Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



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******** 026. Tag: Mittwoch 95-09-13 ********

26.1 Wie und in wem die Papieridee geboren wurde

Ich habe wirre Träume. Ich sehe Stapel von Büchern mit braunen Seiten. Ich begreife, daß das das Buch ist, das ich selbst schreiben will, wenn wir die Welt der Granitbeißer lebendig verlassen sollten. Ein Verleger erklärt mir, daß so eine Art von gemischter Abenteuer- und Reisebeschreibung sich nicht mehr gut verkauft. Deshalb sei das Buch aus mehrfach recycletem Papier gedruckt worden. 'Man muß es trocken halten!' sagt er und erklärt dann, daß nur Buchhandlungen über der Wasserlinie in Frage kommen. Dann ruft er eine ältliche Sekretärin herein, die sich sofort auszieht. Sie fängt an, an mir herumzuzupfen und meint dabei, daß sie die erotischen Szenen aus meinem Buch mit mir ausprobieren muß, 'wegen der Authentizität'. Ich will mich wehren, weil ich sie nicht vor der laufenden Kamera bumsen will. Dann sagt sie 'Aber das geht doch ganz automatisch. Da braucht man sich nichts bei zu denken!' Schon stecke ich in ihr drin. Davon wache ich auf.

Das war in frühester Pubertät immer so ein Problem: Man hatte zwar die tollsten erotische Träume, aber immer, wenn es zur Sache ging, wachte man auf und dann war man alleine mit seiner Spontanerektion. Das ist jetzt nicht so: Charmion hat meine Erregung im Schlafe bemerkt und die Gelegenheit wahrgenommen. Sie hat meinen und ihren Lederstreifenrock hochgehoben und reitet auf mir. Ich bin tatsächlich bis zum Anschlag in ihr drin.

So geweckt zu werden schätze ich. Meistens wenigstens. Aber da ist noch etwas, was meinem Bewußtsein zu entgleiten droht, etwas wichtiges.

"Nein, warte noch ..." sage ich, aber Charmion hört nicht hin. Jedenfalls wartet sie nicht. Der Strom sammelt sich und stürzt hinauf in seine ureigenste Heimat. Und wie ich ihren Leib auffülle und erfülle, viel zu schnell und doch nicht schnell genug und schon gar nicht lange genug, da fällt es mir wieder ein:

"Wir machen es aus Papier!" rufe ich, so laut, daß man es noch einige Räume weiter hören muß.

Langsam entspannt Charmion sich. Ich auch. Die Tat ist getan. Unsere Körper sind zu eingespielt aufeinander. Wir sollten uns nicht zu selten lieben, weil es dann zu schnell geht. Schade, daß es so schnell war.

"Was machen wir?" fragt Charmion.

"Papier! Die Fallschirme! Aus Papier! Leicht und luftdicht!"

"Was ist 'Papier'?" fragt sie. Die Bewegungen in ihrem Körperinneren zeigen an, daß sie noch an anderes denkt.

Ich erkläre es ihr. Schließlich kennen die Granitbeißer ja schon Papier, und ich lerne jetzt das richtige Wort dafür kennen. Allerdings fällt mir jetzt erst auf, daß ich durchaus nicht alle Einzelheiten der Papierherstellung kenne. Eine Suppe aus zermahlenem Holzbrei und Leim mischen und auf flacher Platte trocknen lassen - so etwas ähnliches stelle ich mir vor. Charmion weiß auch nicht genau, wie man das pergamentartige Papier macht, das wir unten auf dem Saurierfänger gesehen haben. Ganz dunkel erinnert sie sich daran, daß sie auch etwas von einem Holzbrei gehört hat. Wir sind also wenigstens ungefähr auf der richtigen Fährte.

"Aber es zerreißt doch zu leicht!" sagt sie.

"Nicht unbedingt. Risse pflanzen sich in einem Papier-Stoff-Verbund nicht beliebig weit fort. Und einige wenige Löcher in einem Fallschirm kann man tolerieren. Verstehst du? Vom Papier kommt die Luftdichtigkeit und das relativ geringe Gewicht, und von den Stoff-Fasern die Reißfestigkeit!"

"Dieser Stoff, den ihr da machen wollt, ist nicht reißfest!" erinnert sie mich.

"Aber reißfester als Papier!"

Charmion denkt nach.

"Das ist ein Prinzip, das bei uns oben häufiger verwendet wird. Man nennt es 'Verbundwerkstoff'. So kann man die besten Eigenschaften von verschiedenen Materialien kombinieren!"

Sie ist noch nicht überzeugt. Aber sie ist auch müde. Und ich auch. Ich sehe, daß es erst kurz nach Mitternacht ist. Die Bumserei hat den Schlaf nur unterbrochen, nicht beendigt.

"Morgen früh machen wir weiter!" murmelt Charmion, als sie sich an mich ankuschelt. Weiter womit? Fallschirme herstellen oder bumsen oder beides? Ich frage nicht nach, weil sie schon eingeschlafen ist.

Ich liege noch eine Weile wach. Die Erinnerung an meine Anfangszeit mit Irene drängt sich in mein Bewußtsein. Das ist jetzt knapp zwölf Jahre her. Da hatten wir auch solche Nächte. Wo sie jetzt wohl ist? Geht es ihr gut? Ist sie noch unten an Bord des Saurierfängers im Schärenring? Oder hat der Saurierfänger wider unserer Verabredung abgelegt und ist weiter nach Grom gesegelt, weil wir nicht zurückgekommen sind? Ich weiß ja nichts über Cherkrochj und ihre Planungen oder über ihre Vorgaben.

Aber soviel Zeit ist doch gar nicht vergangen! Es kommt mir nur solange vor, weil inzwischen soviel passiert ist! - In jeder Sekunde, die wir getrennt sind, können uns unsere Wege weiter auseinander treiben. Wir müssen dieses Fallschirmprojekt packen. Es ist unsere einzige Chance.

Sonst werde ich hier mit Charmion zusammen alt - oder auch nicht so alt, und Irene findet alleine den Weg zurück nicht mehr.

Wir müssen es schaffen.

Endlich schlafe ich endgültig ein.

26.2 Und wie Ougom nichts mehr davon erfuhr

Am anderen Morgen um 8 Uhr wachen wir auf, weil jemand an die Tür trommelt. Wir stehen panikartig auf. Aber als wir die Tür entriegeln - der Holzriegel würde einer verstärkten Bearbeitung sowieso nicht lange standhalten - ist es bloß Och.

"Du sollst zu Ougom kommen - er ist fuchsteufelswild!" sagt er.

"Wieso denn?"

"Jemand hat den Vorrat an Schneidgras angezündet - den großen Vorrat am See!"

"Sauber. Und was habe ich damit zu tun? Warum hat Ougom keine Bewachung organisiert?"

"Das fragst du ihn am besten selbst. Und du bleibst hier!"

Das letzte hat er zu Charmion gesagt.

"Sie hatte sowieso die Absicht, hierzubleiben!"

Och ist stur: "Ougom will keine Frau auch nur in der Nähe des Dorfes haben!"

"Er wird sie doch wohl nicht im Verdacht haben?" frage ich nach, "wir waren die ganze Nacht zusammen!"

"Vielleicht weiß Ougom das. Aber es gibt zuviele Leute, die jede Frau am liebsten zerreißen würden! Es ist besser, wenn sie etwas abseits bleibt!" versucht Och zu erklären. Dabei sieht er Charmion länger als notwendig an.

"Okay. Sie bleibt abseits. Und sie bleibt bei mir!" sage ich und versuche dabei, meinen Worten das richtige Maß an drohendem Unterton zu geben. Och scheint verunsichert.

"Noch etwas, bevor wir jetzt zu Ougom gehen. Ich weiß nicht, ob Ougom immer noch nicht begriffen hat, oder ob er es nicht begreifen will. Du scheinst mir von besserer Auffassungsgabe, Och! Also höre: Ich weiß etwas von Fallschirmen. Aber alles, was mit der Stoffherstellung zu tun hat, ist mir fremd. Da ist sie der absolute Experte! Wenn wir also jemals von Casabones wegkommen wollen, dann ist sie die wichtigste Person auf der ganzen Gefängnisinsel! Wenn ihr etwas passiert, dann werden wir alle hier verrotten! Ich möchte, daß wenigstens du das verstehst. Bloß, weil eure bisherigen Bewacher Frauen waren, sind Frauen nicht automatisch disqualifiziert! - Es sind auch Menschen, auch wenn es euch schwerfällt, das einzusehen!"

Och sieht zwischen mir hin und her. Charmion hat sich wieder auf unser Lager gesetzt. Sie hebt nacheinander ihre Busen hoch und kratzt sich in den Hautfalten darunter. Das ist ja eine Stelle, die meistens mit Schweiß bedeckt ist. Nach meinen Maßstäben sieht das sehr unerotisch, fast abstoßend aus, aber Och sieht fasziniert zu. Ich weiß nicht, was er denkt. Das heißt, eigentlich weiß ich es doch.

"Ougom wartet!" sagt er schließlich.

Als wir zur Tür hinausgehen, ruft Charmion mich kurz zurück:

"Keine Angst! Der nicht!" sagt sie so leise, daß Och es nicht hört.

"Paß trotzdem auf dich auf!" sage ich, bevor ich die Tür schließe. Charmion verriegelt sie hinter mir.

Ougom ist in der Tat sauer. Aber sein Zorn richtet sich nicht gegen mich oder Charmion - über soviel Logik, das einzusehen, verfügt er noch. Das kann sich natürlich schnell ändern, wenn ich ihn auf seine eigenen organisatorischen Fehler aufmerksam mache.

"Es muß jemand aus dem Dorf gewesen sein!" meint er, während er mit stampfenden Schritten in der großen Halle im Erdgeschoß des Forts auf- und abmarschiert.

"Wir können zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, wenn wir ..."

"Wir können wen schlagen?"

"Oh. Sprichwort aus meiner Welt. Ich meine, wir können erstens verhindern, daß sich das wiederholt, und zweitens die Produktivität erhöhen, indem wir schichtweise arbeiten!"

"Schichtweise?" Ougom kennt die einfachsten Ideen nicht.

"Drei Gruppen von Leuten nacheinander an einem Tag. Dann ist die Pflückstelle dauernd bewacht!"

"Ah!" begreift Ougom, und "Wer soll darauf aufpassen? Wer bringt diesen Leuten das effektive Arbeiten bei, so wie du es gestern gemacht hast?"

"Gibt es denn überhaupt niemandem, dem man vertrauen kann?" frage ich.

"Doch, schon. Aber die waren gestern nicht dabei. Die wissen doch nicht, wie man das Schneidgras so schnell erntet!"

"Na und? Dann werden wir es ihnen eben zeigen!"

Einen Moment denke ich, Ougom wird wütend. Ich muß ihm noch mehr zum Nachdenken geben, und zwar schnell.

"Es waren gestern 47 Leute beim Pflücken. Vielleicht wäre es gut, die noch einmal alle zu sammeln. Wenn jemand fehlt, dann wäre es interessant, sich einmal darum zu kümmern, warum derjenige fehlt!"

Ougom's Gesicht hellt sich auf: "Du meinst, der könnte etwas mit dem Feuer zu tun haben?"

"Es ist immerhin möglich. Vielleicht bin ich mit meinem Ansinnen, schnell zu arbeiten, jemandem zu nahe getreten!"

"Dann kümmere dich darum!"

"Nach dem Essen. Ich habe heute noch nichts gegessen!"

Schon hat Ougom wieder schlechte Laune. Er stellt auch nicht das dar, was man sich unter einer Führungspersönlichkeit vorstellen würde.

"Essen kannst du später. Ich will diese 47 Leute jetzt sehen!"

"Erstens hat jemand anders diese 47 Leute eingeteilt - ich weiß gar nicht, wo ich sie suchen sollte. Und zweitens kann ich nicht später essen - ich habe einen kranken Magen. Wenn ich nichts esse, dann verdaut der sich selber!"

Es ist zwar ein bißchen übertrieben, eine hohe Magensäureproduktion als 'kranken Magen' zu beschreiben, aber ich möchte auch einmal wissen, wie diese Argumentation hier wirkt.

"Bist du so ein Schwächling?" fragt Ougom.

"Ich mache es, ich hole die Leute zusammen!" wirft Och ein, wohl merkend, daß da eine völlig überflüssige Konfrontation heraufzieht.

"Halt!" sage ich zu Och, und zu Ougom: "Was heißt hier Schwächling? Wollen wir vielleicht mal darüber diskutieren, was es bedeutet, wertvolle Rohstoffe für den Fallschirmbau unbewacht rumliegen zu lassen? Das war doch entweder Absicht, oder da hat jemand nicht nachgedacht! Das heißt doch: 'Schwach im Geiste', oder?"

Was nun passiert, passiert sehr schnell. Ougom ist sichtbar zornig. Er legt die Hand an sein Schwert, vielleicht gar nicht, um es zu ziehen. Aber ich sehe nicht gleich, daß er es mit dieser drohenden Geste bewenden lassen wird. Deshalb ziehe ich mein Schwert. Dann tut er das natürlich auch, fast gleichzeitig, aber eben nur fast. Jetzt sind nur Millisekunden Zeit, um das Mißverständnis zu klären. Das reicht nicht.

Die wenigen Millisekunden, die ich mein Schwert früher gezogen habe, machen den ganzen Unterschied. Wenn ich ihn jetzt nicht schlage, dann schlägt er mich. Nicht mal ein Sprung weg von ihm kann mich retten. Auch dazu ist zuwenig Zeit. Das alles nicht rational sondern mehr reflektorisch durchüberlegt bleibt mir keine andere Wahl als der Angriff. Mein Schwert schneidet, mit Wucht geführt, in seine linke Schulter, noch während er ausholt. Schultergürtel, Schlüsselbein und Rippen - in diesem Moment merke ich, daß mein Schwert tatsächlich etwas taugt - sogar Knochen durchtrennt es.

Gleichzeitig stoße ich mich mit dem Schwert von seinem Körper ab, bringe ein bißchen mehr Abstand zwischen ihm und mir. Dadurch dringt mein Hieb noch weiter in seinen Thorax ein. Der lethale Kontakt mit seinem Körper hat nur wenige Dutzend Millisekunden gedauert. Als sein Schwert vor mir heruntersaust, verfehlt es mich nur um Haaresbreite. Glatter Zufall, daß er mich nicht genauso verstümmelt wie ich ihn. Zu diesem Zeitpunkt ist mein eigenes Schwert schon wieder draußen. Ougom's Schwert schlägt klirrend auf dem Boden auf.

Einen Moment stehen wir erstarrt da. Ougom sieht an sich herunter, sieht aus schiefem Blickwinkel in seinen eigenen klaffenden Thorax hinein. Vielleicht kann er aus seinem Blickwinkel sogar sein eigenes Herz sehen. Eigentlich müßte dasselbe jetzt völlig zerschnitten sein, wenn mich meine Anatomiekenntnisse nicht trügen.

Langsam sieht er auf. Wird er sein Schwert noch einmal heben? Seine rechte Körperhälfte ist noch unversehrt. Vier bis acht Sekunden dauert es, bis nach Herzstillstand das Bewußtsein wegen Unterversorgung des Gehirns aussetzt. Soviel anders kann es bei den Granitbeißern nicht sein. Diese Zeit sollte ausreichen, daß ein Menschenfresser ganz genau erkennt, was er da sieht. Welch ein seltenes, traumatisches Erlebnis, in den eigenen Kadaver Einblick zu nehmen. Ich beneide ihn nicht darum.

Ougom sieht mich an wie jemand, der etwas nicht verstanden hat. Vielleicht sehe ich genauso blöd zurück. Och ist einige Schritte zurückgetreten.

Ougom verliert das Gleichgewicht, kippt nach hinten um. Als sein Schädel auf den steinernen Boden kracht, müßte er eigentlich das Bewußtsein schon verloren haben.

26.3 Spurenverwischen

Och sieht mich immer noch entgeistert an.

"Siehst du jetzt, wie unklug es ist, sich bloß mit Worten zu streiten aber trotzdem Waffen zur Hand zu haben? Ich wollte ihn nicht töten, und er mich auch nicht!"

Meine Stimme klingt vielleicht fester als mir zumute ist. Die Entwicklung der Ereignisse in den letzten Sekunden war mir zu schnell. Ich war der Handelnde, und trotzdem denke ich, daß ich nicht den geringsten Einfluß hatte. Aber wie nahe mir der Tod wieder war, das versuche ich, zu verdrängen. Ich habe das Gefühl, ich muß mich irgendwo hinsetzen, unbeobachtet.

"Ich habe es gesehen," sagt Och, "aber was wird jetzt?"

"Was heißt das: 'Was wird jetzt'?"

"Was sollen wir jetzt tun?"

"Das, was wir sowieso vorhaben: Wir machen diese Fallschirme!"

"Ich meine, mit ..." Och zeigt auf die Leiche Ougom's, die in einer inzwischen ansehnlichen Blutlache auf dem Boden liegt.

Das ist immerhin eine berechtigte Frage. Verschwinden lassen? Wohin? Wir haben bei diesem Vorfall zwar keine Zeugen gehabt, aber der Versuch, die Leiche Ougom's irgendwohin fortzuschaffen würde mit Sicherheit irgendjemandem auffallen - ein paar Leute sind ja noch im Fort.

Andererseits - Der große Blutfleck auf dem Boden würde vielleicht gar nicht so besonders auffallen, so häufig, wie hier Blut vergossen wird.

Vielleicht, daß man eine besondere Geschichte aufbauen könnte? Ougom bei dem Versuch der Sabotage erwischt? Durch Nachlässigkeit ermöglicht, daß irgend so ein Querkopf die Schneidgrasballen am Seeufer anzünden konnte? Da müßte Och mitspielen, und ich weiß nicht, inwieweit er diese Version glaubhaft machen könnte. Außerdem ist es immer schwieriger, eine solche belastende Aussage bei Leuten, die weiter oben in der Hierarchie sind, aufrechtzuerhalten, hier, bei den Meuterern mit ihren selbsternannten Führerpersönlichkeiten genauso wie im Management eines Industriekonzerns. Und das gilt völlig unabhängig vom Wahrheitsgehalt einer solchen Aussage.

Jeden Moment kann jemand die Halle betreten und Ougom's Leiche sehen. Und dann sind wir in Erklärungsschwierigkeiten.

"Wir können sagen, daß es diese Frau war - diese Charmion!" schlägt Och vor.

Sieh mal einer an. Hat er doch vorhin merken lassen, daß er sie begehrt, aber um sein eigenes Leben zu retten würde er sie sofort über die Klinge springen lassen! Oder ist es die kleinliche Rache des Zurückgewiesenen?

"Nein." sage ich. Beiläufig bemerke ich, daß ich mein noch bluttriefendes Schwert immer noch draußen habe und Och seins nicht. Sieht er nicht, daß das für ihn sehr nachteilig wäre, wenn ich hinreichend skrupellos wäre?

Einen Moment lang spiele ich im Geiste auch all die Möglichkeiten durch, die sich aus einem plötzlichen Ableben von Och ergäben - einem plötzlichen Ableben von meiner Hand, jetzt sofort, versteht sich. Aber da ist kein besonders vorteilsbehafteter Handlungsstrang zu finden, und so komme ich gar nicht in die Verlegenheit, da abwägen zu müssen.

"Am Ende dieses Ganges ist doch die Küche, nicht wahr?" frage ich.

"Ja."

"Sieh nach, ob da jemand ist!"

Och rennt kurz raus, kommt gleich wieder:

"Ist alles frei!"

Er hat schon begriffen, was ich vorhabe. Da er seine Hände frei hat - ich habe ja noch mein Schwert in der Hand - packt er Ougom's Leiche an den Füßen und wirft sie sich so über den Rücken, daß das Blut aus der riesigen Wunde auf den Boden tropft.

Mit ein paar Schritten sind wir über den Gang durch die Küche und in der Speisekammer.

Die zusammengetragenen Leichen machen mir weniger aus, jetzt, wo ich Angst um mein eigenes Leben haben muß. Ich gehe sogar noch weiter, so weit, wie ich es mir früher niemals hätte träumen lassen:

"Kannst du ihm den Kopf abtrennen?"

"Ja." sagt Och. Er zieht sein Schwert und tut es sofort. 'Vorauseilenden Gehorsam' nennt man das, glaube ich - ich hatte ja noch nicht einmal vorgeschlagen, das auch zu tun.

Draußen hören wir Schritte.

"Wohin damit?" fragt Och, schon mehr als beunruhigt. Fieberhaft denke ich nach. Dann, weil Och so bewegungslos herumsteht, reiße ich ihm den Schädel aus der Hand. Mit ein paar Schritten bin ich am Regal, wo mehrere männliche Leichen gestapelt liegen. Ich verstecke den Kopf hinter einigen von ihnen, die geeignet übereinandergestapelt sind. Das Regal sieht samt Inhalt so wie vorher aus. Aber meine Arme sind jetzt bis zum Ellenbogen mit Blut besprenkelt.

Wir hören, daß ein Mann der Fortbesatzung die Küche betritt. Sekunden später steht er schon in der Speisekammer. Er hat ein Messer in der Hand und beabsichtigt offenbar, sich ein Stück Fleisch zu besorgen. Wie alle Granitbeißer stört er sich überhaupt nicht an dem widerlichen Gestank. Da bin ich wohl der Einzige, der darunter leidet.

Er nickt uns kurz zu, offenbar nimmt er an, daß wir aus dem gleichen Grunde hier sind.

"Och, hast du draußen auf dem Gang und in der Küche diese Blutspur gesehen?" frage ich im gleichen Moment, als ich einen Einfall habe, was man aus dieser Blutspur machen könnte. Och sieht mich völlig verständnislos und entsetzt an. Ich gebe ihm keine Zeit, etwas zu sagen:

"Ich finde, das ist eine Schweinerei. Eine SCHWEINEREI! Das sind hier doch Lebensmittel! Wieso dann dieser Dreck auf dem Boden? Wieso sind diese Dinger" ich zeige auf die Leichen auf den Zerlegungstischen und in den Regalen "nicht anständig aufgeräumt?"

Och scheint zu begreifen. Der Mann, der sich gerade daran gemacht hat, aus einem zufällig herausgesuchten Kadaver etwas herauszuschneiden, sieht verunsichert auf.

"Und außerdem kommt hier jeder wie es ihm paßt. Niemand ist für die Küche verantwortlich. Jeder schneidet sich etwas ab und rennt raus, ohne aufzuräumen. Wann wird das endlich anders? Wann wird aus diesem Saustall endlich EINE KÜCHE?"

Och hat begriffen. Er deutet auf den Mann mit seinem bewegungslosen Messer:

"Oclomch, hast du das verstanden?"

Der Angeredete ist vielleicht 38 Jahre alt und hat offenbar nicht im Traum damit gerechnet, so angeredet zu werden, seitdem die Herrschaft der eigentlichen Fortbesatzung zu Ende ist.

"Oclomch, weiß du, wie man einen Boden saubermacht?"

Oclomch weiß es nicht. Er ahnt aber, daß es besser für ihn ist, wenn er es doch weiß.

"Worauf wartest du denn dann noch? Der Zeugmeister hat Tücher zum Putzen!"

Und schon ist Oclomch draußen.

"Das war knapp!" sage ich, "Aber jetzt kommt der gleich wieder, zum Saubermachen. Was, wenn er auf die Idee kommt, die Regale aufzuräumen?" Ich deute auf die Stelle, an der Ougom's Kopf liegt, den wohl jeder erkennen würde.

Och nickt. Er hat seine Fassung wiedergewonnen. Nun weiß er genau, was zu tun ist, um seine Aussicht, noch etwas länger zu leben, zu erhöhen. Wir müssen aus dem getöteten Ougom einen auf unerklärliche Weise nicht auffindbaren Ougom machen.

Er holt Ougom's Kopf dort her wo ich ihn hingelegt habe und fängt sofort an, ihn nach allen Regeln der Kunst bis zur Unkenntlichkeit zu zerhacken. Ich sehe zur Seite, aber nicht hinsehen heißt hier immer noch hinhören.

"Laß die Reste auf dem Boden liegen, damit es ordentlich etwas zum Saubermachen gibt!" sage ich so fest wie möglich, "Und dann muß wirklich gut aufgeräumt werden. Ich bin in unserem Raum oben."

Dann verlasse ich die Speisekammer, gerade noch, daß ich sehe, daß Och geschäftig nickt.

An das ausgefallene Frühstück denke ich gar nicht mehr, als ich die engen Steintreppen zu unserem Raum hinaufrenne. Mir ist zum Kotzen.

26.4 Charmion's Anerkennung und Versöhnung

Als ich Charmion so ungefähr berichtet habe, was geschehen ist, macht sie eine anerkennende Bemerkung.

"Das war keine Heldentat, das war ein Unfall!" versuche ich, ihr klarzumachen, "Unsere Lage wird dadurch auch nicht einfacher!"

"Ich denke schon," sagt sie, "du hast Och doch jetzt in der Hand?"

"Daß du dich da nicht vertust!" entgegne ich, "Wenn mich mein Verstand nicht täuscht, hat er mich in der Hand! Ich habe Ougom umgebracht, nicht er!"

"Und er hat dich dabei gut unterstützt. Nein." Charmion redet auf mich ein wie eine Mutter auf einen kleinen Jungen einredet, um ihm zu erklären, daß ein kleiner Kratzer keine schwere Verletzung ist.

"Sieh es doch mal so: Ougom ist weg. Niemand weiß, warum. Och wird sich hüten, etwas zu sagen. Wenn ihr jetzt den Willen vom abwesenden Ougom verkündet, oder sagen wir, quasi weitergebt, dann habt ihr seine Autorität. Eine Zeitlang jedenfalls. Am besten, ihr laßt sofort nach Ougom suchen, weil ihr, in Verfolgung seiner Anweisungen, ihm etwas mitteilen müßt."

Sie ist doch gerissen, meine Charmion. "Und was ist mit dem Blutfleck in der Halle?"

"Der stört niemanden."

Ich lasse mich auf unser Lager sinken. Immer noch habe ich das Bild vor Augen, wie Och das Gesicht und den Kopf von Ougom zerfleischt. Und warum? Nur weil ein kurzer Zornesausbruch zu Gesten führte, die wechselseitig falsch interpretiert wurden und sich blitzschnell zu einem Schlagaustausch mit scharfen Schwertern eskalierte. Mehr durch Glück als durch Können habe ich gewonnen.

Und Ougom war nicht mein Feind, nicht mehr als etwa Och oder sonst jemand hier. Och hat dann sein Gesicht zerschnitten, das wenigstens von einer Mutter vor langen Zeiten vielleicht einmal schön gefunden wurde, und vielleicht irgendwann auch einmal von einer Frau. Ougom hat noch etwas mehr Talente besessen als der Durchschnitt der Meuterer. Vielleicht hat er sich auch einmal gefragt, wozu die Welt existiert und was hinter den Wolken ist und ob die Zeit ewig dauert. Und du, Herwig, mit deinen feinen humanistischen Idealen, gehst hin und schlägst ihn tot. Nicht nur das, du bringst seinen Körper in eine Speisekammer und du läßt es zu, billigst sogar, daß sein Kopf in widerlicher Weise zerstört, geschändet wird.

Wer hat dich, Herwig, überhaupt gebeten, in die Welt der Granitbeißer zu kommen? Wer hat dich dazu ausersehen, die Granitbeißer zu kritisieren, weil sie Menschenfresser sind? Wer bist du, daß du überhaupt ethische Urteile über andere fällst? Sieh dich doch selber an: Wenn es ernst wird, dann versteckt er sich hinter einer Frau, und wenn er das Schwert führt, dann erwischt es Unschuldige.

Und doch weiß ich, jetzt schon, daß ich mir eine Rechtfertigung ausdenken werde, völlig unabhängig davon, ob sich mein Verhalten rechtfertigen läßt. Der Mensch ist eine Rechtfertigungsmaschine. Der größte Teil der intellektuellen Aktivität eines jeden Menschen dient dazu, sich zu rechtfertigen, die eigene Existenz, das eigene Handeln und die eigenen Fehler in besserem Licht darzustellen. Niemand kann etwas dafür: Es ist das neurologisch begründbare Prinzip der Schmerzvermeidung und der Lustgewinnung, das uns zwingt, die Welt und uns selbst in bestmöglichem Lichte sehen zu wollen. Dem Diktat wird alles unterworfen. Besonders das, was man für die gültige Ethik hält. Und deshalb werde ich mich rechtfertigen. Vielleicht nicht gleich, aber irgendwann schon. Habe ich nicht auch schon sehr gute Gründe für mein Verhältnis mit Charmion gefunden?

Und ich bedaure auch, mit einem Teil meines Verstandes, daß die Rechtfertigung nicht so schnell kommt wie die Wirkung einer intraarteriellen Injektion. Denn wenn sie sowieso kommt, dann könnte sie ja auch gleich kommen und mich vor dem momentanen Stimmungstief bewahren, oder?

"Charmion, warum verstehst du das nicht?" frage ich.

"Was?"

"Dieses sinnlose Gemetzel. Hier, in eurer Welt, überall. Und ich mache auch schon mit."

"Hätte er denn dich umbringen sollen?"

"Wir hätten beide am Leben bleiben sollen!" sage ich, vielleicht etwas aufbrausend. Charmion schweigt. Sie versteht nicht. Vielleicht fühlt sie. Aber sie versteht nicht.

"Gewiß," sage ich, langsam und gleichzeitig nachdenkend, "es gibt Fälle, wo man töten muß. Das war aber keiner. Vielleicht trifft mich keine persönliche, sondern eine tragische Schuld. Solange ich in eurer Welt bin, werden solche Dinge eben passieren. Wir sind zu verschieden. Solange ich hier bin, wird es immer so weitergehen. Bis es mich erwischt. Und dann habt ihr Ruhe. Dann könnt ihr euch wieder nach euren ungestörten Spielregeln metzeln."

Charmion setzt sich dicht neben mich auf das Lager. Minutenlang sagt sie nichts. Dann:

"Wollen wir spielen?"

Ihr Versuch, mich aus der Stimmung herauszuholen, in der ich mich befinde, auch wenn sie die Stimmung nicht nachvollziehen kann.

"Nein. Jetzt nicht."

"Aber es ist gesund. Es gibt Kraft zurück. Und die brauchst du, wenn du die Fallschirme bauen willst. Das willst du doch?"

"Das muß ich."

"Wieso mußt du das?"

"Alleine kommt die Irene nie wieder aus eurer Welt heraus. Ich muß sie wiederfinden."

Zu spät fällt mir wieder ein, daß die Erwähnung von Irene jetzt wirklich nicht klug ist. Habe ich den Krach von gestern schon wieder vergessen? Aber der erwartete Wutausbruch von Charmion bleibt aus.

"Du wirst deine Irene wiedersehen. Das verspreche ich dir! Aber jetzt bist du bei mir. Du und ich, wir beide, wir wissen doch viel mehr als diese Leute da draußen! Wir schaffen es schon! Wir beide zusammen können die Welt biegen! Wir werden Casabones wieder verlassen! Und du wirst ..."

Ich sehe sie überrascht an. Keine Eifersucht? Aber ihr Gesicht ist offen und ehrlich. Nur in ihren Augenwinkeln ...

"Warum - warum weinst du denn?"

"Weil ich weiß, daß du von einer anderen Welt bist! Du gehörst dahin, und ich hierher. Es kann nicht dauern. Manchmal sehe ich es so deutlich - wie jetzt."

Ich nicke. "Ja. - Es kann nicht dauern. Aber du hast recht: Wir beide, wir können die Welt biegen. Ein bißchen wenigstens. - Ich wünschte nur, man könnte das tun, ohne Schuld auf sich zu laden, und ohne die Schuld gleich wieder wegzuargumentieren. - Vielleicht ist es das, was er vor zweitausend Jahren gemeint hat. Seine Welt war wie die eure: noch mehr Gewalt als etwa bei uns oben, direkt erfahrbar von jedem an jedem Tag. Man konnte nicht leben und schuldlos sein. War einfach nicht möglich.

"Alles, was er versucht hat, ist, seinen Mitmenschen über diese kleine Tatsache die Augen zu öffnen. Man gewöhnt sich nämlich an so vieles. Aber sie haben ihn nicht verstanden. Erst hielten sie ihn für einen Führer gegen die römischen Besatzer. Und dann schlugen sie ihn ans Kreuz. Weil er lehrte, ein kleines bißchen nachzudenken. Nachzudenken über die Natur des Menschen. Phantasie oder Intelligenz ist es, was man braucht, um zu wissen, was man anrichtet durch die bloße Tatsache, daß man lebt. Phantasie und die Fähigkeit, das Leiden auf der anderen Seite der Existenz, also bei anderen Wesen, mitzuerleben und mitzufühlen. Mitleid mit jedermann, der leidet. Das war seine Form von Liebe. Und dafür schlugen sie ihn ans Kreuz. Die Welt der empfindenden Phantasie ist noch nicht von dieser Welt. Das muß er wohl gemeint haben. Und damit hat er recht gehabt."

"Von wem redest du jetzt eigentlich?"

"Von jemanden, der schon lange tot ist. Du kannst ihn nicht kennen. Ich erzähle dir später mehr. Jetzt ..."

"Jetzt spielen wir?!" fragt Charmion hoffnungsvoll.

"Nicht. Aber laß mich bei dir liegen. Ich muß nachdenken."

Es stimmt nicht ganz, mit dem Nachdenken. Den größten Teil des Vormittags schlafe ich durch. Niemand stört uns. Von ferne dringen Geräusche zu uns hinauf - vielleicht wird die Küche jetzt anständig saubergemacht. Vielleicht schmiedet jemand auch schon tödliche Intrigen gegen uns. Aber ich schlafe, um das zerfetzte Gesicht von Ougom zu vergessen.

Und Charmion liegt bei mir, weil ich gesagt habe, daß ich das so will. Nicht eine Sekunde weicht sie. Und mit jeder Sekunde, die vergeht, gehören wir mehr zusammen.

Irene, was werde ich dir alles erklären müssen!

26.5 Auf eigene Faust

Es sind nicht die Überlegungen über Ethik im Allgemeinen, die mich besser fühlen lassen, als ich um 13 Uhr aufwache. Es ist nicht die erfolgte Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, sondern einfach die vergangene Zeit, die der Erinnerung langsam die Unmittelbarkeit nimmt, und die Traumarbeit, die ohne unser Zutun das Bewußtsein wieder stabilisiert, ohne daß man als Betroffener genau sagen könnte, wie Träume das zustande bringen.

Und ohne daß man es merkt, verschieben sich die Werte. Die Vernetzung der Begriffe im Bewußtsein mag im Laufe des Lebens in beliebiger Weise zustande kommen. Die ungeheure Flexibilität des Geistes erlaubt jede noch so abstruse Weltanschauung. Nichts ist vorgegeben, keine Logik, keine Konformität mit der wirklichen Welt, nicht mal ein Zwang, mit der wirklichen Welt in Wechselwirkung zu treten. Das jedenfalls wäre der reine Geist.

Aber so rein ist er nicht. Die Fähigkeit, Lust und Schmerz zu empfinden, und die wirklichen Gegebenheiten, die Lust und Schmerz mit bestimmten Begriffen assoziieren, strukturieren den Geist. Jeder Begriff hat seine emotionelle Färbung. Und bei jedem Menschen eine andere Färbung.

Durch unsere physische Existenz ist die emotionelle Assoziierung der Begriffe nicht in jeder Weise möglich, obwohl der Geist auch dazu flexibel genug wäre. Aber in der Welt der emotionellen Konzepte sind wir nicht Herr im Hause. Wir haben keine Macht darüber, Schmerz anders als unangenehm zu empfinden und Lust anders als angenehm. Wir haben keine Macht darüber, etwas anderes zu tun als Verbrennungen und Verletzungen mit Schmerz zu assoziieren, Sättigung und sexuelle Befriedigung mit Lust, und so weiter. Dieser Teil der subjektiven Wirklichkeit ist vorgegeben. Sogar dem abgeleiteten Teil dieser Subjektivität sind wir hilflos ausgeliefert, etwa dem Mitleid, wenn wir erst einmal gelernt haben, mit Hilfe der Phantasie den Schmerz von anderen Wesen nachzuempfinden. Wenn wir diese Fähigkeit erst einmal haben, dann werden wir sie nicht mehr los, es sei denn durch Hirnschäden, die unser Ego sowieso in nicht korrigierbarer Weise schädigen.

Die Konzepte Lust und Schmerz teilen sich auf Umwegen unserer gesamten Begriffswelt mit. Die dadurch entstehenden Attribute an Dingen in der wirklichen Welt heißen gut und schlecht, oder gut und böse. Eine Einteilung der Welt, die auszusuchen wir zumindestens während unseres Aufwachsens auch nicht die Freiheit hatten. So, wie in einfachen, sogenannten 'primitiven' Kulturen die Menschen nicht die Freiheit hatten, zum Beispiel die Dinge nicht anders als pananimistisch zu sehen, das heißt, als beseelt. Oder so, wie wir während unserer kulturellen und sprachlichen Entwicklung nicht die Freiheit hatten, allen Begriffen eine Geschlechtszugehörigkeit zuzuordnen, die in unseren heutigen Sprachen als grammatisches Geschlecht eine Spur hinterlassen hat. Eine Spur, die nicht notwendig ist, denn daß den Dingen so etwas wie ein Geschlechtsbegriff nicht zukommt, wissen wir schon daher, daß derselbe Begriff in verschiedenen Sprachen verschiedenes grammatisches Geschlecht haben kann.

Das verschiedene grammatische Geschlecht in verschiedenen Sprachen ist ein Modell der unterschiedlichen Bewertung der Dinge auf einer Skala von gut bis schlecht in verschiedenen Kulturen, Gruppen und Individuen. Daß wir diese Einteilung der Welt in gut und schlecht haben, davon können wir uns nicht freimachen. Aber wenigstens ist diese Einteilung wandelbar. Die eigentliche Flexibilität des Geistes scheint wieder durch. Wenn wir intellektuell unabhängig genug sind, dann können wir im Laufe unseres Lebens unsere Einteilung der Welt in gut und schlecht mehrfach einer Revision unterziehen. Nur eines können wir nicht: Diese Konzepte ganz aufgeben. Wir wären sofort nicht mehr lebensfähig. Denn das eigene Überleben muß einer der Begriffe sein, der immer mit 'gut' attributiert ist.

Aber alles andere? Ist die Menschenfresserei unbedingt mit 'schlecht' zu attributieren? Was wäre denn, wenn die Welt der Granitbeißer ganz genauso wäre wie sie tatsächlich ist, bis auf den Usus, Menschen aufzuessen? Diesselbe allgegenwärtige Gewaltbereitschaft, dieselbe Abqualifizierung des männlichen Teils der Menschheit als Untermenschen, und natürlich all die miesen Charakterzüge, die auch in unserer 'zivilisierten' Welt zu finden sind, wie etwa den unbedingten Willen, Macht über andere Menschen zu haben? Was wäre denn dann? Wären wir schlechter dran als wir es jetzt sind? Wird eine bestimmte Lebensgefahr gefährlicher, wenn neben der Todesgefahr noch die Möglichkeit besteht, aufgegessen zu werden?

Das einzige, was mich bis jetzt betroffen hat und was auch auf die Menschenfresserei zurückzuführen ist, ist, daß es so schwierig ist, etwas vegetarisches zu essen zu bekommen. Das ist der ganze, wirklich erfahrbare Unterschied.

Bei dem Gedanken an Essen fällt mir ein, daß ich heute ja immer noch nichts gegessen habe. Dieses Problem fühlt sich in meiner Magengrube dringlich an. Ich habe nicht mehr die intellektuelle Freiheit, mich mit meinem Hunger in mehr abstrakter Weise zu beschäftigen.

"Charmion?"

"Ja?"

"War was, während ich schlief?"

Ich stelle jetzt erst fest, daß ich auf der Seite liege und sie mich von hinten umarmt hat. Das erinnert mich wieder an Irene. Wie oft haben wir in unserer Anfangszeit so gelegen!

"Nichts."

"Och auch nicht? Ich meine, ist er aufgetaucht, während ich schlief?"

"Nein."

"Mmh. Ich wette, der Erntefortschritt hakt wieder. Und um alles andere haben wir uns noch nicht gekümmert. Das wird noch dauern!"

Charmion sagt darauf nichts. Ich winde mich aus ihren Armen und stehe auf.

"Sehen wir mal nach, was sich im Hause tut. Es ist so ruhig."

Charmion ist anzusehen, daß sie andere Vorstellungen hat, was wir mit unserer Zeit tun könnten, aber sie steht auch auf.

"Es ist schon eine ganze Weile so ruhig im Fort. Als ob niemand da wäre."

Als wir das Fort durchsuchen, bestätigt sich das. Niemand ist da. Wir sehen in viele Räume hinein, die wir noch nicht kennen. Unterkunftstuben der ehemaligen Fortbesatzung, Erker mit Schießscharten in mehrere Richtungen, die große Halle, die Zeugkammer, die ich schon kenne, die Küche und die Speisekammer, denen man geglückte Versuche zum Aufräumen und Saubermachen eigentlich nicht gleich ansieht. Nirgends eine Menschenseele.

"Eigentlich müßte das Fort ein Verließ haben, oder einen so genutzten Keller!" überlegt Charmion laut, "Aber ich habe nichts dergleichen gesehen."

"Und ich habe Hunger." stelle ich fest, "Vielleicht sollten wir wieder in den Wald gehen! Danach könnte man sich wieder um die Fallschirme kümmern. Wenn das noch gefragt ist."

Und so geschieht es. Auch, als wir das Fort über die Zugbrücke verlassen und am Steilufer entlang den Urwald aufsuchen, begegnen wir niemandem. Diesmal verfolgt uns auch niemand. Charmion ist da sicher.

Ich erhalte weitere Lektionen in Ernährung in der freien Natur, mit praktischen Beispielen, versteht sich, und als wir damit fertig sind, bin ich leidlich satt. In meinem Darm rumort es, aber das tut er immer ganz gerne, wenn er mit vegetarischer Kost überfrachtet wird. Das ist ganz normal. Nur Charmion muß ich erklären, daß das nichts Schlimmes bedeutet.

Oom suchen wir nicht auf. Noch nicht und heute nicht. Mich interessiert es mehr, was im Dorfe los ist. Es ist 15:30 Uhr, als wir uns dorthin aufmachen.

Als wir zum Tor kommen, sehe ich wohl, daß Charmion den Holzaufstieg zum Wehrgang mustert, wo ich ihr Schwert versteckt habe.

"Besser nicht," sage ich, "wir kriegen sofort Schwierigkeiten, wenn du bewaffnet herumläufst!"

Ich sehe ihr an, daß es ihr schwer fällt. Aber sie fügt sich der besseren Einsicht. Wir biegen nach links ab, um durch die Mauerlücke zum Dorf zu gelangen.

Als wir das Dorf bald darauf erreichen, bemerken wir einige Änderungen: Es sind weniger Menschen anwesend, und die, die anwesend sind, betrachten uns mit unverhüllter Abneigung. Es ist schwer zu erkennen, wem von uns beiden diese Abneigung in größerem Maße gilt.

26.6 Mißgunstbeweise

Einige hundert Meter hinter dem Dorfeingang landet vor uns auf der Straße ein Stein, von einem Punkt hinter uns geworfen. Ich drehe mich um. Natürlich ist nicht zu erkennen, wer es war. Etliche der Gesichter, die aus den Dreckhütten herausschielen, grinsen schadenfroh.

"Du mußt einen töten!" sagt Charmion leise.

"Was muß ich?"

"Du mußt einen töten! Sonst glauben sie, sie könnten sich alles erlauben! Bitte glaube mir!"

"Und welchen? Ich weiß doch nicht, wer den Stein geschmissen hat!"

"Ist doch egal! Aber wenn du es ignorierst, fliegt gleich der nächste. Und der könnte treffen!"

Und nach einer Pause, in der ich unschlüssig herumstehe, droht sie:

"Wenn du es nicht machst, nehme ich mir dein Schwert und mach es selbst! Dann kann es allerdings sein, daß sie über uns herfallen. Es ist besser, wenn du es machst."

Muß ich nicht annehmen, daß Charmion diese Leute hier besser einschätzen kann als ich? Gerade bin ich dabei, zu verdrängen, daß ich heute morgen jemanden getötet habe, und schon wird mir nahegelegt, das gleich noch einmal zu tun, und zwar mit vollem Vorsatz.

"Ich probiere es anders!" sage ich leise zu Charmion. Dann winke ich einem, der in einer der nächsten Hütten hockt. Der kommt nicht gleich, und so kann es ja nicht schaden, das Schwert wenigstens zu ziehen und ein paar Schritte auf die Hütte zu zu treten. Charmion behält die Umgebung im Auge. Endlich bequemt sich der Mann, aus seiner Hütte herauszukommen.

Verdreckt, mehr Zahnlücken als Zähne, diese alle braun, ein aggressiver Ausdruck auf dem Gesicht. Keine Spur von Angst. Ein Unsympath. Vielleicht fällt es mir dann leichter, wenn es schon sein muß.

"Hast du diesen Stein gesehen?"

Der Mann nickt. Ich winke mit dem Schwert so, daß er versteht, daß er sich hinknien soll. Er tut es.

"Wer hat ihn geworfen?"

Er sieht mich an, als ob er mich für doof hält. Ich zeige mit der Schwertspitze auf seine Kehle:

"Du kannst in wenigen Sekunden tot sein! Du kannst auch antworten. Also: wer hat diesen Stein geworfen?"

Ich lege die Schwertspitze auf die Kuhle, die durch das Schlüsselbein gebildet wird. Es ist so scharf, daß sofort aus einer leichten Hautverletzung Blut austritt. Nur reden tut der Mann nicht.

Plötzlich brüllt Charmion neben mir auf und springt in die Luft. Einen Moment lang nehme ich an, daß sie von irgend etwas getroffen worden ist, und ich stoße zu. Dann erst bemerke ich, daß zwar wieder jemand einen Stein nach uns geworfen hat, aber daß Charmion denselben in der Luft aufgefangen hat. Ihre Reflexe sind gut. Ich hatte nicht einmal bemerkt, daß ein zweiter Stein unterwegs war.

Der knieende Mann vor mir ist schwer verletzt. Ich habe das Schwert am Schlüsselbein vorbei wenigstens 15 bis 20 Zentimeter tief in seinen Thorax eingeführt. Das Herz habe ich wahrscheinlich nicht erreicht, aber ein Pneumothorax ist wahrscheinlich. Der Mann ächzt und stöhnt. Aus der Halswunde pulsiert ein Blutstrahl.

"Gut," sagt Charmion befriedigt, "ein bißchen hecheln lassen. Ich glaube, ich weiß ungefähr, wer die Steine geworfen hat. Er steht da drüben und beobachtet uns genau. Siehst du?"

Ich sehe nicht. In erster Linie sehe ich, wie der jämmerliche Mann vor mir sich am Boden windet und die Wunde am Hals zuhält. Er versucht, das Leben, das aus ihm herausquillt, zurückzuhalten. Offenbar begreift er erst jetzt, daß es ihn erwischt hat.

"Stell dich nicht so an!" zischt Charmion neben mir.

"Wieso denn? Er hat doch Schmerzen!"

"Ich meine dich!"

Ich sehe sie an, dann wieder den Mann. Dann hebe ich mein Schwert. Er ist so mit sich selbst beschäftigt, daß er es gar nicht bemerkt. In einem Augenblick, wo sein Hals und die Schwertklinge einen rechten Winkel bilden, schlage ich zu. Der Kopf wird sauber vom Rumpf getrennt. Aus dem Hals strömt einige Sekunden lang noch mehr Blut als aus der Halswunde. Aber der Mann ist still.

"Naja, meinetwegen." sagt Charmion ungerührt, "Jetzt wäre es noch nützlich, wenn du nach dort hinten einen leidlich bösen Blick wirfst. Ich glaube, dann haben wir Ruhe."

Das tue ich nicht. Ich gehe die Dorfstraße weiter, ohne mich umzusehen. Charmion kommt hinter mir her. Die geköpfte Leiche lassen wir einfach liegen.

"Du kannst froh sein, daß kaum jemand hier Waffen hat. Sonst wäre es aus mit uns. - Du stellst dich vielleicht immer an, wenn du dich mal wehren mußt!"

Ich antworte nicht. Bis zum Dorfplatz schweige ich, und Charmion auch. Ich habe schon wieder den Eindruck, daß sie beleidigt ist, weil ich nicht einsehe, daß man sich hier, unter den Meuterern, mit allen Mittel Respekt verschaffen sollte. Außerdem war es ja ihre Aufmerksamkeit, die uns das Leben gerettet hat. Ich habe nur etwas Handarbeit machen dürfen.

Und beleidigt bin ich selber auch. Weil ich mich 'immer so anstelle'. Diese Art von Vorwürfen habe ich gefressen. Meine Eltern, Irene, und jetzt auch noch Charmion.

26.7 Verkürztes Verfahren

Auf dem Dorfplatz fällt mir sofort auf, daß jetzt ganze 12 Vollstreckungskreuze aufgerichtet sind. Außerdem sind in den angrenzenden Hütten und um den Dorfplatz herum weniger Männer zu sehen als im bisherigen Teil des Dorfes.

Ein Mann in mittlerem Alter sitzt auf einigen Holzbalken, als ob er auf dieselben aufpassen soll. Er hat ein Schwert. Als er uns kommen sieht, steht er auf.

Jetzt erst merke ich, daß vier von den 12 Kreuzen 'in Betrieb' sind.

"Och hat schon nach dir gefragt!" grüßt er mich und wirft einen mißtrauischen Blick auf Charmion, "Ich bin übrigens Oshaim."

"Warum?"

"Er hat die Ernte ganz gut durchorganisiert. Es liegen schon viele neue Bündel am See bereit!"

"Aha. Und was ist mit denen?" frage ich und deute auf die vier Männer, die an den Kreuzen hängen.

"Oh, die. Ja, sieh sie dir genau an. Der da hat die Bündel angezündet. Und der da hat es auch nicht gestanden."

"Was?"

"Ja, die beiden sind häufiger zusammen. Die kennen sich, die machen alles zusammen. Jeder weiß das."

"Hat man sie gesehen, wie sie die Bündel angezündet haben?"

"Natürlich nicht. Sonst hätte man sie das ja nicht tun lassen, oder?"

Bevor ich etwas sagen kann, zeigt er auf den dritten, der im Gegensatz zu den beiden anderen, die Oshaim als Brandstifter bezeichnet hat, noch bei Bewußtsein ist.

"Der hat diese Übung nicht machen wollen - wie heißt sie noch? Diese Übung mit Händen und Füßen auf dem Boden?"

"Liegestütze."

"Ja, Liegestütze. Und der vierte ist dreimal von der Arbeit weggelaufen. Er hat gesagt, er wäre krank, er könne nicht arbeiten. Leider ist er gestorben, als er auf das Kreuz geschlagen wurde. Vor Schreck vielleicht, hihi."

"Und trotzdem habt ihr weitergemacht?"

"Ja, natürlich. Als Abschreckung!"

"Vielleicht war er wirklich krank!"

"Der? Ne. Der hat schon immer behauptet, daß er krank ist. Deshalb hat man ihn ja auch nach Casabones gebracht."

Diese Logik ist umwerfend. Mir fehlen die Worte. Dafür sehe ich mir die Gekreuzigten genau an.

Man hat sie nicht mit großen Nägeln auf das Holz geschlagen, so, wie man sich das bei uns vorstellt, wenn man die Redewendung 'gekreuzigt' oder 'an ein Kreuz schlagen' hört. Das liegt vielleicht daran, daß keine Nägel zur Hand waren. Was man gemacht hat ist aber genauso grausam: Es wurden starke Seile um Schienbeine und den senkrechten Teil des Kreuzes gewickelt und diese mit einer Garotte so fest angezogen, daß Schien- und Wadenbeine gebrochen wurden. An dem waagerechten Teil des Kreuzes hat man es mit den Unterarmen genauso gemacht. Schon die solcherart abgebundenen Gliedmaßen müßten durch Zersetzung und Vergiftung des übrigen Organismus schon bald den Tod herbeiführen, unterstützt durch die Zwangshaltung, die das Atmen sehr behindert.

Nebenbei stelle ich fest, daß für so etwas hinreichend starke Seile vorhanden sind.

Der eine, der noch bei Bewußtsein ist, sieht von seinen fünf Metern Höhe auf uns herab und sagt nichts. Er ist in jungen Jahren und war offensichtlich gesundheitlich bis vor kurzem etwas besser dran wie die meisten hier. Jetzt muß er konzentriert atmen, um überhaupt am Leben zu bleiben, wohl wissend, daß man ihn nicht vom Kreuz abnehmen wird, bis er tot ist, und vielleicht auch wissend, daß seine abgebundenen und schon abgestorbenen Gliedmaßen ihn töten würden, wenn man ihn dennoch abnähme. So paradox es klingt, aber im Moment hält das Kreuz ihn am Leben.

"Wie lange dauert es denn?" frage ich.

"Kommt drauf an." Oshaim scheint sich auszukennen, und er scheint stolz darauf zu sein. "Man kann es nach Belieben einstellen, je nachdem, wie man den Körper befestigt. Bis zu zehn Tagen Dauer ist möglich, vielleicht auch länger. Aber es kann auch schon nach wenigen Atemzügen zu Ende sein. Wenn man zum Beispiel den Körper in senkrechter Richtung beweglich anbringt und unten einen spitzen Pfahl ..."

"Ich will es nicht hören!" sage ich.

"Aber es ist interessant! Wenn man ..."

"Ich will es nicht hören!" Ich fasse mein Schwert an, und Oshaim versteht den Wink sofort.

"Wer bestimmt, wie lange jemand da hängen muß?"

"Das kommt drauf an. Eigentlich sollte auf einer gut geführten Hinrichtungsstätte dauernd jemand hängen. Zur Abschreckung, versteht sich. Wenn es also wenig Verurteilte gibt, oder wenn man zuviele Kreuze hat, dann verlängert man natürlich die Vorführung jedes einzelnen."

Die 'Vorführung'. So heißt das also. Ich spüre den Ärger in mir hochsteigen. Immer, wenn ich soviel überzeugter Dummheit begegne, habe ich das Bedürfnis, dreinzuschlagen. Meistens beherrsche ich mich, so auch jetzt. Oshaim kann wirklich nichts dafür, daß er in diesem Geiste aufgewachsen ist. Er verstände es gar nicht, wenn ich ihn jetzt verprügelte oder noch schlimmer bestrafen würde. Alles, was er verstände wäre, daß ich eben zornig wäre. Und das wäre dann auch tatsächlich der ganze Sachverhalt.

Also ruhig bleiben. Ich frage ihn: "Hat Och explizit gesagt, daß diese da so lange hängen sollen?"

"Nein, natürlich nicht, aber das ist doch selbstverständlich!"

Vielleicht kann ich jetzt etwas gut machen. Es wird nicht ganz ungefährlich sein. Ich sehe schon wieder Charmion's mißbilligende Blicke. Runternehmen lassen kann ich die Unglücklichen nicht. Das würden sie nicht mehr überleben. Aber ich kann ihr Leiden abkürzen. Fangschuß, heißt das in der Sprache des Waidmannes. Ein unwürdiger Vorgang für einen Menschen.

"Hast du einen Bogen?"

"Nein, wozu?"

"Gibt es eine Leiter?"

"Ja, natürlich. Wie hätten wir sie sonst hinaufbringen sollen?"

"Dann hole sie."

"Was?"

"Dann hole sie!"

Er braucht nicht weit zu gehen. Eine Leiter liegt direkt neben dem Balkenstapel, aus dem noch mehr Kreuze hergestellt werden können.

"Leg die Leiter an das Kreuz da an und steig hinauf!"

"Warum denn?" Oshaim ist restlos erstaunt.

"Weil ich es so möchte. Und um dem Mann da oben dein Schwert in sein Herz zu stoßen, darum!"

"Aber das würden die Leute nicht gut finden! Hier gibt es so selten etwas zu sehen!"

"Siehst du hier Leute? Eine Hinrichtung ist kein Volksvergnügen! Na los, mach schon!"

Natürlich ist eine Hinrichtung ein Volksvergnügen. Das ist in allen Zeiten so gewesen. Daß sich im Moment hier nicht allzuviele Zuschauer rumtreiben muß andere Gründe haben. Man läßt sich nicht gerne blicken, wenn Zwangsarbeit und so barbarische Maßnahmen drohen.

Oshaim ist mit dem Schwert ziemlich ungeschickt.

"Weißt du vielleicht nicht, wo ein Mensch sein Herz hat?" rufe ich hinauf, als er dem ersten - einem der schon Bewußtlosen und vielleicht auch schon Toten - mit seinem Schwert eine üble Bauchverletzung beibringt. Der Mann bewegt sich nicht einmal. Also hat er es auch schon überstanden.

"Wenn du noch einmal daneben stichst, dann zeige ich es dir an deinem eigenen Herzen, wie man es richtig macht!" drohe ich. Das wirkt. Die beiden anderen bringt er nacheinander ohne Fehler vom Leben zum Tod. Der, der gerade noch am Bewußtsein ist, kriegt noch genau mit, was vor sich geht und was auf ihn zukommt. Ich kann aber nicht erkennen, ob er die Abkürzung seiner Leiden willkommen heißt oder nicht. Ich weiß ja auch nicht, ob er sich seiner schon aussichtslosen Situation klar ist - er sollte es eigentlich, da er wahrscheinlich schon anderen Hinrichtungen als Zuschauer beigewohnt hat. Bis zu dem Zeitpunkt, wo Oshaim ihm sein Schwert ins Herz stößt, sieht er ihn ausdruckslos an, dann ächzt er schwach und läßt seinen Kopf hängen.

"Komm herunter!" bedeute ich Oshaim. Als er unten neben mir steht, sehe ich, daß er mehr Unverständnis hat als Angst. Müßte er nicht damit rechnen, daß ich jetzt meiner Mißbilligung mit Gewalt Ausdruck verschaffe, so, wie das hier jeder tut?

"Wenn Och das nächste mal an dich das Ansinnen stellt, jemanden zu kreuzigen, dann wirst du ihn darauf hinweisen, daß ich das nicht schätze. Hast du das verstanden?"

Er nickt, und wir machen uns weiter auf den Weg, um zum Teich zu gelangen. Zurück bleibt ein verwirrter Oshaim, der nicht mehr genau weiß, wieso er Vollstreckungskreuze bewachen soll, die nicht so verwendet werden dürfen wie er sich das vorgestellt hat.

Jetzt erst fällt mir ein, daß ich eben explizit Och als maßgebende Autorität bezeichnet habe. Wenn jemand nachdenkt, könnte derjenige auf die Idee kommen, daß ich zu diesem Zeitpunkt schon weiß, daß Ougom nicht mehr am Leben ist. - Ein Seitenblick auf Charmion - sie hat diesen Lapsus auch noch nicht erkannt. Vielleicht habe ich Glück, und niemand merkt etwas, oder niemand erinnert sich später, was ich eben gesagt habe.

Ich habe aber auch schon andere Gedankenspiele. Oshaim bei Gelegenheit zu beseitigen, zum Beispiel, damit der sich nicht irgendwann erinnert. - Naiv ist, wer meint, auf solche Gedanken käme er an meiner Stelle nicht!

26.8 Versehen

Wie erwartet treffen wir Och am Sumpfteich. Es müssen mehr als 200 Leute im Einsatz sein, und die Menge der neu geernteten Ballen von Schneidgras ist beachtlich. Allerdings sehe ich auch, daß Och offenbar verschiedene Männer zu Aufsichtspersonen ernannt hat, die dafür charakterlich nicht unbedingt geeignet sind. Die meisten davon sind damit beschäftigt, jemanden über offenem Messer Liegestütze machen zu lassen. Meine Disziplinierungsmethode scheint sehr beliebt geworden zu sein - als Volksbelustigung. Und warum da jeweils mehrere Leute zusehen ist mir auch nicht klar. Wir gehen zur größten Menschentraube.

"Saustall!" sage ich leise zu Charmion, so, daß niemand sonst es hört. Außerdem könnte ich mich selbst in den Arsch treten, weil ich die Liegestütze mit der Messervariante eingeführt habe. Aber diese Form der Selbstbestrafung stößt auf praktische Schwierigkeiten.

Vierzehn Menschen sehen einem Mann bei seinen Liegestützen zu. Der Fünfzehnte hat ihm seinen Fuß auf den Nacken gestellt, damit er es ja nicht zu einfach hat. Das, erinnere ich mich, habe ich so nicht vorgeführt. Wie schnell solche Entdeckungen gemacht werden! Wieviele Zeitalter müssen noch vergehen, bis Zeitvertreib wie Kreuzworträtsel lösen oder Fingerhakeln mengenmäßig den Spaß an Quälen von Menschen ablösen!

Der fünfzehnte Mann ist der dicke, breitschultrige Mann, der uns ganz am Anfang im Fort in Empfang genommen hat.

"Was geht hier vor?" frage ich, "Wer hat hier die Aufsicht?"

Der Breitschultrige sieht mich an. Er denkt nach. Das dauert länger.

"Wieso arbeiten diese Leute nicht?" frage ich ihn.

Es kommt sofort Bewegung in die Gruppe. Die Intelligentesten merken, worauf ich hinaus will, und entfernen sich in Richtung See. Die anderen bleiben stehen, vermutlich in Erwartung einer neuen, interessanten Konfrontation.

"Ich habe etwas gefragt!" stelle ich fest. Der Breischultrige denkt immer noch.

"Steh auf!" sage ich zu dem Mann, der bis eben Liegestütze gemacht hat, "Und laß dein Messer in der Erde drin!"

Der tut das, reichlich verwirrt, aber auch erleichtert, daß die Tourtur mit den Liegestützen vorbei ist.

"So. Darf ich jetzt bitten?" frage ich den Breitschultrigen.

Der überlegt sich immer noch, ob er von mir Anweisungen entgegennehmen soll. Um ihm diese intellektuellen Vorgänge zu erleichtern, ziehe ich mein Schwert. Jeder kann deutlich das angetrocknete Blut sehen. Ich habe noch keine Zeit gefunden, das Schwert sauber zu machen.

Charmion steht in einigen Metern Entfernung und sieht uns interessiert zu. Der Breitschultrige bequemt sich auf seine Knie runter. Von schräg unten sieht er mich an. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht interpretieren. Wird er mich in der nächsten Sekunde anfallen? Oder ist das ein mildes Bedauern, daß er sich nun auch anstrengen und zusätzlich vor all den anderen blamieren muß? Irgendwie sieht er kummervoll aus. Aber ich bleibe hart. Für niemanden darf es Extrarationen geben.

"Wenn ich bei seiner vierten Auf- und Abbewegung hier noch jemanden rumstehen sehen, dann braucht derjenige gar nicht mehr an die Arbeit zu gehen!" sage ich zu den Umstehenden. Das verstehen sie. Noch bevor der Dicke anfängt, gehen ausnahmslos alle zum See. Trotzdem werden wir von allen Seiten ohne Zweifel neugierig beäugt.

Der Dicke fängt aber immer noch nicht an.

"Fühlst du dich vielleicht nicht wohl?"

Jetzt sieht er aus, als ob er gleich weinen will.

"Ich kann das nicht tun, Herr!"

"Ach ja! Und warum nicht?"

"Ich bin krank."

"Och Gottchen!" sage ich zynisch, "Er ist krank! Das tut mir aber leid!" Und etwas lauter, damit es alle hören können: "Gerade eben habe ich jemanden gesehen, der gekreuzigt wurde, weil er krank war oder weil er das von sich behauptet hat. So geht ihr doch mit euren Mitmenschen um! Krank willst du sein? Ein Bär von einem Mann und krank? Der stärkste hier am Platz und krank? Aber andere schikanieren bis zum geht nicht mehr! AUF, IN DEN LIEGESTÜTZ!"

Jetzt sehen alle her. Der Breitschultrige gehorcht. Er stemmt seine Hände in die beiden Erdhaufen beidseitig des Messers und beugt sich nach vorne über. Das wird eine Karrikatur eines Liegestützes, das sehe ich schon.

Dann stellt der Dicke die Beine nach hinten und läßt sich auf das Messer fallen. Nach einem kurzen, unwichtigen Röcheln ist er tot. Es hat keine Sekunde gedauert. Nach einigen Sekunden wird seitlich unter seiner Brust eine Blutlache sichtbar, die sich langsam vergrößert.

Jemand kommt auf uns zu. Es ist Och.

"Oh, grüß euch. Was ist denn da geschehen? Ah. Ich seh schon. Ja, Ohochmoich hatte eine alte Verletzung. Hier, seine Brustmuskeln!"

Er dreht die Leiche auf den Rücken und öffnet die Lederjacke vollständig. Man braucht kein großer Anatom zu sein, um es zu sehen: Ein früher Schwerthieb muß ihm die Pectoralismuskeln bis auf die Knochen zerschnitten haben. Da, wo andere Männer, die über ordentliche Muskeln verfügen, eine fast busenartigen Vorwölbung der Pectoralismuskeln haben, hat dieser hier nur vereinzelte Knoten, wie ich trotz Dreck und Blut deutlich sehe. Daß er das unter den hier üblichen Bedingungen überlebt hat, und daß er sich trotz dieser Behinderung noch so gut hat bewegen können ist erstaunlich.

Aber einen Liegestütz hat er natürlich nicht machen können.

"Deshalb habe ich ihn zur Aufsicht eingeteilt." sagt Och. "Was sagst du zu unserer bisherigen Ernte?"

Schon vorbei. Der Tote wird nicht mehr erwähnt. Da habe ich gerade wieder den Tod eines Menschen verschuldet, eines fast wehrlosen Behinderten, verschuldet durch einen Akt unentschuldbarer Dummheit, und Och fragt mich, was ich von der Schneidgras-Ernte halte. Auch, daß Ohochmoich ein Arschloch war, der andere gerne schikaniert hat - muß ich jedenfalls annehmen, denn das ist ja das einzige, was ich von ihm je gesehen habe, vor wenigen Minuten - auch das entschuldigt nichts.

"Die Ernte. Ja, gut." sage ich. Ich versuche, mein Schwert wieder in die Scheide einzuführen. Es geht schlecht, weil es so klebrig-blutig ist. Ich bin gezwungen, zum Wasser zu gehen und die Klinge abzuspülen. Dann geht es. Alle, in deren Nähe ich komme, arbeiten doppelt so konzentriert. Ich habe keine Befriedigung an dieser Beobachtung. Vielleicht halten sie mich jetzt für eine entschlossene und brutale Führernatur, jemanden, dem man besser nicht zur Unzeit über den Weg laufen sollte. Bloß nicht auffallen. Alle rundherum machen den Eindruck, genau das zu ihrer momentanen Strategie erhoben zu haben.

Och spricht weiter.

"Ich habe schon rumgefragt, wer etwas von Stoffweberei versteht. Es sind nicht viele, und sie geben widersprüchliche Auskünfte."

Gestern hätte ich vielleicht noch entgegnet: 'Dann bringe alle bis auf einen um, dann hast du keine widersprüchlichen Auskünfte mehr!' Aber heute habe ich selbst schon zu viele Menschen umgebracht, um mir diesen Ton noch leisten zu können.

Wieso ist Och überhaupt so freundlich? Er müßte mich eigentlich doch schon durchschaut haben. Er weiß, daß es nur Zufall war, daß ich Ougom getötet habe und nicht umgekehrt. Och könnte sich leicht meiner entledigen, und gegen die Übermacht der anderen Männer könnte Charmion wohl auch kaum helfen, mir nicht und dann sich selbst nicht. Trotzdem, seinem Verhalten nach scheint er mich als die Nummer Eins akzeptiert zu haben. Warum tritt er freiwillig zurück? Mangelt es ihm an Machtwillen?

Es ist so schwer, sich in andere hineinzuversetzen, besonders hier, bei den Granitbeißern, wo man 'verwandte Seelen' kaum findet. Ich kann nur mutmaßen und dabei dauernd die schlimmsten Irrtümer begehen. Wahrscheinlich hat Och erkannt, daß ich der einzige Garant einer Flucht von Casabones bin. Auch, wenn ich versucht habe, ihm klarzumachen, daß Charmion genauso wichtig ist, so weiß er doch, daß ich das Prinzip des Fallschirmes mitgebracht habe, und selbst, wenn Charmion auch über Fallschirme alles notwendige wüßte, so könnte er ohne mich wahrscheinlich nicht ihr Überleben garantieren, geschweige denn die Akzeptanz von Charmion als fachliche Autorität für Tuchmacherei und Fallschirmtechnik.

Ich bin für diese Leute lebenswichtig. Das ist wahrscheinlich objektiv richtig, und Och weiß das. Für mich und für Charmion ist das natürlich keine Lebensversicherung, weil es genügend Leute gibt, die das nicht wissen. Und wie bei uns ist es hier für viele Menschen eine hinreichende Begründung für blanken Haß, wenn man in einer sozialen oder hierarchischen Stufenleiter mehr erreicht hat, völlig unabhängig davon, ob zu Recht oder zu Unrecht.

"Wir werden wahrscheinlich die Fallschirme aus einer Kombination von Stoff und Papier machen müssen," erkläre ich Och, "und dazu sind Steinmühlen nötig. Für 2000 reine Tuchfallschirme bräuchten wir viele Webstühle, von denen ich bezweifle, daß wir sie herstellen können, und das Tuch wäre auch zu luftdurchlässig."

"Papier?" Och wundert sich, aber nicht lange. Wahrscheinlich assoziiert er Papier auch mit schwach und leicht reißfähig. Aber wenn ich es sage, muß es wohl richtig sein. Eine kontroverse technische Diskussion kommt ihm nicht in den Sinn. Entweder man ist dafür oder man ist dagegen. Im Moment ist er für alles, was ich sage. So kann ich natürlich nicht einmal ein technisches Konzept diskutieren.

Ich erläutere ihm das wenige, was ich über die Papierherstellung weiß. Die ungefähre Idee, die ich ihm nahezubringen versuche, ist ein grobmaschig geflochtenes Netz, dessen Maschenlöcher in einem Flachbad mit Papierbrei gefüllt werden. Das muß dann noch abtrocknen - fertig. Hoffe ich.

Außerdem trage ich ihm auf, unter den Meuterern auch nach solchen zu suchen, die etwas von der bei den Granitbeißern bekannten Pergamentherstellung wissen.

"Das Papier muß langfaserig sein, und die Fasern müssen gut vernetzt werden! Außerdem müssen wir einen geeigneten Leim finden." sage ich. Er nickt. Ob er es verstanden hat, weiß ich nicht.

"Ich mache das schon!" sagt er.

Dann binde ich mir die Garotte ab, die ich unter dem Rock trage:

"Sieh her - so zäh und so schmal müßten die Seile sein! Davon brauchen wir viele - für jeden Schirm fast fünf mal fünf mal fünf Manneslängen!"

"Kein Problem." sagt er. Worauf er diese Zuversicht stützt weiß ich nicht. Ich stecke meine Garotte wieder ein und wir reden noch eine Weile über dies und das. So kriege ich wenigstens heraus, daß Och auch eine Idee hatte, wie man Casabones verlassen könnte. Es läuft letzten Endes auf ein fünf Kilometer langes Seil hinaus, das an einer Stelle von der Kante Casabones herunterhängen könnte. Ich gebe ihm das Eigengewicht dieses Seiles zu bedenken, und außerdem dürften viele Meuterer nicht über die körperlichen Voraussetzungen verfügen, die man braucht, um ein fünf Kilometer langes Seil herunter zu klettern. Ob ich ihn überzeuge, kann ich nicht sagen. Er verspricht jedenfalls, sich um die Steinmühlen und die Wickeltrommeln zu kümmern, und flache Schalen für die Papierzubereitung. Keine Ahnung, wo er das alles finden will.

Charmion steht die ganze Zeit in einigen Metern Entfernung. Niemand spricht mit ihr. Die Blicke, die ihr zugeworfen werden, umfassen das ganze Spektrum zwischen offenem Haß und deutlichster Geilheit. Aus den Augenwinkeln sehe ich einige der Männer, die obszöne Gesten machen. Als Och mein Mißfallen bemerkt, bietet er mir an, diese zu bestrafen.

"Aber nur Liegestütze," sage ich, "nicht kreuzigen." Wenn Och nicht einverstanden ist, dann verbirgt er es gut.

"Und Liegestütze ohne Messer. Erst, wenn sie sich keine Mühe geben, dann mit. - Du mußt wissen, Liegestütze sind gesund: Das gibt Kraft!"

So wie Och's Gesicht aufleuchtet, muß ich annehmen, daß von nun an jedem zu bestrafenden erklärt wird, wie gesund Liegestütze sind. Da hat er etwas, womit er sich rechtfertigen kann!

Es ist 19 Uhr, als wir uns wieder zum Fort aufmachen. Irgendwie kann ich selbst doch nicht viel tun. Och bringt es mit seinem Halbverständnis der Papierherstellung fertig, irgend etwas in die Wege zu leiten, und ich habe immer den Eindruck, daß es wenig Unterschied macht, ob und was ich sage.

Als wir auf dem Rückweg durch das Dorf gehen, sind die Vollstreckungskreuze leer. Oshaim ist nirgends zu sehen. Im ganzen Dorf folgen uns Blicke aus versteckten Winkeln, aber kein Stein fliegt. Trotzdem fühle ich mich erst wieder wohler, als wir das Dorf verlassen haben.

Charmion ist so taktvoll, nicht auf den Vorfall mit Ohochmoich einzugehen. Dafür bin ich ihr dankbar. Dreimal innerhalb eines Tages völlig unnötigerweise einen Menschen umgebracht. Die Vorstellung 'wenn mich jetzt ... sehen könnte' wäre mir jetzt sehr unangenehm. Die Hauptpersonen von gewissen Abenteuerromanen pflegen nicht aus Tolpatschigkeit andere Menschen zu töten. Das wird ein literarisches Novum sein, wenn ich über unsere Abenteuer schreiben sollte.

Ich überlege schon ernsthaft, ob ich nicht das Blaue vom Himmel herunterlügen sollte. Dann habe ich aber, wie immer, wenn man Halbwahrheiten oder Lügen erzählt, über kurz oder lang das Problem, die Übersicht über meine 'Korrekturen' der Wahrheit zu behalten.

Aber das ist jetzt noch lange nicht das Problem. Ich muß mich selbst auf andere Gedanken bringen.

"Wir suchen Oom auf," schlage ich vor, "sonst braucht uns im Moment doch keiner. Außerdem können wir das Steilufer begutachten, weil wir irgendwann ja eine Stelle zum Üben brauchen. Für Fallschirme reicht ein schräger Hang nämlich nicht aus, das geht nur für Hanggleiter."

"Du meinst, Paraglider?" fragt Charmion.

"Ja. Das ist dieselbe Sache. Ein anderes Wort für dieselbe Sache."

Charmion ist es einverstanden. Als wir wieder am Tor vorbeikommen, bemerke ich, daß Charmion schon wieder das Versteck ihres Schwertes mustert. Wahrscheinlich fühlt sie sich ohne Waffen restlos nackt und ausgeliefert.

Das Steilufer ist für die ersten Experimente eigentlich überall gleich gut brauchbar - die Felswand ist überall senkrecht, und an den meisten Stellen ist das Wasser auch genügend tief. Das müßte man natürlich an den Stellen, die man ernsthaft in Betracht zieht, erst noch durch Schwimmer genau untersuchen lassen. Die Stelle, wo Oom wohnt, ist zum Beispiel ungeeignet, weil das Schilf eine Untiefe direkt vor der Steilwand anzeigt.

Aber ein ernsthafteres Problem ist, daß man zwar einen Paraglider mit einem Anlauf aufblähen und entfalten kann, nicht aber einen klassischen Fallschirm. Ob ein Sprung über eine 50 Meter hohe Felswand genügend Raum läßt, um einen klassischen Fallschirm rechtzeitig und vollständig zu entfalten darf bezweifelt werden. Außerdem könnte der Fallschirm sich gerade noch in der Felswand verfangen.

Vielleicht wird es doch notwendig, mit den ersten Versuchsmodellen Anlaufexperimente zu machen, um herauszukriegen, wie ein Fallschirm beschaffen sein muß, damit er auf diese Weise entfaltet werden kann. Dann kommt man aber ganz automatisch zu einer Paraglider-ähnlichen Konstruktion.

Wir finden den Abstieg zu Oom's Wohnhöhle ohne Schwierigkeiten, aber er ist nicht da. Als ich meinen Kopf eine längere Zeit durch die Türöffnung seiner Wohnhöhle stecke, um meine Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen, finde ich nichts von Interesse. Ein paar Gegenstände des täglichen Gebrauchs, irdene Schalen und Töpfe, Stoff-Fetzen, die zu etwas zusammengelegt worden sind, was wahrscheinlich sein Lager ist.

Wenn ich mir vorgestellt habe, daß er irgendwelche 'kulturellen' Gegenstände sein eigen nennt, dann habe ich mich getäuscht. Keine Pergamentrollen, keine fremdartigen Gegenstände ohne jeden erkennbaren Zweck.

Ich betrete die Höhle nicht. Es käme mir wie ein Einbruch vor. Auch Charmion's Neugier hält sich in Grenzen. Wahrscheinlich denken wir jetzt beide daran, daß wir bei unserem ersten Abstieg hier bumsen wollten. Aber diese kleine Steinstrand gehört eigentlich auch noch zu sehr zu Oom's Privatgrund.

26.9 Von Sonne und Sternen, von Tag und von Nacht

Als wir wieder oben auf dem Steilufer sind, bemerke ich, daß es dunkler geworden ist. Das bedeutet, daß die obere Grenze der leuchtenden Wolkenschicht abgesunken ist, oder daß Luftmassen angeweht wurden, die Nebel mit sich führen, der relativ frei von Leuchtkeimen ist. Beides könnten Vorboten eines Sturmes sein. Ich wundere mich sowieso, warum die Luftschichtung in der Welthöhle so relativ stabil ist - eigentlich sollte der Wärmestrom aus dem Erdinneren zur Erdoberfläche turbulentere Erscheinungen bewirken. Als Wärmeleiter ist Luft sehr schlecht. Und unsere Geologen haben ja überall auf der Erdoberfläche einen Wärmestrom aus der Tiefe nachgewiesen. Vielleicht geht der Hauptteil des geothermen Stromes um die Welthöhle herum? Oder, andere Möglichkeit, es gibt eben ab und zu heftige meteorologische Vorgänge, die viel Wärme durch die Welthöhle schleusen. Mir fallen dabei die Druckschwankungen ein, die ich bei unserem Abstieg in die Welthöhle auf dem Höhenmesser beobachtet zu haben glaube.

Auch Charmion bemerkt die Lichtveränderung. Wir lassen uns fast einen Kilometer von Oom's Strand entfernt auf dem Felsufer nieder und lassen die Unterschenkel über die Kante baumeln. Eigentlich müßte der See hier ja bald zu Ende sein, weil er ja nicht länger sein kann als der Durchmesser der Oberfläche von Casabones.

Die Helligkeit nimmt rasch ab, besonders deutlich senkrecht über uns. Das spricht mehr für das Absinken der Wolkenobergrenze. Auch wird der Nebel durchsichtiger, was aber durch die abnehmende Helligkeit kompensiert wird, so daß die Sicht nicht besser wird.

Es ist wie immer wenig Wind zu spüren. Wenn es ein heftiges Wetter gibt, dann tobt sich das woanders aus. Aber als die Nebelschicht über uns so dünn wird, daß wir die Höhlendecke einige Kilometer über uns erkennen können, glaube ich, die Kühle der Felsen zu fühlen. Das kann gut sein, denn von dort oben kommt weniger Infrarotstrahlung zurück als von hier unten hinaufgeht.

Die Helligkeit rund um uns herum zieht sich zum Horizont ringsum zurück, fast wie bei einer Sonnenfinsternis, oder bei einem Gewitter direkt über uns, und doch wieder völlig anders. Sogar das Fort wird jetzt von hier aus sichtbar. Das Dorf liegt tiefer und hinter Bergen, in der Richtung können wir weder etwas hören noch etwas sehen.

Auf Charmion wirkt die Dunkelheit stärker als auf mich, weil ich ja die Nacht kenne. Das habe ich ja schon bei unserem Aufstieg durch den Berg Casabones vermutet. Aber die lange 'Nachtabstinenz' hat mich auch verändert. Die Felsdecke da oben wirkt drohend, obwohl sich nichts anderes geändert hat als daß sie jetzt eben sichtbar ist. Aber es ist ein Felsgebirge, das bereit ist, jeden Moment auf uns herabzustürzen. Was es nicht tun wird, denn warum gerade jetzt, wo es das doch Millionen Jahre lang nicht getan hat.

"Und in eurer Welt ist in Richtung nach dort oben nichts?" fragt Charmion. Sie erinnert sich an das, was wir auf dem Saurierfänger schon von unserer Welt erzählt haben. "Das kann ich nicht glauben. Wie kann irgendwo nichts sein? Es ist doch überall etwas! Wie sieht das überhaupt aus, das 'Nichts'?" Sie lehnt sich an mich.

"Es ist da nicht 'nichts'." versuche ich, zu erklären, "Zunächst einmal ist auf unserer Welt Luft, genau wie hier. Wenn du die Hand schnell bewegst, dann spürst du sie. Und unsere Fallschirme funktionieren ja auch nur mit Luft."

Ich fuchtele mit den Händen in der Luft herum, um es deutlich zu machen. Vielleicht gelingt es mir, vielleicht auch nicht.

"Je höher man kommt, desto dünner wird die Luft. Sie geht ganz allmählich in das Nichts über. Auf unseren höchsten Bergen kann man schon nicht mehr atmen, noch etwas höher würde das Blut anfangen zu sieden, obwohl es sehr kalt ist. Kein Mensch kann dort ohne Hilfsmittel leben. Aber es geht immer weiter nach oben. Und nachts, wenn es dunkel ist, viel dunkler als jetzt hier, dann sieht man die Sterne."

"Sterne?" fragt Charmion.

Ich versuche, zu erklären, was Sterne sind. Sowie ich aber die übliche Beschreibungen von gigantischen, grellen und überheißen Feuerkugeln bringe, versteht Charmion wieder nicht mehr, warum diese Sterne dann nur als schwache Lichtpünktchen sichtbar sein sollen, und warum sie nicht herunterfallen. Dann bin ich gezwungen, das Konzept riesiger Entfernungen einzuführen, die sie sich natürlich nicht vorstellen kann. Und als ich versuche, etwas über das Wesen und die Wirkung der Gravitation zu erklären, gibt sie endgültig auf.

"Das ist doch Unsinn," sagt sie, "wenn das so wäre, dann würden wir beide uns ja auch anziehen!"

"Das tun wir auch," sage ich, "aber die Kraft ist unmeßbar schwach. Schwächer als der Tritt eines kleinen Tiers oder eines Insektes. Aber so ein großer Körper wie ein Stern oder ein Planet, der kann dich natürlich deutlich fester anziehen."

Ich versuche, ihr deutlich zu machen, daß sie und der Erdball unter ihr sich gegenseitig anziehen und daß das Ergebnis ihr Körpergewicht ist. Aber schon das Konzept des Erdballes unter ihr macht ihr wieder Schwierigkeiten. Wie soll man das auch von jemandem, der zeitlebens in dieser Welthöhle gelebt hat, anders erwarten?

Ich habe im Laufe meines Lebens so einen Riecher dafür bekommen, wenn jemand meinen oder irgendwelchen anderen Erklärungen nicht mehr folgen kann. Bei Charmion ist es schon lange soweit. Wie soll sie in wenigen Minuten Konzepte verarbeiten, mit denen ich selbst von Kindesbeinen an konfrontiert wurde? Wer weiß, wenn nicht schon mein Vater mir das Planetensystem erklärt hätte, lange bevor ich zur Schule ging, vielleicht würde ich heute noch nicht wirklich glauben, daß die Erde eine richtige Kugel ist? Es ist jedenfalls nicht Intelligenz, die ihr fehlt. Sie ist eben aus einer anderen Welt. Oder ich bin es, zu sehr jedenfalls, um die Verhältnisse richtig darzustellen.

"Jedenfalls sieht es sehr schön aus, unser Sternenhimmel. In klaren Nächten sieht man tausende, und mit speziellen Instrumenten kann man nachweisen, daß es noch viel mehr sind."

"Und wir ziehen uns nur ein ganz klein wenig an?" fragt Charmion und bringt damit das Gespräch wieder auf das Naheliegende.

"Durch Gravitation, ja," sage ich, "aber es gibt noch andere Methoden, sich anzuziehen. Vorher muß man sich aber noch ein bißchen ausziehen!"

Ich habe schon begriffen, worauf sie hinauswill. Und warum auch nicht? Wozu sind denn solche romantischen Plätze sonst gut?

Die Absenkung der leuchtenden Wolkendecke hält einige Stunden an. Wir nutzen die Zeit gut. Ich weiß wohl, daß diese Zeit nicht wiederkommt. Deshalb muß man sie festhalten, solange man sie hat. Die Zeit und Charmion. Warum, denke ich mir, geht es mir so gut, am Abend eines Tages, an dem ich drei unnütze Morde vollbrachte? Und warum ist es der jungen Frau bei mir so völlig egal, wer heute getötet wurde und wer nicht, solange wir nicht selbst die Opfer waren?

Mitternacht ist schon vorbei, als wieder Nebelschleier vorbeiziehen, die Sicht einengen und dann schon bald das trübe Licht zurückbringen. Als wir eine Stunde später Hand in Hand zum Fort zurückgehen, erschöpft und glücklich, deutet nichts mehr darauf hin, daß einige Stunden lang eine ungewohnte Finsternis über der Landschaft gelegen hat.

Und nichts deutet darauf hin, daß diese Finsternis die periphere Auswirkung eines wälderzerbrechenden, weit entfernten Sturmes gewesen sein könnte. Wovon ich fast überzeugt bin.

Ich sollte nicht zu neugierig auf wirkliche Stürme in der Welt der Granitbeißer sein, denke ich mir. Schlimme Prüfungen kommen noch früh genug. Auch, wenn wir von Casabones herunterkommen sollten, sind die Probleme nicht zu Ende. Noch lange nicht.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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