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******** 029. Tag: Samstag 95-09-16 ********

29.1 Der Angriff auf das Dorf

Den Rest der Zeit bis zur Schlafperiode verbringen wir in vielerlei Gesprächen und anderen schönen Aktivitäten. Ich habe dabei kein schlechtes Gewissen, weil ich den Eindruck habe, daß ich bei der Fallschirmherstellung im Moment ja sowieso nichts machen kann. Charmion wäre fachkundig genug, über die Materialprobleme zu diskutieren. Aber zu diesem Thema sind wir beide im Moment nicht motiviert.

Als wir aufwachen, ist es bereits 17 Uhr. Es ist Samstag, und genau vor vier Wochen um diese Zeit hatte ich bereits die erste Excursion in die gerade entdeckte Höhle hinter mir. Wenn ich mich richtig erinnere.

"Hoffentlich hat mich niemand sprechen wollen," sage ich, "und dabei mein leeres Zimmer vorgefunden."

"Dann werden sie annehmen, daß du dich irgendwo im Walde mit mir triffst!" vermutet Charmion.

"Schon möglich. Das bewahrt dich hier oben vor Schwierigkeiten. Aber mir kann es noch welche machen! - Ich muß runter."

Wir umarmen uns fest, und dabei denke ich völlig unnötigerweise daran, daß es das letzte Mal sein könnte, daß ich diese warme, atmende und lebendige Frau in den Armen halten könnte. Diese blöde Weissagung von Oom. Andererseits habe ich aber oft solche Gedanken - alles, was man tut, kann ein letztes Mal sein. Wenn man solche Gedanken oft hat, dann kann man es kaum Vorahnung nennen, wenn man mit den düsteren Vorahnungen wirklich einmal Recht hatte.

Leider bin ich tatsächlich in Eile. Schade. Obwohl wir uns gestern vor dem Schlafen mehrfach geliebt hatten, möchte ich schon wieder, und ihr geht es genauso, wie ich deutlich merke.

"Bis heute Abend!" sage ich, bevor ich mich von ihr losreiße und in den Raum unter uns abseile.

Ich komme unbeobachtet in mein Zimmer, dann gehe ich in die Halle hinunter. Ich begegne niemanden. Es sind offenbar alle im Dorf.

Dafür treibt allmählich ein ganz unerträglicher Gestank aus der Speisekammer durch das Fort. Es ist schlimmer, als es auf dem Saurierfänger war. Wahrscheinlich kümmert sich niemand mehr um die Haltbarmachung des Fleisches, und da immer mehr davon ungenießbar wird, sogar nach hiesigen Maßstäben, wird auch immer mehr gleich weggeworfen - da, wo man steht, oder aus der nächsten erreichbaren Fensteröffnung.

Deshalb werde ich heute Charmion etwas Vegetarisches aus dem Wald mitbringen. In die Speisekammer gehe ich nicht mehr hinein. Das muß sie verstehen.

Sie versteht es auch, als ich ihr nach etwa zwei Stunden einen ordentlichen Vorrat von den Pflanzen, die sie mir selber gezeigt hat, in die Turmkammer bringe, wobei sie mich extra zu diesem Zweck noch einmal mit dem Seil hochhievt. Bevor ich sie wieder verlasse, erwähne ich noch, daß ich heute noch keinen Menschen im Fort oder in der Nähe gesehen habe.

"Vielleicht arbeiten sie endlich alle!" vermutet sie.

"Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Ich glaube es nicht."

Kurz vor 20 Uhr mache ich mich dann auf den Weg ins Dorf. Mal sehen, ob es ein Tagewerk gibt, an dem ich konkret mitarbeiten kann.

Das Dorf ist wie ausgestorben. Im wörtlichen Sinne: Ich finde keinen lebenden Menschen, dafür aber eine ganze Reihe von Toten. Die Spuren deuten auf einen Kampf hin, weil die Toten ausnahmslos durch Gewalt ums Leben gekommen sind, teilweise mit grausamen Verletzungen. Zwei oder drei Hütten sind abgebrannt, aber wer immer hier rumgetobt hat, war nicht auf Zerstörung des Dorfes aus. Um die Toten hat sich niemand auch nur ansatzweise gekümmert.

Die Vollstreckungskreuze in der Dorfmitte sind unbenutzt, was den Ort aber nicht weniger abweisend macht - von der Stelle aus kann ich, wenn ich mich um 360 Grad drehe, mindestens 23 von dort aus sichtbare Tote zählen. Ich gehe schnell weiter.

Auf dem Weg zum Sumpfsee werde ich durch zwei Männer, die plötzlich aus den Büschen springen, angehalten. Beide haben Bögen in der Hand, zielen aber nicht mehr auf mich, weil sie mich als den Fremden erkannt haben. Ich kenne die beiden nicht.

"Was ist denn los?" frage ich, "Wo ist Och?"

"Ich bringe dich hin!" sagt der eine, während der andere wieder ins Gebüsch tritt.

Aus meinem Begleiter ist nicht mehr rauszubekommen - er schweigt den ganzen Weg lang, - aber am See selber sind wieder eine ganze Reihe von Leuten an der Arbeit. Die meisten tragen Waffen, obwohl sie das bei der Arbeit behindert. Och ist auch da, redet mit Leuten, die auf den Knien irgend etwas angestrengt bearbeiten. Dann sieht er mich. Sofort kommt er auf mich zu.

"Du lebst noch?" fragt er.

"Sollte ich nicht?"

"Es hat Angriffe gegeben."

"Die Gruppen, die sich in den Wald abgesetzt haben?"

"Ja."

"Ich habe die Spuren im Dorf gesehen. Ist dort niemand am Leben geblieben? Es ist niemand mehr da. Ich habe jedenfalls keinen gesehen. Keinen Lebenden."

"Vorsichtshalber," sagt Och, "sollten wir nicht mehr in dem Dorf wohnen. So können wir unsere Arbeitsstätten besser verteidigen wenn wir uns immer da aufhalten. So lange sind wir ja sowieso nicht mehr auf Casabones."

Das klingt ja wieder optimistisch, denke ich mir.

"Gute Idee," sage ich, "also sind diese Gruppen noch nicht besiegt?"

"Nein, sie haben sich wieder in die Wälder zurückgezogen. Deshalb vermute ich, daß sie das Fort angreifen werden oder schon angegriffen haben."

"Ach," werde ich ärgerlich, "und das erfahre ich jetzt schon?"

"Wir hätten dir sowieso nicht helfen können! Das Fort ist nutzlos für uns! Wegen einer Person, die sich dort aufhält, lohnt es sich ja nun wirklich nicht, es zu bewachen!"

"Aber da ist immer noch ..." Gerade noch rechtzeitig halte ich den Mund. Niemand außer Och versteht mich.

"Na und?"

"Ich dachte, wir wären uns einig, wen man zum Beispiel zum Fallschirmbauen braucht und wen nicht!" sage ich vorsichtig.

Och geht darauf nicht ein. "Dann sieh mal her!" Er führt mich mit sichtlichem Stolz zu den Leuten, die am Boden arbeiten. Ich erkenne erst jetzt, was sie tun: Es ist ihnen offenbar gelungen, aus Klingenresten zerbrochener Schwerter richtige Hobel herzustellen. Gleichzeitig bin ich sehr beunruhigt, weil ich nicht weiß, was jetzt am Fort geschieht. Ich darf es mir aber nicht anmerken lassen, denn weshalb sollte ich mich wegen eines leeren Bauwerkes beunruhigen?

Och hebt ein Brett auf: "Was sagst du dazu?"

Das Brett ist makellos, so gut wie man es bei dem Ausgangsmaterial eben erwarten kann.

"Donnerwetter," sage ich, "wer ist denn auf die Idee gekommen?"

"Osont." sagt Och. Schade. Mir wäre es lieber, wenn es jemand anderes gewesen wäre. Entweder Osont ist intelligenter und phantasievoller, als ich dachte, oder er versteht etwas von dem Tischlerhandwerk. Wenn letzteres der Fall ist, dann sind ihm die üblichen Werkzeuge des Tischlerhandwerkes sicher bekannt, und das Problem reduziert sich darauf, diese Werkzeuge aus anderen Gegenständen herzustellen. Daß die Granitbeißer den Hobel kennen wußte ich noch nicht, weil ich kein Xonchen-Wort dafür kenne. Bis jetzt. Auf jeden Fall wird dieser technische Erfolg seine Stellung festigen. Dann fällt mir aber noch etwas ein:

"Och, wir müssen vorsichtig mit dem vorhandenen Eisenmaterial sein. Wir verwenden für alles Waffen oder die Reste defekter Waffen. Hier, in diesen Hobeln, Schwerter statt Äxte und so weiter. Soviel Schwerter und Messer gibt es auf Casabones auch nicht! Wir müssen darauf achten, daß wir nicht noch in die Verlegenheit kommen, auch eine Schmiede bauen zu müssen!"

Oder gar ein Bergwerk, will ich noch sagen, aber ich unterlasse es. Gerade hat Och mir diesen schönen Erfolg präsentiert, und ich komme sogleich mit neuen Bedenken. Ich merke, daß das seine Stimmung dämpft. Ich bin eben kein Politiker, denke ich. 'Bedenkenträger', so würden manche mich bezeichnen. Manche, die in eine Krise immer erst hineinrennen müssen um sie als solche zu erkennen.

"Aber das Brett ist Spitze!" setze ich rasch hinzu. Och's Miene hellt sich wieder eine Nuance auf.

"Wieviele haben wir denn davon?"

"Wir hatten zuerst viel Verschnitt!" sagt Och und erläutert mir dann, wie sie jetzt in mühsamer Sägerei die Stämme längs zerschneiden. Auf diese Weise schaffen sie es, aus einem Baumstamm mehr als ein Brett zu fertigen.

"Es sind nicht alle Stücke brauchbar, um daraus wirklich gute Bretter zu machen!" endet er schließlich.

"Das macht nichts," erwidere ich, "für weniger gute Bretter haben wir auch Verwendung!"

Jetzt würden mich noch die Mühlsteine interessieren. Ob es ratsam ist, danach zu fragen, wenn da vielleicht noch keine Erfolge vorliegen sollten?

Von selbst geht Och nicht auf Mühlsteine ein. Er erzählt, daß er mit Leuten geredet hat, die vorgaben, etwas von Textilherstellung zu wissen. Zufälligerweise ist aber keiner davon anwesend, und ich weiß nicht, ob er mir das in der bewußten oder unbewußten Absicht erzählt, mich auf meine und Charmion's Entbehrlichkeit hinzuweisen. Andererseits redet er jetzt wieder so offen mit mir, daß ich das kaum glauben kann.

Und ich bin beunruhigt, weil ich nicht weiß, was im Fort passiert.

Wenn diese Gruppen im Wald halbwegs rational handeln, warum sollten sie dann das Fort angreifen? Bloß, weil es nicht verteidigt wird, macht man sowas eigentlich nicht, wenn man kein anderes greifbares Ergebnis dafür bekommt. Die meisten Waffen dürften hier sein, bei der Masse der Meuterer, und ich glaube nicht, daß die Regale voller Verwesung in der Speisekammer für irgendjemanden interessant sind. Vielleicht, versuche ich mich zu beruhigen, ist es auch dieser Verwesungsgeruch, der über dem ganzen Fort liegt, der Angreifer auf andere Ideen bringt.

Dann gibt es immer noch die Möglichkeit, daß jemand doch noch den Weg, den wir auf Casabones heraufgekommen sind, herunter möchte, obwohl aus unseren Berichten doch hervorgegangen sein sollte, daß das nicht mehr möglich ist. Aber es besteht immer die Möglichkeit, daß uns nicht jeder geglaubt hat. Oder daß nicht jeder weiß, was wir berichtet haben.

Wenn man aber diesem Weg folgen möchte, dann muß man nur am Fort vorbei und nicht hinein. Irgendwo wird es doch andere Abstiege in die Schlucht geben. Höchstens, daß man im Fort Fackeln suchen könnte.

Aber auch daran glaube ich nicht. So ein Unternehmen braucht Planung und koordinierten Aufwand, und dazu werden diese vagabundierenden Gruppen nicht unbedingt in der Lage sein.

So etwa gehen die Argumente, mit denen ich mich zu beruhigen versuche und mir einrede, daß Charmion im Fort in der Turmkammer sicher ist. Sie wird sowieso vorsichtig sein und ständig horchen und beobachten. Überrumpeln kann man sie nicht. Nicht meine Charmion.

29.2 Lebensmittelbeschaffung aus dem Oberfort

"Hast du eigentlich einen Überblick, was noch in der Speisekammer ist?" fragt Och plötzlich, "Ich möchte die Arbeiten nicht zu sehr unterbrechen lassen, um Nahrung zu beschaffen."

"In der Speisekammer im Fort?"

"Ja, natürlich. Welche sonst?"

"Das ist doch alles ungenießbar!"

"Wieso denn?"

"Fleisch muß doch haltbar gemacht werden! Da ist Fleisch eingelagert worden, aber um das Einsalzen hat sich wohl niemand gekümmert!"

Es gelingt mir, relativ objektiv über das 'Fleisch' zu reden, so als ob es sich tatsächlich um gewöhnliche Schlachtereiprodukte handeln.

"Ja," nickt Och, "da waren wir wohl etwas nachlässig. Man hätte den Küchendienst besser organisieren müssen!"

"Besser? Da war doch überhaupt kein Küchendienst!"

Och äußert sich nicht über diese semantische Feinheit. "Auf jeden Fall" sagt er "sind da ja auch noch Vorräte aus der Zeit vor der Eroberung des Forts. Die sind gut haltbar gemacht worden, und die können doch noch nicht alle sein!"

"Möglich," sage ich, "aber es stinkt fürchterlich."

"Das macht doch nichts." stellt Och fest, "du brauchst ja nicht mitzugehen. Ich werde einige Leute bestimmen, die sich da mal umsehen sollen!"

Genau das tut er. Da er mit größeren Mengen brauchbaren Fleisches rechnet, stellt er eine Gruppe von zwölf Männern zusammen.

Keiner von diesen ist mir direkt bekannt. Sie machen alle den Eindruck, als ob sie damit rechnen, daß sie außerhalb der Sichtweite von Och sich etwas weniger anstrengen können. Och bestimmt einen Anführer und dann schickt er sie los. Als sie sich auf den Weg machen, schließe ich mich auch an. Och sieht es, sagt aber nichts. Er weiß, warum ich in das Fort will.

Auf dem Weg wird wenig geredet, vielleicht sogar weniger als sonst, weil ich dabei bin. Mittelbar bin ich ja schließlich die Ursache für den Arbeitsanfall in der letzten Zeit. Eigentlich sogar unmittelbar - ich weiß nicht, inwieweit sich die Kunde der Ereignisse auf unserem Weg auf die Gefängnisinsel Casabones hier verbreitet hat. Schließlich sind es ja wir gewesen, die den Wendeltreppenschacht unpassierbar gemacht haben. Vielleicht werde ich nur geduldet, weil man Charmion als Frau die Hauptschuld gibt.

29.3 In Feindeshand

Als sich das Fort vor uns aus dem Nebel schält, sehe ich eine kurze Bewegung im Tor hinter der Zugbrücke.

"Da ist jemand!" sage ich.

"Na und?" fragt der Mann, der auf Och's Geheiß die Gruppe anführen soll.

"Das Fort sollte eigentlich leer sein!"

"Dann ist da eben jemand anderes von uns auf die gleiche Idee gekommen."

"Oder die Gruppen aus dem Wald!" sage ich, "wenn Och meint, daß da noch viel Fleisch brauchbar ist, dann kann jemand anderes das auch meinen!"

Das erscheint dem Mann plausibel. Ich weiß immer noch nicht, wie er heißt, und weil die zwölf kaum reden, ist auch sonst noch kein Name gefallen. Aber wenigstens sind sie jetzt beunruhigt und ziehen ihre Schwerter, während wir uns der Zugbrücke nähern.

Nun liegt das Fort wieder völlig reglos vor uns. Ich habe ein ungutes Gefühl. Die anderen scheinen das nicht zu teilen, denn sie gehen entschlossen vorwärts. Der erste, der die Zugbrücke betritt, ächzt plötzlich auf, bleibt stehen und bricht zusammen. In seiner Brust steckt ein Pfeil, den er beim Zusammenbrechen zwischen sich und den Planken der Zugbrücke zerbricht und sich dabei die Bruchstücke auch noch in die Brust hineinrammt.

"In Deckung!" rufe ich. Mit der Infanterieausbildung der Meuterer ist es aber nicht weit her. Zwei kehren um und laufen fort, drei stürmen auf die Zugbrücke und die restlichen bleiben erst einmal stehen.

Die drei auf der Zugbrücke erreichen nicht einmal das Tor. Im Augenblick erreicht der 'body count', wie es so schön im militärischen Neuhochdeutsch heißt, den Wert vier. Zwei Körper fallen seitlich von der Brücke herunter.

Jedenfalls ist jetzt sicher: Das Fort ist in Feindeshand. Auch, wenn wir nicht genau wissen, wer der Feind ist.

"Würdet ihr vielleicht die Güte haben, euch hinter irgend etwas zu verstecken?" brülle ich hinter dem dürftigen Busch, den ich selbst als Deckung gefunden habe, hervor. Sie bewegen sich viel zu langsam. Ungeschützte Schwertkämpfer haben gegen Bogenschützen doch wenig Chancen. Sollte eigentlich jedem Granitbeißer klar sein. Oder sind sie immer noch davon überzeugt, daß sich nur wenige Verteidiger im Fort aufhalten?

Die andere Möglichkeit ist, daß auch unter den Granitbeißern oder wenigstens unter den Meuterern unklare Vorstellungen darüber herrschen, wie die Chancen von Konflikten bei Verwendung verschiedener Waffengattungen tatsächlich verteilt sind. Die Überlegenheit von Bogenschützen über Schwertkämpfern ist doch schon in der Schlacht bei Agincourt am 25. Oktober 1415 überzeugend demonstriert worden - deshalb eine der letzten Ritterschlachten. Damals, in der Regierungszeit von Heinrich V, wenn ich mich richtig erinnere, haben englische Bogenschützen französische Ritter niedergemacht und so einen für beide Seiten überraschenden Sieg errungen, um so überraschender, weil die englische Invasionsarmee nur höchstens 9000 Streiter umfaßte. Davon waren allerdings 6000 Bogenschützen. Das war das erste historische Beispiel von 'Luftüberlegenheit'.

Einzelheiten aus unserer Militärgeschichte können die Meuterer natürlich nicht wissen, und Einzelheiten aus der Militärgeschichte der Granitbeißer wohl auch nicht. Dazu ist ein langes Gefangenendasein ja kaum die richtige Vorbereitung.

Es fliegen noch weitere Pfeile, aber keiner davon trifft. Allerdings fliegen diese Pfeile so gleichzeitig, daß ich eigentlich von mindestens drei Bogenschützen im Eingang des Forts ausgehen muß. Das ist für uns kaum zu schaffen. Die sind nämlich in guter Deckung, und wir haben keine Bögen dabei.

Und Charmion ist noch im Turm! Ich sehe unauffällig nach links herüber, zum Turm. Da sind die Schießscharten, hinter denen keine Bewegung zu erkennen ist, auch für mich nicht, wo ich doch der einzige bin, der weiß, daß sie sich da aufhält. Sie beobachtet uns vermutlich genau - diese Vorgänge jetzt können ihr kaum entgehen.

Zwei weggerannt, vier tot. Bleiben sechs. Oder sieben, mit mir zusammen. Fünfzehn Meter zu meiner Rechten, hinter einem ähnlich unzureichenden Busch, liegt der Gruppenführer. Er sieht mich hilflos an.

"Das schaffen wir nicht!" rufe ich ihm zu, "es sind zu viele! Wir müssen zurück!"

"Aber wir sollen doch das Fleisch holen!"

"Das können wir nicht!"

Weiter hinten steht ein anderer der Männer auf. Er ruft etwas zum Fort hinüber. Es hört sich an, als ob er einen Bekannten erkannt hat. Die Unterhaltung ist kurz, dann wird wieder geschossen. Die Pfeile verfehlen ihn knapp, und der Mann springt überraschend behende wieder in seine Deckung zurück.

Vor Schußwaffen würden uns diese Büsche überhaupt nicht schützen, und ein geübter Bogenschütze würde die meisten von uns wohl auch so erreichen. Es handelt sich eben nicht um geübte Bogenschützen, sondern nur um Leute, die gerade eben wissen, wie man einen Bogen gebraucht, die aber im Bogenschießen keine überragenden Fähigkeiten haben. Das ist wahrscheinlich unser Glück. Glatter Zufall, daß die vier Getöteten wirklich so genau getroffen wurden.

"Wir müssen uns zurückziehen!" wiederhole ich. Allmählich scheint sich die Einsicht zu verbreiten, daß ich recht haben könnte. Ich sehe sogar Spuren von Angst auf den Gesichtern der Männer, die ich von meinem Platz aus sehen kann.

"Beste Methode ist," schlage ich laut vernehmbar vor, "aufzuspringen und im Zickzack zurückzulaufen. Alle gleichzeitig! Ist das verstanden?"

Es ist verstanden. Einer springt auf und läuft sofort, genau wie ich es vorgeschlagen habe, im Zickzack wieder in Richtung Dorf. In wenigen Sekunden ist er im Nebel verschwunden. Ein Pfeil folgt ihm aus dem Fort aber verfehlt ihn um dreißig Meter. Auch sein Glück ist es, daß die militärische Dilettanz auf beide Seiten großzügig verteilt ist.

"Gleichzeitig, habe ich gesagt!" rufe ich, "Also, ich zähle!"

"Warum?" fragt der Gruppenführer.

"Damit wir alle gleichzeitig aufspringen und weglaufen können. Kapiert? Also, bei 'drei'!"

So wird es gemacht. Aber als ich "drei" rufe, bin ich der erste, der aufspringt. Die anderen springen auf, weil ich aufspringe, und nicht, weil sie zugehört haben. Können die vielleicht nicht einmal bis drei zählen, im wahrsten Sinne des Wortes?

Das mit dem Zickzacklaufen scheint die intellektuellen Resourcen meiner Begleiter auch arg zu strapazieren. Zwei laufen aufeinander zu und stoßen zusammen. Es wäre urkomisch, wenn es nicht so gefährlich wäre. Ich bleibe kurz stehen und drehe mich um, um nachzuschauen, ob alle mitkommen.

Eine leichte Berührung an den Schläfenhaaren. Als ich darauf mich wieder vom Fort abwende, sehe ich eine Pfeil drei Meter von mir entfernt im Boden stecken. Er vibriert noch. Erst, als ich schon wieder einige Dutzend weitere Meter zwischen mich und das Fort gebracht habe, wird mir klar, wie nahe ich darangewesen war, ein Auge ausgeschossen zu bekommen.

Wir alle erreichen unbeschadet eine sichere Entfernung, das heißt, so weit vom Fort entfernt, so daß der Nebel die direkte Sichtverbindung unterbunden hat. Vielleicht sind wir noch in Schußweite - es müßte jetzt aber ein ungezielter Schuß sein.

Und mir wird weich in den Knien. Mir fällt sofort ein Vorfall ein, der mir als Junge widerfahren ist, vor etwa dreißig Jahren. Ein Freund meines Bruders hatte einen hervorragenden Bogen, und wir waren dabei, in freier Natur Zielschießen zu veranstalten. Irgendwann - die beiden hatten sich vierzig oder fünfzig Meter von mir entfernt - hielten sie es für enorm lustig, zum Spaß auf mich zu schießen. Ich sah sie an und sah, daß sie tatsächlich in meine Richtung geschossen hatten. In demselben Moment, als ich begriff, daß der Pfeil schon längst unterwegs war, berührte mich etwas im Haar, und hinter mir raschelte es im Gras. Als ich mich umdrehte, steckte da ein Pfeil. Ich erinnere mich, daß er noch zitterte, genau wie dieser Pfeil jetzt.

In beiden Fällen, jetzt und damals, hatte der Pfeil im Verhältnis zu meinem Kopf dieselbe Flugbahn zurückgelegt. In beiden Fällen hätte eine seitliche Versetzung der Flugbahn von nur 5 Zentimetern nach unten mir ein Auge genommen. In beiden Fällen war mir danach so weich in den Knien, daß ich mich setzen mußte.

"Was ist denn?" fragt mich einer der Männer, als er sieht, daß ich auf dem Boden sitze, "Verletzt?"

"Nein."

"Wir müssen die Burschen verjagen." sagt er entschlossen. Da ich nicht verletzt bin, ist meine weitere Verfassung für ihn uninteressant. Ich kann es ihm nicht einmal übelnehmen. Überleben oder nicht, das ist das wichtigste. Ob man den Luxus der Abwesenheit traumatischer Erlebnisse hat oder nicht ist zweitrangig.

Wie wir diese 'Burschen' verjagen, das sagt er nicht. Ist auch gar nicht einfach, mit unseren Mitteln.

"Dann werden wir heute eben nicht bis in die Speisekammer gelangen." sage ich. Initiative ergreifen ist ein Mittel, um die weichen Knie zu bekämpfen. Werde sehen, ob das funktioniert.

"Wieso. Irgend etwas wird uns schon einfallen."

Nun war es noch nie eine besondere Stärke der Meuterer, 'sich etwas einfallen' zu lassen. Sie sammeln sich alle um mich und ich stehe auf. Bin ich es, der sich etwas einfallen lassen soll? Sie erwarten das wahrscheinlich von mir, weil ich mir auch die Gleitschirme habe einfallen lassen.

Ideen hätte ich schon. Aber alles, was diesen paar Männern ermöglicht, erfolgreich das Fort zu stürmen, gefährdet auch Charmion. Wahrscheinlich wenigstens. - Wenn man wenigstens genau wüßte, wieviele Männer das Fort besetzt halten, und über welche Mittel sie verfügen. Und nebenbei: Wie soll man sie überhaupt nennen? Da ich die Gesamtheit aller Gefangenen hier schon als 'Meuterer' bezeichne, fehlt eine geeignete Bezeichnung für die, die gegen die Meuterer meutern. Die Verwendung eines anderen Wortes, etwa 'Rebellen', würde da nichts helfen.

"Wir brauchen auch Pfeile." sagt einer der Männer, "Mit Feuer drauf," ein anderer, "im Fort ist viel Holz. Vielleicht klappt es."

Das ist genau das, was ich nicht will. Wegen ein paar Leuten das ganze Fort niederbrennen. Dann muß Charmion sich davon machen. Selbst, wenn sie dabei nicht zu Schaden kommt, besteht die Gefahr, daß man sie sieht. Und dann kommt es darauf an, wie und wo man sie sieht. Vielleicht rechnet man sie zu den Fort-Besetzern, vielleicht kommt aber auch jemand auf die Idee, daß wir sie im Fort versteckt haben.

Andererseits - einen dicken Balken mit einem brennenden Pfeil anzuzünden ist auch nicht ganz einfach. Die Meuterer haben keine Erfahrung im Niederbrennen von festen Gebäuden, die auch noch verteidigt werden. Wahrscheinlich kann man der Sache in Ruhe entgegensehen - solide Steinmauern fangen kein Feuer.

Zwei weitere Männer machen sich auf in Richtung Dorf, um Verstärkung und Pfeil und Bogen zu holen. Sie verfallen nicht einmal in den Laufschritt. Das Vorhaben wird also noch eine ganze Weile in Anspruch nehmen.

"Die werden nicht ewig im Fort bleiben," überlege ich laut, "denn was sollen sie da?" Keiner antwortet. Sie haben sich alle hingesetzt und warten. Vielleicht ist eine Argumentation, die ihnen die Aussicht auf ein ordentliches Feuerwerk nimmt, gar nicht so willkommen.

"Wir sind hier übrigens immer noch in Schußweite. Wenn sie ungezielt in den Nebel schießen ..." stelle ich fest.

"Sollen sie doch." knurrt einer. Ein verirrter Pfeil gilt nicht mehr als Risiko.

Es ist 22 Uhr. Die Zeit vergeht ohne unser Zutun. Eigentlich wäre es geschickt, sich wieder dem Fort zu nähern und es zu beobachten. Da niemand auf die Idee kommt, schlage ich es vor. Damit ist auch schon klar, wer geht.

"Es ist gut, wenn man weiß, was der Feind macht!" sage ich. Einer der Männer, der sich bereits auf den Boden gelegt hat und dabei ist, einzuschlafen, nickt. Solange von ihm nichts verlangt wird, ist er einverstanden.

29.4 Als Kundschafter

Ich muß dem Fahrweg zum Fort nur etwa zweihundert Meter weit folgen, bis mich die besser werdende Sicht zwingt, wieder von Deckung zu Deckung zu springen. Diesmal wähle ich größere Büsche, links von der Straße, möglichst weit von derselben entfernt. Damit bin ich auch dem Turm näher als der Zugbrücke.

Ich bilde mir ein, daß ich es relativ gut mache. Von dem erhöhten Standpunkt des Turmes aus gesehen dürfte meine Deckung weniger gut sein, aber ich habe nichts dagegen, daß Charmion mich sieht. Aber weder in den Schießscharten des Turmes noch im Eingangstor hinter der Zugbrücke noch hinter den anderen Fenstern des Gebäudes ist eine Spur einer Bewegung zu sehen.

Es liegen immer noch zwei Leichen auf der Zugbrücke, eine in der Mitte und eine ganz am Anfang. Die beiden, die herabgestürzt sind, kann ich natürlich nicht sehen, da ich dazu bis an die Felskante vorrücken müßte.

Da, wo ich jetzt bin, werden mich die Besetzer des Forts nicht sehen können, und meine Begleiter auch nicht, wenn sie wieder vorrücken sollten. Die Gelegenheit ist günstig: Ich habe die Idee, daß ich vielleicht vermeiden sollte, in der kommenden Auseinandersetzung mitzumischen. Die Idee, kaum entstanden, verdichtet sich zum Entschluß. Ich muß nur noch die Ausrede für mein Fernbleiben formulieren. Da wird mir schon etwas einfallen. Erstmal sehen, was passiert.

Eine ganze Zeitlang passiert gar nichts. Weder vom Fort noch aus der Richtung des Dorfes ist auch nur der leiseste Laut zu hören. Man könnte sich einbilden, daß das Fort eine schon seit Menschengedenken verlassene Ruine ist.

Ich beobachte die Schießscharten des Turmes genau. Wenn Charmion mich sieht, und wenn sie sich entscheidet, mir einen Wink zu geben, dann will ich das nicht verpassen. Aber warum sollte sie mir einen Wink geben? Es gibt jetzt nichts, was sie mir mitteilen sollte. Und nur um 'Hallo' zu winken ist jetzt nicht die Zeit. Sie weiß ja, daß ich weiß, daß sie da oben ist.

23 Uhr. Es ist langweilig. Wartet man auf meine Rückkehr, um sich berichten zu lassen? Schon möglich - wenn ich mich schon implizit als Kundschafter angedient habe, dann wäre es logisch, daß ich irgendwann zurückkomme und berichte. Und wenn ich nicht zurückkomme? Dann wäre es das naheliegendste, daß jemand anderes herangeschlichen kommt, um ebenfalls das Fort zu beobachten und dabei herauszufinden, wo ich geblieben bin.

Ich rücke weiter vor, von Gebüsch zu Gebüsch, hinter dichtem Bodenbewuchs robbend, möglichst keine höherragende Pflanzen bewegend. Das Spiel ist ja immerhin tödlicher Ernst, anders als in den Indianerspielen in der Kindheit oder in der Grundausbildung in der Bundeswehr.

Ich passiere den kaum erkennbaren Pfad, den wir vom Fort aus schon ein paarmal zu den Wäldern am Seeufer gegangen sind. Es kann nicht mehr weit bis zur Felskante sein. Ich halte mich noch weiter links, so daß ich die Felskante schon über dem Seeufer erreichen werde.

Die Navigation gelingt relativ gut. Als der Abbruch der Uferkante in Armesreichweite ist, sehe ich die Zugbrücke tangential am Seeufer entlang genau von der Seite, und der Turm ist jetzt der Teil des Forts, der mir am nächsten ist. Allerdings kann Charmion jetzt nicht mehr gleichzeitig mich und das Gebiet vor der Zugbrücke sehen. Wenn sie mich verfolgt hat, dann weiß sie etwa ungefähr, wo ich bin.

Die Männer brauchen aber lange, um Verstärkung zu holen. Oder sind sie einfach unverrichteter Dinge gegangen, weil es nicht möglich ist, das Fort zu betreten? Vielleicht haben sie auch eine Runde Schlaf eingelegt, oder einer holt sich einen runter, und die anderen warten, bis er damit fertig ist, weil jeder Grund zum Warten und zum Nichtstun willkommen ist.

Die beiden Leichen liegen immer noch auf der Zugbrücke. Die beiden anderen, die etwa fünfzig Meter tiefer im Wasser liegen müßten, kann ich nicht von hier aus sehen - ich müßte mich gefährlich weit hinter dem Busch hervor und über die Abbruchkante hinüberbeugen. Dabei würde ich aber meine Deckung aufgeben und vom Fort aus deutlich sichtbar werden. Das Risiko, daß gerade jemand in diese Richtung sieht, gehe ich nicht ein. Sonst ist dieser Platz hervorragend: Dichtes Buschwerk bis an die Felskante, und wer immer am Seeufer entlang will, würde den Pfad nehmen, der hier zwanzig oder dreißig Meter weit vom Ufer entfernt ist. Von dort kann man mich nicht sehen.

Während ich so reglos zwischen den Büschen liege, denke ich dankbar daran, daß es in der Welt der Granitbeißer kaum Insekten gibt. Das wäre in vielen tropischen Gebieten der Erde anders. Es ist mir aber noch kein plausibler Grund dafür eingefallen. Wahrscheinlich hat es mit den historischen Zufälligkeiten zu tun: Irgendwann in grauer Vorzeit war diese Welt ja mal mit der Erdoberfläche in Verbindung. Als diese Verbindung unterbrochen wurde, waren eben zeitweilig Bedingungen vorherrschend, die nicht vielen Insekten Lebensraum geboten haben. Vielleicht hängt es aber auch mit dem langsameren Metabolismus vieler Tiere hier zusammen. Ich weiß es nicht.

Irgendwelche Insekten muß es geben, denn wir haben ja ein Xonchen-Wort dafür gelernt. Mir fällt ein, daß es in Vietnam durchaus tropische Gebiete gibt, die sehr insektenarm sind - Nachwirkungen der Entlaubungsaktionen der Amerikaner im Vietnam-Krieg, die irgendwelche langfristigen biochemischen Folgen hatten. Sollte ich deshalb an die Anwesenheit irgendwelcher lokalen Giftstoffe denken? - Keine Ahnung.

Dann vertreibe ich mir die Zeit mit einem anderen Gedankenspiel: Weil diese Welt von unserer Welt da oben völlig oder weitgehend getrennt ist, funktioniert das übliche Gedankenexperiment nicht, mit dem man ganz gerne im Chemie- oder im Physikunterricht die Kleinheit der Atome und Moleküle veranschaulicht. Man denke sich einfach mal alle Luftmoleküle, die man bei einem bestimmten Atemzug ausatmet, irgendwie dauerhaft markiert. Am besten, man denkt sich jedes Molekül als kleines Glühwürmchen. Wenn es weit genug von den anderen entfernt ist, versteht sich, denn sonst wird man geblendet.

Rund gerechnet ist die Vitalkapazität eines erwachsenen, gesunden Menschen etwas mehr als zwei Liter. Das ist gerade ein Zehntel eines Molvolumens, das heißt also, man atmet auf ein Mal 6 mal 10 hoch 22 Moleküle aus. Ungefähr.

Wenn diese 6 mal 10 hoch 22 Moleküle sich gleichmäßig in der gesamten Atmosphäre der Erde da oben verteilen, dann entfallen auf jeden Quadratkilometer immer noch 1.2 mal 10 hoch 14 Stück. Das sind immer noch 120 Millionen auf jeden Quadratmeter. Auf einem Quadratmeter Erdoberfläche liegen etwa zehn Tonnen Luft. Pro Kilogramm Luft hätten wir also noch 12_000 markierte Moleküle, das wären etwa 15 Moleküle pro Liter unter Normaldruck.

Mit anderen Worten: Auch von der Luft, die mein ärgster Feind mit jedem Atemzug ausatmet, würden sich nach einer gewissen Zeit dauernd einige Moleküle in meiner eigenen Lunge befinden. Von wirklich jedem Atemzug. Mit den üblichen statistischen Schwankungen. Für meinen besten Freund gilt das Gleiche. Und für jeden anderen Menschen, der lebt und der je gelebt hat.

Nun gibt es über die Äonen einen chemischen Austausch der Luftbestandteile mit den Bestandteilen des Bodens und des Meereswassers. Vernachlässigbar wenig verflüchtigt sich auch in den Weltraum. Deshalb dürften von jedem Atemzug eines Menschen, der etwa vor zweitausend Jahren gelebt hat, vielleicht ein paar Moleküle weniger in meiner Lunge sein. Aber da jeden Mensch ja mehr als einen einzigen Atemzug tut, kommt da auch noch einiges zusammen. Eigentlich ist es ein Allgemeinplatz für jeden naturwissenschaftlich gebildeten Laien, aber man muß es sich trotzdem ab und zu klarmachen: In unserer Lunge, und über den Stoffwechsel auch in unserem Körper befinden sich Atome, die Bausteine der Körper aller anderen Menschen der Geschichte waren: Jesus wie Dschingis Khan, Newton wie Aristoteles, Caligula wie Hitler, Einstein und Cromwell, die Callas und die Dietrich, Walt Disney und der alte Fritz.

Allerdings gilt dieses Gedankenspiel jetzt nicht mehr, denn der Stoffaustausch zwischen der Erdoberfläche und der Welthöhle der Granitbeißer ist gering. Ganz Null ist er nicht, denn wir haben ja selbst diese Welt erreicht und somit einen gewissen Stoffaustausch bewirkt. Andere Kanäle wird es auch noch geben, wie etwa diese braunen und die salzigen Quellen, von denen Oom erzählt hat.

Aber das, was wir, Irene und ich, an Atomen, die schon mal an illustrer Stelle in der Weltgeschichte mitgespielt haben, in unserem Körper mitgebracht haben, ist längst durch den Stoffwechsel hinausbefördert worden. Die biologische Halbwertszeit von Stickstoff und Sauerstoff und Wasserstoff in einem menschlichen Körper ist kurz - Wochen höchstens. Während oben die wie Glühwürmchen leuchtend gedachten Moleküle eines einzigen Atemzuges eines einzigen Menschen einen schimmernden Nebel bilden würden, würden die Moleküle desselben Atemzuges, die nach hier unten gelangt sind, nur noch ganz selten die Sichtung eines Glühwürmchens ermöglichen.

Das gilt natürlich nicht für Menschen, die sich gleichzeitig in der Welthöhle befinden. Die Atome in meinem Körper, die bereits auch schon einmal Bestandteil von Charmion waren, dürften immens an der Zahl sein - vielleicht sind es schon wägbare Mengen. Nein, ganz sicher sind es wägbare Mengen, korrigiere ich mich, so oft, wie wir schon zusammen geschlafen haben. Ein kleiner Trost - ich hätte Charmion lieber komplett hier, jedes Kilo. Und uns beide ganz woanders.

Ich blicke auf die Uhr. Gleich wird es Mitternacht sein. Bin ich schon einmal eingenickt? So etwas passiert manchmal, ohne daß man es merkt - im Nachherein meint man, man hätte die ganze Zeit seinen eigenen Gedanken nachgehangen.

Und immer passiert noch nichts. Was soll ich machen?


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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