die wir geschafft haben, einschließlich Olbam, der seine letzte gynäkologische Palpationsuntersuchung für immer hinter sich hat.

"Es tut mir leid, Herwig!" murmelt Charmion, als sie ihre Waffe klirrend fallen läßt.

"War nicht deine Schuld." Die Männer kommen wieder näher, immer noch mit angriffsbereiten Waffen, als ob wir auch ohne Schwerter gefährlich wären. Osont kommt in gemessenem Abstand hinter den anderen. Sich selber in Gefahr bringen, das ist seine Sache nicht.

Ich erwarte fast sekündlich, daß man uns in Stücke hackt. Allein, ein rasches emotional begründetes Vorgehen unserer Gegner scheint nicht zu befürchten zu sein - die, die wir getroffen haben, haben wir so gründlich getroffen, daß sie entweder tot oder außer Gefecht sind. Die anderen hatten einfach Glück. Für sie ist der Vorfall immer noch überraschend gekommen, und da ihnen nichts weh tut, warten sie Osont's Anweisungen ab. Manche schauen verwundert die Toten und Verletzten an. Sie begreifen jetzt erst, was passiert ist.

Osont läßt sich Zeit. Als er feststellt, daß wir von genügend Waffen bedroht werden, tritt er vor die anderen. Ohne sich zu beeilen kümmert er sich um die Verletzten. Der mit dem fürchterlichen Schnitt durch den Gesichtsschädel ist zuerst dran. Ich fürchte, es war meine Tat, aber ich erinnere mich nicht an Einzelheiten während des Gefechts. Osont dreht ihn auf den Rücken, um sich das zerfleischte Gesicht interessiert und genau anzusehen. Daß der Mann fürchterlich leidet scheint ihn wenig zu interessieren. Aber die Schreierei stört ihn. Betont langsam setzt er dem Armen, der nicht sehen kann, was ihm bevorsteht, sein Schwert auf die Brust. Langsam drückt er es nieder, mit leichten Drehbewegungen, um der Klinge das Eindringen in den Thorax zu ermöglichen. Besonders, als die Klingenspitze etwa fünf Zentimeter tief eingedrungen ist und den Herzbeutel erreicht haben muß, schiebt er das Schwert mit Genuß extra langsam weiter. Will Osont herausfinden, wann der Schmerz im Thorax offenbar stärker wird als der im zerstörten Gesicht? Oder will er uns seine Grausamkeit demonstrieren? Es dauert fast eine Minute, bis der Mann endlich tot ist. Eine lange Minute. Wie lang für den Armen können wir nicht einmal ahnen.

Mit den anderen beiden ist er schneller fertig. "Noch jemand?" sagt er geschäftsmäßig und sieht sich um. Das ist nicht der Fall, also der nächste Tagesordnungspunkt: Charmion und ich.

Er tritt vor mich hin:

"Würdest du sagen, daß das, was ihr eben demonstriert habt, von großer Kooperationsbereitschaft zeugt?"

Ich habe nicht den Eindruck, daß er sehr daran interessiert ist, was ich sagen würde, aber ich habe noch die Schläge von unserer Festnahme in Erinnerung.

"Nein, das würde ich nicht sagen." sage ich in neutralem Ton. So neutral, wie es mir möglich ist - ich habe Angst.

Osont nickt. Er geht zu Charmion hinüber, sieht sie von oben bis unten an, dann sieht er in die Runde:

"Sie weiß ihre Schenkel gut zu gebrauchen. - Möchte jemand ihre Schenkel gebrauchen? Hat jemand das Bedürfnis? Dann wäre jetzt die Zeit dafür."

Eine der Klingen, die wieder einmal in großer Nähe meines Halses schwebt, rückt näher, wahrscheinlich, um mir jeden Gedanken an einen weiteren Versuch einer Heldentat auszutreiben.

Das Angebot, das Osont seinen Leuten gemacht hat, wird nicht wahrgenommen, trotz des sicher hoch aufgestauten sexuellen Druckes. Die meisten sind sich wohl nicht sicher, ob Charmion nicht trotzdem eine ernsthafte Krankheit hat. Und da liegt ja auch noch die Leiche von Olbam mit dem gräßlich deformierten Kopf. Nein, zwischen solch gefährlichen Schenkeln möchte sich doch lieber keiner von ihnen aufhalten.

"Keiner?" wundert sich Osont, "Nun gut. Dann werden wir das um so schneller hinter uns bringen. Auf, zum Dorf! Die beiden in der Mitte! Versucht nicht, wegzulaufen!"

Die ganze Gruppe setzt sich in Bewegung, wir wie befohlen in der Mitte. Es wird wenig gesprochen - den meisten Männern ist jetzt klar geworden, wie nahe sie selbst daran waren, zu denen zu gehören, die eben umgekommen sind. Alle behalten ihre Waffen in der Hand.

Diesmal geht Charmion direkt neben mir. Ich würde gerne ihre Hand nehmen, aber ich habe die Vision, daß dann ein Schwerthieb von hinten uns wieder trennen wird. Das ist so die Art Humor, die ich Osont zutraue. Und wir haben dann nur noch einen Armstumpf, der eine mehr, der andere weniger. Besser, wir berühren uns nicht. Wir sehen uns nicht einmal an.

Die Aufmerksamkeit der Männer, die um uns herum marschieren, ist auf's äußerste gespannt. Wir haben unsere Gefährlichkeit demonstriert. Sie werden uns bei der kleinsten, unerwarteten Bewegung erschlagen - da bin ich sicher. Ein plötzlicher Ausbruch ist nicht möglich, so etwas gemeinsam zu verabreden schon gar nicht. Ich überlege, ob es ein deutlicher Vorteil ist, daß die Männer um uns herum sehr dicht zusammen marschieren und sich deshalb beim Kämpfen gegenseitig genügend im Wege stehen, um unser Entkommen zu ermöglichen. Ich weiß es nicht. Ich fürchte, nein - es braucht ja nur ein Schwerthieb zu treffen - dann nützen die zwanzig anderen, die jemanden anderen getroffen haben, nichts mehr.

Wie erwartet hält die Gruppe in der Dorfmitte vor den Vollstreckungskreuzen an. Osont geht ein paar Schritte vor, tritt nacheinander gegen jedes und wählt die zwei aus, die seiner Meinung nach am stabilsten sind.

Da fällt aus der Höhe ein hohles Kreischen auf uns, und ein Schatten zieht über uns im Nebel hinweg. Ein kurzer Schreck durchzuckt mich, aber es ist nur ein verirrter Flugsaurier. Ist selten, hier oben auf Casabones. Wie ein böses Omen. Alle sehen kurz nach oben, aber das Tier ist zu rasch vorbei, als daß man Einzelheiten sehen könnte.

31.2 Kurzer Prozeß

"Eigentlich sind die Dinge klar," sagt Osont zu uns, aber so laut, daß es alle hören können, "seit wir an unseren Fluchtvorbereitungen arbeiten, hat uns immer wieder jemand in die Suppe gespuckt. Die Störungen am Steinbruch. Der Brand am Sumpfteich. Der Ausbruch dieser Frau aus dem Fort, wobei sie acht Menschen umbrachte. Dann ist sie danach wieder mit seiner Hilfe im Fort versteckt worden. Die Tötung von Ohochmoich, der wegen seiner zerteilten Brustmuskeln praktisch wehrlos war! Einen Wehrlosen hat er umgebracht! - Und dann hat er auch Ougom umgebracht."

Ungläubige Gesichter rundherum.

"Ja, das hat er!" fährt Osont fort, "Och wußte das zu berichten!"

Das hat Och sicher nicht freiwillig berichtet, denke ich. Also wird er wahrscheinlich auch schon nicht mehr am Leben sein.

"Das hat er alles gemacht! Einfach so! Wahrscheinlich, weil ihm die Fluchtvorbereitungen zu glatt gingen! Und dann, wer hat die Rebellengruppe in das Fort geführt? Zu einem Zeitpunkt, an dem nur diese Frau im Fort war? Wer kann das wohl nur gewesen sein? Und das Ganze mit dem bedauerlichen Ergebnis, daß das Fort völlig zerstört wurde?"

Wenn ich die Gesichter rundherum so ansehe, dann stelle ich fest, daß diese Argumentation auf fruchtbaren Boden fällt: Charmion war die einzig Anwesende im Fort, also muß sie etwas mit der Besetzung durch die Rebellen zu tun gehabt haben! Der Weg zu sauberen, kriminalistischen Untersuchungen in dieser Welt ist noch weit.

"Dann, der Versuch, eine Krankheit zu verbreiten!"

Wollte er nicht vorhin erst beweisen, daß die Krankheit gar keine Krankheit war?

"Als wir sie untersuchen wollten," fährt Osont fort, "fangen sie ohne Grund Streit an. Ich frage euch: Was ist von diesen Menschen zu halten? Was ist von Menschen zu halten, die immer noch behaupten, daß sie eigentlich nichts anderes im Sinn haben als uns zu der Flucht von Casabones zu helfen? Die aber immer dort, wo etwas schief geht, ihre Finger im Spiel haben?"

Er sieht in die Runde. Eigentlich traut sich niemand, etwas zu sagen, aber die Pause ist so lang, daß deutlich wird, daß Osont wünscht, daß ihm jemand beipflichten möge.

"Die müssen weg." sagt endlich einer. Andere stimmen zu, allerdings nicht alle voller Überzeugung. Osont muß das spüren.

31.3 Kuhhandel

"Ja, sie müssen weg. Und doch: Dieser Mann, Herwig, war es letztendlich, der die Vorschläge für unsere Flucht entwickelt hat. Vorschläge, die vielleicht funktionieren. Vielleicht aber auch nicht."

Zustimmung rundherum.

"Vielleicht ist er loyal. Vielleicht auch nicht. Wir wissen es nicht. Es gibt nur die eine Methode, es herauszufinden - wir müssen auf dem beschrittenen Weg weitergehen. Wir können ihn immer noch zur Rechenschaft ziehen, wenn es nicht funktioniert."

Deutlichere Zustimmung. Der Gedanke, daß die Chancen einer Flucht von Casabones mit Fallschirmen ganz wesentlich von mir abhängen könnten, scheint sich im Laufe der Zeit verbreitet zu haben. Osont muß dem Rechnung tragen.

"Es könnte also sein, daß wir ihn brauchen. Wen wir aber ganz gewiß nicht brauchen ist unser Mädchen hier, die mit den rabiaten Schenkeln und dem hübschen Köpfchen!"

Die meisten nicken, obwohl auch hier und dort ein Blick des Bedauerns auf Charmion's Schenkel und ihren Busen und ihr Gesicht fällt. Die meisten hätten schon eine andere Verwendung für Charmion als die sofortige Beseitigung. Im Prinzip wenigstens, vorhin hat sich ja keiner getraut.

Andererseits kann Osont es sich auch nicht leisten, daß wegen ungeklärter Reihenfolge in der Abarbeitung der sexuellen Spannungen vermittels Charmion Aggressionen unter den Leuten entstehen. Es ist aus seiner Sicht klar: Charmion muß weg. Selbst, wenn er sie selbst haben wollte: Machtpolitik geht vor. Charmion hat ihn schon richtig eingeschätzt.

Sie, von der die ganze Zeit die Rede ist, steht mit gesenktem Blick in unserer Mitte. Ob sie noch einen neuen, spektakulären Ausbruchsversuch in die Wege leiten wird? Wenn ich nur etwas für sie tun könnte! Aber mir droht ja vielleicht das gleiche Schicksal. Da sind zu viele schlagbereite Schwertklingen rundherum.

Osont tritt wieder auf mich zu:

"Herwig, du könntest einen guten Beweis deiner Loyalität zu unserem gemeinsamen Vorhaben liefern!"

Wie ich es hasse, wenn mit 'gemeinsam' argumentiert wird! Wie immer in solchen Fällen geht es mehr um die persönliche Macht desjenigen, der solche halbidealistischen Ideen verkündet, um damit irgend etwas zu bewirken. Osont ist da nicht anders.

"Du kannst uns überzeugen, daß du nicht gegen uns arbeitest! Dann können wir auch die Männer vergessen, die du vorhin erschlagen hast!"

Ich habe eine dumpfe Ahnung von dem, was jetzt kommen könnte.

"Ich meine, du hast die Wahl! Entweder, wir schlagen euch beide ans Kreuz, oder du stimmst uns zu, daß sie der große Störfaktor ist, der unbedingt weg muß, und du legst bei ihrer Kreuzigung mit Hand an! Dann darfst du am Leben bleiben! Du willst doch mit uns zusammen von Casabones weg, nicht wahr? Du willst doch deine eigene Welt wiedersehen, habe ich gehört? Ist das nicht so? Also: Du hast die Wahl!"

So ist das also. Die Wahl zwischen Heldentum und einem schrecklichen Tod auf der einen Seite, und Verrat und Feigheit und Leben auf der anderen. Ich kann meine Charmion für mein eigenes Leben wegwerfen. Oder ich kann auch mein eigenes Leben wegwerfen - für nichts, denn Charmion ist auf jeden Fall dran.

Was soll ich tun? Habe ich mir nicht oft genug überlegt, daß ohne mich die Irene wahrscheinlich die Welt der Granitbeißer nicht mehr verlassen kann? Wenn ich sie wiederfinden sollte, was nicht sicher ist. Der Irene bin ich doch in wesentlich höherem Maße verpflichtet als Charmion. Irene ist meine Frau. Charmion ist, naja, meine Geliebte. Und sie ist eine Menschenfresserin. Sie hat schon viele Menschenleben auf dem Gewissen, so könnte man auch argumentieren - ich könnte aus naheliegenden Gründen natürlich nicht mehr so argumentieren. Kirchen würden argumentieren, sie ist eine Heidin, aber dem würde ich mich natürlich überhaupt nicht anschließen. Aber ist es nicht komisch, daß mir das gerade jetzt einfällt? Sie ist in erster Linie ein Mensch, so, wie diese Welt sie gemacht hat. Sie ist schuldlos. Wenn jemand Schuld hat, dann bin ich es.

"Nun?" fragt Osont.

Was soll ich tun? Ich liebe Charmion, aber ich kann ihr sowieso nicht mehr helfen. Die Kombination, daß ich hingerichtet werde und Charmion nicht, die hat Osont nicht vorgeschlagen - abgesehen davon, daß mir diese Kombination auch nicht recht wäre. Also ist nichts und niemandem geholfen, wenn ich mich auch umbringen lasse.

Außerdem habe ich Angst vor dem Tod. Hier so ganz sinnlos zu sterben - nicht, daß der Tod der vielen anderen Menschen, die ich schon habe sterben sehen, sinnvoller gewesen wäre, aber wenn es um die eigene Person geht, dann sind solche Überlegungen von einer ganz anderen Dringlichkeit gefärbt.

Ich muß Zeit gewinnen: "Kann ich mit ihr allein sein?" frage ich.

"Wieso denn? Es muß schnell entschieden werden. Sie ist ein Unruhefaktor. Sie muß weg. Es geht jetzt nur noch um deine Mitarbeit!"

Osont legt mir die Hand auf die Schulter und führt mich etwas zur Seite, so daß die anderen kaum hören können, was wir sprechen, wenn wir nur leise genug reden. Vertraulich und eindringlich sagt er zu mir:

"Herwig, du gehörst doch zu uns! Diese Frau da brauchen wir nicht, aber ohne dich wird es schwer! Versteh doch, wir müssen wissen, ob wir dir trauen können! Ich würde dir vielleicht noch eine Zusicherung glauben, aber diese Männer hier wollen einen Beweis deiner Loyalität! Du hast so viele von ihnen umgebracht, das werden die nicht vergessen! Und was das Mädchen betrifft, wenn es nach mir ginge, und nur nach mir, dann könnte sie am Leben bleiben. Eingesperrt, meinetwegen, aber am Leben. Aber was wissen wir denn? Vielleicht macht sie wirklich mit den Rebellen in den Wäldern gemeinsame Sache! Es wäre eine immerwährende Bedrohung! Versteh doch, sie muß weg!"

Osont ist eine immerwährende Bedrohung. Aber ich sage das natürlich nicht.

"Du mußt dich jetzt entscheiden! Bist du mit uns, dann hilfst du uns! Bist du gegen uns, dann kreuzigen wir euch beide! Und brich dir nicht die Knöchel!"

Er hat sich auf meine verkrampften Hände bezogen. Ich weiß, er genießt meine inneren Kämpfe. Solange Gefangener, solange Underdog - jetzt Bandenchef: Da hat man seine Privilegien. Meistens bestehen sie darin, andere zu tritzen.

"Ich meine, du mußt auch nicht viel tun. Nur so viel, daß du symbolisch bei ihrer Kreuzigung hilfst! Stricke raufreichen und so. Die Feinarbeit können wir sowieso besser!"

Er überlegt einen Moment, dann hat er noch eine Idee:

"Oder, wir beauftragen dich, von jetzt an, mit der Aufsicht über alle Kreuzigungen und sonstigen Hinrichtungen! Dann brauchst du selber überhaupt nichts mehr zu machen! Im Gegenteil - du kannst zu den Verurteilten hinaufsteigen und ihre Schmerzen lindern - ihnen den Schweiß abwischen, zu trinken geben und so weiter, bis es vorbei ist. Und das Mädchen ist dann einfach dein erster Fall! Wäre das nichts! Jeder hätte einen fürchterlichen Respekt vor dir, als Chefscharfrichter!"

So ist das also. Beförderung. Eine so einfache Entscheidung. Wie gut, daß Osont offenbar nichts von Irene weiß, oder es nicht für so wichtig hält. Sonst würde er damit auch noch argumentieren.

"Entscheide dich doch! Sie werden ungeduldig!"

Ich kann nicht denken. Ich bin wie gelähmt. Was soll ich tun? Bringe ich Charmion um, wenn sie sowieso keine Chance hat? Oder sollte ich jetzt noch einen Ausbruchsversuch anfangen? Wir stehen jetzt ein paar Meter abseits, und wenn ich daran denke, wie untrainiert diese Leute sind, dann wäre es schon möglich, daß ich mich jetzt absetzen könnte. Ich wäre jenseits der Schußweite aller Umstehenden, die einen Bogen mit sich führen, wäre hinter der nächsten Biegung des Dorfweges verschwunden, noch bevor jemand einen Bogen auf mich angelegt hätte.

Aber wenn Charmion nicht genau in demselben Moment lossprintet, dann halten sie sie sofort fest. Und sie wird nicht genau in demselben Moment lossprinten, denn sie sieht nicht in meine Richtung. Offenbar rechnen sie aber nicht mit der Möglichkeit, daß ich oder wir so reagieren könnten, denn wir sind ja nicht einmal gefesselt worden. Allerdings stehen sie immer noch sehr dicht um Charmion herum.

"Herwig!" sagt Osont ungeduldig.

"Ich kann es nicht entscheiden!" presse ich leise hervor. Es ist, als ob ich Hilfe ausgerechnet von Osont erwarte. Vielleicht faßt er das auch so auf. Vielleicht wird er sich über kurz oder lang auch in der Rolle des väterlichen Freundes gefallen, in den sich der Herr über Foltern oder Nicht-Foltern jederzeit verwandeln kann.

"Wirklich nicht? Warum denn nicht?" Nicht, daß er vor Einfühlsamkeit trieft, aber die Tonlage ist im Moment die eines Beichtvaters.

"Ich darf aus religiösen Gründen nicht töten!" sage ich plötzlich, und dann tut es mir schon wieder leid, einen solchen Unsinn gesagt zu haben. Es ist natürlich gelogen. Ich war noch nie religiös, das schon mal zum Einen. Und unsere Geschichte hat ja deutlich genug gezeigt, daß Religion sich ganz hervorragend als Argumentationshilfe genausogut für wie wider das Töten verwenden läßt. Noch vor wenigen Jahren, im ersten irakisch-amerikanischen Krieg, hat sogar der Papst selbst öffentlich festgestellt, daß er kein Pazifist ist, nachdem die Weltöffentlichkeit schon gemeint hat, daß diese Denkweisen des heiligen Stuhls seit Jahrhunderten überholt sind. Wie kann da jemand, der sich, im Gegensatz zu mir, für einen Christen hält, überhaupt noch gegen das Töten aussprechen, ohne sich lächerlich zu machen? - Und unnütz ist dieses Argument auch. Osont hat noch nie von dem Christentum oder einer anderen unserer Religionen gehört, und hätte er es, dann wäre es ihm auch egal. Ich habe das nur gesagt, um noch eine Sekunde Zeit zu gewinnen, und dann noch eine. Und vielleicht noch eine.

Osont sieht mich zweifelnd oder mitleidig an. Das kann ich interpretieren, wie ich will. Wahrscheinlich ist das Vorbringen metaphysischer Begründungen für ihn sowieso kein Argument, ganz gleich, um welche Religion es sich handelt. Es war eine Dummheit. Eine Dummheit, um ein paar Sekunden für Charmion zu kaufen. Oder auch für mich, wenn ich mutig genug wäre, an ihrer Seite zu bleiben. Oder dumm genug.

Was würde Irene sagen? Das ist ganz klar. Wenn sie alles über Charmion und mich wüßte, würde sie ihr wohl kaum übertrieben positive Gefühle entgegenbringen. Nicht, daß sie Charmion etwas antun würde - wahrscheinlich würde sie eine lange Zeit in Depressionen verfallen, wenn sie von unserem Verhältnis erführe, und ich würde mir schon einiges anhören müssen - aber wenn eine andere Instanz uns diese Entscheidung aufdrängt, so wie es jetzt geschieht, dann ist es klar, was sie vorschlagen würde.

Und hätte sie nicht recht? Ist das Überleben nicht das wichtigste? Überleben in Würde, solange man es sich leisten kann, aber wenn nötig, auch ohne Würde. Hauptsache Überleben. Was geht mich Charmion an? Würde Irene sagen. Werde ich vielleicht auch sagen, in einigen Jahren, wenn ich dabei bin, den ganzen Spuk zu vergessen. Gewissen ist flexibel, meines sicher auch. Wenn wir davonkommen, wenn wir unsere Welt wieder erreichen, dann werden unsere Erlebnisse hier zu traumhafter Qualität zurücksinken. Sie werden unwichtig werden. Ist es schlimm, im Traum zu töten oder töten zu lassen?

Charmion, denke ich, verzeih mir. Ein alter Mann hat mit dir ein Verhältnis gehabt. Auch, wenn du es zuerst in die Wege geleitet hast, ich war ja nur zu willig. Und so wurden wir in die Handlungsstränge einfgefädelt, die dich jetzt das Leben kosten. Oder uns beide - aber nein, Herwig, sei ehrlich, du hast dich längst entschieden. Der Mensch ist eine Rechtfertigungsmaschine, warum du nicht auch. Du wirst leben und sie nicht. Osont hat es dir angeboten. Er will nur ein einziges Wort von dir. Herwig, du brauchst nicht einmal zu Charmion zu gehen und deine Entscheidung zu begründen. Du brauchst nur dabeizustehen. Es ist doch egal, was sie über dich denken wird - ihre Gedanken werden mit ihr im Nichts verschwinden, so, als ob sie nie gedacht worden sind. Auch ihre Meinung über dich wird vergehen. Das ist genauso ein Vorgang, als ob sich ihre Meinung über dich geändert hätte. Löschen, Verändern - wo ist da der wesentliche Unterschied?

Und irgendwann werden deine eigenen Gedanken auch vergessen sein, wer weiß, vielleicht sogar schon zu deinen Lebzeiten. Irgendwann wird alles sein, als ob es überhaupt nicht geschah. Wenn alle Zeugen tot sind, auch die, die jetzt hier anwesend sind. Du brauchst jetzt wirklich nur dabeizustehen. Genau das aber wirst du, den Spaß wird Osont sich nicht entgehen lassen.

Und ist das nicht überhaupt ein gutes Geschäft? Ein schlechtes Gewissen für das Überleben. Es gibt Menschen, die würden ein solches Angebot als extrem günstig bezeichnen. Eine temporäre, unangenehme Verfassung des Gemütes. Der Tod wäre nicht temporär. Nein, Herwig, das Schicksal ist dir wirklich gewogen! Sei ein Schwein und lebe!

Gib dir einen Stoß, Herwig. Alle Blicke ruhen auf dir. Osont will sehen, wie flexibel dein Gewissen ist. Falls du jemals implizit die anderen hast merken lassen, daß du glaubst, zu einer moralisch höherstehenden Gruppe von Menschen zu gehören, dann wirst du jetzt auch dafür ein bißchen bezahlen. So wie für die völlig überflüssige Bemerkung über das Tötungsverbot deiner Religion von vorhin. Wenn du tatsächlich religiös wärest, in diesem albernen, formalen Sinn, selbst dann müßtest du diesen Kompromiß auch noch eingehen, du würdest es tun, gib dich da keiner Täuschung hin. - Sie zeigen dir jetzt, woraus du wirklich gemacht bist! Dein Pech, wenn du moralische Standards hast, die du jetzt äußerst flexibel auslegen mußt!

"Sag das Wort, Herwig! Nur ein Wort, und es ist alles vorbei, was du tun mußt." Osont sieht mich mit klinischem Interesse an. Eines Tages, Osont, wirst du dafür büßen! Und du weißt es jetzt schon, daß ich das will. Diese Denkweise ist dir vertraut. Mein ist die Rache.

Hoffentlich. Für Charmion ist mein inneres Racheversprechen keine Rettung, eher dient es als Betäubungsmittel für meine eigene Seele. Osont weiß das, und ich weiß das, und Charmion würde es auch wissen, wenn ich ihr so ein albernes Versprechen machen würde. Denn ich würde sogar davon Abstand nehmen, mich zu rächen, wenn das meine Rückkehr in meine Welt gefährden würde. Osont zu töten - ja, das will ich. Aber es wird mehr eine Sache der sich bietenden Gelegenheit sein.

"Sag das Wort, Herwig! - Und denk an die vielen Menschen hier. Sollen sie alle auf Casabones verrotten? Soviele Menschen gegen bloß eine Frau? Wir brauchen dich, Herwig! Wir brauchen deine Paraglider. Sie brauchen dich - dich und nicht sie. - Sag das Wort."

Charmion - ich finde nicht mehr heraus. Ich kann dir nicht mehr in die Augen sehen. Ich muß dich aufgeben! Lieber Gott, hilf mir! Wenn es dich gibt, dann finde einen Weg. Nein, vergiß es, Herwig! Jetzt nicht mit dem Beten anfangen. Dieser Gott hat auch in Blut gewatet oder in Blut waten lassen, - wenn er ein persönlicher Gott sein sollte - er wird sich um eine einzige Menschenfresserin nicht kümmern, und um ihren atheistischen Liebhaber schon gar nicht. Warum sollte er das tun, wenn er sich schon in Auschwitz nicht gerührt hatte. - Nein, es ist besser, daß es ihn nicht gibt. Das gleichgültige Universum ist leichter zu ertragen. - Und sogar Osont hat soeben die rettende Argumentation vorgebracht. 2000 Menschen gegen Charmion. Die Arithmetik der Ethik. Vielleicht stimmt es. Ich kann 2000 Menschen den Weg von Casabones herunterführen. Einige davon könnten ein sinnvolles Leben führen. 2000 könnte ich retten.

Aber du, Charmion, bist verloren.

"Meinetwegen," sage ich, "tut, was ihr wollt."

31.4 Charmion's Kreuzigung

Sie tun, was sie wollen. Vorher aber verkündet Osont noch meine Kooperationsbereitschaft und meine de-facto Beförderung zum Chefscharfrichter. Natürlich sorgt er dafür, daß alle es hören - auch Charmion. Das haben wir nicht abgesprochen, aber jetzt kann ich nichts mehr tun. Eigentlich war es zu erwarten, daß er sich so verhält. In diesem Punkte ist er leicht berechenbar - er nimmt einfach von allen Handlungsoptionen die gemeinste.

Die Leiter, die immer noch hinter dem Balkenstapel liegt, wird geholt und an eines der ausgesuchten Kreuze gelegt. Zwei Männer klettern rauf, beide tragen einige Seilschlingen über der Schulter, wo immer sie diese auch plötzlich herhaben. Jeder von ihnen steigt auf einen der Querbalken und setzt sich auf das äußere Ende. Es sieht so aus, als machen sie das nicht zum ersten Male.

Charmion muß sich ausziehen. Da sie das nicht ganz so schnell tut wie Osont das möchte, gibt er den Männern einen Wink. Schon haben ein paar Schnitte Charmion von allen Kleidungsstücken, die in nutzlosen Fetzen zu Boden fallen, befreit. Sie hätte jetzt nichts mehr anzuziehen, wenn man sich anders entschiede. Tut man aber nicht. Hinrichtungen erfolgen nackt: Nacktheit ist Wehrlosigkeit ist Würdelosigkeit. Jedenfalls, wenn man sich in der Gewalt von anderen befindet.

Dann wird Charmion bedeutet, selbst auf die Leiter zu steigen. Zweifellos wird man sie mit Gewalt heraufbringen, wenn sie nicht kooperiert. Das weiß sie. Sie weiß aber auch, daß es ihr bei der Übermacht nicht gelingen wird, in einem kurzen Kampf gleich ihr Leben zu verlieren. Die umstehenden Männer warten nur darauf, daß sie eingreifen müssen, um sicherzustellen, daß sie lebendig und unverletzt aufs Kreuz kommt. Dicht an dicht stehen sie mit gezogenen Waffen rund um sie herum - da ist kein Durchkommen.

"Zusehen, Herwig, genau hinsehen!" ermahnt Osont mich. Ich werde ihn umbringen, Irgendwann. Das verspreche ich. Vielleicht sollte ich ihm wirklich den Kopf um mehr als 180 Grad drehen, um rauszukriegen, ob die Bänder und die Nackenmuskulatur wirklich so stark sind, daß man bei einem durchschnittlichen Menschen nicht im wörtlichen Sinne den Hals umdrehen kann. Oh, wie ich es genießen werde, wenn ihm die Halswirbel auseinanderspringen werden! Oh, wie ich es ihn 'genießen' lassen werde!

Langsam steigt Charmion die Leiter hinauf. Wie langsam steigt man zu der eigenen Hinrichtung hinauf? Je langsamer, desto mehr Sekunden erkauft man sich, aber irgendwann werden die Helfer des Henkers die Geduld verlieren. Charmion sucht sich die neutralste Steiggeschwindigkeit, die möglich ist. Ich sehe ihren schönen Körper, vielleicht im Moment der beste und gesundeste und trainierteste auf ganz Casabones, und weiß, daß sie ihn jetzt kaputt machen werden.

Oben angekommen muß sie sich umdrehen und ihre Arme ausbreiten, damit diese, zunächst einmal nicht allzufest, von den beiden Männern da oben an die waagerechten Balken des Kreuzes gebunden werden können. Dabei liegt ihr Körper noch auf der Leiter.

Die beiden Männer steigen wieder herunter, danach wird die Leiter entfernt. Charmion's Körper schlägt auf dem senkrechten Balken auf. Sie hängt jetzt in einer sehr unangenehmen Zwangshaltung am Querbalken des Kreuzes. Das Atmen muß ihr schwerfallen.

Ein paar Sekunden lang hätte sie Gelegenheit gehabt, den beiden während des Absteigens den Schädel einzutreten, wenigstens einem von ihnen. Warum tut sie es nicht? Das ist doch nicht ihre Art. Ich dachte, sie würde ihre Haut so teuer wie möglich verkaufen.

Die Leiter wird von der anderen Seite an das Kreuz gelegt. Nun werden auch Seilschlingen um ihre Unterschenkel gelegt, allerdings nicht so, daß diese Seilschlingen den Körper stützen - ihre Arme sind nach wie vor verdreht und werden durch ihr Körpergewicht belastet.

Dann steigt einer der Männer wieder bis zum Querbalken hinauf. Er führt einige kurze, feste Holzstäbe mit sich. An beiden Balkenenden des waagerechten Kreuzteiles macht er das gleiche: er steckt einen der Holzstäbe durch eine der Seilschlingen und dreht diesen dann nach Art einer Garotte. Dadurch ziehen sich die Seile, die um Charmion's Unterarme liegen, fester und fester. Als er sicher ist, daß die Blutzirkulation unter das allernotwendigste Maß abgesunken ist, wird das Holzstück festgezurrt. Dann macht er dasselbe mit dem andern Arm, und als er da fertig ist, mit den Unterschenkeln auch noch.

Nun kann sich Charmion unter keinen Umständen mehr aus eigener Kraft befreien, und es wird nicht allzulange dauern, bis ihre abgebundenen Gliedmaßen ihr den Tod bringen würden, wenn man sie vom Kreuz abnähme. Ihre Uhr tickt.

Man hätte die Garottenbefestigung noch fester ziehen können, so daß ihre Unterschenkel- und Unterarmknochen dabei gebrochen worden wären. Aber ich weiß, was Osont vorhat: Erstens soll ihr Tod so lange wie möglich dauern, und zweitens soll ich noch möglichst lange an die Möglichkeit glauben, daß man sie noch retten könnte, wenn man sie auf irgendeine Weise vom Kreuz abnähme. Das aber wird er verhindern.

"So, das hätten wir," sagt Osont befriedigt, "das war doch gar nicht so schwer, nicht wahr? Und jetzt, Herwig, kannst du mit uns wieder zur Arbeit gehen. Heute abend kannst du mit ihr noch reden - sie bleibt noch eine ganze Zeitlang bei Bewußtsein. Und wach wird sie sowieso bleiben! Niemand schläft an einem Kreuz. Vielleicht könnt ihr euch etwas Nettes erzählen? Erinnerungen austauschen und so!"

Ich muß mich beherrschen, um ihn nicht sofort anzugreifen und in die Fresse zu schlagen - ein reichlich nutzloses Unterfangen ohne Waffen. Dazu habe ich das Gefühl, daß Osont eine natürliche Begabung hat, auf diese Weise die Frustrationstoleranz von anderen Leuten auszutesten. So lernt er andere kennen: Er setzt die Daumenschraube an und paßt genau auf, wann sie anfangen zu schreien. Bildlich gesprochen.

Er teilt eine vierköpfige Wache ein, wie das so üblich ist, wenn eine Kreuzigung andauert. Dann nimmt Osont mich plötzlich am Arm und führt mich halb um das Kreuz herum, so daß ich Charmion genau gegenüberstehe und sie mich ansehen muß.

"Sie sie dir an, Herwig!" sagt er. "So sieht das aus, wenn man die Allgemeinheit schädigt. Das gerechte Schicksal eines Feindes des Volkes! - Aber du bist auf der Seite der gerechten Sache. Ich schätze das. Es soll dein Schaden nicht sein. Wie wir es abgesprochen haben!"

Ich denke nicht daran, daß ich den Begriff 'Feind des Volkes' schon woanders gehört habe. Charmion kann mich gerade heraus ansehen, und sie tut es, sagt aber nichts. Und was soll ich sagen? Was sagt man, wenn man der Geliebten bei der Hinrichtung zuschaut? Was sagt man, wenn man mitgemacht hat? Was sagt man, wenn die Umstehenden interessiert lauschen? Und was sagt man, wenn laut behauptet wird, man hätte dabei gut kooperiert, und wenn jeder Verteidigungs- und Richtigstellungs-Versuch linkisch und unglaubhaft aussehen würde?

"Ich bin wirklich froh, Herwig, daß du dich so schnell entschlossen hast, mit uns zusammenzuarbeiten!" setzt Osont noch einmal hinzu, laut genug, damit Charmion es hören kann. Er strahlt, und seine Leute strahlen pflichtschuldigst mit.

Charmion atmet schwer. Das wird sich jetzt nicht mehr ändern, in dieser Zwangshaltung. Konzentration für jeden Luftzug. Und doch wissend, daß man den Kampf nicht gewinnt, nicht mehr gewinnen kann. Christus hat, heißt es, für unsere Sünden gelitten, aber für welche Sünden leidet Charmion? Doch wohl nur wegen meiner Ungeschicklichkeit, die zu unserer Festnahme führte. Sie könnte sich längst in die Wälder in Sicherheit gebracht haben, und irgendwann, wenn es genügend Fallschirme gegeben hätte, dann hätte sie sich bei irgendeiner Gelegenheit einen gestohlen und hätte Casabones verlassen, wie die anderen auch. Sie hätte leben können.

Das ist der wahre Grund des Leidens: Die Dummheit, es nicht zu vermeiden. Das Pech, Menschen zu begegnen, die die Ursache des Leidens sind. Woher kommt denn sonst das Leiden in die Welt? Naturkatastrophen? Erdbeben, Brände, Überschwemmungen? Nicht doch. Die Natur ist nicht prinzipiell bösartig. Die zahlenmäßigen Zusammenhänge sind doch deutlich. Hauptursache des Leidens ist immer noch der Mensch und die Handlungen, die er in der Welt vornimmt. Habe ich ja selbst zur Genüge gemacht, seit ich hier unten bin. Diese Verletzung, die ich dem einen vorhin mit dem Schwert beigebracht habe, war das vielleicht eine Naturkatastrophe? Hängt Charmion etwa wegen einer Naturkatastrophe am Kreuz?

"Charmion, ich kann nichts ..." fange ich hilflos an, aber sie fährt mir so hastig, wie es ihr möglich ist, mit gepresster Stimme über den Mund:

"Herwig, du bist ein Arschloch!"

Und nach einer Weile, die sie braucht, um Luft zu sammeln:

"Geh doch weg."

31.5 Befreiungspläne und ein Mühlstein

Sie zwingen mich nicht, zur Arbeit zu gehen. Sie zwingen mich zu überhaupt nichts, ich könnte die ganze Zeit am Kreuz bleiben, solange ich nur nicht versuche, sie da runter zu holen. Ich glaube, sogar, wenn sie auf meine Arbeitskraft Wert legten, dann würden sie mein Hierbleiben tolerieren. Daß ich ungefragt mit der Gruppe mitgehe, die sich zum Steinbruch begeben wird, ist nichts als Feigheit. Ich kann nicht bei Charmion bleiben, und ich kann sie nicht alleinelassen. Aber wenn ich sie nicht dauernd sehe, dann kann ich sekundenweise vergessen, was ich angerichtet habe und was ich immer noch nicht verhindere. Und das ist es doch, da bilde ich mir gar nichts anderes ein.

Und ich weiß: Noch könnte man sie abnehmen. Noch sind ihre Gliedmaßen nicht lange genug abgebunden. Sie würde keine Spätschäden davontragen. Noch. Mit jeder Minute, die verrinnt, wird das langsam anders. - Noch könnte man sie abnehmen. Aber ich kann es nicht - man würde es verhindern. Also brauche ich es gar nicht zu versuchen. Und deshalb brauche ich mich nicht an ihrem Kreuz aufzuhalten.

Wie gut haben es die Leute, denen die Selbstrechtfertigung schon so in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß sie an meiner Stelle schon längst einen dritten Schuldigen an der ganzen Situation ausgemacht hätten, und die auch schon gute Gründe dafür parat hätten, warum man nicht am Kreuz einer Sterbenden anwesend sein sollte.

Wenn sie mich dort nicht in der Nähe haben will, dann wäre es doch ein leichtes für mich, mich so außerhalb ihres Blickwinkels aufzuhalten, daß, wenn sie sich anders entschiede, ich sofort und ohne Zeitverzug an ihrer Seite wäre!

Oder ist sie, in einem wahren Sinne 'gütig', indem sie vorgibt, mich nicht bei sich haben zu wollen, um mir ihren Anblick zu ersparen? Ist es das? Wollte sie mir ein schlechtes Gewissen ersparen? Aber was ist ein schlechtes Gewissen gegen die Qualen einer Kreuzigung? Ich weiß es nicht, was sie denkt oder denken könnte, und was ich besser machen könnte.

Ausbrechen. Mich selber in die Wälder schlagen, Waffen besorgen. Da habe ich ja noch so ein Versteck am alten Tor in der Mauer. Dann anschleichen. Überraschungsüberfall. Ehe Verstärkung kommen kann, rauf auf's Kreuz und sie abbinden. Vielleicht sind sogar noch ihre Gliedmaßen zu retten, und sie wird sogar wieder ganz gesund. Und dann verbergen wir uns beide in den Wäldern, bis wir Fallschirme in unseren Besitz bringen können. Ich müßte das nur ganz schnell in die Wege leiten.

Aber Osont wird vermuten, daß ich genau solche Gedankengänge habe. Er wird mich beobachten und beobachten lassen. Kann ich nicht sicher sein, daß, wenn ich plötzlich verschwinde, eine wesentlich stärkere Wache um die Kreuzigungsstätte Stellung bezieht? Das jedenfalls täte ich an Osont's Stelle. Er kann nicht so dumm sein, nicht daran zu denken.

Und dann ist da ja auch das Risiko, daß er seine Entscheidung, daß ich mit von Casabones fliehen soll, ändern könnte, wenn ich mich unbotmäßig verhalte. Gefangengenommen bis zum Abschluß der Fluchtvorbereitungen. Ist es das wert? Am Ende bleibe ich allein auf Casabones zurück, allein mit einigen Kreuzen, an derem einen ein Kadaver vor sich hin modert, und ich für alle Zeit verdammt, auf Casabones zu bleiben und die Oberwelt nie wieder zu sehen. Wie Oom.

Und einen Tag warten, oder zwei? Bis Osont denkt, ich tue das nicht mehr und der Befreiungsversuch eine größere Erfolgsaussicht hat? Und dann? Aber dann wird Charmion zwei Arme und zwei Beine haben, die schon dabei sind, anzufaulen. Selbst, wenn sie es überlebt, täte ich ihr einen Gefallen? - Denke alle Möglichkeiten durch, Herwig: wenn ihre Gliedmaßen wirklich nicht zu retten sind, besteht noch die Möglichkeit der schnellen Zwangsamputation und des Verbindens dieser großen Wunden, bevor sie verblutet. Ich traue mir schon zu, ein Schwert so sauber zu führen, daß das schnell geht, und die Wundversorgung kriege ich wohl auch noch leidlich hin. Aber dann? Charmion für immer hilflos? Auf meine Hilfe angewiesen, der ich doch wieder in meine eigene Welt zurückwill? Sie kann sich dann nicht mehr selbst ernähren, sie kann Casabones nicht verlassen, sie kann gar nichts mehr von dem, was in dieser Welt unbedingt erforderlich ist. Warum wohl sieht man hier nur gesunde Menschen?

Auch eine Sackgasse.

Noch eine Alternative: Sollte ich sie mit einem gezielten Bogenschuß töten, um ihr die langen Leiden zu ersparen? Das könnte gelingen, bevor man mich daran hindert.

Aber ich bin nicht im Bogenschießen geübt. Ich würde sie verfehlen, oder unnötig verletzen, ohne daß sie davon gleich stirbt. Und dann wäre ich ja sowieso dazu zu feige. Sieh es realistisch, Herwig: Das schaffst du auch nicht. Und du wirst niemand anders finden, der es für dich tut, denn niemand sonst ist an Charmion's Überleben wirklich interessiert, und an ihrem schnellen Tod auch nicht.

Wie ein ungeschickter Roboter stolpere ich zur Arbeit, in den Steinbruch. Osont hat endlich jemanden beauftragt, für die Herstellung von Mühlsteinen zu sorgen. Es interessiert mich überhaupt nicht. Ich muß jemandem erklären, wie man einen Stein anbohrt. Ich weiß es nicht und es interessiert mich nicht. Sie lauschen meinen Worten, und ich weiß nicht, wovon ich rede. Dann beraten sie und machen irgend etwas, und ich denke an Charmion. Schwerter brechen, Stein schleift ineffektiv auf Stein, und es werden Experimente mit Steinen verschiedenen Härte gemacht. Jemand klemmt sich einen Finger ein, und ich denke an Charmion's abgeklemmte Beine und Arme. Dann wird Essen verteilt, und als ich merke, woher das Fleisch nur kommen kann, denke ich daran, daß sie vielleicht Charmion auch auffressen werden. Jedenfalls das, was von ihr noch genießbar sein wird. Und dann esse ich weiter, ich zwinge mich dazu und ich zwinge mich nicht, denn es ist mein gutes Recht, die aufzuessen, die zu denen gehörten, die mein Mädchen töten. Es ist das erste Mal, daß ich es richtig finde, ein Menschenfresser zu sein. In einer Welt der Gewalt und Gegengewalt ist das nur eine von vielen sozialen Interaktionen, und nicht einmal die schlimmste.

Die Stunden vergehen, und es entsteht etwas ähnliches wie ein Mühlstein. Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Und wie lange schon? Als die anderen aufhören, zu arbeiten, gehe ich nicht mit ihnen. Ich muß zurück zum Kreuz. Ich hätte nie da weggehen dürfen.

31.6 Wasserreichung

Sie hängt noch da, wie ich sie verlassen habe. Die Wachen fassen an ihre Schwerter, aber weil ich mit bloßen Händen nichts anrichten kann, lassen sie es dabei. Ich setze mich an den Fuß ihres Kreuzes, wo sie mich nicht sehen kann. Da ist ein übler Geruch, wie kranker Schweiß, und er kommt nicht von mir.

Einer der Wachen deutet auf die liegende Leiter: "Willst du ihr zu trinken geben? Aber du darfst kein Messer mit hinaufnehmen! - Ah, du hast keins. Gut."

Sie richten die Leiter für mich auf, ohne weiter zu fragen. Die Leiter kommt auf dem Querbalken, der ihren rechten Arm hält, zu liegen, und weil sie recht steil steht, wird der abgebundene Teil ihres Armes eingeklemmt. Sie wird es wahrscheinlich nicht fühlen.

Dann geben sie mir die Wasserschale, und ich muß hinaufsteigen. Einer hält unten die Leiter fest.

Nimm dich zusammen, Herwig. Niemandem ist geholfen, wenn du jetzt heulst. Das ist kein Begräbnis, das wird erst eins. Oder auch nicht.

Sie hängt seltsam verrenkt, und ich kann nicht erkennen, ob sie ihre Schultergelenke ausgekugelt hat. Mit geschlossenen Augen zieht sie jeden einzelnen Atemzug in sich hinein. Dazwischen gönnt sie sich immer eine Pause, bis sie den nächsten Atemzug nehmen muß.

Die abgebundenen Arme scheinen aufgequollen und sind von dunkler, ungesunder Farbe. Ihr ganzer Körper ist von Schweiß bedeckt, der definitiv krank riecht.

Wie gibt man jemanden in dieser Situation zu trinken? In der Bibel war doch von einem Schwamm die Rede. Aber ich habe keinen Schwamm. Ich kann nur meine rechte Hand ins Wasser legen und ihr über den Mund legen. Sie fängt tatsächlich an, daran zu lecken, ohne die Augen aufzumachen. Denkt sie, daß ich einer von den Wachen bin?

Mit der Restfeuchtigkeit wische ich ihr über das Gesicht. Dann tauche ich meine Hand wieder in das Wasser und der Vorgang wiederholt sich. Ich kann ihr auf diese Weise Gesicht, Stirn und Oberkörper, Bauch und Busen abwischen. Aber viel Flüssigkeit kann sie auf diese inneffektive Weise nicht aufnehmen. Ihre Busen hängen schlaffer als sonst: Sie dehydriert. Vielleicht hilft ihr das, damit es schneller vorbei ist.

Oder muß ich, soll ich jetzt selber helfen? Die Hand noch einmal auf den Mund, gleichzeitig Mund und Nase zuhalten? Geht das lange genug, bevor die da unten merken, was ich vorhabe? Die Wachen sehen mir sehr genau zu. Wahrscheinlich geht es nicht. Außerdem kann ich das nicht.

Der größte Teil des Wassers ist verbraucht. Die paar restlichen Tropfen kippe ich ihr in die Haare. Sie reagiert nicht darauf.

"Charmion," sage ich, "Kann ich etwas für dich tun?"

Sie sagt nichts. Als ob sie mich nicht gehört hätte. Immer nur Einatmen, Ausatmen, Pause - Einatmen, Ausatmen, Pause. Wie kann man verlangen, dann sprechen zu müssen?

Sie fordert nichts, was ich doch nicht erfüllen kann. Keine Fragen. Nichts. Als ob ich nicht da wäre. Ich bin unwichtig. Ich gehöre zur Welt der Lebenden. Mit denen hat sie nichts mehr zu schaffen. Sie ist bloß noch dabei, den Übergang zu bewältigen. Herwig, verschwinde, wird sie denken. Ich weiß nicht, was sie sonst noch denken könnte, jetzt. Außer an das Atmen.

"Charmion, stirb schnell!" sage ich flehentlich. Als ob sie darauf Einfluß hätte. "Stirb doch schnell." Sie hört nicht. Sie will nicht hören. Und es gibt nichts, was ich ihr sonst noch erzählen könnte, was sie jetzt noch interessieren würde.

Dann steige ich von der Leiter wieder herunter. Zwei Männer von der Wache legen sie wieder an ihren Platz.

Weil ich nicht weiß, wo ich während der Schlafperiode sonst hingehen sollte, setze ich mich an den Fuß des Kreuzes.

31.7 Das letzte Ringen

Um 14 Uhr wechseln die Wachen. Die Männer, die sich jetzt auf die liegenden Holzbalken verteilen, sind mißmutig, da sie gegen ihren Schlafrythmus wach sein müssen. Sie reden mit der abziehenden Wache, und viele Blicke werden in meine Richtung geworfen.

Einer der abziehenden Männer - es könnte der älteste von ihnen sein - tritt auf mich zu:

"Es geht schnell bei ihr. Es ist sehr unterschiedlich. Ich habe schon viele Kreuzigungen erlebt. - Seltsam, eigentlich war sie sehr stark."

Ich sage nichts auf diese Aussage, die vielleicht als eine Art Trost gemeint sein könnte, oder aber als eine sachliche Information. Der Mann geht mit den anderen weg, ohne einen Blick auf Charmion zu werfen: Dienstschluß.

'Eigentlich war sie sehr stark', hat er gesagt. Spricht von ihr bereits in der Vergangenheit. Ob Charmion es gehört hat?

Über mir ist immer das gleiche Geräusch: Gepresstes Einatmen, pfeifendes Ausatmen, eine Pause solange wie möglich, bevor die zähe Natur von Charmion den nächsten Atemzug erzwingt. So geht es Atemzug für Atemzug, und es hört nicht auf. 'Es geht schnell bei ihr,' nennt man das.

Irene wäre schon längst gestorben. Ist das ein mir erlaubter Gedanke? Wünsche ich Irene an Charmion's Stelle? Sie ist doch meine Frau! Und Charmion ist mein Mädchen - wie kann ich da wählen. Wenn Irene hier wäre, Osont hätte sich sicher ein ähnliches Spiel ausgedacht.

Oom wäre noch schneller tot, besonders in dem Zustand, indem er jetzt noch ist - Moment, denke ich, Oom liegt immer noch angenagelt in seiner Wohnhöhle, vielleicht schon 36 Stunden. Ob er noch lebt? Und wenn ja, wäre es da nicht meine Pflicht, hinzugehen und ihm zu helfen? Charmion kann ich ja konkret nicht helfen. Und vielleicht ergeben sich neue Gesichtspunkte. Andererseits, wenn ich nicht hier bleibe und irgendein Umstand eintritt, der die Rettung von Charmion ermöglicht - ich muß einfach hier bleiben.

Das keuchende Atmen über mir wird flacher, dann kommt ein ineffektiver Hustenanfall. Dann wieder Atmen - Pause - Atmen. Es fallen Tropfen herunter - sie uriniert. Ich weiß nicht, ob sie das bewußt macht. Ich bin müde, manchmal falle ich für Sekunden in Schlaf. Dann habe ich Visionen: Ich falle hier zusammen mit einer modernen Infanterieeinheit ein, wir leeren in jeden der Wachposten Magazine über Magazine, und dann, wenn wir fertig sind, legen wir das Kreuz um, und gutausgebildete Armee-Ärzte kümmern sich um Charmion, damit sie wieder ganz gesund wird und ihre Glieder behält. Und dann wache ich wieder auf, und sie keucht immer noch. Ich leiste mir den Luxus, zu schlafen, und sie arbeitet an jedem einzelnen Atemzug. Was bist du nur für ein Mensch, daß du diesen Wunschgedanken nachhängen kannst, anstatt an wirksamen Konzepten zu ihrer Rettung zu arbeiten!

Einige der Wachposten schlafen - leider nicht alle. Soll ich das ausnutzen, kann ich es, und wie? Szenarien überschlagen sich in meinem Kopf - die Infanterieeinheit, von der ich geträumt habe, wäre das beste, aber die gibt es hier nicht.

Und dann gehen die Wachträume zu möglichen Naturkatastrophen. Erdbeben - könnte nicht gerade jetzt ein Teil der Welthöhle einstürzen? Könnte nicht der Pilzberg Casabones gerade jetzt zusammenbrechen? Oder wenigstens ein Sturm, der alle Kreuze umwirft? Würde das ihre Chancen verbessern?

Die Schlafperiode vergeht in gleichbleibender Helligkeit, wie alle Schlafperioden in der Welthöhle. Ich schlafe meistens nicht, und Charmion überhaupt nicht. Sie wird überhaupt keine einzige Sekunde Schlaf mehr bekommen. Nicht in dieser Welt. Ihr nächster Schlaf heißt Tod. Sie schiebt ihn jede Sekunde vor sich her. Kann sie nicht einfach zu Atmen aufhören? Sie kann doch soviel. Oder zwingt das Leben sie, immer weiterzumachen? Was theoretisiere ich überhaupt rum, ich hänge doch nicht am Kreuz.

Wenn wir nie auf die Zugspitze gegangen wären. Wir hätten niemals den Felsspalt entdeckt, wären niemals in die Welt der Granitbeißer abgestiegen. Wir würden uns nicht einmal mehr über das Wochenende vor vier Wochen, das wir nicht genutzt haben, um in die Berge zu gehen, ärgern. Drei andere Wochenendwanderungen hätten inzwischen stattfinden können. Und wir würden nichts über die Welt so tief unter unseren Füßen wissen.

Niemals hätte ich Charmion kennengelernt, niemals wäre ich meiner Frau untreu geworden, niemals hätte ich das Töten so gelernt wie ich es jetzt schon getan habe. Charmion wüßte nichts von mir und ich nichts von ihr. Die Handlungsstränge wären anders verflochten. Sie wäre vielleicht nicht Mitglied der Gruppe gewesen, die die Männer von Casabones holen sollte. Sie wäre jetzt irgendwo da unten auf dem Saurierfänger, der vielleicht längst schon wieder abgelegt hat. Ich wäre gerade vom Dienst nach Hause gekommen. Es ist ein Montag. Man hätte keinen anderen Kummer als den, daß das nächste Wochenende noch soweit entfernt ist und daß man morgen so früh aufstehen muß.

Vielleicht wäre Charmion schon längst anders gestorben, wie es in dieser Welt ja so leicht passiert - ein lautloser Absturz wie Chrwerjat, oder kämpfend auf einem Flugsaurier reitend und mit diesem noch im freien Fall den letzten Kampf ausfechtend. Vielleicht auch auf dem Saurierfänger, ein Kampf mit einem Ungeheuer aus der Tiefe, den sie gerade eben nicht gewinnt. Es wäre ihr angemessener gewesen. Wieso muß die beste von allen den elendigsten Tod erleiden?

Wieder hustet Charmion trocken. Sie braucht neues Wasser. Ich stehe auf und frage den Wachleiter. Aber der ist unwillig, weil er auch müde ist, und so wird die Leiter nicht angelegt. Stirbt sie dadurch schneller? Wie geht die Arithmetik? Viel Qual gegen mehr Qual und weniger Zeit? Was immer die richtige Antwort ist, ich kann nichts tun. Ich setze mich wieder an den Kreuzbalken. Die Wachen, die mir zusehen, schütteln den Kopf: Wie kann man sich dahinsetzen, wo Urin, Scheiße und Sputum herunterfallen können? Sterbende sind nicht sauber, das weiß man doch.

Oom befreien. Es ist eine fixe Idee. Vielleicht weiß er irgendwas. Wenn er noch lebt. Wenn er noch reden kann. Charmion weiß genau, wie Oom zugerichtet wurde, aber sie kann nichts sagen. Soll ich hingehen? Ich würde eine Weile Charmion nicht beim Sterben zusehen und zuhören müssen. Aber wenn sie mich ruft? Christus hat doch am Kreuz auch noch geredet, oder? Also kann man das.

Also gut. Tu irgend etwas. Ich stehe langsam auf, um die Wachen nicht zu beunruhigen, und gehe die Dorfstraße in Richtung Fort. Vielleicht sieht Charmion mich aus den Augenwinkeln weggehen. Das kann ich jetzt nicht ändern. Als ich soweit vom Kreuzigungsplatz entfernt bin, daß der Nebel mich verbirgt, fange ich an, zu laufen. Niemand begegnet mir.

Wenn dieses doch ein Lauf auf einer Forststraße irgendwo da oben auf der Erde wäre, an einem nebligen Tag, und wenn ich nach Hause komme, dann wartet die Irene auf mich, und das heiße Bad. Das ist jetzt alles so weit entfernt.

Den ganzen Weg bis zum Seeufer begegnet mir niemand. Der große, verkohlte Schutthaufen, der einmal das Fort gewesen war, qualmt noch auf seinem Felsen. Niemand sieht mehr zu.

Ich finde den Abstieg zu Oom's Platz. In Windeseile steige ich den Pfad herunter, immer vorsichtig, denn ich glaube, daß nie mehr jemand hier hinkommen wird, wenn ich so ungeschickt sein sollte und ausrutsche.

Oom's Hütte ist leer. Er ist nirgends zu sehen, nicht in der Hütte und nicht davor. Das, was vermutlich sein Lager ist, weist zwar Blutflecken auf, aber von den restlichen Spuren würde ich nicht darauf schließen, daß sie tatsächlich den Alten grausam an sein eigenes Bett genagelt haben. Vielleicht hat Charmion sich geirrt, als sie den Alten im Halbdunkel der Hütte gesehen hat. Vielleicht war er nur gefesselt - für den Zweck, sie in eine Falle zu locken, wäre es ja ausreichend gewesen. Ich fasse wieder Hoffnung und rufe Oom's Namen, erst auf dem flachen Uferstück, und dann, als ich die Klippen wieder erklommen habe, oben im Wald. Niemand antwortet. Ich nutze die Gelegenheit, mir etwas zu Essen zu suchen, so, wie Charmion es mir gezeigt hat. Natürlich kommt mir das unangemessen vor, solange sie am Kreuz mit dem Tode ringt, aber vielleicht brauche ich meine Kräfte noch.

Beim Essen fällt mir aber auch für Oom noch ein Szenario ein: Er könnte nachträglich geholt worden sein. Zur Aufstockung der Lebensmittelvorräte.

Als ich dann später, mitten in der Schlafperiode, wieder zum Kreuzigungsplatz komme, hat sich nichts verändert. Charmion kämpft immer noch um jeden Atemzug. Ihr Oberkörper hat sich weiter vorgeneigt. Wie sie das gemacht hat, kann ich nicht erkennen. Unter den wachsamen Augen der Männer, die noch wach sind, kann ich das nicht näher herausfinden, weil es nicht so aussieht, als ob irgendjemand jetzt den Aufwand mit dem Anstellen einer Leiter treiben will.

Ich trete so vor das Kreuz, das Charmion mich sehen kann, wenn sie bei Bewußtsein ist und die Augen aufmacht, etwa 15 Meter vom Fuße des Kreuzes entfernt.

Sie hält die Augen ständig geschlossen, und ich schäme mich, daß mir das angenehmer ist - andererseits möchte ich auch, daß sie mich sieht.

"Du, laß dir nichts einfallen, ja?" sagt einer der Männer hinter mir mit drohendem Unterton. Vielleicht ist es diese Lautäußerung, die Charmion kurz blinzeln läßt. Sie muß mich sehen.

Sie spricht. In abgewürgten Sätzen sagt sie etwas, und ich kann dem Gekrächze nichts entnehmen. Sie hat große Schwierigkeiten, überhaupt etwas zu sagen, und ich kann es nicht verstehen - vielleicht wird sie das nie wieder sagen!

"Charmion, ich - was sagst du?"

Sie versucht, zu wiederholen und gibt auf. Sie muß atmen. Der dumme Herwig versteht die Xonchensprache nicht gut genug, um ein paar Sätze zu begreifen - vielleicht war es das wichtigste, was sie je im Leben gesagt hat. Und ich kann es nicht verstehen.

Und der Herwig steht machtlos da, sieht sie gar nicht, weil er durch einen Tränenschleier gucken muß, und das geht so schlecht. Bietet ihr noch zum Schluß dieses unmännliche Schauspiel, zum großen Vergnügen der zusehenden Wachen. Sie stoßen einander an und wecken den, der noch schläft. Da heult jemand wegen einer Frau! Noch dazu wegen einer, die bald schon tot ist und jetzt schon aussieht wie ein Stück Scheiße!

Charmion versucht, sich zu bewegen. Ihre Farbe ist ungesund, und wenn ich bisher nie gewußt habe, was man darunter versteht, wenn man sagt, ein Gesicht sei 'eingefallen', jetzt weiß ich es. Die Vergiftung, die aus ihren abgebundenen, blauschwarz angeschwollenen Gliedmaßen herrührt, muß den Organismus schon sehr stark belasten. Dazu der Flüssigkeitsmangel, der sich bei den hier herrschenden Temperaturen schneller auswirkt als in einer kühleren Umgebung, und die stundenlange Schwerarbeit des Atmens bei dieser Zwangskörperhaltung. Der Mann vorhin, am Beginn der Schlafperiode, hatte recht: Es kann nicht mehr lange dauern. Und sie ist schon weit über den Punkt hinüber, wo man sie noch hätte abnehmen können. Vielleicht schafft sie es in weniger als 27 Stunden.

Vielleicht haben sie bei der Kreuzigung etwas falsch gemacht, was weiß ich. Etwas mehr abbinden, oder etwas weniger, vielleicht kann das schon den Unterschied zwischen einem tagelangen Todeskampf bedeuten und einem, der schon in wenigen Stunden beendet ist. Vielleicht haben sie ihr versehentlich eine kleine Wunde beigebracht, die sich entzündet hat. Eine Infektion oder eine andere Komplikation.

Ich weiß es nicht. Ich bin kein Fachmann für Kreuzigungen. Oder sollte man sagen, 'Facharzt'? Die Nazis hatten Ärzte, die auf das Töten spezialisiert waren. Was denke ich überhaupt - es ist doch unpassend, am Kreuz der Freundin zu stehen und historische Vergleiche zu ziehen oder über die medizinischen Vorgänge im Körper der Sterbenden nachzudenken. Was für ein Armutszeugnis, wenn ich sonst nichts für sie tun kann - aber was kann ich denn tun? Nicht einmal zuhören kann ich, wenn sie ein bißchen undeutlich spricht!

Und sie strengt sich wieder an, reckt sich, reißt lautlos den Mund auf - ist da irgend etwas anderes kaputt gegangen? Will sie etwas sagen und kann nicht? Will sie weinen und kann nicht, weil der Körper dafür keine Flüssigkeit mehr entbehren kann?

"Legt doch eine Leiter an, könnt ihr keine Leiter anlegen!" brülle ich die Wachen an. Die meisten finden das komisch.

Aber ich bin Chefscharfrichter. Wie ernst Osont das gemeint hat, weiß ich nicht, aber eigentlich weiß das keiner so genau. Und deshalb legt man jetzt eine Leiter an. Ich steige zu ihr hinauf, nachdem ich eine der bereitstehenden Wasserschalen genommen habe.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie einer einen Bogen auf mich anlegt. Damit ich ja nicht auf dumme Gedanken komme. Weisung von Osont oder eigene Initiative? Ich weiß es nicht.

Charmion ist schweißgebadet und stinkt. Woher ihr Körper jetzt noch die Flüssigkeit dazu nimmt weiß ich nicht. Ich versuche, ihr die Schale an die Lippen zu setzen, aber das ist sehr ineffektiv, weil sie ihre Lippen kaum koordiniert bewegen kann. Es geht zuviel daneben, und deshalb mache ich es so, wie ich es schon früher gemacht habe: Hand eintauchen und ihr die nasse Hand auf die Lippen legen, damit sie sie ablecken kann.

Aber auch das geht nicht mehr gut, und ich merke, daß sie sogar Schluckbeschwerden hat. Vielleicht kann sie gar nicht mehr richtig schlucken? Ist ihr ganzer Rachen ein Schleimpropf, der nicht mehr weggeht?

Eine gelbe Flüssigkeit läuft ihr über die Unterlippe heraus und sabbelt ab. Es ist ekeleregend. Nie zuvor bin ich mit Krankenpflege befaßt gewesen. Ich muß mich überwinden. Hoffentlich merkt sie es mir nicht an. - Aber mit dem Schlucken geht es nicht so richtig. Und die ganze Zeit zielt ein Pfeil auf mich.

Hals kneten, so wie man Querschnittgelähmten Blase und Mastdarm kneten muß? Hilft das was? Ich weiß es nicht. Der mit dem angelegten Bogen da unten könnte diesen Versuch auch falsch interpretieren. Ich muß überleben, denke ich, Irene zuliebe, nur in diesen Rahmen kann ich etwas für Charmion tun, so wenig, wie es ist.

Ich verbrauche die ganze Wasserschale. Was sie nicht in den Schlund hineinbringt, verreibe ich auf ihrem Körper. Notwaschung. Verdampfungskälte. Irgendwas muß es nützen. Sie versucht nicht, noch einmal etwas zu sagen, vielleicht, weil sie meint, daß ich sie vorhin verstanden habe, oder weil sie keine Kraft mehr hat. Ein paarmal blinzelt sie mich an, aber die meiste Zeit sind ihre Augen geschlossen. Jedenfalls habe ich Zeit, das Wasser aus der Schale sehr sorgfältig zu verbrauchen.

Als ich fertig bin und die nächste logische Handlung wäre, wieder von der Leiter herunterzusteigen, windet sie sich aber wieder, als ob sie mir etwas sagen will. Mit Anstrengung reißt sie die Augen auf:

"Du - nach oben - Herwig - sehen wieder."

Aussage oder Frage?

"Charmion!" sage ich, "Ich bin doch bei dir!"

Schwachsinn. Niemand ist bei jemandem anders, der gerade hingerichtet wird. Sterben tut man immer allein, spätestens, wenn die Sinnesorgane die Verbindung zur Außenwelt nicht mehr halten können.

"Du - Irene - doch stark - müßt nach oben."

"Ja?"

"Versprechen - nach oben gehen?" Wieder gelber Geifer aus ihrem Mund. Jetzt wird ihr das Sprechen einen Moment lang leichter.

"Versprechen?" fragt sie noch einmal.

"Ja," sage ich, "ich verspreche es. Wir gehen nach oben. Ich werde - Ich werde dich ..."

Gerade noch kann ich mich bremsen, 'Ich werde dich nicht vergessen' zu sagen. Das ist doch das Eingeständnis, daß man sie aufgibt. Aber wenn ich es nicht sage? Dann ist sie plötzlich tot, und ich habe es ihr nicht gesagt, und ich kann es ihr nie mehr sagen. Sei nicht so feige.

"Ich werde dich nie vergessen, Charmion!" sage ich.

"Du - jetzt gehen - ich alleine." Sie sackt in sich zusammen, hängt wieder wie teilnahmslos da, mit geschlossenen Augen. Atemzug rein - Atemzug raus - Pause. Immer wieder. Das Spiel wie seit Stunden schon.

Ich streiche ihr Wangen und Stirn und Brust. Ich weiß nicht, ob sie etwas merkt. Die da unten lachen, aber es ist mir egal. Einer schlägt auf die Leiter. Sie werden ungeduldig. Ich muß runter.

Als die Leiter wieder an ihrem Platze liegt, laufe ich wieder in den Nebel hinein. Warum, weiß ich nicht. Als ich wieder richtig zu mir komme, bin ich an Oom's Platz. Ich bin die ganze Zeit gelaufen. Aber von Oom ist nichts zu sehen, und es gibt niemand, der mir helfen kann. Sinnlos brülle ich seinen Namen in den Nebel. Dann laufe ich zurück, die ganze Strecke, sehe nichts dabei, und setze mich am Fuße des Kreuzes nieder.

Ich glaube nicht, daß Charmion mich bemerkt. Sie ist immer noch mit dem Atmen beschäftigt. Aber die Pausen dazwischen sind lang.

Irgendwie finde ich gegen Ende der Schlafperiode für kurze Zeit Schlaf. Als ich wieder zu Bewußtsein komme, hat die Wache wieder gewechselt, und es geht auf 0 Uhr zu.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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