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******** 030. Tag: Sonntag 95-09-17 ********
30.1 Der Rammbock
Wenn es zu langweilig wird, dann besteht die Gefahr, daß ich einschlafe. Dann wiederum besteht auch die Gefahr, daß ich schnarche. Solche Dinge weiß man als Ehemann ja, weil man es gelegentlich immer wieder mitgeteilt bekommt. Wenn ich aber schnarche, dann könnte mich schon jemand finden. Das wäre unklug. Also muß ich wach bleiben.
Reglos liegt das Fort und läßt die Zeit an sich vorbeifließen. Wenn es jetzt keine menschlichen Aktivitäten hier gäbe, dann würde es sich nicht verändern. Lediglich in starkem Zeitraffer würde man den Verfall bemerken. Aber es wäre niemand da, der diesen Zeitrafferfilm herstellen oder sehen könnte. Wäre jemand da, dann wären die Seiteneffekte groß genug, zusätzliche und weit stärkere Veränderungen irgendwelcher Art zu bewirken.
Aber wir sind nicht hier, um einen Zeitrafferfilm zu drehen. Im Fort hält sich jemand auf, der eine andere Gruppe aus irgendeinem Grunde nicht hineinlassen will. Und diese andere Gruppe, denen zugehörig die Mitglieder dieser Gruppe auch mich betrachten, möchten trotzdem und jetzt erst recht in das Fort hinein. Beide Seiten sind bereit und in der Lage, Gewalt anzuwenden, und die Seite der Angreifer ist strategisch unterlegen, dafür aber in der Lage, Verstärkung und mehr Waffen heranzuschaffen. Beide Seiten wissen nichts von Charmion, und beide Seiten wissen nicht, wo ich mich gerade befinde. Aus dieser Situation muß ich das Beste machen.
Mir tun die Gelenke weh. Es ist bald 1 Uhr, und immer noch passiert nichts. 'Die meiste Zeit des Lebens steht der Soldat vergebens' - ein alter Spruch aus der Bundeswehrzeit. Der fällt mir immer in solchen Situationen ein.
2 Uhr vorbei. Gerade will ich meine Knochen neu umpositionieren, da höre ich ein merkwürdig gedämpftes Rumpeln und Scharren. Ich kann das Geräusch nicht interpretieren. Sehen tue ich auch noch nichts. Gedämpftes Rufen aus der Richtung des Weges zum Dorf, das langsam lauter wird. Und das Scharren und Knirschen erinnert mich an Räder auf einem Feldweg. Räder?
Dann sehe ich, daß sowohl aus dem Tor hinter der Zugbrücke als auch aus einigen der Fenster Pfeile fliegen. Sie verschwinden rechts, und ich kann nicht sehen, worauf sie abgeschossen wurden. Was immer es ist, es kommt näher, und es stellt wohl ein lohnendes Ziel dar.
Als ich sehen kann, was es ist, bin ich für einen Moment überrascht: Es ist ein beräderter und mit einem großen Frontschild versehener Rammbock! Da muß jemand viel Initiative in kurzer Zeit gezeigt haben. Obwohl die Räder grob gezimmert worden sind und den Eindruck machen, als ob sie jeden Moment zerbrechen könnten, sind sie effektiv und ermöglichen, den schweren Stamm des Rammbockes - einen der schwersten, den man hat finden können, wie sie den wohl durch den Mauerdurchbruch bekommen haben? - mit der Kraft von nicht allzuvielen Männern fortzubewegen.
Das Holzschild vorne an dem Fahrzeug dürfte ineffektiv sein, weil man aus schrägem Winkel noch ganz gut auf die Bedienungsmannschaft schießen kann. Nur Pfeilschüsse aus Richtung des Haupttores des Forts werden leidlich gut abgehalten.
Wieviel von unseren wertvollen Brettern, die bisher hergestellt worden sind, in dem Gerät verarbeitet wurden? Oder hat man Material aus den Dorfhütten verwendet?
Vielleicht achtzehn Mann sind beschäftigt, das schwere Ding zu schieben, und wenn der Fahrweg zur Zugbrücke nicht leicht abschüssig wäre, dann würden sie das hohe Tempo kaum durchhalten können. Ich kann nicht erkennen, ob es schon Verluste gegeben hat. Es sieht so aus, als ob nicht, aber das wird eher seinen Grund in der schlechten Schießtechnik der Verteidiger haben. Es regnen weiter einige Pfeile auf die Angreifer herab, aber keiner davon trifft.
Dann geschieht alles sehr schnell. Das Rammbockgefährt poltert auf die Zugbrücke. Der Lärm ist beeindruckend und bedrohlich. Gibt es da überhaupt ein Tor, was man zumachen kann, und ist es zugemacht worden? Das kann ich von meinem Standort nicht erkennen. Dafür habe ich den besten Beobachterplatz für das, was nun geschieht: Als das ganze Gefährt und seine Bedienungsmannschaft auf der Zugbrücke ist, bricht sie durch. Einfach so.
Ein vielstimmiger Schrei begleitet den Sturz. Rammbock und Zugbrückenteile kollidieren mit den Felsen, und zwischen den schweren, herabfallenden Gegenständen werden die ersten menschlichen Leiber zerbrochen, erdrückt und zerrieben. Markerschütternde Schreie sind zu hören, und dann, außerhalb meines Blickwinkels, das schwere polternde und platschende Aufschlagen des Rammbocks.
Zwei müssen überlebt haben. Einer wimmert und einer schreit, unaufhörlich. Leiseres Ächzen und Stöhnen kann ich von hier aus nicht hören, und die Art der Verletzungen der beiden Überlebenden kann ich so auch nicht diagnostizieren. Schon nach wenigen Minuten wünsche ich, daß er bald sterben möge. Aber den Gefallen tut er nicht. Mir nicht und sich nicht. Was mögen das für Verletzungen sein, die einen am Leben lassen, aber schwer genug sind, einen unaufhörlich schreien zu lassen? Ich will es nicht zu genau wissen. Das Schreien hindert mich aber daran, es völlig zu ignorieren.
Ich weiß nicht, ob jemand im Fort gelacht hat, ich habe nicht darauf geachtet. Im Moment gibt es von keiner Seite eine Reaktion. Bis auf die fehlende Zugbrücke und das nerventötende Geheul ist alles so wie vorher. Mit der Illusion eines verlassenen Bauwerkes ist es jetzt natürlich vorbei.
Jetzt sind es schon 20 oder 22 Menschen, die umgekommen sind, und nur deshalb, weil sich zwei Parteien um den Besitz eines Forts streiten, und wahrscheinlich beide Seiten an der wohlgefüllten, stinkenden Speisekammer interessiert sind. Eine Speisekammer mit menschlichen Leichenteilen.
Vielleicht ganz gut, daß ich nicht bei der Gruppe geblieben bin. Vielleicht hätte man mich überredet, bei diesem Rammbockunternehmen mitzumachen. Dann läge ich jetzt auch da unten, tot oder gräßlich verstümmelt und bald tot. Schon wieder gerade eben noch einmal davongekommen. Und es ist erst wenige Stunden her, daß mir fast das Auge ausgeschossen worden wäre.
Ich - das heißt, wir, Irene und, wenn möglich, auch Charmion - müssen hier weg, müssen wieder nach oben, in unsere Welt. Bloße Wahrscheinlichkeitsrechnung spricht dagegen, daß wir immer bei all diesen bedrohlichen Situationen davonkommen. Wie oft bin ich eigentlich in den letzten vier Wochen so gerade eben am Tod vorbeigeschlittert? Wenn man einen Roman mit einer solchen Häufung von gefährlichen Situationen lesen würde, würde man die gesamte Handlung unschwer als konstruiert und auf Spannung optimiert erkennen. Aber dieses ist die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit mißt man nicht in Kategorien wie 'unterhaltsam' oder 'spannend'. In der Wirklichkeit will man überleben und nach Hause. In der Wirklichkeit will man aufregende Sachen nur im Fernsehen sehen.
Irgendwie sprechen auch alle Prinzipien der Evolution dagegen, daß eine Gesellschaft ständig mit einer Umwelt wechselwirkt, die alle Mitglieder dieser Gesellschaft von einer Lebensgefahr in die andere führt. Im Laufe der Zeit würde diese Gesellschaft ausgerottet werden, oder sie würden sich gegenseitig ausrotten, wenn sie einander Ursache für diese Gefährlichkeit des Lebens wären.
Aber ist das hier nicht auch der Fall? Die geringe Bevölkerungsdichte der Granitbeißer in der Welthöhle ist eigentlich doch der beste Beleg dafür. Es ist keine große Leistung, die Kopfzahl einer Bevölkerung in jeder Generation zu verdoppeln. Das heißt rechnerisch eine Vertausendfachung in bloß zehn Generationen, oder eine Vermillionenfachung in zwanzig Generationen. Die Mechanismen, die die Granitbeißer bevölkerungsdichtemäßig kurz halten, sind jedenfalls sehr wirksam, und es sind ihrer viele.
Wieder vergehen viele Minuten. Langsam ergreift den verletzten Schreier Erschöpfung. Es gibt bereits sekundenlange Pausen, vielleicht gefüllt mit einem gurgelnden Röcheln. Dann geht es wieder weiter. Das andere Wimmern, das auch noch da war, ist bereits nicht mehr zu hören.
Was die Angreifer sich jetzt wohl ausdenken? Ich könnte ja hingehen und fragen, aber dann müßte ich meine lange Abwesenheit erklären. Also lasse ich es.
Im Prinzip könnte man die Schlucht oder diesen See umgehen und von der anderen Seite heran - da ist ja noch eine Zugbrücke. Vielleicht paßt nicht einmal jemand drauf auf, aber daß die Verteidiger so nachlässig sind, das kann ich einfach nicht glauben.
Und dann ist da auch noch der Weg, den wir selbst ganz am Anfang genommen haben, vom Grunde der Schlucht in das Fort hinauf. Aber der ist ohne Kooperation mit denen, die sich im Fort aufhalten, ja überhaupt nicht zu bewältigen.
Das Schreien ist jetzt einem immer selteneren, mühsamen Wimmern gewichen. Ein paarmal klagt die Stimme auch, aber meine mangelhafte Beherrschung der Xonchen-Sprache läßt nicht zu, daß ich irgend etwas verstehe. Der Verletzte scheint mit jemandem zu sprechen. Weil da unten aber niemand ist, mit dem er sprechen könnte, spricht er entweder seine toten Kameraden an, oder er hat wundfieberbedingte Erscheinungen, oder er spricht mit sich selbst. Manchmal habe ich, wenn ich Zeuge solcher Situationen bin - was bisher nur in Filmen vorkam - die Vision, zu dem Verletzten und Leidenden hinunterzusteigen und irgend etwas für ihn zu tun. Das würde in der Praxis an meinen mangelnden medizinischen Kenntnissen scheitern und wahrscheinlich könnte ich auch meinen Ekel nicht überwinden. Auch kann ich nicht durch Handauflegen heilen. Ich kann eigentlich sehr wenig in einer solchen Situation. Nur aber dazustehen und dem Leidenden zuzusehen ist keine besonders heroische Tat.
Es geht auf 3 Uhr zu, als ich bemerke, daß aus dem Fort wieder vereinzelt Pfeile abgeschossen werden. Ich sehe aber nicht, worauf, und ich habe zuvor auch nichts gehört. Ich muß ganz dringend pinkeln, aber weil ich nichts versäumen will und weil ich mich nicht zeigen möchte bleibt mir nichts anderes übrig, als den Platz, auf dem ich liege, rechts und links zu besprenkeln. Ich verteile den Urin möglichst gut, damit er schnell antrocknet und damit ich mich nicht am Ende durch eine Geruchsfahne verrate, wenn hier jemand in der Nähe vorbeikommen sollte.
30.2 Feuersturm
Dann fliegt ein Pfeil aus der Gegenrichtung heran, und an der Rauchspur sehe ich, daß es ein Brandpfeil ist. Allerdings verlöscht er während des Fluges, und er prallt an einer Stelle der Außenmauer des Forts ab, wo er sowieso nichts hätte anzünden können.
Von nun an werden aber alle paar Minuten Brandpfeile oder wenigstens ein Brandpfeil abgeschossen. Die Angreifer sind offenbar noch am Experimentieren, wie man die Pfeile am besten vorbereitet. Dafür haben sie den Vorteil, daß sie aus so großer Entfernung schießen können, so daß sie anfliegenden Pfeilen der Verteidiger rechtzeitig ausweichen können. Ob die Angreifer dann in Deckung springen oder einfach gegebenenfalls zur Seite treten weiß ich nicht, weil ich sie ja nicht sehe. Aber es wird mir schnell klar, daß sie sich durch das Abwehrfeuer aus dem Fort kaum gestört fühlen.
Wer wohl alles mitmacht? Ob Och und Osont schon am Kampfplatz sind? Wer von den beiden wohl mehr Initiative zeigt? Ich kann es von hier aus nicht in Erfahrung bringen.
Es fällt mir wieder ein, daß ich - vor wie langer Zeit - zu Chrwerjat über den Bumerang gesprochen und dabei nur Unglauben geerntet hatte. Ich überlege mir, ob die Karten mit Bumerangs auf beiden Seiten anders verteilt wären - ein Bumerang wäre ja noch eine der Entfernungswaffen, die technologisch zu den Granitbeißern passen würde und die ich immer noch verraten kann. Oder sagen wir, 'in diese Welt einbringen' kann. Klingt besser. Technologietransfer. Klingt noch besser. Bei dieser Konfrontation sind Bumerangs aber nicht viel nützlicher als Pfeile, wahrscheinlich sogar weniger. Die Verteidiger wären behindert, weil man eine Schleuderwaffe nicht sehr gut aus einem kleinen Fenster hinauswerfen kann, und die Angreifer würden zu häufig nur die Mauern treffen und die schwer herstellbaren Bumerangs würden schon nach einmaliger Anwendung in die Schlucht stürzen. Nein, ein Bumerang ist eine Waffe für das freie Feld. Ein Evolutionskind der australischen Steppe.
Und sonst? Mittelalterliche Brandschleudereinrichtungen? Kann man wahrscheinlich nicht schnell genug bauen, selbst, wenn jetzt jemand auf die Idee käme. Der Rammbock war ja wahrscheinlich schon das Ergebnis äußerster koordinierter Anstrengungen.
An einer Stelle auf dem Dach des Forts sehe ich schließlich eine Rauchfahne, die nicht erlischt. Das Feuer selber sehe ich nicht, es ist also möglich, daß bloß der Pfeil, wahrscheinlich gut mit Öl oder Wachs getränkt, noch vor sich hinkokelt. Es wäre jetzt für die Verteidiger unbedingt angezeigt, jemanden auf das Dach zu schicken, der sich um gefährlich plazierte Brandpfeile kümmert. Das könnte er wahrscheinlich auch ohne Gefahr tun. Aber auf diese Idee kommen sie offenbar nicht.
Auch Charmion's Turm wird beschossen, aber bislang sind alle Pfeile an der Außenmauer abgeprallt, und die zwei, die den Dachstuhl erreicht haben, sind ebenfalls abgelenkt worden und in die Tiefe gestürzt.
Dann, endlich, sehe ich am entfernteren Teil des Forts eine verstärkte Rauchentwicklung. Das ist kein Pfeil mehr, der da brennt, da hat etwas anderes Feuer gefangen. Und immer noch kümmert sich niemand um Löscharbeiten.
Jedenfalls ist das in sicherer Entfernung von Charmion's Turm. Das wird dauern, bis sich das Feuer bis dahin ausbreitet.
Das scheinen die Angreifer auch zu denken. Deshalb wird der diesseitige Teil des Forts nun verstärkt mit Brandpfeilen bearbeitet.
Dabei passiert ihnen ein bemerkenswerter Glückstreffer, den ich nur zufällig, weil ich zur richtigen Zeit auf die richtige Stelle blicke, überhaupt sehe: Ein Brandpfeil landet in einem der am tiefsten gelegenen Fenster des Forts. Das Fenster ist im Niveau sogar noch unter der ehemaligen Zugbrücke. Deshalb ist dort wohl kein Bogenschütze, weil der Standort dazu zu ungünstig ist.
Eigentlich müßten die Verteidiger die Rauchspur des Pfeiles sehen. Aber natürlich, sie müssen annehmen, daß der Pfeil gegen die Mauer geprallt ist, wie alle anderen auch. Außerdem kann man in einem Schwarm von Pfeilen nicht jedem Pfeil folgen.
Vielleicht kennen sie diesen tiefliegenden Raum nicht einmal. Ich selber bin ja nur in einem Bruchteil der Räume des Forts gewesen, und so wird es jedem anderen auch gegangen sein. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dieser Raum also leer, und wenn überhaupt niemand in diesem Raum ist, dann braucht der Pfeil nur noch auf etwas Brennbarem zu landen.
Und genau das geschieht. Es vergehen einige Minuten, bis die ersten Effekte eines sich ausbreitenden Feuers sichtbar werden. Aus einem der höher gelegenen Fenster kommt plötzlich eine feine Rauchfahne, die sich sehr rasch zu dickem Qualm verstärkt. Dann sind auch andere Fenster dran, immer mehr.
Ich höre lautes Rufen innerhalb des Forts. Sie haben es gemerkt, aber jetzt ist es zu spät. Schon dringt Prasseln und dumpfes Röhren bis hierher. Das Feuer muß guten Zug haben.
Nun qualmt es an verschiedenen Stellen des Daches. Nur zwanzig Sekunden nach der ersten Rauchfahne auf dem Dach bricht an einer Stelle das Feuer hervor. Funken sprühen, und innerhalb des Forts beginnt es, mächtig zu brausen. Der hohe Sauerstoffgehalt der Luft, denke ich - jetzt macht er sich bemerkbar.
Wahrscheinlich verlassen die Verteidiger das Fort jetzt über die rückwärtige Zugbrücke. Das kann ich von hier aus nicht sehen, aber ich sehe einige Gestalten an das Ende der diesseitigen ehemaligen Zugbrücke treten. Offenbar werden sie vom Fort aus nicht mehr beschossen. Sie haben gewonnen. Das Gefecht, nicht das Fort, natürlich. Das ist verloren.
Der Turm! Das Feuer ist zwischen Zugbrücke und Charmion's Turm ausgebrochen, und es weitet sich rasch aus. Der Turm wird zwar noch nicht von Rauch eingehüllt, weil in der windstillen Luft die Feuer- und Rauchwolken senkrecht nach oben abgehen, so, wie sie aus den Dachstühlen hervorbrechen, aber es kann nicht mehr lange dauern, bis der Turm direkt betroffen ist.
Auch innerhalb des Fort wird sich das Feuer auf die Räume unter dem Turm zubewegen. Der Weg aus dem Turm durch das Fort dürfte bereits versperrt sein. Charmion muß außen rum. Hoffentlich merkt sie es! Das Feuer kann sie ja kaum übersehen.
Mitten im Fort bricht ein Dachstuhl zusammen. Im Inneren geht eine Lawine von Steinen und brennenden Balken nieder, die eine beeindruckende Wolke aus Funken auslößt. Brennende Splitter werden aus der klaffenden Lücke des Daches überallhin geschleudert, wie bei einem Vulkanausbruch. Kurz darauf geschieht das noch einmal, und eine Seitenmauer dicht unter einer Dachkante bricht nach außen weg. Die Trümmer würden auf die Zugbrücke fallen, wenn sie noch existierte. Jetzt fallen sie tiefer, auf die Toten, die da unten liegen. Ob der Mann da unten noch schreit kann ich jetzt nicht mehr hören. Der Lärm ist zu heftig.
Nun sehe ich die ersten Rauchfahnen aus den Schießscharten von Charmion's Turm. Und ich habe sie noch nicht fliehen sehen! Hat sie sich schon früher davongemacht? Oder ist sie im letzten Moment durch das Fort geflohen? Hat sie es noch geschafft, oder wurde der Weg ihr bereits durch einstürzendes Gemäuer versperrt? Liegt sie am Ende gerade jetzt unter Trümmern und kann nicht mehr weg? Verbrennt sie in diesem Augenblick?
Ich kann nichts tun. Selbst, wenn mein Mut ausreichen würde, in das brennende Fort hineinzugehen - und ich weiß, er reicht nicht aus, denn es wäre jetzt schon Selbstmord - könnte ich ja nicht hinüber, ohne Zugbrücke. Und Schluchtwand und Seeufer sind zu steil, und der Felsen, auf dem das Fort steht, auch.
Nun sehe ich im Turm Licht, und der Rauch aus dessem Dachstuhl und Schießscharten ist recht heftig. Soweit ist das Feuer also schon. Wenn sie in ihrer Turmkammer geblieben wäre, dann müßte sie sich spätestens jetzt etwas einfallen lassen.
Der Luftzug bewegt bereits Balken auf dem Dach des Turmes. Jede Sekunde muß das Feuer sich bis dort vorgearbeitet haben.
Da bricht eine ganze Außenwand des Forts in die diesseitige Schlucht hinunter, in der Höhe von den Grundmauern über alle Stockwerke bis zum Dach. Eine Lawine von Feuer und Steinen fällt in die Schlucht, und der Boden zittert noch dort, wo ich mich aufhalte. Eine gigantische Feuerwolke bildet sich und reißt sogar noch schwere Balken mit sich wieder in die Höhe. Für einige Sekunden spüre ich einen Gluthauch auf meiner Haut - ein Schauer von intensiver Wärmestrahlung aus der Feuerwolke. Sogar der immerwährende Nebel rundherum wird durchgerührt und durch die Hitze ausgedünnt, und für Sekunden glaube ich, durch dunkle Flecken die ferne Höhlendecke erkennen zu können. Wie das wohl von weit weg über den Wolken aussieht? Der Einbruch hat eine Schneise quer durch das ganze Fort geschlagen, quasi dem Fort das Rückgrat gebrochen.
Nun brennt auch der Dachstuhl von Charmion's Turm, und weil die Zerstörungen des Forts schon sehr weit fortgeschritten sind, wird er wohl nicht mehr lange halten. Eigentlich erstaunlich, wieviel Holz in diesem Fort verbaut worden ist. Aber ich denke, es ist auch eine ganze Menge Dreck und Gerümpel, der da mitverbrennt.
30.3 Charmion's Sprung
Da sehe ich, direkt neben dem Feuer auf dem Turmdach und durch dieses in Richtung ehemalige Zugbrücke weitgehend gedeckt, einen Arm aus einer aufgerissenen Öffnung hervorschießen. Ein zweiter folgt. Dann schwingt sich Charmion behende auf das Dach. Sie sieht nicht im mindesten verletzt aus. Warum hat sie bis zum Schluß ausgeharrt? Jetzt muß sie schnell machen, daß der Turm nicht noch unter ihr zusammenbricht.
Man merkt an der Schnelligkeit ihrer Bewegungen, daß sie das wohl weiß. Sie beginnt sofort, ohne jede Seilsicherung an der diesseitigen Außenwand des Turmes abzusteigen. Dabei ist sie gerade eben noch durch die Krümmung der Turmwand den Blicken der Männer, die immer noch in der Nähe der ehemaligen Zugbrücke stehen, entzogen.
Es ist verdammt gefährlich. Nicht klettertechnisch, da sind genügend Griffe und Tritte in der Mauer des Turmes. Das ist für Charmion kein Problem. Aber noch während sie klettert, verwandelt sich der Turm in einen Schornstein. Rund um Charmion herum fallen brennende Kleinteile, Reste des Daches und des Inhaltes der Turmkammern. Jeden Moment können die Balken, die dem Turm noch Stabilität geben, brechen und die Zwischenböden bersten. Die Männer an der ehemaligen Zugbrücke sehen deshalb den Turm auch besonders genau an, weil sie da nicht zu Unrecht den nächsten spektakulären Zusammensturz erwarten.
Dabei bemerkt einer Charmion, als sie die Basis des Turmes erreicht. Ich höre es an ihren aufgeregten Stimmen. Ich würde Charmion ja gerne drauf aufmerksam machen, aber sie sieht nicht in meine Richtung. Im Moment hat sie das Problem, daß es den Felsen hinunter kaum noch gute Griffe gibt. Eigentlich überhaupt keine. Wahrscheinlich würde sie es trotzdem schaffen, wenn sie Zeit zum Überlegen hätte. Die hat sie aber nicht. Sie zögert einen Moment. Jede Sekunde kann der Turm über ihr wie Luzifer's Hammer auf sie herniedersausen.
Dann springt sie - aus 50 Meter Höhe. Mein Gott, da unten sind wir doch am Anfang einmal Schwimmen gewesen, da ist das Wasser doch nicht tief genug, schon gar nicht für einen Sprung aus 50 Metern Höhe!
Es sind angstvolle drei Sekunden. Sie rotiert auf den Rücken, legt die Hände flach auf die Nieren, Ellenbogen waagerecht nach außen, Kinn auf die Brust. Mit flachem Rücken schlägt sie auf das Wasser. Wie ein Gewehrschuß hört es sich an. Wenn man sie bis jetzt noch nicht bemerkt hätte, jetzt wäre das der Fall. Ich erwarte, daß ihre Eingeweide auf dem Wasser schwimmen werden, wenn die Fontäne wieder in sich zusammenfällt. Einem normalen Menschen müßte dieser Aufschlag die Bandscheiben in die Gaumensegel hineinrammen.
Die Fontäne fällt in sich zusammen, und die Wasseroberfläche ist leer. Da wird meine Aufmerksamkeit durch ein Krachen aus der Höhe abgelenkt. Der Turm - es ist soweit.
Wie eine Diva, die ihre Röcke gleichzeitig fallen läßt, so brechen die Turmmauern nach außen in alle Richtungen weg. Die Einsturzwelle pflanzt sich sofort in die Teile des Forts fort, die noch stehen. Rund um den Felsen des Forts fallen Steine wie Hagel ins Wasser - wie tonnenschwerer, tödlicher Hagel. Diese Hagelkörner werden auch viele Meter unter Wasser wenig von ihrer Wucht verloren haben. Und sie fallen sogar noch weiter vom Felsen des Forts entfernt ins Wasser als die Stelle, wo Charmion aufgeschlagen ist. Ich versuche, den See, der auf fußballfeldgroßen Flächen wild schäumt, mit meinen Blicken zu durchbohren. Die zweite Feuersäule, die der Einsturz des Turmes gebildet hat, interessiert mich jetzt nicht, auch wenn ich ihre Hitze wieder auf meiner Haut brennen spüre.
Was ist mit Charmion? Ist sie beim Aufschlag auf das Wasser ums Leben gekommen? Oder war der Sprung selber ein in dieser Weise beabsichtigtes Manöver, und sie ist erst dann, noch unter Wasser, von den Mauerbrocken des Turmes erschlagen worden?
Große Wellenfronten wandern auf den See hinaus, die langwelligen weit voran, die mit etwas kürzerer Wellenlänge langsamer hinterher, so, wie man das in der Vorlesung über Schwingungsphysik vorgeführt bekommt. Die Männer, die noch an der ehemaligen Zugbrücke stehen, müssen Charmion's Ende, oder das, was man plausiblerweise dafür halten müßte, auch verfolgt haben. Vielleicht ist es gut so, denn ich glaube noch nicht, daß es Charmion unbedingt erwischt hat. Erst ist sie auf dem brennenden Turmdach materialisiert, als ich schon die schwärzesten Phantasien über ihr Ende hatte. Und jetzt - gewiß, der Turm ist früher zusammengestürzt als sie es vielleicht vorhergesehen hatte. Aber der Aufschlag auf dem Wasser - ich erinnere mich, wie sie vom Saurierfänger aus ganz alleine diesen Fischsaurier bekämpft hat. Auch dort ist sie aus großer Höhe ins Wasser gesprungen. Nein, das war Absicht, so wie sie jetzt ins Wasser gesprungen ist. Sie wußte ja, daß es flach war, sie konnte sich darauf einrichten. Bleibt nur die Frage, ob sie dem kolabierenden Turm entkommen ist.
Allmählich nimmt das Wasser wieder seine normale Farbe an. Es bleiben Schaumstreifen, aber das Wasser ist schon weitgehend blasenfrei. Überall schwimmen verkohlte Holzstückchen, aber nichts, was an menschliche Körperteile erinnert. Nichts, was wie Blut im Wasser aussieht. Ich habe konkrete Hoffnung.
Was würde ich an ihrer Stelle tun? Ran ans Ufer, um in den Sichtschutz des Steilufers zu gelangen. Dann würde ich die nächste Stelle anschwimmen, wo ich das Steilufer überwinden könnte, um mich dann in den Wäldern zu verbergen. Und ich würde es schnell tun, weil ich ja damit rechnen müßte, daß nicht alle Zuschauer von meinem Tod überzeugt wären.
Die nächste Stelle, wo Charmion leicht die Felswand des Seeufers ersteigen kann, ist Oom's Platz. Woanders könnte sie es auch schaffen, aber vielleicht ist sie ja doch verletzt.
Ich springe auf und laufe los, am Seeufer entlang, in Richtung Oom's Platz, weg vom Fort. Was Oom wohl über das brennende Fort denkt? Ob er es überhaupt gesehen hat?
Zu spät wird mir durch die überraschten Ausrufe hinter mir klar, daß die anderen mich sehen. Zu dumm. Wieder unüberlegt gehandelt. Ist egal, einholen können sie mich nicht, wenn sie es versuchen sollten. Ich bin wohl der beste Läufer auf Casabones, Charmion ausgenommen. Nur werde ich nachher Erklärungsschwierigkeiten haben.
Ich bin nicht sicher, ob jemand versucht, mir zu folgen. Wahrscheinlich nicht. Noch ist das brennende Fort zu interessant. Sowas sehen die Meuterer sobald nicht wieder. Wenn sie in irgendwelche normalen sozialen Strukturen eingebunden wären, dann würden sie das noch ihren Enkeln und Enkelinnen erzählen. - Dazu wird es aber bei kaum einem kommen, denke ich mir.
Ich laufe nahe an der Kante des Seeufers, um zu sehen, ob Charmion irgendwo auftaucht. Ich bin so sicher, daß meine Überlegungen korrekt sind, daß ich gar nicht auf die Idee komme, es könne anders sein.
Ich erreiche nach raschem Lauf die Stelle, wo der Klippenpfad zu Oom's Platz hinunterführt. Heftig atmend bleibe ich stehen. Vom brennenden Fort ist hier wegen des Nebels nichts mehr zu sehen, also wird Oom auch nichts gesehen haben. Aber man hört noch ein dumpfes Grollen aus der Richtung des Forts, das allerdings von Sekunde zu Sekunde an Lautstärke abnimmt.
Ich spähe über die Klippen. Charmion ist dort unten nirgends zu sehen. Eigentlich klar - ich kann wohl immer noch schneller laufen als sie schwimmt.
Deshalb beginne ich, langsam auf der Klippenkante in Richtung Fort zurückzugehen. So muß ich sie abfangen oder frühzeitig sehen. Sie kann eigentlich sich am Seeufer nicht anders als schwimmend fortbewegen, weil nur an Oom's Platz vor den Klippen ein flaches Uferstück ist.
Ich bin noch nicht weit gegangen, da fällt mir eine flache Wellenfront auf, die auf den See hinaustreibt, kaum wahrnehmbar, weil die gesamte Wasserfläche durch den Turmeinsturz immer noch bewegt ist, sogar bis hierher. Als ich mich über die Kante beuge, habe ich endlich Grund zum Aufatmen: Da ist sie, keine zwei Meter von der Felswand entfernt und schnell kraulend. Es ist beneidenswert, wie wenig Wellen sie bei dieser Fortbewegungsart überhaupt macht - wenn ich das mit meiner ineffektiven Plantscherei vergleiche, die ich anstelle, wenn ich das Kraulen auch nur versuche!
Ich überlege, ob ich sie anrufe, entscheide mich aber dagegen. Am besten, ich gehe gleich an der Klippenkante zu Oom's Platz zurück. Dort wird sie mir dann, wenn sie da aufsteigt, geradewegs in die Arme laufen.
"Was sehen wir denn da so Interessantes, Herwig?" sagt eine betont leise Stimme wenige Meter hinter mir. Ich drehe mich hastig um.
30.4 In der Falle
"Ruhig, ganz ruhig!" sagt Osont. Er hält sein Schwert vor mein Gesicht, in unangenehmer Nähe meiner Augen.
"Weg von der Kante!" sagt er kurz. Zwei weitere Männer, die jetzt hinter dem Gebüsch hervorkommen, winkt er zur Klippenkante hin. Einer wirft sich auf den Boden und späht vorsichtig über die Kante. Er nickt. Dann schiebt er sich wieder zurück.
"Ist das nicht deine kleine Freundin, Herwig?" fragt Osont leise und scharf, "Wie kommt das, daß sie hier ist? Genauer gefragt, wie kommt es, daß sie vor kurzem noch im Fort war?"
"Ich weiß nicht!" sage ich und weiß in demselben Moment, daß mir das keiner glaubt.
"Soso. Er weiß es nicht. Weißt du auch nicht, wo sie an Land kommen wird? Das wird sie doch jetzt irgendwo, oder?"
Als ich nichts darauf sage, winkt Osont ab:
"Du brauchst nichts zu sagen. Wir folgen ihr einfach. Irgendwo wird sie schon raufkommen. Und dann haben wir sie."
Und warnend fuchtelt er mit seinem Schwert dicht vor meinem Gesicht herum:
"Du wirst sie doch nicht zu warnen versuchen, oder? Wenn du es auch nur versuchst, werde ich dir eigenhändig die Zunge abschneiden. Und es wird ihr dennoch nichts nützen! Wir unterhalten uns später noch!" Und zu einem der Männer: "Ollrach, bleib hier und paß auf ihn auf!"
Sie sind in Eile, weil Charmion ihnen unterdessen davonschwimmt. Osont und einer der Männer verfallen sogar in den Laufschritt, um ihr zu folgen. Der andere, der Ollrach genannt wurde, bleibt stehen:
"Hinlegen!" sagt er, "Auf das Gesicht! Nicht zur Seite sehen!"
Ich muß schon tun, wie er das will. Einen Moment schon befürchte ich, daß er vielleicht schwul ist wie viele der Meuterer und die Gelegenheit wahrnimmt, sich einen warmen Arsch zu genehmigen. Aber so schlimm ist es denn doch nicht. Er legt nur Wert darauf, daß ich nichts sehe und er auf diese Weise nicht dauernd mit seiner Waffe drohend hantieren muß. Wenigstens auf die Faulheit der Meuterer kann man sich verlassen, auch wenn mir das jetzt wenig nützt.
Einige lange Minuten vergehen, sogar einige Dutzend, in denen ich den Boden Casabones aus nächster Nähe studieren kann. Dabei merke ich, daß meine beginnende Altersweitsichtigkeit Fortschritte macht, sowenig, wie das Wort 'Fortschritt' da angemessen ist. Es fällt mir schwer, Einzelheiten auf dem Boden, in den ich mein Gesicht drücken muß, scharf zu sehen, und meinen Kopf heben um die Fokussierung zu erleichtern darf ich ja nicht.
Endlich knirschen wieder Schritte. "Aufstehen!" kommandiert mein Bewacher. Gerade als ich mich erhebe, kommen Osont und der andere Mann mit Charmion auf uns zu. Wenn ich die Zeit richtig abschätze, ist sie tatsächlich an Oom's Platz an Land gegangen und dort abgefangen worden.
"Das hättest du sehen sollen, Ocaichm!" ruft der andere Mann meinem Bewacher schon aus einigen Dutzend Metern Entfernung zu, während er ihr das obligate Schwert über dem Nacken hält, "Da war so ein alter Trottel, der sich da tatsächlich niedergelassen hat! Wie der gequiekt hat!"
Ich erfahre nicht, was sie mit Oom angestellt haben. Ich muß sowieso das allerschlimmste annehmen. Charmion hat wieder Schürfwunden und blaue Flecken, aber ich weiß nicht, ob das von ihrer Flucht aus dem Turm herrührt oder von ihrer Festnahme gerade eben. Wesentlich verletzt scheint sie nicht zu sein, aber ich kann sie jetzt nicht fragen.
"So. Das wäre das." sagt Osont sichtlich befriedigt, "Du siehst, Herwig, wir sind gar nicht so blöd!"
Und zu Charmion: "Und nun zu dir. Was hast du in dem Fort gemacht?"
Aus den Augenwinkeln sehe ich, daß mein Bewacher kaum seine Erektion verbergen kann. Begierig sieht er Charmion von oben bis unten an. Also schwul ist er nicht. Das bringt aber Charmion in Gefahr. Wahrscheinlich wird sie eine Vergewaltigung seelisch weniger schwer mitnehmen, bei den Sexualgewohnheiten, die in dieser Welt üblich sind. Aber mir paßt es nicht, wenn Charmion jetzt für den aufgestauten sexuellen Druck von wer weiß wie vielen Meuterern herhalten muß.
"Sie ist krank, deshalb!" werfe ich ein. Der Mann mit der postkartenreifen Erektion neben mir schlägt mir so schmerzhaft in den Bauch, daß ich haltlos zusammenklappe, Für die nächsten Sekunden wünsche ich nur, daß der Schmerz aufhören möge. Sollen sie sie doch vergewaltigen, denke ich, wenn sie mich dann nur nicht schlagen. Als der Schmerz abebbt, ringe ich mich zu dem Kompromiß durch, wenigstens in Zukunft vorsichtig zu sein. Ich blicke auf. Alle sehen auf mich herab, auch Charmion. Ich kann ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Den von Osont schon:
"Herwig, bitte, unsere Spielregeln! Ich stelle die Fragen! Und ich möchte, daß derjenige sie beantwortet, dem ich sie stelle, und niemand sonst! Kapiert?"
Ich nehme an, daß es als Zustimmung aufgefaßt wird, wenn ich nichts sage. Ein Tritt in meine Nierengegend korrigiert diese Auffassung.
"Kapiert?" fragt Och drohend.
"Ja." sage ich.
"Gut. Steh auf. - Schneller."
Als ich endlich stehe - es geht, wenn mir auch zwischen unteren Rippenbogen und Schambeinen alles wehtut, wendet er sich wieder an Charmion: "Was ist das für eine Krankheit?"
30.5 Nützliche Krankheiten
Das kann sie ja nun nicht wissen, weil ich mir diese Ausrede ja eben erst ausgedacht habe. Aber da habe ich Charmion wohl unterschätzt. Unter den vielen Dingen, die ich ihr aus unserer Welt erzählt habe, waren auch ein paar Bemerkungen über Krankheiten, unter anderem Haut- und Geschlechtskrankheiten.
"Er hat es mitgebracht," sagt sie und sieht mich gekonnt vorwurfsvoll an, "und ich darf niemanden anstecken. Deshalb sollte ich im Fort bleiben, bis es vorbei ist."
"Mmh." überlegt Osont. Er ist sich unklar, ob er das glauben soll.
"Du siehst aber ganz gesund aus!" Bei den Worten grinst der Mann neben mir wieder. Er faßt sich selbst hingebungsvoll unter seinen eigenen Rock. Ich erwarte jede Sekunde, daß er sich nebenbei einen runterholt. Oder er wird sie vergewaltigen - die Rache des kleinen Mannes.
"Es äußert sich in Blutungen - so fängt es jedenfalls an. Hier!" Ohne weiteres hebt sie ihren Rock. Alle Umstehenden können ihr Geschlecht deutlich sehen. Und tatsächlich: an ihrem inneren Oberschenkel ist eine feine Blutspur, der man ansieht, daß sie tatsächlich erst vor allerkürzester Zeit zwischen ihren Schamlippen hervorgetreten sein muß. Das Blut ist noch nicht einmal angetrocknet.
Ich begreife, was sie vorhat. Ein Stoßgebet zum Schutzpatron aller Gynäkologen: Charmion hat ihre Tage. Wir haben großes Glück, daß sie überhaupt diesmal sichtbare Regelblutungen hat, denn die sind ja bei den Granitbeißerinnen viel schwächer als bei den Frauen auf der Erdoberfläche. Außerdem war sie gerade im Wasser - wenn der Blutaustritt schon länger hergewesen wäre, dann wäre das Blut schon längst wieder abgespült worden.
Die Chancen sind gut, daß keiner der anwesenden Meuterer so detaillierte medizinische Kenntnisse hat, daß sie den Vorgang als eine Routineangelegenheit erkennen. Die meisten haben ja seit Jahren oder Jahrzehnten keine Frau aus der Nähe gesehen, und davor auch nur in unterprivilegierten Stellungen, aus denen man keine Fragen zu stellen hat, schon gar nicht Fragen zu medizinischen Angelegenheiten der Mitglieder einer privilegierten Klasse.
Osont läßt sich auf die Knie und sieht es sich ganz genau aus der Nähe an. Er leidet jedenfalls noch nicht an Altersweitsichtigkeit, stelle ich fest.
Er schnüffelt. Ich bezweifele allerdings, daß er etwas riecht - bei seinen eigenen Ausdünstungen, und Charmion war ja auch gerade im Wasser. "Ist das alles?" fragt er. Irgendwie habe ich den Eindruck, daß die Frage an mich gerichtet ist, weil ich diese Krankheit angeblich mitgebracht habe.
"Ja, am Anfang schon." sage ich. Kein Schlag in den Bauch, also darf ich weiterreden: "Später kommt Eiter dazu. Erst dann gibt es Fieber, in schlimmen Fällen auch Wahnvorstellungen. Aber diese Seuche können unsere Ärzte behandeln, und man kann sie sowieso nur mit Geschlechtsverkehr übertragen. Beim Mann sind die Symptome anders. Dort kommt es meistens nicht zu einem Anfaulen des Bauchraums."
"Sondern?" fragt Osont mißtrauisch und steht wieder auf.
"Sondern es bleibt bei rein äußerlichen Erscheinungen. Es gibt Borken von Fäulnis, manchmal nur geht es in die Tiefe und bricht dann geschwürig auf. Es kommt dann zum Abstoßen kranken Fleisches. In schweren Fällen fällt beim Mann das Glied einfach ab. Die Wunden heilen dann aber wieder, und es bleibt lebenslange Immunität zurück."
Der Mann neben mir hat nicht alles verstanden, schon gar nicht meine versuchten Übertragungen der medizinischen Fachausdrücke in die Xonchen-Sprache, aber das wesentliche hat er schon begriffen. Sein sexuelles Interesse an Charmion schwindet sichtbar.
"Und wieso hast du es nicht, wenn du sie angesteckt hast?"
"Ich wurde durch unsere Ärzte behandelt. Deshalb habe ich keine Fäulniserscheinungen, aber die Ansteckungsgefahr bleibt. Ich wußte es selbst nicht. Ich hätte es aber wissen müssen - es ist meine Schuld, daß ich sie angesteckt habe. Diese Krankheit ist heimtückisch!"
Osont scheint die Vermutung zu haben, daß er das Opfer einer Veralberung sein könnte. Aber er kann nichts beweisen, und das Blut zwischen Charmion's Beinen kann ja jeder sehen. Das ist echt. Also ist da irgend etwas dran.
"Wie heißt denn diese Krankheit?"
"Menstruation." sage ich. Das ist nicht gelogen. Das ist auch das einzige, was ich in den letzten Minuten nicht gelogen habe.
"Okay." sagt Osont, "Sie war krank. Meinetwegen. Ist das ein Grund, sie im Fort zu verstecken?"
"Ja! Wir brauchen sie! Und die Krankheitserscheinungen sind schwächer, wenn sich der Patient schont!"
"Wir brauchen sie nicht. Wir schaffen alles alleine. Wir brauchen dabei keine Frauen. Eine Frau ist nur ein Sicherheitsrisiko."
"Wieso denn?"
"Wieso sollte sie daran mitarbeiten, uns die Flucht von Casabones zu ermöglichen! Das macht doch keinen Sinn! Sie bekommt nur Schwierigkeiten, wenn sie dazu später befragt wird!"
"Natürlich bekommt sie die. Aber wir bekommen die auch so. Glaubst du, niemand wird etwas dagegen unternehmen, wenn bekannt wird, daß es 2000 Gefangenen gelungen ist, von Casabones wegzukommen? Sie werden euch jagen! Bis ans Ende der Welt werden sie euch jagen!"
"Sie werden UNS jagen," stellt Osont klar, "du gehörst dazu. Sie aber nicht."
"Selbst, wenn es so wäre, dann ist das noch lange kein Grund, sich ihrer zu entledigen!"
"Nein? Und wer hat die Schneidgrasbündel am Sumpfteich angezündet?"
"Woher soll ich das denn wissen?"
"Ist das nicht klar? Es muß jemand sein, der Interesse daran hat, uns soviel Schwierigkeiten wie möglich zu machen! Und dann ist ja auch noch zu fragen, warum sie den Leuten, die das Fort besetzt haben, geholfen hat!"
"Hat sie doch gar nicht!"
"Ach nein? Warum denn nicht? Es war eine ganze Gruppe von Rebellen. Wie hätte sie sich denn gegen deren Willen im Fort frei bewegen können?"
"Sie hat sich nicht frei bewegt, sie hat sich versteckt!"
"Ach! Und woher weißt du das? Wer hat sie denn versteckt?"
Da ich nicht gleich antworte, nimmt Osont das als implizite Antwort.
"Wir bringen sie zum Dorf!" entscheidet er, "Ollrach, du gehst zwischen ihnen! Sie sollen nicht miteinander reden. Ich gehe hinter Herwig, und du, Ocaichm, gehst hinter ihr. Bei Fluchtversuch sofort schlagen! Und Ocaichm, faß sie nicht an - wegen dieser Krankheit. Wie heißt du überhaupt?"
"Charmion." knirscht Charmion.
"Charmion, eh? Komischer Name. Auf geht's!"
30.6 Gefangenentransport
Sie passen tatsächlich auf. Charmion und ich können bis zum Dorf kein einziges Wort wechseln. Ab und zu gelingt es mir, an Ollrach vorbei einen Blick auf sie zu werfen. Sie ist anders als sonst. Obwohl sie nicht wesentlich verletzt ist, geht sie, als ob sie geschlagen worden wäre. Ich vermisse die schnellen Blicke, mit denen sie eigentlich ständig die Umgebung auf Fluchtmöglichkeiten abtastet. Hat meine Charmion etwa schon aufgegeben? Das kann doch nicht sein. Sie sollte sogar in der Lage sein, mit guter Aussicht auf Erfolg unsere drei Bewacher überraschend zu entwaffnen.
Was sie wohl mit Oom gemacht haben?
Wir marschieren am brennenden Fort vorbei. Das Feuer ist schon sehr zusammengesunken, aber nahe der ehemaligen Zugbrücke, einige Meter hinter der Kante, die vor der Infrarotstrahlung des Gluthaufens kaum schützt, sitzen immer noch einige Männer und sehen interessiert auf die qualmenden Überreste des einst so stolzen und alten Bauwerkes. Als sie uns kommen sehen, ist ihre Reaktion gemischt. Besonders, daß sie auch mich offenbar 'in Ketten' sehen, verwundert sie. Aber niemand stellt Fragen. Wir marschieren entschieden vorbei.
Später, im verlassenen Dorf - es ist schon 4 Uhr vorbei, eher schon 5 Uhr - marschieren wir über den Platz in der Dorfmitte, als Osont vor den Vollstreckungskreuzen auf einmal das Schweigen bricht:
"Heh, Charmion, du verstehst doch soviel von Seilen! Verstehst du auch etwas von Holz? Sind diese Kreuze gut genug?" Und alle drei lachen, als ob ihm da ein besonderer Scherz gelungen wäre.
Wir marschieren bis zum Sumpfteich. Ich hoffe immer noch, daß Och dem allen bald ein Ende macht, aber Osont scheint es nicht allzu eilig zu haben, Och hinzuzuziehen. Von den wenigen, die im Moment am Teich arbeiten, sucht er sich ein paar aus, die uns bewachen sollen. Er hat schon wieder eine Idee:
"Seht her!" sagt er und zieht mit seiner Ferse zwei deutlich sichtbare Kreise in den Boden, beide etwa zwei Meter im Durchmesser und im Abstand von ebenfalls zwei Metern voneinander.
"Jeder stellt sich in einen dieser Kreise hinein. Ihr könnt euch auch setzen! Wir sperren euch nicht ein, ist das nichts? Wenn ihr versucht, den Kreis zu verlassen, so werden diese Herren hier" und er macht ihnen klar, daß sie das, was jetzt kommt, als Befehl aufzufassen haben, "euch einen Fuß abschlagen. Beim zweiten Versuch noch einen Fuß. Dann die eine Hand und dann die andere. Und dann den Kopf. Einverstanden? Noch Fragen? - Und faßt sie dort nicht an - sie ist krank, und sie will alle anderen hier anstecken!"
Nachdem wir unsere Kreise betreten haben, zieht Osont schnell mit Ocaichm und Ollrach ab. Ich habe den Eindruck, daß sie keine weiteren Fragen abwarten wollen.
Es sind sechs Männer, die mit unserer Bewachung beauftragt worden sind. Sie sind zwar alle froh, nicht mehr in dem See arbeiten zu müssen, aber es ist ihnen nicht verständlich, warum wir plötzlich in Ungnade gefallen sind.
"Was habt ihr denn getan?" fragt mich einer.
"Ich weiß es nicht. Wir sind nur zusammen erwischt worden, und das paßt Osont nicht."
"Und von was für einer Krankeit hat er gesprochen?"
Ich äußere mich nur vage, weil ich nicht will, daß vielleicht doch jemand von den Anwesenden die Symptomatik als Monatsblutungen diagnostizieren kann und die Kunde verbreitet, daß das doch nicht ansteckend ist. Dann habe ich aber auch Fragen:
"Dürfen wir miteinander sprechen?"
"Osont hat nichts Gegenteiliges gesagt. Nur die Kreise verlassen dürft ihr nicht!" Der Mann scheint hilflos, fährt fast entschuldigend fort: "Ihr habt ja gehört, was er gesagt hat!"
Ich stelle mich am Rand meines Kreises so nahe zu Charmion's Kreis auf wie möglich. Über den Abstand können wir uns aber unmöglich berühren, ohne unsere Bewacher in Zugzwang zu setzen.
"Charmion! Wie haben sie dich erwischen können?"
Sie steht mir genau gegenüber. Ihr Ton ist merklich kühl, aber sie antwortet sachlich.
"Sie haben Oom gezwungen, um Hilfe zu rufen."
"Als du an seinem Platz angekommen bist?"
"Ja. Die Hilferufe kamen aus seiner Hütte. Ich mußte kurz nachsehen, was da los war."
"Und?"
"Ich lief in die Hütte hinein. Natürlich rechnete ich damit, daß da jemand war, gegen den ich mich verteidigen mußte. Aber das war nicht so. Kurz vorher hatte jemand den Alten auf seiner eigenen Lagerstatt festgenagelt."
"Oh Scheiße."
"Ich konnte nichts mehr für ihn tun. Plötzlich waren sie da - sie haben sich tatsächlich irgendwo vor der Hütte vor mir verstecken können. Ich war unvorsichtig."
"Und dann haben sie dich festgenommen?"
"Ja. Und gleich das Ufer heraufgebracht, wo du und Ollrach waren."
"Und Oom?"
"Haben sie so liegengelassen, wie er war. Er wird einen langen Tod haben."
Unsere Bewacher sehen sich verwundert an, weil sie nicht genau wissen, wovon die Rede ist. Aber da uns die Unterhaltung nicht verboten wurde, greifen sie nicht ein.
"Dieser Osont ist gefährlich," sagt Charmion, "der will Macht. Ich glaube, gegen den kommt Och nicht an."
"Kann sein. Solchen Leuten begegnet man immer wieder, auch in unserer Welt. Bist du verletzt?"
"Nein."
"Gut. Dann sind unsere Karten noch nicht allzuschlecht gemischt."
"Welche Karten?"
Ich muß wieder die Xonchen-Übertragung von einer unserer Redensarten erklären. Dann versteht sie es aber schon.
"Warte es ab. Wir brauchen diese Leute, um von Casabones wegzukommen."
Die ganze Zeit ist ihr Tonfall fast bissig. Nach einer Pause fragt sie:
"Wie konnte es eigentlich geschehen, daß Osont ausgerechnet dort aufgetaucht ist, wo ich an Land gehen wollte? Sie wußten doch höchstens, daß ich an dem Seeufer entlangschwimmen würde!"
Das ist eine berechtigte Frage. Und ich brauche ihr die Antwort kaum zu erläutern: Ich habe sie dahingelockt, indem ich Charmion dem Ufer entlang zu folgen versuchte. Damit habe ich zu Charmion's Gefangennahme beigetragen, und zumindestens mittelbar auch zu Oom's Tod. Mir bleibt nichts übrig als betreten zu schweigen.
Und so versickert das Gespräch. Charmion setzt sich, sichtlich sauer, in ihrem Kreis hin, und ich tue es auch. Unsere Bewacher sehen nicht lange ein, warum sie die einzigen sein sollten, die stehen müssen. Über kurz oder lang sitzen wir alle. Da Charmion vor sich auf den Boden starrt, fange ich ein Gespräch mit unseren Bewachern an, schon, um nicht dauernd Charmion anschweigen zu müssen:
"Wart ihr am Fort?"
"Nein."
"Dann wißt ihr auch noch nicht, daß es abgebrannt ist?"
"Ist es das? Wir haben es donnern gehört."
Ich erzähle, was vorgefallen ist. Erst einmal Smalltalk machen, um Lage und Stimmung zu erkunden. Es gibt ja keine wichtigen Informationen, die ich dafür preisgeben muß. Diese Männer haben keinen Groll gegen mich und lediglich die üblichen Vorbehalte gegenüber Charmion - naja, und einige können die äußeren Anzeichen sexueller Erregung kaum verbergen. Aber noch ist Charmion sicher, nicht nur wegen der behaupteten Krankheit.
Endlich kann ich die Sprache auf Osont bringen:
"Was hat er eigentlich vor?"
Niemand weiß es. Nach allgemeinen Dafürhalten koordiniert Och die Ausbruchsvorbereitungen. Aber Och ist schon eine ganze Zeitlang nicht mehr gesehen worden. Das ist seltsam.
"Vielleicht hat Osont einen Scherz gemacht, ich meine, mit der Anweisung, uns hier festzuhalten."
"Osont scherzt nicht." Der Mann, der spricht, gehört eigentlich nicht zu denen, die zu unserer Bewachung abgestellt worden sind, aber die anderen, die im See Schneidgras ernten, haben zum größten Teil ihre Arbeit unterbrochen, um uns zuzuhören, weil das ja viel interessanter ist. Der Mann, der gesprochen hat, ist mager, bärtig und kleinwüchsig und in mittlerem Alter.
"Osont scherzt nicht. Ich war mit ihm in einer Zwangsarbeitskolonie für Holzgewinnung in Menhindjan. Dort ist er häufiger durch große Grausamkeit aufgefallen. Er hat es irgendwie immer geschafft, für die angenehmen Arbeiten eingeteilt zu werden, und wenn das mal anderen gelungen ist, dann ist denen über kurz oder lang immer ein schlimmer Unfall passiert. Ich glaube, sogar die Aufseherinnen hatten Angst vor ihm, und sie hätten ihn wohl beseitigt, aber es wurde jede Arbeitskraft gebraucht. Als die Kolonie aufgegeben wurde, wurden wir hierhergebracht."
"Ist das denn sicher, daß diese Unfälle etwas anderes als Unfälle waren?" frage ich.
"Solche Unfälle können beim Holzfällen nicht passieren. Einmal, zum Beispiel, da fehlten beim Wecken zwei der Männer, die sich am Tag zuvor mit ihm gestritten hatten. Wegen was weiß ich nicht mehr. Als wir das Lager verließen, fanden wir den ersten auf einem spießartig aufgesplitterten Baumstumpf aufgespießt. Das Gelände war bereits freigeschlagen worden, es standen also in direkter Nähe keine Bäume mehr. Wie hätte er sich selbst auf einen drei Meter hohen Holzspieß fallen lassen können? Der andere lag unter einem am Vortag gefällten Baum, mit dem Bauche eingeklemmt. Er lebte noch, aber nicht mehr lange. Das war auch kein Unfall."
"Hat er Helfer gehabt?"
"Nein. Das heißt, ich weiß nicht. Vielleicht hat er jemanden gezwungen, mitzumachen. Es ist nie etwas herausgekommen, aber alleine kann man diese zwei wohl kaum in diese Lage bringen. Allerdings war damals die gängige Vermutung, daß sich unsere Aufseherinnen aus irgendeinem Grunde dieses Spiel haben einfallen lassen. Ich glaube, damals habe ich das geglaubt."
"Heute glaubst du es nicht mehr?"
"Da sind immer wieder solche Dinge vorgefallen, seitdem, und immer hat es irgendwie mit Osont zu tun gehabt. Erst, wenn er die Mehrheit hinter sich weiß, dann wagt er, offen anzugreifen."
"Wie ich es eben zu Charmion sagte: Solche Leute trifft man immer wieder. Wenn das so ist, wie ihr sagt, dann habe ich schlimme Befürchtungen über Och's Schicksal. Hat es einmal eine Konfrontation zwischen Och und Osont gegeben?"
"Eigentlich nicht. Nicht direkt. Aber es ist klar, Osont möchte der Boß sein."
Das scheint mir jetzt allerdings auch klar. Dann ist es aber wahrscheinlich, daß Osont gerade dabei ist, seine Art der Personalpolitik zu betreiben. Ob wir Och noch einmal lebend wiedersehen? - Wenn rauskommt, daß Och davon gewußt hat, daß Charmion sich im Turm versteckt hat, dann Gnade ihm Gott. So ein Argument käme Osont gerade recht.
Aber nun passiert stundenlang nichts. Einige der Männer gehen wieder Schneidgras ernten, unsere Bewacher reden miteinander, Charmion legt sich hin und schläft oder stellt sich schlafend. Sie versucht nicht mehr, mit mir zu reden. Und ich kann darüber nachdenken, wie ich durch mein ungeschicktes Verhalten ihre und meine Festnahme erst ermöglicht habe.
Die ganze Zeit überlege ich auch dauernd, ob man nicht doch einen Fluchtversuch wagen sollte. Allerdings müßte ich mich darüber mit Charmion absprechen, und das geht schwer, denn so unaufmerksam sind unsere Bewacher trotz ihrer nicht allzugroßen Motivation auch nicht. Dabei wäre es machbar: Jeder von uns springt zu, schnappt sich irgendein Schwert, und dann den Weg freischlagen, irgendwohin, auf jeden Fall weg. Da man ganz ohne Risiko hier ja sowieso nicht leben kann, wäre das Risiko eines solchen Husarenstückes vertretbar.
Wenn es aber nur einem von uns gelingt, zu entkommen, dann hätte der andere das auszubaden. Vielleicht nicht gleich, aber spätestens, wenn Osont sich wieder blicken läßt.
Außerdem: wo sollen wir hin? Das Fort gibt es nicht mehr, und in den Wäldern sind die rebellierenden Gruppen, denen man vielleicht auch nicht über den Weg laufen sollte. Und wenn wir das täten, dann wäre es auch wesentlich schwieriger, sich irgendwann der Flucht von Casabones anzuschließen, wenn es einmal genug Fallschirme geben sollte.
11 Uhr vorbei. Beginn der normalen Schlafperiode. Bis auf die Männer, die zu unserer Bewachung explizit eingeteilt wurden, haben alle in der letzten Stunde den Sumpfteich verlassen. Von unseren Bewachern haben sich zwei auf den Weg gemacht, um etwas zu essen zu besorgen. Als sie wiederkommen, gibt es nahezu Streit, weil sie Wurzeln statt Fleisch mitbringen. Mir ist es nur recht, und Charmion äußert sich nicht dazu. Jedenfalls läßt man uns nicht verhungern. Noch nicht.
Wir sind genötigt, unsere 'Notdurft', wie das schöne Wort heißt, wenn man das weniger schöne Wort 'Scheißen' vermeiden möchte, am Rande des Kreises zu erledigen. Zwar ist es auch unter den gemäßigt aufmerksamen Augen unserer Bewacher nicht möglich, den Haufen weit genug jenseits der Kreislinie zu plazieren, um danach gar nicht mehr vom Geruch belästigt zu werden, aber diese hockende Stellung ohne sonstige Hilfsmittel vor den Augen fremder Leute ist entwürdigend. Auch denkt niemand daran, uns irgend etwas zu bringen, was man anstelle von Toilettenpapier benutzen kann - Blätter oder so etwas, was sich eben anbietet, wenn man nicht gerade im Gefangenenstatus ist.
Charmion erledigt das wesentlich routinierter als ich, und ohne jede Spur von Verlegenheit oder Peinlichkeit. Ich bin sicher, daß sie früher, solange sie Mitglied der privilegierten Klasse war, so wie etwa auf dem Saurierfänger, nichts dabei gefunden hätte, einem Mann, wenn nötig, zu befehlen, ihr den Arsch im wörtlichsten Sinne sauberzulecken.
Dann gelingt es uns, zu schlafen. Im Gegensatz zu unseren Bewachern, von denen wenigstens einer immer wach sein muß, können wir durchschlafen. Allerdings müssen wir noch eine ganze Zeitlang die Streiterei anhören, bis unsere Bewacher endlich die Wachreihenfolge untereinander ausgemacht haben.
Wieder denke ich daran, daß vielleicht nicht alle ihren Wachdienst so ernst nehmen, und daß es in den nächsten neun Stunden durchaus Zeiten geben könnte, wo alle schlafen. Dann könnten wir entkommen, vielleicht sogar völlig gefahrlos. Aber wie soll man diese Zeiten feststellen, ohne selbst wachzubleiben?
Als ich jedenfalls wieder aufwache, weil eine gewisse Unruhe unter den Bewachern ausgebrochen ist, ist schon 20 Uhr vorbei. Charmion ist schon wach, sitzt aber anscheinend teilnahmslos da.
Wir kriegen auch wieder etwas zu essen, aber sonst passiert nichts. Es kommen wieder einige Männer, um im Sumpfsee Schneidgras zu ernten, aber es sind noch weniger als gestern. Entweder sind die anderen zu anderen Tätigkeiten eingeteilt worden, oder es macht sich bereits wieder eine Atmosphäre des Nichtstuns breit. Letzteres ist fast wahrscheinlicher - ich habe schon Leute schneller arbeiten sehen.
Erst, als die Mitternacht nach oberirdischer Zeitrechnung schon einige Zeit vorbei ist, hören wir die Geräusche einer näherkommenden größeren Gruppe. Endlich geschieht etwas, nachdem wir schon fast einen ganzen Tag hier zur Untätigkeit verdammt worden sind.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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