Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



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******** 028. Tag: Freitag 95-09-15 ********

28.1 Charmion's Flucht

Es ist 4 Uhr morgens, als ich, restlos geschafft und trocken geredet, wieder das Fort aufsuche. Am großen Tor bringe ich Charmion's Schwert wieder an mich und stelle dabei fest, daß diese Waffenschränke noch unberührt sind. Es müssen andere Waffenschränke gewesen sein, als von den Waffen aus dem Wehrgang die Rede war. Nach einem Umweg durch den Wald am See, wo ich weiter das Erkennen von eßbaren Pflanzen übe, betrete ich die Zugbrücke.

Im Fort wartet schon die nächste Überraschung auf mich.

Es hat ein fürchterliches Gemetzel gegeben. Man erzählt mir, daß Charmion getürmt ist. Sie sei plötzlich verrückt geworden. Woher sie ein Schwert hat, weiß niemand, aber plötzlich sei sie in der Halle aufgetaucht, habe fürchterliche Verwünschungen über mich und Och ausgestoßen, besonders über mich, und habe auf die sieben Männer, die dort beim Nichtstun zusammensaßen, eingeschlagen. Man habe sich kaum wehren können, und als sie endlich zur Zugbrücke raus sei, da haben von den sieben vier im eigenen Blute gelegen. Die anderen haben alle üble Verletzungen.

Auf der Zugbrücke ist Charmion fünf Meuterern begegnet, die gerade auf dem Weg ins Fort waren. Auch von diesen, die überhaupt nicht vorhatten, sie aufzuhalten, hat sie vier erschlagen, der fünfte konnte sich gerade eben in Sicherheit bringen. Danach ist Charmion in Richtung Dorf gerannt, so schnell, daß ihr niemand folgen konnte. - Wahrscheinlich hat es auch keiner versucht, vorsichtshalber.

Ich muß mir in allen Einzelheiten anhören, was passiert ist, immer wieder. Besonders muß ich mir anhören, was sie über mich gesagt hat. Da ist von 'gemeinsame Sache mit den Meuterern machen' die Rede, und auch davon, daß ich sie dauernd vergewaltigt und zum exklusiven sexuellen Gebrauch in dem Zimmer eingesperrt hätte. Das scheint die Männer schwer beeindruckt zu haben, zu gerne wüßten sie Einzelheiten. Aber ich weise diese Anschuldigungen weit von mir, so, wie ich es machen müßte, wenn sie wahr wären.

Ich stelle fest, daß, während dieser Erzählungen, einer dauernd meine zwei Schwerter mustert. Er heißt Osont. Ich muß ihn mir merken. Ich fürchte, er könnte auf die richtige Idee kommen.

Die Wortwahl ist interessant: Sie reden von der 'feigen' und 'aggressiven' Frau. Aggressiv vielleicht, aber gegen eine Handvoll Männer anzukämpfen, auch wenn sie diese Kampfhandlungen selbst sehr plötzlich eröffnet hat, kann wohl kaum als feige bezeichnet werden.

Was ist überhaupt 'feige'? Da war mal, bei einigen Terroristenüberfällen vor einigen Jahren, öffentlich die Rede von einem 'feigen Anschlag'. Wie hätte denn ein 'mutiger Anschlag' ausgesehen? Denn nur, wenn es einen solchen gibt, hat die Bezeichnung Sinn. - Der Entschluß, etwa einen Politiker umzubringen, und die ausgeführte Tat ist das, was Kritik und strafrechtliche Würdigung verdient, nicht die Methoden, die sich dann notwendig anbieten, um diese Tat auch auszuführen. Soll der Terrorist den Politiker vielleicht zum persönlichen Duell herausfordern? Ist das ein 'mutiger' Anschlag?

Jedenfalls ist mir zweifelsfrei klar, was passiert ist. Charmion hat sich wesentlich spektakulärer abgesetzt als wir es abgesprochen hatten. Ich bin mit Charmion's Methode, die allgemeine Aufmerksamkeit so blutig auf sich zu lenken, nicht einverstanden. Aber Feigheit ist da das letzte, was ich ihr vorwerfen würde.

Es ist wahrscheinlich ohne Gefahr möglich, mit diesen Männern mein Zimmer aufzusuchen. Es sollen ruhig alle sehen, daß sie nicht dort ist.

Ist sie auch nicht. Aber auch hier hat sie ihren Abgang sehr schön verdeutlicht: Die Tür zu unserem Zimmer ist aus den Angeln gerissen worden, was völlig überflüssig war, da sie nur von innen verriegelt werden konnte. Hoffentlich fällt niemandem diese kleine Ungereimtheit auf. Im Zimmer selbst scheint alles unverändert, abgesehen davon, daß Charmion eben nicht da ist.

Als sich die Gruppe Männer wieder nach unten verzieht - das zu erreichen ging ganz einfach, man muß sie nur mit Arbeit versorgen, und schließlich sind die acht Unglücklichen ja sauber in der Speisekammer unterzubringen, außerdem möchte ich meine Tür repariert haben - sehe ich mir die Treppe zu den Turmkammern an.

28.2 In Charmion's Turmkammer

Gründlich vollgestellt, daß muß man schon sagen. Ocronk hat ganze Arbeit geleistet. Es handelt sich besonders um behauene Steine, die auch in der Zeugkammer gelagert wurden. Jetzt liegen sie hier, stellenweise bis zur Decke des Treppenganges. Außerdem sind da noch Balken und anderer Sperrmüll aus Holz, dessen ursprünglicher Zweck nicht mehr zu erkennen ist. Ocronk muß eine ganze Menge Leute beschäftigt haben, um diese Mengen hier rauf zu transportieren. Deshalb waren wohl soviele Leute in der Halle anwesend. Ihr Pech.

Erst, als meine Tür wieder repariert worden ist - der alte Zeugmeister macht es selbst, und er entschuldigt sich bei der Gelegenheit dafür, daß soviel Krempel hier oben abgestellt worden wäre, aber Och hat es eben so bestimmt - wage ich, nachdem ich eine ganze Weile gehorcht habe, ob sich doch noch jemand zu mir nach oben verirrt, die Steine zu überklettern. Die Tür des Zimmers lasse ich geschlossen zurück. Um festzustellen, ob jemand während meiner Abwesenheit das Zimmer betritt, lege ich ein Brett aus dem Gerümpelhaufen von innen wohlpositioniert gegen die Tür, bevor ich sie ganz schließe. Charmion's Schwert nehme ich mit, obwohl ich ja gehört habe, daß sie sich irgendwo ein anderes besorgt hat.

Der Holzverschlag ist jetzt von beiden Seiten zugestellt und schwer zu öffnen. Es geht, mühsam, und nichts weist darauf hin, daß hier vor kurzem jemand durchgekommen sein muß. Hinter mir bringe ich ihn in seinen ursprünglichen Zustand zurück.

Ich stehe in der unteren Turmkammer. Sie hat kein eigenes Fenster, aber sechs Meter über meinem Kopf ist der aus schweren und alten Holzbalken gezimmerte Boden der nächsten Kammer, und von dort kommt eine Spur Licht. Außerdem gibt es so manche undichte Mauerritze. Ungefähr kann ich erkennen, daß hier große Stapel Balken und Holzplatten liegen. Eine Treppe in die nächste Turmkammer gibt es aber nicht. Wie soll ich da hinaufkommen? Der höchste Balkenstapel ist dreieinhalb Meter hoch, und dann sind es noch einmal zweieinhalb Meter bis zu diesem Holzboden.

Dieser knarrt jetzt. Hoffentlich ist es wirklich Charmion. Aber wer sollte es sonst sein? Jedenfalls habe ich ja viel Vertrauen zu ihren Fähigkeiten, wenn ich so sicher annehme, daß es ihr gelungen ist, das Fort wieder ungesehen zu betreten.

Jetzt, wo sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, stelle ich auch noch fest, daß die einzige Luke in dem Holzboden sich gegenüber von dem größten Holzstapel befindet, nämlich über dem Verschlag, durch den ich hereingekommen bin. Und dort ist gar nichts aufgestapelt. Soll ich sechs Meter hoch springen? Oder soll ich etwas aus dem Holz bauen, um hinaufzukommen? Das könnte nach außen auffallen.

Oben schiebt sich mit leisem Schleifen die Luke zur Seite. Das gibt etwas mehr Licht. Ich sehe Charmion's lockigen Kopf:

"Du mußt von der Tür aus über die Mauer klettern!" flüstert sie herunter, "Es ist gar nicht so schwer!"

Was sie für leicht hält, muß es für mich noch lange nicht sein. Aber es geht, die roh behauenen Mauersteine des Turmes lassen tatsächlich viele Ritzen offen, die geeignete Griffe und Tritte bilden. Manche sind glitschig, da sich überall wegen der immerwährenden Feuchtigkeit Moose und Flechten festgesetzt haben. In anderen Ritzen sind Reste vermutlich organischen Mörtelmaterials - oder es ist einfach nur Dreck.

Mit Charmion's Anweisungen gelange ich so bis dicht unter die Decke. Aber um durch die Luke zu kommen müßte ich mich weit zurücklegen. Das geht nicht.

"Faß diese Seilschlinge!" flüstert Charmion, "Du kannst dich mit vollem Gewicht an ihr festhalten!"

Neben mir klatscht ein Seil auf die Mauer und ich greife reflexhaft danach. Dabei verliere ich den Halt. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als diesem Seil mein volles Gewicht anzuvertrauen. Hoffentlich hat Charmion es wirklich gut festgelegt.

Wild schaukle ich unter der Luke hin und her. Charmion gelingt es, die Schwingung zu dämpfen. Ich kann nichts weiter tun als mich krampfhaft festzuhalten. Auch eine Fallstrecke von bloß sechs Metern kann tödlich sein. Dann zieht Charmion das Seil mit mir dran durch die Luke. Wenig später legt sie den Lukendeckel wieder auf.

"Wie soll ich denn da je wieder runter kommen?" frage ich.

"Da sind noch mehr Seile. Aber ich muß sie erst ausgraben!" deutet Charmion in eine Ecke. Gleichzeitig legt sie sich auf mich drauf und drückt mich auf den hölzernen Boden: "Darauf habe ich so gewartet!"

Sie hat irgend etwas mit ihren Haaren gemacht. Es dauert eine Sekunde, bis ich feststelle, daß sie gewaschen worden sind. Sie muß im Wasser gewesen sein. Sie ist schön, denke ich mir. Je länger ich sie kenne, desto schöner. Warum ist das so? Normalerweise gewöhnt man sich an Schönheit genauso wie an Häßlichkeit und nimmt beides mit der Zeit immer weniger wahr.

Ich bemerke auch, daß ihre Abschürfungen und blauen Flecken, die sie sich eingefangen hat, als wir das Fort ganz am Anfang betreten haben, im wesentlichen verheilt sind. Sie ist, trotz allem, was wir schon erlebt haben, voll leistungsfähig und kerngesund.

Das ist beneidenswert, aber eigentlich leicht zu erklären: Granitbeißer sind entweder gesund und fit, oder sie sind tot. Invalidität und Anfälligkeit gegenüber Krankheiten hält in dieser Welt niemanden lange am Leben. Es ist der umgekehrte Effekt, den wir bei unserer hochgezüchteten Medizintechnik bemerken: In unserer Welt da oben sorgt die Kunst der Ärzte und das soziale Netz dafür, daß auch noch sehr kranke Menschen lange leben können. Deshalb ist der Anteil der Kranken an der Gesamtbevölkerung sehr hoch. Hier sorgen die rabiaten Gepflogenheiten des miteinander Umgehens, die offenbar kaum existierenden sozialen Unterstützungsstrukturen, die hohen Anforderungen des täglichen Überlebens und die mangelhafte Hygiene dafür, daß Schwache und Kranke die Bildfläche rasch verlassen. Deshalb finde ich bei den Granitbeißern nur gesunde Menschen. Das Resultat einer intensiven Auslese.

Das heißt aber auch, daß ich Charmion - oder auch mein eigenes Leben - hier wegen einer Kleinigkeit verlieren könnte. Eine akute Appendizitis reicht aus. Keine Chance mehr. Das Leben hier ist ein permanenter Drahtseilakt ohne Sicherungsnetz.

"Kann ich vielleicht diese Schwerter beiseite legen? Kann man uns durch die Scharte da sehen?" frage ich, um rasch an die dringendsten Sachen zu erinnern.

"Ich habe doch schon an alles gedacht!" sagt sie. Eigentlich möchte ich jetzt erfahren, wie sie das Fort wieder betreten hat. Und woher sie sich das andere Schwert besorgt hat. Und woher sie die Idee für ihren spektakulären Abgang genommen hat.

Aber nichts von alledem frage ich. Charmion ist in gehobener Stimmung. Sie zieht uns geübt aus, mit leisen, präzisen Bewegungen. Der Zwang, lautlos zu bleiben, ist ständig präsent. Und der Wunsch, uns zu vereinigen, unwiderstehlich.

"Du mußt mich jetzt von außen und von innen streicheln! Gleichzeitig!" flüstert sie mir ins Ohr. Es sieht nicht so aus, als ob ich die Wahl hätte, etwas anderes zu tun - Ich bin im Augenblick in ihr drin, ob ich will oder nicht. Ich will aber. Und sie schiebt und schiebt und schiebt, als ob es noch tiefer in sie hineinginge. Wir machen es so oft, wie wir können, und dann noch einmal, um zu sehen, ob es immer noch geht.

Nachher - 5 Uhr ist schon vorbei, und es ist wirklich Zeit zum Schlafen - liegen wir noch erschöpft beieinander und ein bißchen ineinander, hören auf das Knacken im Gebälk und das sachte Rauschen des Luftzuges, der von außen durch alle Mauerritzen und die Schießscharten streift. Sie erzählt, wie sie das Fort in großem Bogen umgangen hat, links rum, hinter der Schlucht vorbei, die wir aus den Höhlen heraufgekommen sind. Dann hat sie einfach die Zugbrücke zur anderen Seite, die zufällig heruntergelassen war, benutzt, um das Fort wieder zu betreten. Niemand hat aufgepaßt, weil das die der Richtung zum Dorf entgegengesetzte Richtung ist. Sie hat sich, ohne daß sie jemand gehindert hat, im ganzen Fort umgesehen, die Beschreibungen ihres eigenen 'Ausbruches' angehört, und in einem günstigen Moment ist sie in den Turm hinaufgestiegen. So einfach war das.

Unterwegs hat sie sogar noch Zeit für ein Bad in einem Tümpel gefunden, weil sie gemerkt hat, daß ich so 'pingelig' in Sachen Körpergeruch bin. Dann muß ich daraus wohl schließen, daß ich im Moment von uns beiden der ungewaschenere bin. Aber es scheint sie nicht zu stören.

Woher sie das Schwert hatte, ganz am Anfang, vor ihrem Ausbruch? Sie hatte gar kein Schwert, sagte sie. Als sie sich informiert hatte, wer sich wo im Fort aufhält, hat sie einfach die Halle gestürmt und dem einzigen, der zufällig ein Schwert bei sich hatte, dieses weggenommen, bevor der kapiert hatte, was vor sich ging.

"Das habe ich vom Herwig gelernt!" sagt sie, auf das Ereignis auf dem Saurierfänger anspielend. Jetzt sind wir wieder quitt, weil sie jetzt auch sowas zustande gebracht hat.

"Aber acht Menschen ..." sage ich.

"Wenn du's nicht für deine Charmion tust" sagt sie, an der Grenze zur schlechten Laune. Aber das gibt sich schnell wieder, und bevor wir einschlafen, bumsen wir nocheinmal, weil es sich halt so ergibt. Ich glaube, die schmutzigen Bodenbalken dieser Turmkammer werde ich nie vergessen.

28.3 Die Steinbrecher

Charmion weckt mich rechtzeitig auf, damit es mir gelingt, vor dem üblichen Aufstehen in mein Zimmer zurückzukommen. Inzwischen hat sie ein längeres Seil gefunden, das ich hinfort verwenden kann, um zu ihr zu gelangen. Sie wird es einfach herunterlassen, wenn ich komme. Genauso verlasse ich die Turmkammer wieder. Ihr Schwert lasse ich ihr da. Jetzt hat sie zwei davon zur Hand.

Es ist 13:40 Uhr. In wenigen Minuten sollte der normale Tagesrhythmus beginnen, wie mein Zeitgefühl mir ungefähr und Charmion's Zeitgefühl ihr genauer sagt. Das Brett, das von innen gegen meine Tür lehnt, ist unverändert, und ich kann mich auf das Lager legen, so, als ob ich die ganze Nacht da verbracht hätte.

Aber immer, wenn man sich auf etwas vorbereitet, passiert es nicht. Och trommelt nicht an die Tür, und auch sonst niemand. Ich nicke noch ein wenig ein. Um 15 Uhr mache ich mich, nach dem üblichen, kurzen Umweg durch den Wald, um etwas zu essen, wieder auf den Weg ins Dorf. Auf dem Weg dorthin begegnet mir niemand.

Es ist eine gewisse Unruhe im Dorf, obwohl weniger Leute sich dort aufhalten als sonst. An zwei verschiedenen Stellen finde ich eine Gruppe um ein Feuer, das fast mitten auf dem Dorfweg brennt. Sie sind meistens mit Essen beschäftigt und werfen mir mißmutige Blicke zu. Die wenigen Blicke, die ich dann und wann in die miefigen Hütten werfen kann, zeigen mir, wenn überhaupt jemanden, meistens Dorfbewohner beim Schlafen. Und am anderen Dorfausgang kommt mir eine Gruppe Männer entgegen, die deutlich erschöpft aussehen. Auch sie sprechen mich nicht an, sondern gucken nur böse.

Ich begreife, daß Och es geschafft haben muß, mehr Männer als noch am Tage zuvor in die Arbeiten zu integrieren. Das gibt zu Hoffnungen Anlaß. Hoffentlich sind es halbwegs sinnvolle Tätigkeiten.

Als ich am Rande des Weges zwischen Dorf und Sumpfteich an drei Männern vorbeikomme, die am Wegesrand schlafen, überlege ich eine ganze Weile, ob das nun ein positives oder negatives Zeichen ist. Ich lasse sie ruhen - sie könnten ja wegen wohlverdienter Erschöpfung schlafen. Wenn sie sich vor Arbeit gedrückt haben sollten, dann haben sie sich einen sehr unklugen Platz dafür ausgesucht.

Die Erntetätigkeit am Sumpfsee hat abgenommen. Da sind vielleicht noch 25 Männer beschäftigt. Aber von weitem höre ich neue Geräusche: Das Poltern von schweren Steinen, die auf andere Steine geworfen werden. Es kommt aus der Richtung der neuen Waldlichtung oder von noch etwas weiter dahinter, wo wieder ein Berghang ansteigt. Also gehe ich da mal hin.

Die Waldlichtung ist nicht viel größer geworden - mein Ratschlag wurde also befolgt. Teilweise wenigstens, denn die durcheinandergestürzten Bäume sind noch nicht sichtbar aufgeräumt, geschweige denn bearbeitet worden. Zu sehen ist niemand, aber der Ort der neuen Steinbearbeitung scheint nur einige hundert Meter weiter zu sein.

Ich folge einem frisch ausgetretenem Pfad, der in Richtung der Geräuschquelle geht. Bald steigt der Boden an und ich komme an einen Waldrand. Der plötzlich in steile, steinige Hänge übergehende Boden hat keinem Wald und kaum anderer Vegetation mehr Wurzeln geboten.

Um Steine verschiedener Größe zu beschaffen ist der Platz gut gewählt. Es handelt sich nicht gerade um gewachsenen Fels, so daß sich Steine finden lassen, die nicht mit dem Untergrund fest verbunden sind. Andererseits ist der Hang steil genug, um durch Herabrollenlassen der Steine die Schwerkraft zur Steinbearbeitung zu nutzen.

Und genau das ist es, was geschieht. Überall, soweit ich sehen kann, bis vielleicht dreißig Meter über meinem Standpunkt, also soweit der Nebel mich blicken läßt, stehen Männer im Hang und suchen Steine, die man loslösen kann. Wenn das gelungen ist, werfen sie diese hinunter oder lassen sie einfach rollen. Besonders das Rollen von schweren Brocken wird von der Aufmerksamkeit aller verfolgt. Der Spaß an dem Gepolter ist kindisch, und am Fuße des Hanges, wenige Dutzend Meter von mir entfernt, liegen viele Steine verschiedenster Größe, fast alle mit frischen Bruchkanten, aber kaum einer in einer Form, die nicht noch weitere Verarbeitung nötig machen würde, egal, ob man nun Mühlsteine oder Quader zum Bauen haben möchte.

Ich bin an meinem Standort nicht sicher, plötzlich von einem rollenden Stein getroffen zu werden. Genau über mir scheint zwar gerade niemand tätig zu sein, aber noch weiter höher am Hang, durch den Nebel verborgen, könnte ja jemand gerade einen neuen, spektakulären Steinschlag vorbereiten.

Daß es bei diesem Vorgehen noch nicht zu Unfällen gekommen ist grenzt an ein reines Wunder. Ich sehe nicht, wer die Aufsicht hat, und Och ist auch nicht zu sehen. Jeder läßt Steine poltern wie es ihm gefällt, in der Annahme, etwas grenzenlos Nützliches zu tun. Es macht wohl deutlich mehr Spaß als Bäume umkrachen zu lassen.

Ich steige den steilen Hang hinauf. Den ersten, den ich treffe, frage ich nach Och. Er weiß nicht, ob Och hier ist, aber ich erfahre wenigstens, wer hier die 'Aufsicht' führt.

Es ist Osont. Ich erinnere mich. Der hat sich möglicherweise gewundert, daß ich gelegentlich mit zwei Schwertern herumgelaufen bin. Ob er nun wirklich einen Verdacht in Richtung Charmion gehabt hat weiß ich nicht. Vielleicht kriege ich es jetzt heraus.

Osont müßte knapp über dreißig sein. Seine Haut ist narbig, aber das sind nicht die Narben von Kampfverletzungen, sondern es könnten eher die Narben von Krankheiten wie Pocken sein, oder was immer in der Welt der Granitbeißer überhaupt an ähnlichen Krankheiten vorkommt. Es ist gut vorstellbar, daß er irgendwann einmal wegen dieser Krankheit auf Casabones gelandet ist. Wenn es doch ansteckende Krankheiten in der Welt der Granitbeißer geben sollte, dann ist wahrscheinlich das Einsperren und Quarantänisieren die einzige verfügbare Therapie, sofern überhaupt ungefähr verstanden wurde, was ein Ansteckungsmechanismus ist. Selbstverständlich ist es nicht, daß man das weiß, wie aus Berichten aus den Zeiten der mitteleuropäischen Pestepidemien überliefert ist.

Osont freut sich über das Steinerollen wie alle anderen auch. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß er bei diesem Spiel eine Vorreiterrolle übernommen hat. Als er mich zu ihm hinaufsteigen sieht, wird er sofort mißtrauisch.

"Schön viel Steine. Sind schon ein paar geeignete drunter?" frage ich, auf den Haufen am Fuße des Hanges deutend, den man von hier durch den Nebel kaum sehen kann, auf dem aber häufiger krachend eine kleine Steinlawine endet.

"Geeignet wofür?" fragt Osont.

"Dafür wofür wir überhaupt Steine brauchen. Es ..."

"Wir brechen Steine, weil Och es gesagt hat." stellt Osont fest.

"Und ich habe es Och vorgeschlagen."

"Ach? Vielleicht. Aber wir tun das, was Och gesagt hat."

Sieht nicht so aus, als wäre mit Osont eine Diskussion über Sinn und Zweck der Arbeiten möglich. Meine Autorität scheint ihm auch nicht so deutlich wie ich das gerne hätte. Und ich hätte es sehr gerne, denn ohne Autorität kann ich diesen Unfug nicht unterbinden.

"Wo ist Och jetzt?" frage ich.

"Wo er es für richtig hält, zu sein." Osont hat seine Hand am Griff seines Schwertes. Ich sehe erst jetzt, daß er eines trägt.

"Zweifellos. Und wo ist das, bitte?"

Osont antwortet nicht, sondern sieht mich nur reglos an.

"Er wird sehr unzufrieden sein, wenn ich ihm berichte, daß noch nicht ein einziger Mühlstein fertig ist. Wenn ich ihm erzähle, daß ich erwachsene Männer dabei beobachtet habe, ohne Sinn und Verstand Steine einen Berg hinunterzurollen!"

Ich bemerke, daß nicht weit hinter mir ein anderer Mann sich uns genähert hat und uns zuhört. Ich fürchte, ich kann hier nichts mehr ausrichten. Deshalb beginne ich den Abstieg.

Als ich die Hälfe des Steinhanges geschafft habe, sehe ich bei einem kurzen Blick nach hinten, daß Osont mit dem anderen Manne spricht. Sie werfen Blicke in meine Richtung.

Dieser Osont ist mir unsympathisch.

Mir ist erst wohl, als ich den Steinbruch wieder verlassen habe und im schützenden Wald feststelle, daß mich offenbar niemand verfolgt. Aber wer sollte mich auch und warum verfolgen?

28.4 Oom's Rat

Ich frage noch einmal im Dorfe nach Och, aber dort bekomme ich auch nur abweisende Antworten. Dann beschließe ich, wieder das Fort aufzusuchen. Ich habe die Schnauze voll.

Als ich an dem Mauerdurchbruch vorbei bin, kommt mir die Idee, noch einmal Oom aufzusuchen. Mal sehen, was der alte Mann noch an interessanten Informationen bereithält. Es ist bald 19 Uhr, als ich den schmalen Weg zu dem entlegenen Schilfufer hinabsteige.

Oom ist da. Obwohl ich bemüht leise absteige, stolpert er um die Felskante und sieht mir die letzten Meter beim Hinunterklettern zu. Als ich unten bin, drehe ich mich um und stehe direkt vor ihm.

"Der Friede des Herrn und der Friede des Windes sei mit dir!" sage ich. Ich fürchte, daß ich die Begrüßungsfloskel, die er vor drei Tagen angewendet hat, nicht ganz korrekt reproduziert habe. Aber wenn er beleidigt sein sollte, dann läßt er es wenigstens nicht erkennen. Er wiederholt meine Worte fast wörtlich.

Wie soll ich anfangen? "Ich bin gekommen, um einen Rat zu erfragen!" sage ich. Oom steht nur da und sieht mich an. Vielleicht eine implizite Aufforderung, weiterzusprechen.

"Einen Rat. Vielleicht kannst du mir helfen, Oom!"

Ich setze mich auf das Ufergeröll, so daß Oom, der stehen bleibt, mich überragt. Vielleicht ist das ein Akt der Unhöflichkeit, vielleicht auch nicht. Was ich vorhabe ist, damit klarzumachen, daß ich nicht nur eine kurze Auskunft möchte.

"Ich komme von sehr weit her, aus einem Gebiet, das nicht mehr zu eurer Welt gehört. Ich weiß, daß das sehr schwer vorzustellen ist, Oom. Aber es gibt eine Welt, weit außerhalb dieser Welthöhle, weit darüber, sehr hochgelegen. Die Anderen können sich das überhaupt nicht vorstellen und glauben es auch nicht. Aber von dort komme ich. Und ich möchte dorthin zurück."

Vielleicht irre ich mich, aber ich habe den Eindruck, daß Oom's Augen irgendwie aufgeblitzt haben, als ich eine Welt über der Welthöhle erwähnte. Er sagt aber nichts. Also muß ich das Gespräch am Laufen halten.

"Wir sind versehentlich in diese Welt gekommen. Wir folgten einem Weg - einem sehr schwierigen Weg - und plötzlich ging es nicht mehr zurück. Wir mußten ihm immer weiter folgen. Und so betraten wir die Welthöhle, an einem Orte sehr weit entfernt von hier."

Oom fährt fort, mich starr anzusehen.

"Wir können hier nicht leben. Hier ist alles anders. Es ist einfach nicht unsere Welt. Wir müssen zurück!"

Vielleicht nicht ganz logisch, aber er soll ja nur begreifen, was ich will.

Endlich sagt er etwas:

"Das Mädchen bei dir ist aber von dieser Welt!"

Gut beobachtet. Senil ist er also nicht. Er kann sich über drei Tage erinnern und Charmion als Bewohner dieser Welt einklassifizieren. Er hat eine gute Beobachtungsgabe. Und er hat keine Angst, seinen Widerspruch zu artikulieren. Das gibt Anlaß, auf eine ergiebige Unterhaltung zu hoffen.

"Du hast recht, Oom. Das Mädchen bei mir ist nicht dieselbe Frau, mit der ich diese Welt betreten habe. Meine Frau ist nicht weit von hier auf einem Schiff. Sie wird dort gefangengehalten. Ich bin mit diesem Mädchen auf diesen Berg geschickt worden. In Wirklichkeit bin ich aber auch ein Gefangener."

Wieder überlegt Oom so lange. Dann stellt er endlich mal eine Gegenfrage:

"Das Mädchen bei dir soll nicht mit in deine Welt zurück?"

"Ich glaube nicht, daß sie das will. Wie du ganz richtig bemerkt hast, Oom, ist sie von dieser Welt."

"Aber ihr liebt euch."

Donnerwetter. Perfekte Diagnose. Und das von einem Einsiedel, der praktisch keinen Umgang mit anderen Menschen hat, jedenfalls nach eigenen Aussagen, und schon gleich gar nicht Umgang mit dem anderen Geschlecht. Hat er uns das neulich so deutlich angesehen? Er formuliert es schärfer als ich es mir meistens selbst zugestehe.

"Ja. Vielleicht hast du recht. Das tun wir. - Ja, das tun wir. Es war nicht unser freier Entschluß, das zu tun. Es ergab sich so. Sie ist nicht meine Frau. Aber ich liebe sie. Und sie mich wahrscheinlich auch. Wir können nichts dafür. Es ist eben so. - Ja, du hast recht, Oom."

"Und dann willst du sie hierlassen?"

"Sie wird nicht mitgehen wollen! Und außerdem - da ist ja noch meine Frau."

"Sie wird mitgehen wollen. Wenn du gehst, dann geht sie mit. - Aber sie wird dennoch nicht mitgehen."

"Wieso nicht?"

Oom schließt die Augen, und ich habe den albernen Eindruck, daß er so besser sieht als vorher.

"Sie ist am Ende ihres Weges angekommen. Sie wird nie wieder weggehen. Nirgendwohin."

"Wieso denn nicht? Sie ist jung, stark, ..."

"Nein," sagt Oom, "der Herr sagt, ihre Zeit ist gekommen. Und es ist gut so. Denn sie würde in deiner Welt nicht leben können. Du wirst mit deiner Frau gehen."

"Das ist meine eigentliche Frage," unterbreche ich, "denn wenn ich - oder wir - diese Welt verlassen, dann wüßte ich ganz gerne, wie. Der Weg, den wir gekommen sind, ist zu schwer. Für meine Frau, meine ich. Charmion würde ihn schaffen. Das ist das Mädchen, das bei mir ist."

"Sie wird bleiben," insistiert Oom, "denn ihre Zeit ist gekommen. Und du bist schuld."

"Was bin ich?"

"Warum nimmst du dir eine Frau von hier, wenn du doch schon eine andere hast?"

"Was heißt 'nehmen'? Ich bin gar nicht lange gefragt worden. Sie hat mich genommen. Am Anfang. Naja, und dann ..."

Oom schweigt und gibt mir Gelegenheit, meine Aussage zu überdenken. Natürlich hat er recht. Wenn ich Charmion gegenüber immer den Spröden gespielt hätte, dann hätte sie mich zwar häufigst zwangsverführt, ohne mich groß zu fragen. Aber es wäre etwas anderes gewesen. Oder wäre es das? Wieviel Freiheit lassen einem denn die eigenen Instinkte, wenn sie so drastisch zur Tat gefordert werden, wie Charmion das getan hat?

"Vielleicht hast du recht. Aber wieso soll ich daran schuld sein, daß sie nicht mehr von hier wegkommt? Das ist doch absurd! Sie ist die Kämpfernatur, nicht ich. Wenn jemand in Gefahr ist, für immer hierzubleiben, dann bin ich es. Wenn jemand in Gefahr ist, umzukommen, dann bin ich das. Und auch meine Frau."

Oom geht darauf nicht ein, und deshalb spreche ich nach einer Pause auch weiter:

"Wie dem auch sei, was ich eigentlich wissen möchte ist, ob du eine Idee hast, wie ich diese Welt wieder verlassen kann. Mit meiner Frau. Ja, und wenn Charmion mitkommen wollte, dann auch mit ihr. Zu dritt. - Zu zweit. Zu dritt. Was weiß ich."

Oom geht nicht mehr auf Charmion ein. Er geht überhaupt nicht mehr auf das Thema ein, und so komme ich auch nicht mehr dazu, zu fragen, wie er damals seine Bemerkung über uns gemeint hat.

"Da gibt es," sagt Oom nach langem Überlegen bedächtig, "die braunen Quellen und die salzigen Quellen. Beide sind weit von hier entfernt und sie sind auch weit voneinander entfernt. Beide kommen aus hochgelegenen Bereichen der Welthöhle, und über beide gibt es Geschichten. Alte Geschichten. Ich kann mich an diese Geschichten aber nicht mehr erinnern. Sie sind aus sehr alter Zeit ..."

"Diese Quellen entspringen da oben?"

"Es ist Wasser aus eurer Welt. Vielleicht. Und vielleicht ist da ein Weg nach oben. Es heißt, vor langer Zeit sind Menschen dort gewesen, sind immer höher gestiegen, auf der Suche nach den Quellen. Viele kehrten um. Mußten umkehren. Und einige wurden nie wieder gesehen. Sie müssen irgendwohin gelangt sein."

"Das ist ja großartig!" sage ich, "Wenn das ein Weg ist ..."

"Es ist gefährlich," fährt Oom fort, "denn eine dieser Quellen, so heißt es, führte plötzlich viel Wasser, und in diesem Wasser waren die Leichen von ertrunkenen Menschen. Von den Menschen, die versucht haben, die Quellen dieser Wasser zu ergründen."

"Welche dieser Quellen war das denn, die mit dem braunen Wasser oder die mit dem salzigen Wasser?" frage ich nach.

"Ich weiß es nicht mehr. Es ist solange her, daß ich davon erfahren habe." Oom schweigt. Er hat nicht mehr zu sagen.

Auch auf meine weiteren Fragen schweigt er. Wohin muß man gehen, in welche Richtung? Wie weit ist es noch? Und kennt er den Weg, den wir selbst heruntergekommen sind? Vielleicht gibt es da ja auch noch eine Variation, um wieder nach oben zu kommen?

Oom schweigt. Ich könnte ihn jetzt wieder über Irene und Charmion und mich befragen, aber ich habe Angst, daß ich ihm irgendwann etwas von dem glaube, was er sagt.

"Willst du nicht wieder diesen Berg verlassen? Dieses ist doch ein Gefängnis!" frage ich, um das Thema wieder zu wechseln.

"Oh nein. Es ist kein Gefängnis. Ich bin frei."

"Aber du bist doch nicht immer hier gewesen! Du bist doch irgendwo aufgewachsen! Du hast doch einen Vater und eine Mutter gehabt! Das ist doch nicht hier gewesen. Vielleicht hast du noch Verwandte. Willst du nicht zu ihnen?"

"Nein."

"Wir werden diesen Berg verlassen, weißt du. Wir werden es jedenfalls versuchen, und ich bin zuversichtlich, daß es uns gelingen wird. Und wenn wir das getan haben, dann gibt es keinen Weg mehr auf diesen Berg und von ihm herunter. Du wirst allein sein. Ganz allein. Für immer."

"Der Herr ist mit mir."

"Und wenn da draußen, in der Welt, jemand ist, der dich braucht?"

Gemeiner Trick, diese Argumentation, gebe ich zu. Auf dieser Linie habe ich schon mal argumentativ einen Priesterstudenten in die Enge getrieben, der dem 'weltabgeschiedenen' Leben einen größeren Wert zusprach als anderen Formen der Lebensführung. Ich versuchte, ihm damals zu erklären, daß Christus selbst durchaus kein weltabgeschiedenens Leben geführt hatte. Hätte er es getan, dann wüßte man nichts von ihm und er hätte auch nichts bewirkt. Schließlich muß man in die Welt gehen, um dort eine Botschaft loszuwerden oder dort tätig zu sein.

Oom antwortet auch nicht. Das heißt aber auch, daß er bei seiner Entscheidung bleibt, hierzubleiben.

"Willst du denn den Menschen da draußen gar nichts sagen?" forsche ich nach.

Oom schüttelt den Kopf.

"Die Menschen sind immer gleich. Wenn man ihnen etwas Gutes tut, dann verläuft sich das Gute in der Zeit wie Tränen im Regen. Und ebenso, wenn man ihnen etwas Schlechtes tut. Meine Gegenwart ist dort nicht erforderlich. Dort sowenig wie hier. Ich bin unwichtig."

"Aber ist die Welt nicht wichtig?" frage ich, "Und so das, was man in der Welt tut?"

"Die Welt kann auf sich selbst aufpassen. Sie hat ihre Gesetze, seit Anbeginn der Zeit schon. Und diese Gesetze sagen, daß alles, was Menschen tun können, sich in der Zeit verliert, bis nur noch Spuren dort sind, und dann verlieren sich die Spuren, wenn der Wind über sie geht. - Bald wird der Wind auch über mich gehen."

"Mit der Einstellung kann man ja gleich aufhören, sich um irgend etwas zu kümmern!" versuche ich es nochmal, "wenn sowieso alles vergeht."

"Für dich ist es anders," sagt Oom, "du hast Charmion und Irene. Sie sind ein großer Teil deiner Welt. Du mußt für sie da sein. Denn weil ihr seid und weil ihr füreinander da seid, seid ihr eine Welt in der Welt. Deshalb ist es wichtig, daß du gehst. Ich bin allein, und der Herr ist überall und zu allen Zeiten."

Nach einer langen Pause, sage ich: "Du bist sehr allein, Oom." Er antwortet nicht, und ich stehe auf.

"Soll ich irgendjemandem da draußen etwas von dir ausrichten?"

Oom schüttelt den Kopf.

"Dann lebe wohl." Ich wende mich zum Gehen. "Lebe wohl, Oom. Vielleicht komme ich noch einmal hierher."

Er schüttelt wieder den Kopf. Soll das heißen, daß er meint, daß ich nicht wieder hier her kommen werde? Nun wendet er sich zum Gehen und verschwindet mit wackelnden Schritten hinter der Felskante, hinter der sich seine Hütte befindet. Ich gehe ihm nicht einmal soweit nach, um um die Felskante herum die Mauer und den dunklen Eingang seiner Hütte zu sehen. Dann ich steige wieder den schmalen Pfad zur oberen Kante des Seeufers hinauf. Ich habe das dumpfe Gefühl, daß ich nicht alles gefragt habe, was ich sinnvollerweise hätte fragen sollen, und daß ich nie wieder hierherkommen werde.

Während ich langsam und mit unstetem Gang am Seeufer entlang auf das Fort zugehe, überlege ich mir, was ich von Oom's Aussagen halten soll. Ob die Informationen über die braunen und die salzigen Quellen irgendwo in der Hochhöhle stichhaltig sind ist immerhin möglich. Daß er praktisch Charmion's Tod vorausgesagt hat halte ich hingegen für etwas weit hergeholt. Ich hatte schon Tagträume - oder sagen wir mal, Überlegungen über mögliche Ereignisketten - in denen Charmion der einzig lebende Mensch ist, der Casabones je wieder verläßt. Wenn ich jemandem so etwas zutraue, dann ihr. Diesen Unsinn, den ich eben gehört habe, werde ich ihr besser nicht erzählen.

Und plötzlich erinnere ich mich noch an einen anderen Punkt aus dem Gespräch eben: '... du hast Charmion und Irene.' Charmion's Namen habe ich erwähnt. Irene's Namen nicht. Und doch hat er ihn gewußt. Ganz genau wie er meinen eigenen Namen gewußt hat, als wir uns das erste Mal begegneten.

Was weiß der Alte? Wer ist er wirklich?

28.5 Och's Sorgen

Es ist 21 Uhr, als ich in der Halle des Forts Och treffe. Allein und schlecht gelaunt sitzt er auf einem der grob gezimmerten Stühle und brütet vor sich hin. Wenn es unter den Granitbeißern üblich wäre, Alkohol zu trinken, dann würde er das jetzt wahrscheinlich tun. Als er mich kommen sieht, bessert sich seine Laune durchaus nicht.

"Wieso hast du die Arbeiten am Steinbruch gestoppt?"

"Ich soll bitte was getan haben?"

"Osont hat mir erzählt, daß du ihm gesagt hast, daß sie alles, was sie da machen, falsch machen. Dann haben sie eben aufgehört, überhaupt etwas zu machen. Dann machen sie nämlich auch nichts falsch. Ist doch logisch, oder?"

"Also das ist etwas übertrieben. Ich habe sie nicht von der Arbeit abgehalten. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, daß sich mal jemand darum kümmern sollte, wie man diese Steine weiterverarbeitet. Was sie getan haben ist nichts weiter als Steine den Berg hinunterrollen zu lassen. Wie kleine Kinder!"

"Ich hätte das über kurz oder lang in die Wege geleitet. Sie hören nicht auf dich."

"Wie soll ich wissen, wer hier auf mich hört und wer nicht?"

Och steht auf, immer noch ärgerlich, wenn auch nicht ausschließlich wegen mir. "Osont jedenfalls hört nicht auf dich. Da sind schon wieder Ausdrücke gefallen, wegen Charmion. Die will ich lieber nicht wiederholen!"

"Ich möchte sie aber hören!" sage ich, "Volkes Stimme interessiert mich!"

Och weicht aus. "Im wesentlichen ist da vielleicht auch eine Art Neid. Seit bekannt ist, daß sie sich in den Wäldern aufhalten soll, möchten die meisten lieber Charmion jagen als irgend etwas arbeiten. Eigentlich möchten das alle."

"Sexualneid?"

"Was für'n Ding?"

Schon wieder ein Versuch gescheitert, bestimmte Begriffe in die Xonchen-Sprache zu übertragen.

"Ich meine, viele möchten Charmion haben, auch wenn sie das sich selbst und anderen gegenüber nicht eingestehen."

"Schon möglich." sagt Och ausweichend. Er möchte das Thema lieber wechseln. Ich weiß auch, warum: Er gehört auch zu denen, die Charmion haben möchten. Hoffentlich meint er nicht eines Tages, daß sein Wohlverhalten und seine Kooperation beim Verstecken von Charmion mit Gunstbeweisen ihrerseits belohnt werden sollten.

"Problem ist doch," sage ich, "daß die Arbeit wenig Fortschritte macht. Zuviel, was getan wird, bringt uns nicht weiter. Wir haben schon einen riesigen Windbruch mit jeder Menge Holz und Kleinholz, und wir haben einen Steinbruch mit einem ordentlichen Steinhaufen. Was wir noch nicht haben ist einen einzigen brauchbaren Mühlstein oder ein einziges Brett. Nicht ein einziger neuer Faden ist bis jetzt hergestellt worden. So ist das doch. Wenn das so weiter geht, dann werden wir nie von hier wegkommen!"

"Was soll ich denn machen?" schreit Och, "Keiner von denen kann selbsttätig arbeiten! Wenn ich ihnen den Rücken zudrehe, dann tun sie genau das, was ihnen Spaß macht, oder überhaupt nichts mehr! Und wenn du dich mit Vorschlägen einmischst, dann gibt es auch Ärger. Neulich, zum Beispiel: warum mußtest du unbedingt die gekreuzigten Männer töten lassen? Die hätten doch noch tagelang gezappelt!"

Manchmal bleibt einem wirklich die Luft weg. Er meint es völlig ernst.

"Solange wir daran arbeiten, von hier wegzukommen, und solange du meine Kooperation dazu brauchst, werden keine Kreuzigungen mehr durchgeführt! Liegestütze, Dauerläufe, Zwangswaschungen in den Teichen oder hier im See. Das muß als Disziplinierungsmaßnahme genügen. Aber keine Kreuzigungen mehr! Verstanden?"

Och sieht mich starr an. Wir leben in verschiedenen Welten. Die Art, wie bei uns Menschen zum Arbeiten motiviert werden, ist ihm fremd und wird ihm fremd bleiben. Die Vorstellung, daß jemand ohne eine Strafandrohung eine Hand rühren könnte, ist ihm vielleicht sogar lächerlich. Und wie ist es hier überhaupt, mit der Möglichkeit einer positiven Motivation? Was erwartet diese Leute denn, wenn die Flucht von Casabones gelingt, in einer Welt, die nicht für den Mann gemacht ist? Und wie ist es wohl mit der Motivation von Och selbst bestellt? Hat er am Ende auch keinen positiven Motivationsanreiz, den ich ihm automatisch unterstelle, bloß weil ich ihn selbst habe und weil ich ihn allen unterstellen würde, die etwas intelligenter als der Durchschnitt sind?

"Was glaubst du, was passiert, wenn bekannt wird, daß du nichts unternommen hast, als Ougom erschlagen wurde, und daß du mitgearbeitet hast, Charmion zu verstecken?" sage ich in einem plötzlichen Impuls.

Oh weh, das war wohl zuviel. Och ist sich über diese Dinge schon im klaren. Aber ich hätte sie nicht so deutlich aussprechen dürfen. Er rennt beleidigt und zornig hinaus. Ich gehe nach oben, in mein Zimmer, nachdem ich in der Küche Fleisch besorgt und rasch leicht angebraten habe, weil das Feuer im Kamin gerade brennt. Wenn ich sauer bin, dann bringe ich das tatsächlich fertig. Ich erwische mich sogar bei dem Gedanken, daß ich in gewisser Weise auch darauf stolz sein könnte. Herwig bei den Menschenfressern - und er geht mit der landesüblichen Diät schon so um, als ob er dazu gehört. Eine ungewöhnliche Karriere - hätte man mich in meinem früheren Leben gefragt, dann hätte ich einen Nobelpreis für mich oder die Wahl zum Papst für wahrscheinlicher gehalten.

Wie ein bißchen Aggression und Frustriertheit plus die Gewöhnung die moralische Grundlage des eigenen Bewußtseins schon manipuliert hat! - Aber wahrscheinlich liegt es mehr daran, daß in der Speisekammer genügend zerteiltes Fleisch herumliegt, dem man nicht mehr auf dem ersten Blick ansieht, daß es vom Menschen stammt.

Dann schleiche ich mich in den Turm, zu Charmion, die mich zu dieser Zeit überhaupt nicht erwartet hat.

28.6 Phantasien

"Er ist scharf auf dich!" beende ich meine Erzählung über das Gespräch mit Och, das eben in der Halle stattgefunden hat.

"Es spielt keine Rolle, worauf ein Mann scharf ist und worauf nicht!" stellt Charmion fest. Ich entschließe mich, die Bemerkung nicht auf meine Person zu beziehen und auch nicht kollektiv beleidigt zu sein.

"Jedenfalls müssen wir vorsichtig sein. Och ist frustriert, weil die Arbeit schlecht voran geht. Osont ist direkt gefährlich, besonders, wenn er je etwas ahnen sollte. Ich bin immer noch nicht sicher, ob er es tut. Und da ist noch Oom."

"Ist der auch gefährlich?" fragt Charmion verwundert.

"Nein. Aber ich war heute noch einmal bei ihm und habe ihn noch etwas befragt."

In wenigen Worten erzähle ich Charmion, was ich erfahren habe. Oom's düstere Prophezeiungen lasse ich weg, ebenso, daß er schon wieder einen Namen gewußt hat, den er eigentlich nicht wissen kann. Ich bin allerdings geneigt, letzteres mehr auf mein mangelhaftes Gedächtnis zu schieben. Ich weiß nach einer gewissen Zeit wirklich nicht mehr, was ich früher in Einzelheiten gesagt habe.

"Eine braune und eine salzige Quelle? In Hochlagen der Welthöhle? Nein, davon habe ich noch nie gehört."

"Es soll sehr, sehr, sehr weit weg sein!" gebe ich zu bedenken. Charmion sieht mich lange und stumm an.

"Du willst heim!" sagt sie. Kein Vorwurf. Eine Feststellung.

"Komm doch mit!" schlage ich vor. Und: "Würdest du denn mitkommen?"

Sie sagt lange nichts. Wägt sie in diesen Sekunden das Leben, das sie kennt, gegen meine Gegenwart, gegen mich ab? Ein klassischer Interessenkonflikt. Sollte ich sie nicht warnen? Sie kennt mich nicht, sie kennt unsere Welt nicht. Sie wird dort nie leben können. Und da ist auch noch Irene.

Dann sagt sie aus tiefster Überzeugung: "Wo du hingehst, da will auch ich hingehen."

Das hat sie so noch nie gesagt. Aber Oom hat es gesagt, daß sie es sagen würde. Vor wenigen Stunden erst. Seine erste Prophezeiung ist schon eingetroffen. Irene, was soll ich machen?

"Und wo du bleibst, da will auch ich sein."

Ich sage das so, weil es wie ein Reflex ist. Ob ich es so meine oder nicht - vielleicht meine ich es so, vielleicht würde ich es bei genauerer Überlegung nicht mehr so meinen. Was weiß ich. Die genaue Wortstellung - ist es Zufall? Ich kenne sie. Leise singe ich die Strophen, die mir in den Sinn gekommen sind, in deutscher Sprache:


        "Und gibt's auch kein Schriftstück vom Standesamt
        Und keine Blumen auf dem Altar
        Und weißt du auch nicht, woher dein Brautkleid stammt
        Und gibt's keine Myrten im Haar
        Die Liebe dauert - oder dauert nicht
        An diesem oder jenem Ort."

"Was bedeutet das?" fragt Charmion. Ich übersetze, so gut sich diese Zeilen in die Xonchen-Sprache übertragen lassen. Dabei fällt mir auf, daß sie eigentlich gar nicht passen. Nichts liegt mir ferner, als Charmion zu ehelichen.

"Was ist," fragt sie "ein 'Standesamt'? Und 'Altar'? Und ein 'Brautkleid'? Und 'Myrten'?"

Ich erkläre, so gut es geht. Damit sind wir wieder beim Thema 'Ehe'. Dieses Konzept ist den Granitbeißern fremd und unverständlich. Außerdem sind wir ganz zwanglos dabei auch wieder beim Thema 'Irene' angekommen. Ich versuche, das Gespräch auf etwas anderes zu bringen, aber Charmion läßt nicht locker:

"Wieso reicht es bei euch nicht aus, wenn zwei wissen, daß sie zusammengehören? Wen geht das denn sonst noch etwas an?"

Und schon bin ich wieder im Erklärungsnotstand. Da kann man viel um die Sache herumreden. Ich versuche, es mit den Begriffen 'Familie' und 'Kinder aufziehen' zu beschreiben - schließlich gibt es viele Ehen, deren hauptsächlicher Zweck es ist, Kinder großzuziehen. Aber es erscheint für Charmion unplausibel, wieso Kinder immer denselben Erwachsenen zugeordnet sein sollten. Bei den Granitbeißern ist es anders.

Die wirtschaftliche Einheit, die eine Ehe nach außen und nach innen bildet, ist ihr ohne weitschweifige Erklärungen unseres Wirtschaftssystems auch nicht klarzumachen. Ich versuche es gar nicht erst.

Über kurz oder lang sind wir wieder bei dem Problem, wie Charmion in unsere Welt mitkommen könnte. Daß wir viel näherliegende Sorgen haben stört nicht, und ein paarmal werden wir so laut, daß ich Sorge habe, jemand außerhalb des Forts könnte auf den Turm aufmerksam werden. Ich inspiziere deshalb die vier einzigen Schießscharten dieses Turmraumes, schon um das Thema zu wechseln.

Die Schießscharte in Richtung des Sees ist durch Holzplatten zugestellt und ich lasse sie da stehen. Durch ein paar Ritzen sehe ich nach draußen, und es ist dieselbe Aussicht wie aus meinem Zimmer, nur von noch höherem Standpunkt.

Am interessantesten dürfte die Sicht aus der Schießscharte sein, die der Hauptzugbrücke und dem Dorf zugewandt ist.

Aber auch dort ist niemand zu sehen. Schräg unter der Schießscharte ist das unsystematische Dächergewirr des Forts, organisch gewachsen im Laufe der Zeit. Der Blick auf die Zugbrücke ist durch das Fort selbst blockiert, und der Fahrweg in Richtung des Dorfes verschwindet im Nebel.

Die Dächer sind bei näherem Hinsehen interessant, da sie sehr unterschiedlichen Ausbau und einen sehr unterschiedlichen Stand des Dachdeckerhandwerkes verraten. Es gibt sowohl reine Holzdächer als auch solche, die mit Steinen belegt sind. Nur an ganz wenigen Stellen sind diese Steine in eine Form bearbeitet worden, die entfernt an Dachziegel erinnert. Diese Dachkonstruktion dürfte dem gleichzeitigen Angriff von Wind und Regen wenig entgegenzusetzen haben. Ich sehe Dachschäden, um die sich noch niemand gekümmert hat. Offenbar hat schon die eigentliche Fortbesatzung sich nicht allzusehr um die Instandsetzung der Dächer bemüht.

Auch aus den restlichen Schießscharten ist wenig zu sehen. Die Schlucht, durch die wir zum Fort gekommen sind, ist zu weit weg, und was sich hinter der Zugbrücke auf der anderen Seite verbirgt, ist auch nur zu ahnen. Der Weg hinter der Zugbrücke dort ist wesentlich überwachsener und deshalb schwerer zu erkennen. Er wird wohl selten benutzt.

Es ist der Nebel, der immerwährende Nebel. Wie er wohl auf das Gemüt wirkt, wenn man hier jahrelang lebt? Die Oberfläche von Casabones ist gerade in der richtigen Höhe, um praktisch permanent Nebel zu garantieren. Wenn man hier aufwachsen würde, dann muß das Auswirkungen auf das eigene Weltbild haben. Wie das wohl ist, wenn man im Alter von zwanzig Jahren das erste Mal eine echte Fernsicht erlebt?

Es gibt Berichte von Buschbewohnern, die, das erste Mal in ihrem Leben mit der endlosen Weite der Savannen konfrontiert, tatsächlich nicht interpretieren konnten, was sie sahen. Die weit entfernten Tiere am Horizont wurden von ihnen tatsächlich für zu klein und deshalb der Bejagung nicht für würdig gehalten. Ich weiß nicht, ob diese Berichte zuverlässig sind. Zu sehr glaube ich, daß die Gesetze der Perspektive jedem in Fleisch und Blut übergegangen sein sollten, bloß, weil das bei mir selbst der Fall ist, und bei allen Menschen, die ich näher kenne. Andererseits brauche ich mich ja nur mit Charmion zu unterhalten, um immer wieder über das fremdartige und doch festgefügte andersartige Weltbild zu staunen. - Ich möchte schon gerne sehen, wie Charmion auf den blauen, endlosen Himmel über sich reagieren würde.

Aber vielleicht wäre das ein grausames Experiment. - Oder würde sie einfach eine blaue, makellose Felsdecke sehen, einfach, weil sie sich nichts anderes vorstellen kann, und so gewissermaßen in einer anderen Ausgabe der ihr schon bekannten Welt leben? Schließlich hat man ja auch früher immer von einer 'Himmelskuppel' geredet, eine Redeweise, die eine mir völlig fremde Vorstellung impliziert, weil ich mit Astronomie schon in sehr frühen Jahren zu tun hatte, lange bevor ich schreiben und lesen konnte. Deshalb dachte ich auch immer, der Begriff 'Himmelskuppel' wäre wirklich einfach nur eine Redeweise, ein Wort. Erst in letzter Zeit ist mir aufgegangen, daß sich hinter diesem Wort tatsächlich sogar heute noch eine konkrete Vorstellung vieler Zeitgenossen verbirgt. Niemand kann etwas wahrnehmen, für das es keine neuronale Entsprechung in seinem Kopf gibt. Deshalb kann auch niemand 'Unendlichkeit' wahrnehmen.

"Woran denkst du jetzt?" fragt Charmion hinter mir.

"Eigentlich nichts Wesentliches. Ich dachte daran, wie es wäre, hier aufgewachsen zu sein. Immer dieser Nebel. Noch nie etwas anderes gesehen. Habe ich dir schon einmal erzählt, daß ich mir oft vorstelle, wie es wäre, an einem bestimmten Ort aufgewachsen zu sein, wenn ich das erste Mal dahinkomme?"

"Hier ist niemand aufgewachsen. Dieses ist eine Gefängnisinsel!" stellt Charmion sachlich fest.

"Manche sind schon in jungen Jahren hierhergebracht worden. Als Kinder. Habe ich gehört. Vielleicht können sich die nicht einmal mehr an die Welt außerhalb von Casabones erinnern! Das ist fast dasselbe, als wenn man hier wirklich aufgewachsen wäre."

"Aber nur fast!"

Wozu über Nuancen streiten? Ich halte lieber den Mund.

Lange Minuten starre ich in den Nebel hinaus. Einen Moment lang versuche ich, mir vorzustellen, daß dieses ein nebliger Platz irgendwo an der Erdoberfläche sein könnte - diese Illusion läßt der Nebel ja zu. Aber da hindert mich wieder meine Natur daran, diese Illusion mehr als nur rudimentär gegenwärtig zu machen. Ich WEISS ja, daß ich eine Felsdecke sehen würde, wenn sich dieser Nebel verzöge, und keinen Himmel. Gerade vor kurzem waren ich und Charmion doch Zeuge dieses seltenen Vorganges, da am Seeufer, als wir über Astronomie gesprochen hatten. Oder, korrekt, als ich über Astronomie gesprochen hatte.

"Geht es dir auch so," frage ich schließlich, "daß dieselbe Landschaft sich ständig ändert, von dem Moment, an dem man sie zum ersten Male sieht bis zu der Zeit, wo man sie bereits gut kennt? Am Anfang, da ist jeder Weg noch voller Möglichkeiten, und hinter jeder Wegbiegung und hinter jedem Wald lauert die Möglichkeit des Unbekannten, neue, ungeahnte Ausblicke, vielleicht noch nie Gesehenes. Das Abenteuer. Wenn man dann schon länger dort war, dann kennt man eben jede Wegbiegung, und der Zauber ist weg. Geht dir das auch so?"

"Nö," sagt Charmion, "wieso denn, wenn es doch dieselbe Landschaft ist!"

Die Antwort könnte von Irene stammen. Bin ich denn alleine mit Phantasie geschlagen?

Charmion hat mich von hinten umarmt und sieht an meinem Kopf vorbei nach draußen.

"Für einen Mann hast du manchmal seltsame Gedanken!" sagt sie.

Für einen Menschen habe ich manchmal seltsame Gedanken, denke ich mir. Aber vielleicht unterliege ich da auch einer Einbildung. Es sei denn, ich hätte die letzten Wochen nur geträumt, und diese Welt wäre nur ein Produkt meiner Phantasie. Dann habe ich wirklich seltsame Gedanken.

Aber wie kommt eine geträumte Welt und jemand in einer geträumten Welt dazu, sich gezielt über die Struktur meines Denkens zu äußern?


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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