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******** 025. Tag: Dienstag 95-09-12 ********
25.1 Charmion und die Früchte des Waldes
Auch der Morgen beginnt mit Liebe. Als wir merken, daß nach unserem Aufwachen um 5 Uhr das Fort immer noch ruhig ist, eigentlich ungewöhnlich ruhig, nehmen wir die Gelegenheit gleich wahr. So kommt es, daß wir erst um kurz vor 7 Uhr durch die Gänge des Forts gehen, um rauszukriegen, was heute gemacht werden soll.
Nur wenige Männer sind anwesend. Wir erfahren, daß Ougom mit dem größten Teil der Besatzung im Dorf ist, um die Herstellung des Fallschirmtuches zu organisieren. Wir erfahren auch, daß er explizit erwähnt hat, daß er uns dazu nicht braucht.
"Wahrscheinlich wird er jetzt seine Vorstellungen von Motivierung verwirklichen, und wahrscheinlich ist er mit seinen Vorstellungen gar nicht soweit von deinen Vorstellungen entfernt!" sage ich zu Charmion, als wir die Speisekammer nach etwas Eßbarem durchstöbern. Im Moment sind wir hier allein - sowenig Leute sind im Fort. Ich versuche, die Leichen zu ignorieren, während ich nach etwas anderem zu Essen suche, aber Charmion stellt fest, daß sich offenbar niemand besondere Mühe mit der Haltbarmachung der Leichen gegeben hat.
"Die werden alle schlecht werden!" sagt sie und deutet auf einen Schrank, der Salzsteine enthält, "Man muß doch sofort das Salz in die Kadaver einlegen. Hier, sieh mal! Überhaupt nicht aufgeschnitten!"
Mir reicht es. Ich verlasse die Speisekammer und die Küche fluchtartig. Charmion kommt hinter mir her. "Okay, wir suchen etwas anderes!" sagt sie.
Wir können das Fort ohne Probleme verlassen. Die meisten haben uns schon gesehen, und solange Charmion nicht bewaffnet herumläuft wird sie toleriert. Wahrscheinlich, weil der Käptn es so befohlen hat.
Wir folgen dem Steilufer des Sees soweit, bis der Nebel das Fort verschluckt hat. Charmion zeigt mir, was an pflanzlichen Dingen nahrhaft ist. Sie sagt, man kann sich im Urwald ohne weiteres für beliebig lange Zeit vegetarisch ernähren, wenn man alle eßbaren Pflanzen kennt und wenn man weiß, wie man die Eßbarkeit unbekannter Pflanzen gefahrlos ausprobieren kann. Für ihre Begriffe schmeckt Fleisch oder Fisch zwar besser, aber das ist ohne Waffen schwerer zu bekommen.
Sie zeigt mir auch gefährliche Pflanzen. Da ist zum Beispiel diese pflaumengroße, rote Beere, mit der ich schon ganz zu Anfang eine so unangenehme Bekanntschaft gemacht hatte. Sie sei nicht direkt giftig, so wie manche andere Pflanzen, sagt Charmion, aber wenn man diesen ätzenden Beerensaft lange genug einwirken läßt, kann man damit tiefe, schwer heilende Wunden erzeugen. Ein bekannter Trick ist es, Pfeilspitzen mit diesem Saft zu tränken. Damit wird sogar ein bloßer Kratzer in der Haut zu einem Problem.
Andererseits muß ich wissen, daß dieser ätzende Beerensaft auch die letzte Rettung sein kann, wenn man mit bestimmten, sehr giftigen anderen Pflanzen in Berührung gekommen ist, oder wenn man von einer giftigen Schlange gebissen worden ist. Dieser Beerensaft kompensiert manche Gifte, und er dringt sehr rasch in das Gewebe ein, eben weil er das Gewebe so nachhaltig zerstört. In solchen Vergiftungsfällen ist die Ätzwunde eventuell das kleinere Übel.
Dann finden wir einen anderen, unscheinbaren, schachtelhalmartigen Strauch, den Charmion als Heilkraut vorstellt. Es gäbe manche Fieber, die durch ihn gesenkt werden könne, andere Fieberarten bleiben aber unbeeinflußt. Er bewirke heftigen Durchfall, und ein Matsch, der aus diesem Strauch und Wasser und Erde hergestellt werden kann, tut entzündeten Wunden gut. Man soll diesen Strauch nicht zum Spaß und nicht auf Verdacht essen, wegen des Durchfalles, sagt sie. Ob dieser Strauch auf natürliche Weise ein Antibiotikum erzeugt, denke ich mir? Gibt es sowas? Ich kenne mich nicht einmal in der oberirdischen Botanik gut genug aus, um so etwas zu wissen, oder um zu wissen, ob so etwas biochemisch überhaupt möglich ist. Und wieder wenden wir uns einer anderen Pflanze zu, jeder einzelnen Art nur sehr wenig Zeit widmend. Aus dem, was ich gezeigt bekomme, könnte ein Biologe ein ganzes Lebenswerk an Klassifikation und Beschreibung machen.
Plötzlich sagt Charmion leise: "Dreh dich nicht um. Jemand folgt uns!" Sofort habe ich wieder das Fadenkreuz-im-Nacken Gefühl.
25.2 Charmion's Wurf
"Dann wäre jetzt ein Messer recht!" sage ich, ebenso leise.
"Brauche ich nicht."
Wir sind auf einer kleinen Lichtung, vielleicht 150 Meter vom Steilufer entfernt. Das Dickicht ist so undurchdringlich, daß sich eigentlich überall jemand verbergen kann. Charmion hat mir keinen Hinweis gegeben, in welcher Richtung sie unseren Verfolger weiß oder vermutet. Statt dessen fährt sie fort, mir botanische Erläuterungen zu geben, denen ich jetzt aber kaum noch folgen kann.
Wieso folgt uns überhaupt jemand? Ist jemand aus dem Fort der Meinung, daß wir bei unserem Treiben unter Beobachtung bleiben sollten? Oder sinnt jemand auf unsere Beseitigung?
"Diese Wurzel wird, besonders bei dem Volk der Jaklinjefjek, sehr gerne in zerfaserter Form als Verbandunterlage gebraucht" erklärt Charmion, während sie ein kleines Bäumchen dicht über der Erde abdreht. Es splittert. Sie spricht eigentlich lauter als notwendig. Möchte sie, daß unserer Verfolger uns hört?
"Wenn man sie sehr fein zerkleinert, dann stillt sie Blutungen. Siehst du hier?" Ich sehe nichts. Sie hat das Bäumchen nicht zerkleinert, sondern von den meisten Ästen befreit. Es ist ein Stock mit scharfem Ende übrig geblieben. Ich ahne, was sie vorhat.
"Manchmal," fährt Charmion fort, "kann man damit auch medizinisch notwendige Schnitte machen, ohne die Wunde mehr als notwendig zu verunreinigen. So!"
Und mit einer raschen Bewegung schleudert sie das, was von dem Bäumchen übrig geblieben ist, in eine ganz unerwartete Richtung. Das Geschoß verschwindet zwischen den Büschen. Ein ganz undramatisches Ächzen kommt von dort. Wir eilen hin.
Es ist einer aus dem Fort. Ich habe ihn schon gesehen, aber mehr weiß ich nicht über ihn. Ein Mann von vielleicht 32 Jahren, der verschlagen aussieht. Oder besser, verschlagen aussah. Niemand, dem ein Holzpflock den Kehlkopf quer zerteilt hat, sieht verschlagen aus. Er röchelt und ist noch bei Bewußtsein, aber natürlich kann er nicht mehr sprechen. Er wird in wenigen Sekunden bewußtlos und in einigen Minuten tot sein. Er krümmt sich krampfhaft und wirft sich hin und her, weil er nicht mehr atmen kann.
"Schade, daß man ihn nicht mehr befragen kann!" sage ich.
"Wäre dir das lieber gewesen?" fragt Charmion und hebt eine Schnurschlinge mit zwei verschieden langen Griffen an jedem Ende auf. Eine Garotte!
"Der wollte nicht jagen gehen. Der wollte uns." stellt sie fest, "Oder wenigstens einen von uns."
"Aber warum?"
"Warum denn, warum ist der Schwanz so krumm." Es hört sich in Xonchen noch etwas obszöner an als in Deutsch. Vielleicht hat sie recht. Irgendjemand unter diesen Meuterern wird uns immer Übles wollen. Vielleicht war dies ein Einzelkämpfer, der sich irgend etwas davon versprochen hat. - Vielleicht wollte er Charmion, und die Garotte brauchte er, um mich vorher und sie danach zu beseitigen. Das hätte er sich vorher überlegen können, daß er gegen Charmion wenig Chancen hat.
"Ob der allein war?"
"Weiß ich nicht," sagt Charmion, "auf jeden Fall muß er verschwinden. Und das nehmen wir mit. Hier!" Damit gibt sie mir die Garotte in die Hand.
"Diese Art von Schnur bräuchten wir für die Fallschirme!" stelle ich fest, "Sehr reißfest! Man kann damit ..." Entsetzt sehe ich, was Charmion mit dem Mann macht, obwohl er noch immer nicht ganz tot ist.
Sie zerreißt ihn ohne Werkzeug, mit bloßen Körperkräften!
Wie jeder Mediziner weiß, sind viele Gewebe des Menschen erstaunlich fest. Eine gesunde Achillessehne kann wohl niemand mit bloßen Körperkräften zerreißen, und viele andere Stellen sind mechanisch ähnlich zäh. Aber Charmion hat sehr große Körperkräfte, und ihre Kenntnisse in Anatomie sind profund - wie man es bei Menschenfressern ja eigentlich auch erwarten sollte. Sie weiß ganz genau, was sie zerreißen und zerbrechen kann und was nicht.
"Man soll ihn nicht finden!" erkärt sie, etwas außer Atem. Sie bemerkt meine verstörten Blicke wohl, wahrscheinlich macht es ihr deshalb noch einmal soviel Spaß.
Den Schädel zum Beispiel bricht sie wie eine Walnuß mit dem Druck ihrer Schenkel. Dann kann ein Handkantenschlag in die Fontanelle den Griff in den Kopf hinein ermöglichen, der dann auseinander gebrochen wird. Im selben Arbeitsgang beginnt sie, das ausfließende Gehirn mit Erde zu vermischen. Das Gleiche geschieht mit den zerbrochenen Resten des Schädels. Kleine, blaße Steinchen, das ist alles, was übrig bleiben wird.
Gesichtsschädel, Rückgrat und die größten Knochen brauchen etwas mehr Aufwand. Aber es ist überall das gleiche: Die zerkleinerten Teile des Körpers werden so mit Erde und Steinen vermischt, daß es im Nachherein nicht mehr möglich ist, festzustellen, daß hier eine menschliche Leiche verschwunden ist. Zurück bleibt eine zerwühlte Stelle im Waldboden. Und ein Herwig, dem schon wieder schlecht ist.
"So, erledigt." Sie steht auf. In der Hand hält sie die Kleidungsstücke des Getöteten: "Das werfen wir unterwegs stückchenweise weg. Wir gehen am besten da rüber!" Und wir gehen weiter, als ob nichts geschehen wäre.
Irene, denke ich, hoffentlich bleibst du in dieser Welt am Leben! Ich muß sogar hoffen, daß sie ähnlich starke Freunde gefunden hat wie ich. Alleine hätte ich die Situation eben ja auch nicht bewältigt. Der Mann wäre mit seiner Garotte schneller gewesen.
"Sollten wir die nicht auch wegwerfen?" frage ich.
"Nein, wo denkst du hin? Das ist ein äußerst praktischer Gegenstand! Du kannst ihn unter dem Rock verstecken!" Und sie zeigt mir, wie.
Als sie an mir rumfummelt, um die Garotte unter meinem Rock zu verbergen, merke ich deutlich, daß sie schon wieder erregt ist. Das muß wohl mit der Tötung eben zusammenhängen.
"Ich kann jetzt nicht!" versuche ich, vorzubauen.
"Kommt schon noch!" meint sie und grinst infam. Dann aber gehen wir weiter, jetzt wieder zum Steilufer des Sees.
"Was Ougom jetzt wohl vorhat?" überlege ich laut, um mich abzulenken. Charmion antwortet nicht darauf.
"Diese Leute - die nehmen doch nie etwas selbst in die Hand!"
"Sind halt Männer." stellt Charmion fest.
"Es sind Gefangene!"
"Ja und?"
"Nichts und! Es sind Gefangene! Manche sind schon seit Jahrzehnten nicht mehr daran gewöhnt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen! Das hat mit ihrer Geschlechtszugehörigkeit überhaupt nichts zu tun!"
"Beruhig dich doch!"
"Ich bin ganz ruhig!" fahre ich fort, "Ich will nur mal drauf hinweisen! Was meinst du, wie du dich ändern würdest, wenn du schon so lange hier festgehalten worden wärst!"
"Würde ich nicht mit mir machen lassen!" erwidert Charmion, "Ich würde kämpfen!"
"Ja, genau! Ist ja mein Reden! Diese Leute sind auch deshalb hier, weil man mit ihnen inzwischen nichts anderes mehr anfangen kann als sie hier zu lassen! Was meinst du, wieviel Aufwand es bräuchte, die wieder an ein Leben in Freiheit zu gewöhnen - sofern man den Zustand 'Freiheit' nennen möchte, in dem Männer bei euch leben."
Charmion hält es nicht für nötig, darauf einzugehen. Ich habe den Eindruck, daß meine Argumentation sie ärgert.
"Nebenbei, was macht man eigentlich bei euch mit einer Frau, die sich falsch verhält?"
"Hast du doch gesehen: Degradierung. Hinrichten. Es gibt viele Möglichkeiten."
"Das waren nur zwei."
"Naja, letzten Endes läuft jede Art von Bestrafung darauf hinaus. Absteigen in der sozialen Stellung, oder Hinrichtung, wenn es denn gar nicht anders geht."
"Aber kein Gefängnis!" stelle ich fest.
"Nein, natürlich nicht!"
"Siehste! Woher willst du denn wissen, wie eine Frau nach langem Aufenthalt in so einem Gefangenenlager wie diesem werden würde?"
Durch Argumente eingekesselt geruht Charmion hoheitsvoll zu schweigen. Sie sieht wirklich verärgert aus. Nachdem wir so einige Zeit weiter am Ufer entlanggegangen sind, versuche ich wieder, Versöhnung zu sähen. Schließlich weiß man als geplagter Ehemann ja, wie man eine eingeschnappte Frau seelisch wieder aufbaut.
25.3 Oom
"Da ist ein Weg am Felsen hinunter." stelle ich fest.
Nichts.
"Wollen wir mal nachsehen?"
"Dann geh doch!"
"Tu ich auch! Vielleicht finden sich da kleine Mädchen im Uferschilf!"
"Hier gibt es kein Uferschilf."
"Und was ist das da unten?"
Wieder habe ich mich ins Unrecht gesetzt, weil ich recht habe. Charmion sieht woanders hin. Über den See, als ob dort, im undurchdringlichen Nebel etwas entsetzlich interessantes wäre.
"Kommst du mit runter?"
Keine Antwort.
"Also gut. Es ist kein Uferschilf. Es sind Saurier-Erpel. Aber sie haben alle die Form von Schilf und sie bewegen sich im Moment nicht. Sogenannte Schilf-Saurier!"
Keine Antwort.
"Das kleine Mädchen muß ich natürlich noch suchen."
Keine Antwort.
"Ich habe ein besonderes Talent dazu."
Immer noch keine Antwort. Ich fange an, den schmalen Saumpfad über das Steilufer abzusteigen. Als ich ein paar Meter tiefer bin, höre ich knirschende Tritte hinter mir. Ich drehe mich um.
"ICH bin dein kleines Mädchen!" stellt Charmion fest.
"Jaja."
"Nichts jaja. Ich bin dein kleines Mädchen. Sag, daß ich dein kleines Mädchen bin!"
"Du bist mein kleines Mädchen!"
Und wieder hängt sie wie eine Christbaumkugel an mir. Daß sie immer auf ausgesetzten Wegen damit anfängt! Das hat Irene nie getan. Ich meine, auf ausgesetzten Wegstellen.
"Und jetzt möchte dein kleines Mädchen einen großen ..."
"Wollen wir nicht vielleicht erst da runter gehen? Da ist vielleicht ein besserer Platz!" wehre ich ab. Erotik und Akrobatik soll man nicht allzusehr verflechten.
Flink steigen wir weiter ab. Der Weg ist künstlich, wahrscheinlich vor langer Zeit angelegt worden. Von oben, vom Rand des Steilufers, war er sehr schwer zu erkennen gewesen, aber jetzt ist es kein Problem, ihm zu folgen. Überall, wo es zu schwierig wird, ist mit wenigen Schlägen in den Fels eine allernötigste zusätzliche Stufe gehauen worden.
Unten ist tatsächlich Schilf und ein nur ein bis zwei Meter breites Geröllufer. Gerade will ich etwas über das Schilf sagen, da stolpern wir um eine Ecke des Steilufers, und plötzlich haben wir eine gemauerte Wand vor uns.
"Da schau her!" sage ich, "hier hat mal jemand gewohnt!"
"Hier wohnt noch jemand." stellt Charmion fest.
"Woran siehst du das?" Ich sehe nämlich nichts. Es handelt sich offenbar um eine natürliche Höhle im Fels des Steilufers, die durch eine Mauer zum Wasser hin abgetrennt wurde. Es gibt eine niedrige Türöffnung, sonst nichts. Die Mauer ist nicht verputzt noch sonst auf irgendeine Weise auf Dichtigkeit bearbeitet. Deshalb würde ich nicht vermuten, daß sich da jemand länger als nötig aufhalten sollte oder gar dort wohnt.
"Da steht jemand hinter der Tür." meint Charmion seelenruhig. Ich kann in dem dunklen Loch nichts erkennen.
"Hat er eine Waffe?" frage ich leise.
"Nein. Er ist alt." Und in befehlsgewohntem Ton ruft sie laut: "Komm heraus!"
Tatsächlich verläßt ein gebeugter Mann das dunkle Türloch. Er ist grauhaarig und bärtig und in schäbigsten Lumpen gekleidet. Er sieht in der Tat zunächst alt aus, aber das ist wohl eine Folge eines Lebens, das vielleicht von langen Entbehrungen gekennzeichnet ist, oder von asketischer Lebensweise. Er könnte sogar etwas jünger als ich sein. Ich fühle mich an einen Propheten in der Wüste erinnert.
Er stolpert auf uns zu. Ich habe den Eindruck, daß er entweder verwachsen ist oder an den Folgen einer lange zurückliegenden schweren Verletzung seines Bewegungsapparates leidet.
"Friede und der Wind des Herrn sei mit euch!" sagt er in schlecht verständlichem Xonchen, macht aber gleichzeitig den Eindruck, als habe er Angst, geschlagen zu werden. Den Ausdruck habe ich bei den Granitbeißern schon oft gesehen - immer im Gesicht eines Mannes.
Allerdings ist das nicht der einzige Ausdruck, den ich im Gesicht dieses Mannes zu lesen glaube. Aber ich weiß nicht, was ich da noch hineininterpretieren sollte.
"Hab keine Angst!" sage ich.
"Wieso soll er keine Angst haben?" faucht Charmion mich an.
"Wieso soll er? Glaubst du, von dem geht eine Gefahr aus?"
Wieder reagiert Charmion unlogisch. Wenn wir etwas von dem Mann erfahren wollen, dann ist es besser, wenn er keine Angst vor uns hat. Und es bringt uns keinen anderen Vorteil, wenn er doch Angst haben sollte. Abgesehen davon, daß wir wahrscheinlich nur sehr wenig Einfluß darauf haben, ob er Angst hat oder nicht. Sieht Charmion das nicht?
Oder ist gar ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigt, vielleicht bedingt durch die momentane generelle Situation, daß Frauen auf Casabones jetzt nichts mehr zu melden haben? Oder ist sie sauer, weil unsere eigentliche Absicht beim Absteigen auf dieses Uferstück eine andere war?
"Du würdest eine Gefahr doch nicht bemerken! Weißt du, ob er allein ist? Zum Beispiel? Hast du das nachgeprüft?"
"Bist du allein?" frage ich den Alten, um das gleich zu klären.
"Der Herr ist bei mir."
"Welcher Herr?" fragt Charmion, "Er soll rauskommen!"
"Laß ihn doch mal! Ich glaube, er meint das anders!" Mit ein paar Sprüngen bin ich an der Türöffnung und stecke meinen Kopf rein. Das ist zwar bodenlos leichtsinnig, wenn ich wirklich damit rechnen müßte, daß da tatsächlich noch jemand sein sollte. Aber ich bin sicher, daß das nicht der Fall ist. Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben, sehe ich, daß ich recht habe.
Ich gehe zu den beiden zurück.
"Nun?"
"Nichts. Niemand."
"Das kann ich mir denken. Wenn da doch jemand gewesen wäre, hätte der dir den Kopf abschlagen können, als du ihn durch das Loch da stecktest."
"Du hättest es sicher verhindert!"
"Auf jeden Fall hätte ich ihn hier einen Kopf kürzer gemacht!"
"Womit?"
Das ist eine fruchtlose Diskussion, die der Alte mit anhören muß. Und die Charmion wieder weiter verärgert.
"Ihr seid hier sicher!" versucht er, mir zu erklären.
"Das sage ich doch die ganze Zeit! Charmion, das ist ein - wie sagt man bei euch - Einsiedel? Der ist harmlos! Der hat sich abgesondert und lebt allein!"
Ich weiß nicht, ob ich mit 'Einsiedel' das richtige Xonchen-Wort getroffen habe.
"Du meinst, der spinnt?" fragt Charmion. Sieht so aus, als ob ihr der Begriff des Einsiedels aus freien Stücken völlig fremd ist.
"Fragen wir ihn doch erstmal selbst!"
Wir beide sehen den Alten an, der immer noch dabei ist, unsere Kampfrhetorik zu verdauen.
"Ich bin Oom!" sagt er. Dann sagt er eine ganze Zeitlang nichts.
"Aha." sage ich. Und nach einer Weile: "Das erklärt natürlich alles!"
"Was?" fragt Charmion.
"Er ist Oom!"
"Und was bedeutet das?"
"Das bedeutet, daß wir noch mehr erfahren werden, wenn wir ihm noch länger zuhören! Wenn wir bis morgen warten, erfahren wir vielleicht sogar, ob er einen zweiten Namen hat. Das heißt, wenn er nicht vorher umfällt!"
Ich weiß, daß ich unhöflich bin. Der Alte kann nichts dafür, daß er im Erklären langsam ist. Aber etwas mehr möchte ich schon wissen. Oom steht nur vor uns und lächelt uns schwach und hilflos an.
"Was tust du hier?" frage ich. So ungefähr kenne ich die Antwort schon.
"Ich lebe hier allein. Niemand weiß, daß ich hier bin. Niemand. Ihr seid die ersten ..."
"Wieso? Kann man deine Hütte nicht von See aus sehen?"
"Da ist niemand auf dem See! Niemals."
Ich frage Charmion: "Hältst du es für möglich, daß die Fortbesatzung sich so wenig um diesen See gekümmert hat, daß hier jemand so lange unbemerkt leben konnte?"
"Was weiß ich? Ich weiß vom Dienstbetrieb der alten Fortbesatzung genausowenig wie du! - Hast du denn am Fort ein Boot gesehen?"
Ich denke nach. "Ich glaube, nein." Und wieder zu Oom: "Wir haben dich unterbrochen. Entschuldige. Du lebst also hier? Seit wie lange?"
"Oh, so lange schon. Verzeiht, Meister. Ich kann es nicht ausrechnen. Mein Verstand reicht nicht aus."
"Und von was lebst du?"
"Was der Herr mir zukommen läßt. Fische, Beeren, Kräuter. Oft bin ich oben im Wald. Aber wenn sie kommen, verberge ich mich."
"Wenn wer kommt?"
"Die Frauen von der Burg."
"Aha. Weißt du noch, wie du hierher gekommen bist? Was war vorher?"
Der Alte überlegt, sichtlich angestrengt. Dann: "Ich kann mich nicht mehr erinnern. Der Herr sagte, daß ich mich hier niederlassen sollte. Und so ging ich von den anderen weg."
"Von den anderen Gefangenen?"
"Ich glaube, ja."
"Von welchem Herrn redest du denn?"
"Er spricht zu mir."
"Wann?"
"Oft."
"Auch jetzt?"
"Er ist da."
"Was sagt er?"
Der Mann überlegt länger. "Er führt mich." sagt er schließlich.
"Er sagt dir, was du tun sollst?"
"Ja, ungefähr. Er sagt mir, wie ich leben soll, und ich handele danach."
"Und wie sollst du leben? Ich meine, kannst du das ungefähr beschreiben?"
Er hat offenbar viel Schwierigkeiten mit der Sprache. Kein Wunder, wenn er jahrzehntelang mit niemandem geredet haben sollte.
"Er lehrt mich, alles Leben zu achten."
"Hmh. Kannst du ihn sehen, diesen deinen Herrn?"
"Nein. Nur hören. Er spricht zu mir, wenn er bei mir ist."
"Ich verstehe."
"Ich nicht," sagt Charmion, "spinnt der nun oder nicht?"
"Schwer zu sagen. In unserer Welt würden die Ärzte sagen, daß er wahrscheinlich eine Frontallappenläsion hat."
"Eine was?"
"Das ist eine spezielle Verletzung im Kopf, die man von außen nicht sieht."
"Also ist er verrückt!"
"Nein," sage ich, "kein Wesen, das es erfolgreich fertigbringt, Jahrzehnte lang am Leben zu bleiben, und das in eurer Welt, die einem das Überleben ja wirklich nicht leichtmacht, ist wirklich und vollständig verrückt. Er hört Stimmen, die nicht wirklich da sind. Es ist in seinem Kopf. Diese Stimmen, oder vielleicht ist es nur eine Stimme, sagen sogar sinnvolle Dinge. Viele nennen das verrückt. Aber es ist nur eine andere Art zu denken. - Außerdem, wenn er behauptet, daß er Stimmen hört, die nicht wirklich da sind, dann heißt das noch lange nicht, daß er sie tatsächlich hört. Vielleicht versucht er nur, auf diese Art seine - Eingebungen - zu erklären."
Oom läßt nicht erkennen, ob er sich durch meine Ausführungen beleidigt oder verwirrt fühlt. Auch nimmt er zu meinen Vermutungen keine Stellung.
"Vielleicht ist er sogar glücklich." vermute ich.
"Bist du glücklich, Oom?" fragt Charmion in erfrischender Deutlichkeit, sich nach vorne beugend, wie eine Kindergartenschwester, die mit einem Kind spricht.
Oom reagiert nicht darauf. Er sieht mich an. Lange. Plötzlich habe ich eine üble Vorahnung.
"Der Herr verzeiht vieles. Deine Frau aber braucht dich. Bleib bei ihr, Herwig!"
Dann dreht Oom sich um und stolpert in seine Hütte zurück.
"Jetzt hast du es gehört!" sagt Charmion, "Ich brauche dich, und du bleibst bei mir! Komm wieder da rauf. Der da ist doch harmlos!"
Da bin ich nicht so sicher. Noch eine ganze Weile sehe ich in die dunkle Türöffnung, aber ich kann nicht erkennen, ob der Alte uns von innen beobachtet.
Wir brauchen nur zwei Minuten, um den schmalen Weg auf das Steilufer hinauf wieder zu ersteigen.
"Eigentlich wollten wir ja etwas anderes da unten tun!" meint Charmion, als wir oben sind.
"Charmion," sage ich, deutlicher als gewöhnlich, "kannst du dich erinnern, daß du oder ich in der letzten Zeit meinen Namen ausgesprochen haben?"
"Ich weiß nicht. Wieso fragst du?"
"Weil der Alte da unten mich mit meinem Namen angeredet hat. 'Herwig', du hast es doch gehört, oder? Ich bin sicher, daß mein Name in der ganzen Zeit, in der wir dort unten waren, und auch schon einige Zeit vorher nicht gefallen ist. Deinen Namen habe ich ausgesprochen. Aber keiner von uns hat meinen Namen erwähnt."
Charmion sieht mich eine Weile an.
"Jetzt spinnst du auch." stellt sie fest.
"Hast du eine Erklärung? Oder erinnerst du dich, daß mein Name zwischen uns gefallen ist? Ich nicht!"
"Ja, das ist doch ganz einfach zu erklären! Du hast es doch selbst gesagt! Er hat etwas im Kopf! Er ist verrückt! Da kann er doch alles mögliche sagen! Warum also nicht auch deinen Namen! Und vielleicht, was wissen wir denn, vielleicht ist er nicht so einsam, wie er behauptet hat. Vielleicht hat ihm jemand von uns erzählt."
Ich überlege. "Vielleicht hast du recht."
"Und er hat gesagt: 'Deine Frau aber braucht dich. Bleib bei ihr!' genau das hat er gesagt." Charmion strahlt mich an.
"Brauchst du mich wirklich?" frage ich sie, "Du bist von dieser Welt. Du gehörst zu den Starken. Du kannst ohne mich überleben. Ich glaube, er meint die Irene. Die Frau, mit der ich runtergekommen bin. Da paßt die Aussage besser. Aber wie kann er von ihr wissen? Die Irene hatten wir überhaupt nicht erwähnt!"
Charmion sieht mich an, als hätte ich ihr die Butter vom Brot gestohlen, oder wie man so sagt. Zu spät merke ich, daß man nicht alle Überlegungen zu jeder Zeit und an jedem Ort so deutlich vor Charmion aussprechen sollte.
"Dann geh doch zu ihr zurück, wenn sie dich so dringend braucht! Ich gehe jetzt ins Fort zurück." sagt es und dreht sich um. Im Laufschritt verschwindet sie schnell im Nebel.
25.4 Charmion's Streit
"Bleib doch, Charmion! So habe ich das nicht gemeint!"
Zwecklos. Dieser Streit wird länger dauern.
Es ist kurz nach 12 Uhr. Vielleicht sollte ich auch in das Fort zurück. Mal sehen, was sich da tut. Und Charmion trösten.
Ich begreife, daß ich zwei Frauen habe. Das ist nicht wegzudiskutieren. 'Deine Frau aber braucht dich. Bleib bei ihr ...' hat der alte Oom gesagt.
Wie kommt überhaupt so ein Prophet dazu, sich in so banale Familienangelegenheiten einzumischen? Gibt es denn nichts Wichtigeres, was 'sein Herr' ihm flüstern kann?
Und wie kommt er zu meinem Namen?
Auf dem Rückweg zum Fort - das Laufen erspare ich mir, weil Charmion sich auch ganz gut ohne meine Anwesenheit wieder abregen kann, und es schont meine Nerven, wenn sie das möglichst vollständig in meiner Abwesenheit tut - denke ich viele Aspekte dieses Rätsels durch.
Immer, wenn jemand etwas weiß, was er eigentlich nicht wissen kann, dann fallen einem sofort Spekulationen über Telepathie und außersinnliche Wahrnehmung und metaphysische Phänomene ein. Besonders, wenn dann noch die äußeren Umstände dazu angetan sind, Assoziationen an Druiden und Propheten und Medien zu wecken. Das geht mir so, und es ist letzten Endes auch etwas romatisch, abgesehen davon, daß es eigentlich alles andere als romantisch wäre, wenn die Natur sich nicht an ihre eigenen Spielregeln hält.
Aber den Glauben an die bloße Möglichkeit von Telepathie habe ich schon vor langer Zeit verloren. Nicht wegen der nicht feststellbaren physikalischen Übertragungsmöglichkeiten von Gedanken aus einem Gehirn in ein anderes. Das ist sowieso klar und auch oft genug untersucht worden. Nein, auch die bloße Idee, daß Gedankeninhalte ohne einen beiden beteiligten Individuen gemeinsam bekannten Informationszwischenträger von einem Kopf in einen anderen gelangen könnten, ist zu verwerfen, weil man sonst annehmen müßte, daß die innere Gedankenwelt in einem Kopf von der inneren Gedankenwelt des anderen Kopfes erkannt werden könnte. Das ist aber nicht der Fall. Es ist sogar völlig unmöglich:
Jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens eine innere Repräsentation der äußeren Welt mit allen ihren ihm bekannten Aspekten. Die Neuroinformatiker reden von solchen Dingen wie 'evolutionär entwickelten attributierten und sequentiell focal aktivierten Semantischen Netzen', wenn sie von Bewußtsein sprechen, aber das ist eine Sprechweise, die man sich gar nicht unbedingt zu eigen machen muß, um die wesentlichsten Eigenschaften des Bewußtseins zu verstehen.
Die innere Repräsentation der äußeren Welt, die das Bewußtsein eines jeden Menschen bildet, hängt nämlich von den biographischen Zufällen eines jeden Menschen ab. Keine zwei Menschen wachsen auf dieselbe Weise auf, haben in genau derselben Reihenfolge dieselben Sinneswahrnehmungen und dieselben begleitenden intellektuellen Vorgänge. Keine zwei Menschen haben dieselben genetischen Voraussetzungen, denselben Körper und dieselben Funktionseinzelheiten ihres Gehirns. Unterschiede und Individualität, wohin man blickt.
Was ist dann verschiedenen Menschen überhaupt noch gemein? Das sind nur bestimmte Erfahrungen, die durch unsere physische Existenz unserem Bewußtsein aufgezwungen werden: Schmerz und Lust und vergleichbare Sinneswahrnehmungen, letztere bedingt dadurch, daß wir ungefähr ähnliche Dinge in der äußeren Umwelt wahrnehmen. Schließlich gehören wir zur selben Spezies. Das ist aber auch alles.
Deshalb gelang die Evolution eines Symbolsystems, um sich über die Welt zu verständigen - erst die Sprache, später kamen Mathematik und technische Zeichnungen und Programmiersprachen hinzu und andere, ähnliche formale Systeme, die letztlich der Kommunikation dienen. Sprache ist allen gemein - mit Abstufungen. Aber was wir uns unter den einzelnen Begriffen vorstellen, denen dieselben Wörter zukommen, das ist in unendlich vielen Variationen verschieden, selbst, wenn es um konkrete Begriffe des Alltags geht, aber erst recht, wenn gewisse abstrakte Begriffe im Spiel sind, wie 'Recht' und 'Ehre' und 'Liebe' und 'Sinn' und 'soziale Gerechtigkeit'. Wieviel Kämpfe, ja Kriege sind schon geführt worden, weil verschiedene Interpretationen solcher Begriffe sich nicht miteinander zur Deckung bringen ließen!
Und diese völlig verschiedene Gedankenwelt sollte, unter Umgehung der rudimentär allen Menschen gemeinsam bekannten Symbole, direkt von einem Geist in einen anderen gelangen können? Begriffe oder Strukturen aus Begriffen sollten aus einem Bewußtsein herauskopiert werden und in ein anderes Bewußtsein eingebettet werden und dabei noch ihre Bedeutung behalten können? Wo die Bedeutungsveränderung nur eines einzigen Begriffes in einem bestimmten Bewußtsein eventuell Bedeutungsänderungen an allen anderen Begriffen, die diesem Bewußtsein eigen sind, bewirken kann? Niemals glaube ich daran!
Nein. Informationen gelangen von einem Kopf in einen anderen nur über den Umweg der Außenwelt. Sprache, Musik, Kunst, Liebe, das sind alles Wege solcher Übermittlungskanäle, jeder gut geeignet für bestimmte Klassen von Botschaften und weniger gut für andere. Jede subjektive Wahrheit ändert ihre Bedeutung, wenn sie ausgesprochen wird, und sie ändert noch einmal ihre Bedeutung, wenn ein anderer sie hört. Daß wir uns überhaupt verständigen können, zwischen diesen so entsetzlich weit getrennten Universen der separaten Bewußtseins-Inseln, das grenzt schon an ein Wunder.
Oder auch nicht: Die Evolution hätte uns schon längst hinweggefegt, wenn wir uns überhaupt nicht verständigen könnten. Ein bißchen geht es eben doch, und wir müssen mit dem wenigen leben, was wir in dieser Hinsicht haben. Ab und zu trifft man jemanden, mit dem man 'auf derselben Wellenlänge' sprechen kann, wo man 'eine verwandte Seele' vermutet. Der größte Grad der intellektuellen Nähe, die ein lebender Mensch vielleicht haben kann.
Aber Telepathie? Nein. Oom kann keine Gedanken lesen. Keinen Augenblick glaube ich daran. Wenn er etwas weiß, dann hat er sein Wissen auf andere Weise erhalten. Wer weiß, vielleicht war er ja kurz vor unserer Ankunft noch oben, im Wald, und hat uns belauscht? Vielleicht hat er auch ein extrem gutes Gehör? Und wer weiß, vielleicht war seine Aussage ja tatsächlich auf mich und Charmion gemünzt, und nur ich habe festgestellt, daß seine Aussage auf mich und Irene ja eigentlich noch viel eher zutreffen könnte?
Nun gut. Legen wir die Gänsehaut beiseite. Es gibt nichts Übernatürliches. Aber, Herwig, du hast eine ganz natürliche Methode, deine unfertigen Gedanken zu schnell auszusprechen. Deshalb darfst du dich jetzt wieder bemühen, mit Charmion ins Reine zu kommen!
Und so komme ich wieder dazu, an die wirklichen Probleme des Lebens zu denken. Ich mache mich auf den Weg zurück zum Fort. Es gibt keine Gefahr, sich zu verirren, weil ich nur dem Steilufer folgen muß. Sporadisch denke ich daran, daß es immer noch möglich sein könnte, daß der Mann, den Charmion umgebracht und beseitigt hat, vielleicht nicht allein war, und daß dessen Begleiter für mich jetzt eine Gefahr werden könnten.
Aber auf dem ganzen Weg zurück, bis sich das Fort aus dem Nebel schält, nehme ich keinen Hinweis auf Verfolger wahr. Da ich relativ schnell gehe, müßte dieser Verfolger sich ja auch ähnlich schnell durch das Dickicht fortbewegen, was wahrscheinlich nicht lautlos möglich wäre.
Außerdem bin ich etwas stolz auf meine Charmion. Wie sie die Nähe dieses Mannes bemerkt hat und wie sie ihn zur Strecke gebracht hat, das erinnert schon an beste Tradition aus alten Wildwest-Geschichten. Das muß ihr erst einmal jemand nachmachen!
25.5 Wiederbewaffnung
Im Fort stellt sich heraus, daß Ougom mit den meisten seiner Leute immer noch im Dorf ist. Was er genau macht, weiß niemand, oder niemand will es mir sagen.
Ich gehe in unser Zimmer. Charmion ist da, lehnt aus dem Fenster heraus und behandelt mich wie Luft. Ich schmeiße mich auf unser Lager.
"Dieser Oom spinnt natürlich - er kann nichts über uns wissen. Er hat nur einfach eine Bemerkung so hingeworfen." Damit versuche ich, Oom die Schuld zu geben. Aber das funktioniert nicht. Charmion ist stocksauer.
"Vielleicht sollten wir noch einmal hin - der weiß noch mehr. Denke ich."
Charmion schweigt immer noch. Unten im Fort hört man Lärm und Gerede. Vielleicht kommt Ougom zurück.
"Ich seh mal nach, was los ist. Kommst du mit?"
Charmion kommt nicht mit. Sonst hätte sie es gesagt. Oder es einfach getan.
Auf der winkligen Treppe zwischen unserem Raum und den unteren Stockwerken laufe ich fast Ougom über den Haufen. Er ist mißmutig.
"Dich habe ich gesucht. Du mußt dir die Tuchherstellung ansehen!"
"Charmion versteht mehr davon." entgegne ich. Wieso er mich schon gesucht haben kann, wo er doch gerade das Fort betreten hat, frage ich nicht.
"Wir brauchen keine Frau dazu." Es hört sich sehr entschieden an. "Du mußt es dir ansehen." Das klang wie ein Befehl. Da kann ich nichts machen.
Die Arbeiten sollen irgendwo hinter dem Dorf vor sich gehen. Ougom meint, ich könne ohne weiteres alleine dorthin gehen und mich durchfragen. Es gibt da ein sumpfiges Wald- und Seengebiet, wo jetzt geeignete faserige Pflanzen geschnitten werden, und ich könne mich ja durchfragen.
Bei dem Gedanken, allein durch den Wald zu streifen, wird mir aber wirklich unbehaglich:
"Bekomme ich mein Schwert zurück?"
Ougom überlegt kurz. "Ja, natürlich. Hol es dir selbst aus der Zeugkammer! Ocronk weiß, wo es ist. Sag ihm, ich hätte es angeordnet."
Die Zeugkammer ist im untersten Geschoß des Forts, gleich neben dem Tor zur Zugbrücke. Ocronk ist ein schon älterer Mann, vielleicht etwas über 50, den ich auf dem Boden schlafend vorfinde. Wahrscheinlich ist er jetzt eine Art Zeugmeister. Ich könnte mir, ohne ihn zu wecken, alles mögliche mitnehmen, ohne daß er es merkt - das Prinzip Wachsamkeit ist ihm wohl auch fremd - aber ich will mein eigenes Schwert. Das kann ich in diesen Bergen von Gerümpel nicht finden. Also muß ich ihn wecken.
Als er hört, daß ich auf Anordnung von Ougom etwas haben will, fragt er überhaupt nicht weiter nach. Auch eine Schwachstelle, denke ich mir - da könnte ja jeder kommen und sich etwas aushändigen lassen. Ich frage nach meinem Schwert, und was ich bekomme ist sowohl mein als auch Charmion's Schwert samt Tragegurten, weil er nicht genau genug hingehört hat. Nun gut. Zwei Schwerter umzugürten ist natürlich wieder lästig, aber vielleicht kann ich so irgendwann Charmion mit ihrem eigenen Schwert versorgen.
Ein schlechtes Gedächtnis hat er auch, denke ich, weil wir ja drei Schwerter hatten, als wir hier ankamen: Ich hatte ja noch das von Chmerm. Aber ich will jetzt nicht kleinlich sein.
Bevor ich gehe, äußere ich noch meine Bewunderung über die reichhaltige Ausstattung der Zeugkammer. Ocronk scheint - in Maßen - geschmeichelt, tendiert aber mehr zur Gleichgültigkeit. Er scheint sich so schnell wie möglich wieder hinlegen zu wollen, und da ich nichts weiter von ihm will, ist für ihn die Welt wieder in Ordnung. Vielleicht kann man aus ihm noch einiges mehr rausholen, wenn er wacher ist.
Ohne Probleme verlasse ich das Fort über die Zugbrücke. Einige Männer sehen mich, niemand stört sich an meinen zwei Schwertern - außer mir selber, natürlich. Ich überlege, wie ich Charmion's Schwert so aufbewahren kann, daß sie es im Notfall finden kann, eventuell sogar nur nach meiner Beschreibung. Es muß natürlich ein Platz sein, an dem sonst niemand nachsuchen wird, auch nicht per Zufall.
25.6 Das Waffenlager
Ich bin völlig allein auf meinem Weg zum Dorf. Als ich zur Mauer komme, denke ich, daß dort ein Platz am besten geeignet sein sollte, weil man ihn dort leichter wiederfinden kann. Das Tor! Seit Eroberung des Forts ist es nicht mehr geöffnet worden, weil der Weg durch den Mauerdurchbruch bequemer ist. Ich biege also nicht den Pfad nach links ab, sondern ich folge dem Fahrweg die restlichen fünfzig Meter bis zum Tor.
Bei dem Tor handelt es sich um ein Loch in der Mauer, das einen halbellipsenförmigen Querschnitt hat. Die Breite ist drei Meter, die Höhe auch. Es ist mit zwei schweren, hölzernen Torflügeln verschlossen, die durch baumstarke Riegel arretiert sind. Diese Riegel aus ihren Lagergabeln zu heben dürfte die Kraft mehrerer Leute erfordern. Für Fuhrwerke ist das Tor schon etwas niedrig, besonders an den Seiten. Aber ich habe hier auf Casabones ja auch noch nie ein Fuhrwerk gesehen. Nur aus der Breite des Fahrweges schließe ich, daß es so etwas geben muß. Oder früher einmal gegeben haben muß.
Zur rechten Seite des Tors gibt es einem gezimmerten Aufstieg zum Wehrgang, ein einfaches Gerüst, mit Bretterwänden umkleidet und innen eine Leiter.
Ich sehe mich um. Niemand da. Ich bin völlig allein. Hoffe ich. Schon bin ich in diesem Aufgang und steige nach oben.
Die Qualität der Sprossen ist nicht vertrauenerweckend. Die alte Fortbesatzung war wohl nicht allzu scharf auf Instandsetzungsarbeiten. Wahrscheinlich ist die Motivation zu solchen Arbeiten allmählich abgeflaut, genauso wie die Motivation zum Wacheschieben, wie Ougom erzählt hat.
Auf jeden Fall muß ich aufpassen, daß ich nicht auf morsche Balken trete. Einen Sturz aus vier Metern Höhe kann man zwar noch überleben, aber meine Chancen, die Welt der Granitbeißer wieder zu verlassen, wären wesentlich geringer, wenn ich mich schwer verletzte.
Die ursprünglichen Erbauer des Wehrganges haben solide Arbeit geleistet, und das ist wahrscheinlich der Grund, aus welchem der Wehrgang trotz der Vernachlässigung immer noch steht. Das Geländer des Wehrganges ist vollständig mit Brettern verkleidet, so daß ich mich bloß hinknien muß, um nach unten unsichtbar zu werden, wenn jetzt jemand den Fahrweg entlang kommen sollte. Nur bewegungslos müßte ich dann ebenfalls werden, denn wohin man auch tritt, alles knirscht und knackt und ächzt und quietscht.
Dort, wo man von der Leiter des Aufganges auf den Wehrgang tritt, sind beiderseitig von der Lücke im Geländer schrankartige Kästen angebracht. Das Dach des Wehrganges ist an dieser Stelle etwas weiter heruntergezogen, um sowohl diese Kästen als auch den Aufstieg selbst zu überdecken. Die Kästen haben Türen, die nicht verriegelt sind. Ich öffne sie.
Es sind Waffenkammern, die der Aufmerksamkeit der Meuterer entgangen sind. Bögen, Pfeile, Messer, Schwerter, Äxte. Auch einige Spaten, Seile, Hämmer und Holzdübel finde ich. All das, was Verteidiger dieser Mauer gebrauchen könnten. In dem zweiten Kasten derselbe Inhalt. Sollte ich Charmion's Schwert hier deponieren? Offenbar sieht doch niemand hier nach.
Das allerdings könnte sich ja noch ändern. Ich untersuche diese Schrankkästen weiter und stelle fest, daß sie sehr solide gezimmert sind. Die Wände sind zweischichtig und auch die Zwischenböden. Aus einem solchen kann ich ein Brett entfernen. Da ist Platz genug für Charmion's Schwert. Es ist sogar soviel Platz da, daß ich von den vorhandenen Waffen die am besten erhaltenen aussuchen und ebenfalls dort verstecken kann. Dann bringe ich das lose Brett wieder an seine ursprüngliche Stelle, und nichts ist mehr zu sehen. Wer immer diesen Waffenschrank ausräumen sollte, wird ihn nicht ganz leer zurücklassen.
Denselben Trick versuche ich noch bei dem gegenüberliegenden Waffenschrank, aber dort gelingt es mir nicht: Es gibt kein loses Brett in den Schrankwänden oder in den Zwischenböden. Wenigstens verlege ich noch einen Teil der Waffen in den anderen Schrank, damit beide wieder gleichvoll aussehen. Dann schließe ich sie wieder.
Sorgfältig sehe ich mich um. Ein paarmal habe ich mit den Waffen und Werkzeugen geklirrt. Wenn jemand in der Nähe ist, dann könnte derjenige hellhörig werden. Aber es ist völlig still. Und auch an der anderen Seite der Mauer scheint niemand zu sein, soweit ich das durch eine der Schießscharten beurteilen kann. Der Nebel hängt reglos zwischen dem Buschwerk vor der Mauer. Ich mache mich wieder auf den Abstieg.
Bis zum Dorf begegne ich tatsächlich keinem Menschen. Dort sehe ich das übliche Bild: phlegmatisches Rumgammeln. Hat Ougom nicht behauptet, er hat die Leute zum Arbeiten gebracht?
25.7 Der neue Richtplatz
Vielleicht sind weniger Menschen im Dorf als sonst, vielleicht auch nicht. Das ist schwer zu beurteilen. Was sich aber auf jeden Fall geändert hat, das sind die Vollstreckungskreuze, die vor der größeren Hütte in der Mitte des Dorfes aufgestellt wurden. Sieben Stück sind es, davon einige aus frischem Holz. Weitere Balken, die auf die Bearbeitung waren, liegen auf dem Boden. Männer sitzen darauf und lassen die Zeit vergehen. Als sie mich kommen sehen, springt einer, der mich zuerst sieht, auf und greift sich eine Axt. Die anderen sehen sich um.
Es ist kein Angriff, wie meine ersten Reflexe mir suggerieren wollen. Diese Männer haben offensichtlich den Auftrag, die Kreuze aufzustellen. Solange Ougom abwesend ist, halten sie sich nur etwas in ihrem Arbeitseifer zurück.
"Wo wird das Tuch gemacht?" frage ich. Einer zeigt die Dorfstraße entlang. Er ist offenbar nicht gewillt, mehr zu sagen. Inzwischen haben sogar schon zwei weitere die Arbeit wieder aufgenommen. Das ist schon eine gewisse Schwierigkeit, gleichzeitig zu demonstrieren, daß man arbeitet und daß man nicht nur deshalb die Arbeit wieder aufnimmt, bloß weil jemand kommt, der von Ougom zur Aufsicht beauftragt sein könnte.
Ich gehe die Dorfstraße weiter. Als ich mich vor der nächsten Biegung wieder umdrehe, sehe ich, daß die Arbeit schon wieder eingestellt worden ist. Der Gesichtsausdruck der Männer zeigt ein schmalen Ausschnitt des Spektrums zwischen Gleichgültigkeit und Abneigung, mehr zur Gleichgültigkeit hin, um genau zu sein.
25.8 Die Schneidgrasschnitter
Die Dorfstraße geht bald wieder in den Fahrweg durch den Wald über. Dabei sinkt die Qualität dieses Fahrweges, man kann eigentlich nur noch von einem Weg sprechen. Der Wald unterscheidet sich eigentlich nicht von dem Wald zwischen Dorf und Fort.
Es kommt eine Wegabzweigung. Beide Wegalternativen sehen gleich gut aus. Das einzige Kriterium ist, den Weg mit der geringeren Änderung der Marschrichtung zu nehmen. In diesem Punkte unterscheiden sich die Wege allerdings auch nicht besonders: Der eine verspricht eine Marschrichtungsänderung von 45 Grad nach links, der andere nach rechts.
Dann allerdings sehe ich im Matsch am Rand des rechten Weges eine Vertiefung, die ein Fußabdruck sein könnte. Also nehme ich die rechte Abzweigung.
Der Weg führt in Windungen abwärts, und der Boden wird feuchter. Als ich zu einem flachen Sumpfteich komme, liegen mitten auf dem Weg einige Bündel von einem pflanzlichen Material, das wie Schilf aussieht. Diese Bündel sind so zusammengelegt worden, daß man sich drauflegen kann. Das haben auch zwei Männer getan. Sie schnarchen um die Wette.
Was tun? Reicht meine Autorität aus, die beiden wieder zum Arbeiten zu bringen? Sind diese zwei überhaupt alle? Ougom hat mir nicht verraten, wieviele an der Ernte von diesen Faserpflanzen arbeiten.
Ich muß einen Konflikt riskieren. 2000 Fallschirme für 2000 Menschen herzustellen erfordert etwas mehr Einsatz, als diese beiden hier zeigen. Ich ziehe mein Schwert und halte es dem einen unter die Kehle. Dabei hebe ich seinen verfilzten Bart an. Wahrscheinlich kitzelt ihn das.
Der wacht auf, sieht mein Schwert vor seinem Hals und erstarrt. Der andere schläft seelenruhig weiter.
"Was tut ihr hier?"
"Wir beaufsichtigen die Schnitter!" sagt der Mann. Er sieht abwechselnd die Klinge des Schwertes und mich an. Der andere wacht auf, sieht uns und erstarrt ebenfalls.
"Soso. Ihr beaufsichtigt die Schnitter. Wo sind sie denn? Ich sehe keine!"
"Wir haben ..." sagt der andere und schweigt dann wieder.
"Ihr habt was?"
"Wir haben sie beauftragt, weiterzuarbeiten."
"Aha. Das wollen wir uns gleich ansehen. Auf!"
Beide gehorchen. Der, den ich zuerst angesprochen habe, ist sichtlich erleichtert, daß meine Schwertklinge sich von seinem Hals entfernt.
Sie setzen sich in Bewegung. Meine forsche Aktion war wohl ziemlich gefahrlos, wenn ich mir diese Initiative-entwöhnten Männer ansehe. Aber ich muß aufpassen, daß ich es nicht zu weit treibe, denn ich möchte nicht in die Situation kommen, eine Waffe zur Disziplinierung tatsächlich benutzen zu müssen oder unglaubwürdig zu werden.
"Das geht auch schneller." stelle ich fest. Diese Aussage hat keinen meßbaren Einfluß auf ihre Fortbewegungsgeschwindigkeit.
Ich lasse meine Schwertklinge durch die Luft sausen.
"Ich habe gesagt, das geht noch schneller! Los, im Laufschritt! Oder soll ich euch Beine machen?"
Das wirkt. Sie setzen sich in Trab. Nicht, daß ein Freizeit-Jogger diese Art der Fortbewegung als 'Laufen' bezeichnen würde. Die beiden erreichen gerade die Geschwindigkeit, die für mich zum Laufen zu langsam und zum Gehen zu schnell ist. Das müssen etwa sieben Kilometer pro Stunde sein.
Zum Glück für die beiden haben wir nur ein paar hundert Meter zurückzulegen. Dann kommen wir dem Ufer des verzweigten Sumpfteiches näher.
Das Bild ist bedrückend. Da sitzen oder liegen etwa 30 oder 40 Leute. Einige schlafen, andere palavern, einer onaniert und ein anderer scheißt gerade in den Teich. Es liegen einige wenige Bündel von Material herum, solche wie die, auf denen ich die beiden 'Aufseher' schlafend vorgefunden habe.
Dieselben sind völlig außer Atem. Mir wird klar, daß der Durchschnittsgefangene auf Casabones eine Kondition hat, die man bei uns in einem Altersheim feststellen würde - und vielleicht nicht einmal da.
Die Leute sehen uns verwundert an. Einige der Schläfer werden durch rasches Anstoßen geweckt. Ich schätze die Menge der Materialbündel ab, die diese Leute bis jetzt geschafft haben. Ich weiß nicht, wieviel Verschnitt bei der Herstellung von Tüchern aus diesem Material abfällt. Selbst mit den optimistischsten Schätzungen dürften mit dem vorhandenen nur wenige Dutzend Quadratmeter herstellbar sein. Ein einziger Fallschirm in einem Abeitstag.
Haben die Vollstreckungskreuze, die Ougom aufgestellt hat, denn überhaupt keinen Eindruck gemacht? Oder wissen diese Männer hier noch nichts davon? Jedenfalls wird mir klar, daß bei diesem Arbeitstempo eine Flucht aller Gefangenen von Casabones noch viele Jahre an Vorbereitung benötigt. Viele Jahre, bis ich daran gehen kann, Irene wiederzufinden und dann zu versuchen, wieder nach Hause zu kommen.
Das darf nicht sein. Es ist nicht nur eine Sache der Geduld. In der Welt der Granitbeißer ist die Wahrscheinlichkeit pro Zeiteinheit, ums Leben zu kommen, einfach zu hoch, um geduldig zu sein. Um aus der drohenden Verzögerung von Jahren Tage zu machen bedarf es drastischer Methoden. Vielleicht, denke ich mir, sollte ich in mir selbst die unschönen Charaktereigenschaften eines Ausbildungsunteroffiziers, eines üblen Einschleifers, herausarbeiten. Um das gut zu können, muß es mir sogar noch Spaß machen, muß es mir ein inneres Bedürfnis sein, Menschen fertig zu machen. Ich fürchte, das sanfte Zureden und Erklären und Deutlichmachen der Notwendigkeiten hat hier kein Platz - all das, woran ich doch selbst glaube. Aber man sehe sich doch diese verlauste und faule Bande an!
Jedenfalls, sage ich mir, ist es wohl legitim, wenigstens zu Anfang mal die Sau herauszukehren. Hoffentlich gelingt mir das - es ist eigentlich nicht meine Art.
25.9 Nagold
"Alles aufstehen!" brülle ich, "Los, worauf wartet ihr? Alles auf!"
Wie die alten Männer erheben sich die, die bisher gesessen oder gelegen haben.
"Das geht noch schneller!"
Geht es nicht. Mit schnellem Schritt trete ich an den heran, der sich am allermeisten Zeit gelassen hat. Ich halte meine Klinge unter seinen Hals, bis er endlich aufrecht steht.
"Jetzt in einer Reihe antreten!" kommandiere ich. Die Wirkung ist Null. Woher sollen sie wissen, was man unter 'in einer Reihe antreten' zu verstehen hat? Diese Fachausdrücke kennen sie nicht.
"Du - dahin. Du - dahin. Und du - dahin! Ist das so schwer?"
So zeige ich fast jedem einzelnen, wo er zu stehen hat. Die beiden 'Aufseher', die inzwischen wieder zu Atem gekommen sind, stehen hoheitsvoll dabei. Sie fühlen sich nicht angesprochen.
"Was ist?" frage ich sie, "Braucht ihr eine Extra-Einladung?"
Siehe da, sie verstehen es. Endlich stehen alle in einer Reihe. Es ist zwar keine übertrieben gerade Reihe, aber der Boden ist zu uneben, um da Wunder zu verlangen. Ich zähle nach - durchzählen zu lassen, wie ich es seinerzeit beim Militär erlebt habe, probiere ich gar nicht erst: Ich glaube kaum, daß jemand von diesen Männern zählen kann, geschweige denn alle.
Es sind 47 Männer. Ich stelle mich so vor die Reihe auf, daß alle mich sehen können. Mein Schwert bleibt schlagbereit in meiner Hand. Die Geste ist unmißverständlich.
"Herhören. Ihr seid beauftragt worden, eine bestimmte Arbeit auszuführen. Diese Arbeiten sind notwendig, um uns die Flucht von Casabones herunter zu ermöglichen. Jedes Nachlassen in Arbeitseifer, jedes Sabotieren dieser Arbeiten ist der Versuch, uns an dieser Flucht zu hindern. Faulheit ist ein Angriff gegen alle. Ist das verstanden?"
Sie sehen mich an wie die Ochsen. Einige nicken. Vielleicht ist meine Xonchen-Aussprache und meine grammatischen Improvisationen nicht allen gleich gut verständlich.
"Wenn einer der Herren der Meinung ist, diese Arbeit ist zuviel für ihn, oder zu schwierig, dann möge er jetzt vortreten und das sagen. Niemand ist gezwungen, zum Wohle aller anderen zu arbeiten. Wir sind keine Unmenschen. Wir werden für diesen eine andere Verwendung finden. Also? Ist sich jemand zu fein für diese Arbeit?"
Niemand tritt vor.
"Gut. Ihr werdet jetzt alle weiter arbeiten. Wenn ich den Eindruck habe, daß sich jemand allzuviel Zeit läßt, dann werde ich mich um denjenigen ganz speziell kümmern. Ist auch das verstanden? Gut. Hat noch jemand Fragen?"
Niemand hat Fragen. Jedenfalls keine, die er jetzt, vor aller Augen, stellen möchte.
"Also an die Arbeit!" Mit meinem Schwert deute ich auf den Teich.
Die Reihe löst sich auf. Nur zwei bleiben stehen. Meine beiden 'Aufseher'.
"Wartet ihr auf etwas bestimmtes?"
"Nein!" sagt der eine ohne Argwohn.
"Das ist fein. Dann könnt ihr ja auch gleich anfangen, etwas zu tun!"
Die Degradierung paßt ihnen nicht. Das ist ihren Gesichtern deutlich anzusehen. Aber im Moment bleibt ihnen nichts anderes übrig als sich zu fügen.
Hoffentlich bin ich nicht zuweit gegangen. Diese Männer haben alle Messer, um die schilfartigen Pflanzen zu schneiden. Gegen einen koordinierten Angriff könnte ich mich kaum wehren. Aber ich denke auch, daß es ein wahres Wunder wäre, wenn diese Männer aus eigenem Antrieb die Idee, etwas Koordiniertes zu tun, bekämen.
Es ist jetzt 15 Uhr. Ich bleibe am Ufer stehen, weil mich interessiert, was sie eigentlich machen. Es ist nichts aufregend kompliziertes: Die Halme müssen tief unter Wasser abgeschnitten, gebündelt und an Land aufgestapelt werden. Es ist aber erstaunlich, was man bei dieser einfachen Tätigkeit alles falsch oder ineffizient machen kann.
Zum Beispiel verstehe ich nicht, warum die meisten einen Halm abschneiden und ihn dann an Land bringen, den nächsten abschneiden und den dann an Land bringen und so weiter. Auf dem Uferstück, das dabei ständig betreten und wieder verlassen werden muß, ist deshalb auch ein ziemliches Gedrängel.
Ich rufe den, der mir am nächsten steht, an:
"Heh, du! Gibt es einen besonderen Grund, warum du jeden Halm einzeln an Land bringst?"
Der junge Bursche, den ich angesprochen habe, weiß darauf überhaupt nichts zu sagen. Erst, als ich nachbohre, kommt etwas heraus wie 'Das haben wir schon immer so gemacht'. Die Ausrede kommt mir bekannt vor.
"Probiere, immer zehn Halme zu schneiden und dann alle zusammen dort zu stapeln!"
Er guckt ungläubig zurück.
"Na probiers schon! - Zehn, das ist so viel!" Ich halte meine zehn Finger hoch, so deutlich, wie es eben geht, ohne mein Schwert loszulassen, "Zehn Halme kann man in einer Hand halten!"
Er tut es widerwillig. Die geschnittenen Halme sind nicht schwimmfähig, wie ich sehe, und als der junge Bursche zehn davon geschnitten hat, muß er diese alle vom Grund wieder auflesen. Trotzdem schafft er damit wesentlich mehr Halme pro Zeiteinheit als mit der bisherigen Methode.
"Geht das?" frage ich.
"Ja."
"Wunderbar. Dann bleiben wir bei dieser Methode. Einverstanden?"
Er ist einverstanden. Dann spreche ich den nächsten an, daß er es dem jungen Burschen gleich tun soll. Dann den übernächsten. Als ich etwa beim siebten bin, haben auch die übrigen schon begriffen, daß ich das offenbar von allen so gemacht haben will.
"Das ist aber mühsam!" sagt einer.
"Das ist mühsam?! Oh, das tut mir aber leid!" sage ich so laut, daß es alle hören können. Verwirrt unterbricht der Mann seine Arbeit.
"Komm aus dem Wasser heraus!" befehle ich ihm. Angst zeigt sich auf seinem Gesicht. Die anderen hören auf zu arbeiten und sehen zu, was jetzt passiert.
"Habe ich etwas von Pause gesagt?" brülle ich, weithin vernehmbar, "Wenn ich Pausen anordne, dann werde ich euch das schon mitteilen! Habe ich das eben etwa getan? Na also!" Und zu dem Mann, der immer noch untätig im Wasser steht: "Kommst du jetzt raus? Stell dich da hin!"
Als der Mann vor mir steht, frage ich ihn:
"Wie heißt du?"
"Ich habe keinen Namen."
"So. Die Arbeit ist dir also zu mühsam. Das hast du doch eben gesagt, nicht wahr?"
Er antwortet nicht, völlig unsicher, welche Antwort ihm jetzt mehr Nachteile bringen wird.
"Weißt du, was ein Liegestütz ist?"
"Nein."
"Das ist etwas, was wirklich mühsam ist. Willst du es gerne lernen?"
Darüber ist er sich wirklich nicht im klaren.
"Ich frage, ob du das gerne lernen möchtest!"
Endlich nickt er.
"Gib mir dein Messer!"
Er gibt es mir ohne Widerspruch. Ich gehe einige Schritte das Ufer hinauf und grabe das Messer so ein, daß noch etwa zwölf Zentimeter der Klinge, die senkrecht aus dem Boden ragt, zu sehen ist. Dann schütte ich 30 Zentimeter rechts und links von der Klinge Erdhaufen auf. Der Mann ohne Namen sieht interessiert zu, die im Wasser arbeitenden Männer schielen aus den Augenwinkeln ebenfalls herüber. Danach stehe ich auf.
"Alles aufhören zu arbeiten! Alles herhören und hersehen!"
Als ich sicher bin, daß ich die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden habe, fahre ich fort:
"Dieser Herr dort, der nach eigenen Bekunden keinen Namen hat, hat sich soeben darüber beschwert, daß diese Arbeit zu mühsam für ihn sei. Ich sehe das ein. Ich will deshalb etwas noch mühsameres demonstrieren. Jeder, der sich hinfort beklagt, wird mir nachmachen, was ich jetzt vormache. Man nennt es 'Liegestütze'. Es ist in der Welt, aus der ich komme, ein beliebter Sport. Also hersehen. Und ich habe nichts von reden gesagt!"
Das mit dem beliebten Sport ist natürlich übertrieben, besonders die Variation mit dem Messer. Ich selber kann nicht allzuviele Liegestütze ausführen, aber wohl immer noch mehr als die meisten Anwesenden. So stemme ich denn meine beiden Hände auf die Erdhaufen und fange an, zu pumpen. Die Klinge, die aus der Erde heraus auf mein Herz zielt, macht mir keine Angst, da ich ja die Freiheit habe, aufzuhören, wenn ich nicht mehr kann. Vorsichtig muß ich natürlich trotzdem sein.
"Bei einem Liegestütz" doziere ich, während ich mich auf- und abbewege, "bildet der Körper eine gerade Linie. Der Arsch kommt nicht hoch. Die Brust muß sich immer bis kurz vor die Messerspitze senken. So!"
Zwanzig Mal bringe ich es zustande. Dann springe ich wieder auf.
"Hast du begriffen, wie man das macht?" frage ich den Mann, den ich eben aus dem Wasser herausgewunken habe. Der nickt.
"Na, dann los! Laß sehen, was du kannst!"
Zögernd kommt er näher. Ich muß mit dem Schwert winken, damit er sich überhaupt bewegt. Widerstrebend läßt er sich nieder. Das hat er schon begriffen, daß Liegestütze vermutlich kein Vergnügen sind.
In den nächsten Sekunden verfestigt sich seine Vermutung zur Gewißheit.
"Tiefer," rufe ich, "und Arsch runter! So." Und zu den Zuschauern sage ich: "Seht es euch genau an! Jeder von euch, der sich beschwert, kommt auch noch dran!"
Nach bloß vierzehn Ausführungen muß ich den Mann wieder unterbrechen, weil er in Gefahr läuft, schon demnächst nicht mehr hochzukommen. Ich helfe ihm beim Aufrichten.
"Hast du nun begriffen, was eigentlich 'mühsam' bedeutet?"
Er nickt.
"Okay. Dann nimm dein Messer und geh wieder an die Arbeit. Die anderen auch! Die Pause ist zu Ende!"
Während der Mann ohne Namen sein Messer aus der Erde wieder ausgräbt, sehe ich ihm an, daß er es am liebsten in mich hineistoßen würde. Aber er traut sich nicht.
Trotzdem wird mir immer deutlicher bewußt, daß ich mich vorsehen muß. Ich kann nicht überall hinsehen. Ich muß mir da noch etwas einfallen lassen.
Jedenfalls gelingt es mir, die Schilfproduktion dieser Gruppe von Leuten bis zum Abend auf einem für sie ungewohnt hohem Niveau zu halten.
25.10 Bericht
"Wieviel haben die geschnitten?"
Ougom ist ganz ungläubig, als ich am Abend im Fort über die erzielten Fortschritte berichte, und darüber, was ich vorher an Arbeitsaktivität vorgefunden habe.
"Aber ich hatte doch zwei zur Aufsicht ausgewählt!" meint er.
"Sie fühlten sich auch ausgewählt. Auf jedenfall hatten sie sich einen bequemen Platz zum Schlafen ausgewählt, als ich kam. Von Aufsicht war nicht die Rede - ich glaube, es gab so eine Art stillschweigendes Einverständnis zwischen den Aufsehern und den zu Beaufsichtigenden. 'Wenn ihr uns nicht weckt, dann wecken wir euch auch nicht.'"
"Die werden erschlagen." knurrt Ougom.
"Ich glaube nicht, daß das nötig ist. Es ist alles eine Sache der Organisation."
Ougom glaubt das nicht, aber ich habe jetzt keine Lust, auf Einzelheiten einzugehen.
"Und was hältst du von dem Material?" fragt er.
"Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nicht, wie es weiterverarbeitet werden muß. Charmion ist die Expertin."
"Das ist aber eine Frau." winkt Ougom ab. Bevor er weiter auf dem Thema herumreiten kann, fahre ich fort:
"Selbst wenn das Material brauchbar ist, wir brauchen viel mehr davon. Es müssen noch mehr Leute zum Ernten eingesetzt werden. Viel mehr!"
"Mmh." Ougom überlegt. "Vielleicht könnte man auch an diesem See ernten."
Er meint wohl den See draußen vor dem Fort, an dessen Ufern Oom lebt.
"Ich habe mir diesen See schon daraufhin angesehen," sage ich, "da ist zu wenig Schilf. Es ist nicht Schilfknappheit, die uns Schwierigkeiten machen könnte. Es ist die verfügbare Arbeitskraft. Die Sumpfteiche hinterm Dorf geben noch viel her. Auch die Weiterverarbeitung muß effektiver organisiert werden."
Das Letzte sage ich, weil ich den Verdacht habe, daß da überhaupt noch nichts organisiert worden ist.
"Möglich." sagt Ougom. Mehr nicht.
"Warum hast du Vollstreckungskreuze im Dorf aufstellen lassen?" frage ich nach.
"Um die Leute zu motivieren!"
Es ist wie ich mir dachte. Als ob Tote effektivere Arbeitskräfte sind als Lebende.
"Ich glaube, diese Leute haben noch vor etwas anderem mehr Angst als vor einer Hinrichtung."
"Vor was denn?"
"Vor noch mehr Arbeit!"
Ougom ist sehr ungläubig. Ich versuche, es ihm zu erklären, so oder so ähnlich, wie ich es schon Charmion erklärt habe:
"Es ist doch so, daß diese Leute dem Arbeiten völlig entwöhnt sind. Schlimmer: Sie sind es nicht mehr gewöhnt, ihr Schicksal selber in die Hände zu nehmen. Deshalb muß man ihnen kurzfristige Ziele setzen: 'Wenn ihr ein gewisses Maß an Arbeit leistet, dann lauft ihr nicht in Gefahr, noch weit mehr arbeiten zu müssen.' Das muß jeder verstehen! Faulheit ist ein guter Motor für Fleiß, wenn man es richtig anstellt!"
Ich bezweifele, daß Ougom es versteht. Wieso soll man jemanden mit der Aussicht, nicht arbeiten zu müssen, zum Arbeiten ködern können? Ich kann es wiederum verstehen, daß er es nicht versteht. Verstehen auch manche Arbeitgeber bei uns oben recht wenig davon, was eigentlich einen Arbeitnehmer zum Arbeiten motivieren könnte.
Ich erzähle Ougom die 'Motivationsmethode' mit den Liegestützen über dem senkrechten Messer. Das gefällt ihm. Das dachte ich mir. Dabei habe ich vor, das Messer irgendwann wegzulassen. Schließlich ist das, was ich getan habe, eine ganz üble Schikane. Hat es nicht einmal eine Regierungskrise bei uns gegeben, vor Jahrzehnten, weil solche Methoden in der Grundausbildung von Fallschirmjägern verwendet wurden?
"Aber daran kannst du das Prinzip sehen!" erkläre ich ihm, "Die Angst vor der Anstrengung bei den Liegestützen läßt sie die mindere Anstrengung des Schilfschneidens leicht ertragen!"
"Ich muß es mir aber mal ansehen!" Ougom leuchtet vor Vorfreude.
"Irgendwann werden wir nur noch positive, belohnende Motivationsanreize brauchen!" meine ich. Daß das sehr schnell der Fall sein wird, glaube ich zwar selbst nicht, aber ich will Ougom die Richtung klarmachen, in die es geht. In die es gehen muß, wenn man Erfolg haben will.
Es ist 22 Uhr. Ich gebe vor, müde zu sein, um mich zurückziehen zu können. Ich bin auch müde. Aber zuallererst muß ich Charmion über die weitere Tuchmacherei befragen. Wenn sie nicht auch auf Charmion hören wollen, weil sie eine Frau ist, dann muß Charmion ihr Wissen eben mir vermitteln.
25.11 Fachsimpelei
Charmion liegt auf dem Lager und schläft. Das ist ganz unüblich bei ihr. Hat sie den ganzen Nachmittag verschlafen?
"Da bin ich!" sage ich, als ich mich neben sie lege. Sie blinzelt mich an.
"Wollen wir unten Schwimmen gehen?" frage ich. Sie sagt nichts. Also immer noch eingeschnappt.
"Sie sind dabei, massenweise so eine Art Schilf zu ernten," sage ich ihr, "daraus wollen sie Tuch machen."
"Schneidgras." sagt sie.
"Heißt das so?"
"Ja. Man kann sich an den Blättern schneiden. Wenn man dämlich genug ist."
"Aber das ist der richtige Rohstoff für Tuchmaterial?"
Charmion schüttelt den Kopf. Sie dreht sich auf die andere Seite, mir zu, und ich spüre ihre Wärme.
"Ja und nein. Es ist zu mürbe, selbst, wenn man es richtig verarbeitet. Für Sturmsegel muß man dieses Tuch mit speziellen Fäden aus Darm verstärken. Für die Dinger, die du herstellen willst ..."
"Fallschirme!"
"Ja, Fallschirme. Dafür reicht es nicht aus. Es wird zerreißen."
"Also brauchen wir Därme?"
"Das ist es nicht alleine," dämpft Charmion meine Hoffnung, "solche Mengen von Därmen werden wir auf Casabones nicht beschaffen können. Es gibt nicht genug Tiere. Und einen Teil der Männer zu opfern, da würdest du dich ja weigern!"
"Allerdings weigere ich mich!" stelle ich fest, "und selbst, wenn man an so etwas denkt - die betreffenden Männer würden sich auch weigern!"
"Ach die."
Wie lange es noch dauern wird, bis das Verhältnis der Geschlechter sich bei den Granitbeißern normalisiert haben wird, denke ich mir. Die Frauen schätzen die Männer am meisten in ihren Kochtöpfen und umgekehrt ist es genauso. Wenn es da nicht den Sexualtrieb gäbe, hätten sie sich wahrscheinlich schon längst gegenseitig ausgerottet. Das heißt, sie geben sich ja alle Mühe, das immer noch zu tun.
"Also halten wir fest: Därme kriegen wir nicht. Was muß sonst noch weiter getan werden?"
"Das Schneidgras muß über Steine gezogen werden, um die einzelnen Fasern voneinander zu trennen und die Säfte abzuscheiden. Das macht viel mehr Arbeit als das Schneiden!"
"Wie ermutigend!"
"Dann," fährt Charmion fort, "wird das Fasermaterial auf rotierenden Trommeln gestreckt und verdrillt. Solche rotierenden Trommeln gibt es auf Casabones nicht. Danach werden die so entstandenen Fäden nach Dicke und Länge sortiert. Das ist sehr arbeitsaufwendig, und man braucht auch etwas Erfahrung, um schwache Fasern zu erkennen und gleich wegzuwerfen. Das lernt man nicht von heute auf morgen! Dann erst kann man daran gehen, das Material auf einem Webstuhl zu flächigem Tuch weiterzuverarbeiten. Und Webstühle gibt es hier auch nicht. Nicht einen einzigen."
"Und auf eine andere Weise geht es nicht?"
"Nein. Und damit du alles weißt: Der Stoff, den man auf diese Weise erhält, ist sehr luftig. Da kannst du durchblasen. Du kannst eine Flamme durch den Stoff hindurch ausblasen, wenn du willst, als ob der Stoff nicht da wäre. Ist das für ein Fallschirm brauchbar?"
"Nein, natürlich nicht. Und wenn man den Stoff dicker macht?"
"Wird er schwer. Und man braucht noch mehr Stoff. Und durchblasen kann man immer noch."
"Das heißt," sage ich niedergeschlagen, "Unsere Hoffnung, auch nur einen Fallschirm herzustellen sind gering. Geschweige denn 2000 Stück."
"So ist es." sagt Charmion kurz. "So wirst du deine Irene nicht wieder sehen."
"Freut dich das?"
"Das habe ich nicht gesagt. Ich komme so ja auch nicht weg."
Ein Anfall von Logik. Die Erfahrung des launengeplagten Ehemannes sagt, daß man dann bald wieder mit einem vernünftigen und rationalen Gesprächspartner rechnen kann.
"Also war alles bisher umsonst. Wenn Ougom das hört, zerreißt er mich in der Luft. Und dich auch. Wir sind hier nur nützlich, solange wir eine Hilfe für das Entkommen von Casabones sind."
"Weiß ich." murmelt Charmion.
"Also müssen wir auf dem bisherigen Weg fortfahren. So tun als ob. Schneidgras ernten, Steinmühlen bauen, Webstühle bauen, etwas jagen, um wenigstens ein paar Därme zu beschaffen. Ein paar Meter, für die ersten Versuchsfallschirme. Vielleicht schaffen wir es ja, wenigstens ein paar Fallschirme herzustellen. Vielleicht gelingt es uns, bei einem Probesprung mit den ersten verfügbaren Schirmen zu fliehen - wir beide!"
"Hast du nicht einmal etwas von 'ethischen Erwägungen' erzählt? Du erzählst doch gerne so etwas! Oder wie bewertet man das 'Im-Stich-Lassen' von anderen?"
"In erster Linie will ich dich nicht im Stich lassen!"
Sie versucht, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie das nun doch wieder ganz gerne hört. Es deckt sich auch mit ihrem Weltbild, indem die Meuterer als zu rettende oder der Errettens werte Personengruppe wohl kaum vorkommen.
"Also so tun als ob," fahre ich fort und lege mich auf den Rücken, "solange es gut geht. Wenn Ougom - oder wer immer dann das Sagen hat, anfängt, sich über den mangelnden Fortschritt der Arbeiten zu beschweren, müssen wenigstens zwei Versuchsfallschirme fertig sein. Zwei funktionsfähige Fallschirme! Für uns beide."
Charmion kommentiert das nicht.
"Bin ich müde!" sage ich, "Den ganzen Tag herumkommandieren, das strengt an. Ach ja, bevor ich es vergesse: Ich habe dein Schwert in Sicherheit gebracht!"
Sofort ist Charmion aufmerksam. Ich beschreibe ihr das Versteck über dem unbenutzen Tor.
"Kannst du dir das merken? Du solltest es erst holen, wenn du es wirklich ganz dringend brauchst! Die mögen es hier nicht, wenn eine Frau bewaffnet herumläuft!"
"Weiß ich!" sagt Charmion, "Ich kann schon auf mich aufpassen!"
"Sicher kannst du das." Ich werfe ein Blick auf die Uhr. 23 Uhr. Zeit zum Schlafen. So, wie ich bin, fallen mir die Augen zu.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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