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******** 024. Tag: Montag 95-09-11 ********
24.1 Verdrängung
Es ist nach unserer Zeit 2 Uhr morgens, am 11. September 1995, als wir aufwachen. Montag, sagt die Uhr, die nicht wissen kann, wie bedeutungslos diese Information hier ist.
Der Ausblick aus dem Fenster zeigt keine Veränderung zu gestern. Da dieses nachweislich kein Hotel ist, müssen wir schon selbst runtermarschieren und uns um etwas zu essen kümmern. Das ist nicht ganz einfach, weil dafür niemand zuständig ist. Zwar haben die meuternden Gefangenen das Fort in ihre Gewalt gebracht, aber das heißt noch lange nicht, daß so etwas wie ein regelmäßiger Küchendienst eingerichtet wurde, oder sonst irgendeine sinnvolle Infrastruktur. Das wäre ja mit Arbeit verbunden.
Überall sieht man die Spuren dieser mangelnden Organisation: Es liegt in allen Gängen Dreck rum, Speisereste und Exkremente, Ausrüstungsgegenstände werden dort abgestellt, wo der Eigentümer es für richtig hält. Das war wahrscheinlich bei der eigentlichen Fortbesatzung nicht ganz so unordentlich.
Immerhin fragen wir uns bis zur Küche durch. Jeder, der etwas essen will, geht dort ein und aus. Auch hier ist niemand für irgendwas verantwortlich. Die Küche ist ein einziges Chaos. Und in der Speisekammer nebenan bestätigt sich meine Vermutung über den Verbleib der Fortbesatzung: Ein Berg von Leichen. Mehr Leichen als Platz in den Regalen. Die zuletzt hinzugekommenen Leichen liegen in einem Haufen auf dem großen Zubereitungstisch in der Mitte. Es sind nur Frauen - es müssen etwa 20 oder 30 sein. Einige davon sind geöffnet, Gedärm liegt am Boden, Gliedmaßen sind abgetrennt oder fehlen ganz. Der Gestank ist unerträglich. Ich bringe es nicht fertig, die Kammer weiter zu durchsuchen, um zum Beispiel herauszufinden, ob da irgendwo etwas anderes zum Essen ist als Menschenfleisch.
Charmion sieht das anders. Die geschlachteten Frauen machen sie wütend, aber nur deshalb, weil es sich um Frauen handelt. Das ist das Sakrileg. Nicht die Menschenfresserei. Zugleich merkt sie aber auch, wie mir bei dem Anblick zumute ist.
"Das ist die Strafe," sagt sie zu mir, "die haben das Fort nicht gut verteidigt. So etwas kommt dabei heraus, wenn man nachlässig ist!"
Als ob das alles erklärt. Zwei Männer, die sich gerade in der Speisekammer aufhalten und damit beschäftigt sind, sich aus einem Kadaver ein Stück Fleisch herauszuschneiden, sehen uns mißmutig an, Charmion sogar mit offener Feindschaft. Einer zeigt auf das Stück, das er gerade abgetrennt hat - ich sehe nicht genau hin - und macht eine deutliche Geste. Übersetzt etwa: 'Auch ihr könntet hier liegen!'
In der Küche gibt es eine Art Kamin mit einem Rost. Es brennt dort sogar ein zusammengesunkenes Feuer. Niemand macht sich die Mühe, Fleisch zu braten. Man steht hier auf Rohkost.
"Lass uns gehen!" bitte ich Charmion.
"Willst du nichts essen?"
"Ja, aber nicht das!"
"Die haben nichts anderes! Jedenfalls nicht hier!"
Ich dachte, es wäre mir in letzter Zeit gelungen, ihr zu erklären, was ich von der Menschenfresserei halte. Aber dem ist wohl nicht so. Die Farbe meines Gesichtes interpretiert sie aber richtig.
"Warte," sagt sie, "ich bereite etwas so zu, daß du nicht mehr siehst, wo es herkommt. Aber du mußt hier bleiben!"
Und sie tut es. Während ich im wesentlichen nur im Wege herumstehe - dauernd kommt jemand herein, um etwas aus der Speisekammer zu holen, während kaum jemand etwas in der Küche zubereiten will - bringt Charmion das Feuer schnell wieder in helle Glut und holt dann ebenfalls etwas aus der Speisekammer. Bald liegt über dem Verwesungsgeruch der Duft von bratendem Fleisch. Aber das macht es nicht weniger ekelhaft.
Ich weiß, daß Charmion es gut meint. Aber als wir wenig später die Küche wieder verlassen, jeder mit einem kiloschweren, saftigen Steak in der Hand, ist mir elend zumute. 'Der Kreislauf der Natur', hat Charmion gesagt. Hat sie ja Recht. Aber der Körper des Menschen ist sein Ureigenstes. Sein einzigstes Ureigenstes. Das verdient doch mehr Respekt. Da habe ich doch Recht, oder?
Egal. Am Leben bleiben. Fressen oder gefressen werden. Will ich mit Irene eines Tages diese Welt wieder verlassen? Ja. Also muß ich bei Kräften bleiben. Also Fressen. Und ich esse das Fleisch. 'Es wird gegessen, wer auf den Tisch kommt', wie ein dummer Witz über Kannibalen sagt.
Der Tag bleibt nicht so makaber, wie er angefangen hat, und mit wohlgefülltem Bauch, dem die Herkunft seines Inhaltes ja egal ist, sieht man wieder optimistischer in die Welt. Ein Kaffee wäre jetzt auch recht. Aber so etwas gibt es bei den Granitbeißern nicht.
Ougom hat entschieden, daß wir etwas mehr von der Oberfläche des Pilzberges kennenlernen sollen. Vielleicht denkt er da an die Übungshänge für das Paraglider-Fliegen. Vielleicht will er auch nur seine Ortskenntnis demonstrieren, das einzige, was er uns voraus hat.
24.2 Zum Tor hinaus
Wir verlassen das Fort um etwa 4 Uhr über die Zugbrücke. 50 Meter sind es bis zur Wasserfläche unter uns, aber Charmion und ich haben da schon Schlimmeres gesehen. Nicht einmal, daß die drei Meter breite Zugbrücke keinerlei Geländer hat kann mich jetzt noch erschrecken.
Wir, das sind Charmion und ich, Ougom und Och, außerdem ist Ohohohom dabei, der etwa so alt sein muß wie ich selbst und von dem ich noch nichts weiß außer daß er es nicht mag, wenn man sich bei der Aussprache seines Namens in der Anzahl der 'ho's verzählt. Das ist aber auch unwahrscheinlich, weil jede Silbe anders betont wird. Vielleicht sollte man O-hoho-hom schreiben, aber das wird der Aussprache auch nicht gerecht. Unser Alphabet ist für die Xonchen-Sprache eben wenig geeignet, und das hiesige Alphabet kenne ich nicht. Oder noch nicht.
Während wir über die Zugbrücke marschieren und ich in königlicher Gleichgültigkeit in diese für unsere jetzigen Maßstäbe gar nicht große Tiefe sehe, beschleicht mich ein Gedanke, der mich in besonderen Situationen eben manchmal heimsucht: Wenn mich jetzt dieser oder jener sähe, Eltern, Bruder, Klassenkameraden, Kommilitonen oder Kollegen, in dieser Situation und in dieser Umgebung, in der Gesellschaft dieser Halbwilden, ausgerüstet mit einem echten Schwert und ... nein, stimmt nicht, ich habe ja kein Schwert. Soviel traut man uns noch nicht. Jetzt stört es mich. Warum habe ich kein Schwert, in dieser abenteuerlichen Umgebung? Plötzlich empfinde ich es als einen Makel. Nein, jetzt möchte ich lieber nicht von irgendjemandem gesehen werden. Als wir Casabones bestiegen, da vielleicht. Ich überlege. Nein, da waren ja auch einige peinliche Situationen. Also, da müßte man sich noch genauere Gedanken drüber machen, wann man gesehen werden möchte und wann nicht. Daß immer da so eine Spur von Stolz ist, der die Situationen, wo man sich weniger vorteilhaft darstellt, von der Weitergabe an die Nachwelt ausschließen möchte!
Ich nehme mir vor, alles über diese Reise zu berichten, wenn ich jemals Gelegenheit dazu haben sollte. Wenn es jemals zu einem Buch kommen sollte. Keine Lügen. Ich werde alles berichten: das, wo ich versagt habe, wo ich mir habe helfen lassen müssen, wo ich falsche Entscheidungen getroffen habe, wo ich hilflos war und nur der Zufall oder die Laune von anderen mich gerettet haben, wo ich verzweifelt war und aufgeben wollte, wo ich anderen gegenüber ungerecht war. Das ist eine Verpflichtung. Was mit mir persönlich los ist, oder wie ich mich darstelle, im Kontext dieses Erlebnisses, das ist doch eigentlich unwichtig. Ich habe es eben nicht besser gekonnt. Ich bin kein Abenteurer. Kein Held. Nur ein Ziel habe ich: Wieder nach Hause kommen. Mit Irene. Und was wird mit Charmion? Wir werden uns trennen müssen, wenn ich mit Irene nach Hause gelangen kann. Sie muß hierbleiben. Sie ist von dieser Welt. So intensiv, wie unsere Beziehung im Moment auch ist.
Ich sehe Charmion an, wie sie neben mir marschiert, aufrecht und ungebrochen. Wie sie an mich glaubt. Gestern abend erst haben wir das letzte Mal zusammen geschlafen, schon routiniert und immer noch leidenschaftlich, und ich weiß, heute abend will sie es wieder haben, und wer weiß, vielleicht vorher schon. Und ich will es auch. Und doch plane ich bereits unsere Trennung. Ich werde sie betrügen, so, wie ich im Moment Irene betrüge. Nein, Herwig, gib dich keinen Illusionen hin: Wenn du jemals dieses Buch schreibst, dann wirst du eine der Minusfiguren abgeben. Oder du wirst unehrlich sein. Überleg dirs, damit du es weißt, wenn es erst soweit ist!
Nach der Zugbrücke geht es zunächst einen Fahrweg entlang, der ein bißchen an den Weg erinnert, den wir gegangen sind, als wir etwa am ersten Sauriersee waren. Der Urwald an beiden Seiten, der Nebel, die Gräben, die überflüssiges Wasser vom eigentlichen Weg ableiten sollen.
"Dieses gehört noch zum Fort!" erklärt Ougom und macht eine umfassende Geste, "das ist ein größeres Gebiet, das von einer Mauer eingegrenzt wird. Erst außerhalb der Mauer ist der Platz für die Gefangenen. Das heißt," er grinst, "bis vor kurzem!"
Es dauert tatsächlich nicht lange - höchstens eine Viertelstunde von der Zugbrücke aus - bis die Mauer vor uns aus dem Nebel tritt.
Sie ist hoch - vielleicht fünf bis sieben Meter - und hat auf der Innenseite einen überdachten und aus neuerem Holz gezimmerten Wehrgang. Da sind sogar Schießscharten zu sehen. Was ich nicht sehe sind die Türme, von denen Charmion gesprochen hat, aber das liegt vielleicht daran, daß der Nebel keine allzuweite Sicht erlaubt.
Auf den zweiten Blick fällt mir aber auf, daß diese Mauer sogar wesentlich älter sein muß als der Wehrgang. Ich frage nach, wer die Mauer gebaut hat.
Ougom weiß es nicht. Dafür meldet sich Ohohohom zu Wort.
"Nein, die Mauer war schon immer da. Sie ist nur irgendwann für den Zweck der Gefängnisinsel mit benutzt und umgebaut worden, aber warum und von wem sie eigentlich zuerst gebaut wurde, das weiß man nicht."
Es ist, wie ich dachte. Vielleicht wieder ein Hinweis auf die Bewohner der Toten Städte. Aber Ohohohom schweigt wieder.
Unser Weg führt direkt auf ein geschlossenes Tor zu. Ich sehe nicht, wie wir oder sonst jemand es öffnen könnte, aber wir haben auch nicht die Absicht, es zu öffnen. Ougom biegt nach links ab und folgt einem Pfad durch das Gestrüpp.
"Eigentlich war es ein Glücksfall," erklärt er, "auf der anderen Seite der Mauer, an der Stelle, wo wir gleich hinkommen werden, ist ein Spalt, so ähnlich wie der, in dem das Fort steht, nur kleiner. Das war wahrscheinlich Absicht, denn dadurch war die Mauer an der Stelle noch schwerer einnehmbar. Man hätte den Spalt und die Mauer in einem überklettern müssen. Grund genug, die Mauer direkt auf dem Spaltrand zu bauen. Es war aber auch unklug, denn so war es möglich, sich im Spalt ungesehen bis an den Fuß der Mauer zu schleichen - oder genaugenommen an die Stelle am Grund des Spaltes, die sich direkt unter der Mauer befand. Dort haben wir schon vor langer Zeit, im Sichtschutz des Gestrüpps, angefangen, die Wand des Spaltes zu bearbeiten und auszuhöhlen. Irgendwann würde der Spalt schon einbrechen, und die Mauer auch. Dann brauchten wir nur noch durchzumarschieren. Das ist vor einigen Tagen geschehen!"
"Und niemand hat euch aufgehalten? War die Mauer denn nicht bewacht?" wundere ich mich.
"Im Prinzip schon. Aber da noch nie jemand einen Aus- oder Einbruch versucht hat, hat die Fortbesatzung die Personalstärke der Mauerwache immer weiter runtergefahren. Wir haben keinen einzigen getroffen, selbst, als schon hunderte durch waren! Niemand hat das Poltern und die Schreie gehört!"
"Die Schreie?"
"Die zwei Männer, die gerade im Spalt an der Arbeit waren. Der eine ist sofort verschüttet worden, aber den anderen mußten wir tot machen, damit er mit dem Schreien aufhört. Hätte uns alles vermasseln können."
Ich vermeide, irgendeine Art von Mißbilligung zu zeigen. Auch Charmion verzieht keine Miene.
"Und danach habt ihr das Fort so einfach nehmen können?" frage ich.
"Ja. Sie waren völlig überrascht. Hatten nicht im Traum mit so etwas gerechnet. Zugbrücke war unten, Tor war offen. Natürlich haben sie sich gewehrt, als sie gemerkt haben, was vor sich geht - aber da waren schon über hundert Mann im Fort. Sie hatten keine Chance."
"Und das war erst vor einigen Tagen?" frage ich.
"Richtig."
Ougom sagt nichts weiter, weil wir jetzt zu dem Mauereinsturz kommen. Es ist so, wie er gesagt hat. Die Mauer ist auf einer Länge von vierzig Metern eingebrochen, und ihre Trümmer füllen den Spalt, der nur vier bis fünf Meter tief und vielleicht zwei Meter breit war, soweit aus, daß man jetzt ohne Probleme die andere Seite des Spaltes erreichen kann. Von dort gehen wir auf einem schmalen Pfad an der Mauer entlang zurück bis zum Fahrweg, der das unbeschädigte Tor verläßt. Als ich die von hier wesentlich abweisendere Mauer mustere, denke ich daran, wieviele Gefangene auf dieser Insel für den Rest ihres Lebens verbannt wurden, und daß für diese die Mauer den Rest der Welt vollständig abtrennte. Gewiß, bei einem Außendurchmesser der Inselkrone von 10 Kilometern standen den Gefangenen ja immer noch mehr als siebzig Quadratkilometer zur Verfügung. Aber das auch nur unter der Annahme, daß der größte Teil dieser Fläche auch tatsächlich bewohnbar ist. Vielleicht ist es viel weniger. Vielleicht erfahren wir das jetzt.
Wir folgen weiter dem Fahrweg, biegen aber nach nur zehn Minuten auf einen schmalen Pfad nach rechts ab. Dieser führt alsbald in die Höhe.
24.3 Über den Wolken
Schon nach Minuten passiert das, was ich eigentlich auch erwarte: Über uns wird es dunkler. Die Nebelschwaden werden dünner und dünner, und mit jedem Schritt formt sich deutlicher die grauweiß wogende Wolkenoberfläche, die wir überschreiten. Bald wird in der tiefer werdenden Dunkelheit über uns die Struktur der Höhlendecke deutlicher und deutlicher. Wir sind auf einer kleinen, bergigen Insel in einem leuchtenden Wolkenmeer.
Die Vegetation nimmt ab, macht Moosen und Flechten Platz. Immer häufiger sieht man den nackten Fels. Die Luft ist über den Wolken auch trockener. Ich sehe kaum noch, wo der Pfad entlang geht.
Auf einem isolierten Vorsprung, fast könnte man sagen, einem Seitengipfel, machen wir Halt. Wir haben schon etwa 200 Meter Höhe über der Wolkenobergrenze gewonnen, aber noch lange nicht den Hauptgipfel des Berges erreicht.
In unserer Nähe ragen noch andere, kleinere Berge aus den leuchtenden Wolken. Nur einer ist wesentlich größer: Fast wie eine Säule durchbricht er mit meist senkrechten Wänden in zwei bis drei Kilometer Entfernung die Wolkendecke und ragt wie ein abgebrochener Spieß oder eine Zahnruine bis dicht unter die Höhlendecke, scheint aber mit dieser keine Verbindung zu haben. Von hier aus hinter diesen steilen Fels scheint eine gigantische Masse Fels zwischen den leuchtenden Wolken und der Höhlendecke zu schweben oder aufgehängt. Es ist nicht klar, wodurch sie gestützt wird.
"Die Oberfläche von Casabones" erklärt Ougom "ist sehr bergig. Wir stehen am Hang des zweithöchsten Berges. Der höchste ist der dort drüben. Der ist aber kaum zu besteigen. Dort soll aber noch ein Weg von Casabones wegführen. Keiner von uns weiß, wie man den findet, und ob er überhaupt noch gangbar ist."
Ohohohom weiß etwas mehr. Er erklärt, daß die scheinbar schwebende Felsmasse hinter diesem Steilberg nur der kleinere Teil eines gigantischen Bruchstückes der Höhlendecke ist, das sich vor Urzeiten zwischen Höhlendecke und einigen Säulen verfangen hat. Wenn es gelänge, diesen schwebenden Berg zu erreichen, dann hätte man viele Dutzende Kilometer Weges in einem sehr fremdartigen Gebirge vor sich, ein Gebirge, daß den wagemutigen Wanderer ständig auf abenteuerlichen Wegen von den Ufern, die von dem leuchtenden Wolkenmeer berührt werden, zu den höchsten Höhen, in finsteren Höhlen weit über uns führt. Der Weg sei so gefährlich, daß das völlig als Abschreckung reiche. Deshalb brauchte er auch nicht überwacht zu werden - nie ist ein Gefangener von der Gefängnisinsel über diesen Weg geflohen.
"Woher weiß man denn, daß es überhaupt geht?" frage ich.
"Überlieferungen. Aus alter Zeit. Die Alten kannten sich mehr aus, in diesen Regionen über den Wolken." sagt Ohohohom bedächtig.
Die Alten? Meint er die Bewohner der Toten Städte? Ich weiß es nicht, und Ohohohom sagt nicht mehr.
Der Schwebende Berg macht mir Angst. Ich habe mich ja allmählich an die Vorstellung gewöhnt, daß diese gigantische Höhle große Teile Mitteleuropas untertunnelt, und daß der feste Boden unseres Landes in Wirklichkeit auf der kilometerweiten lichten Weite zwischen verschiedenen Säulen ruht. Aber wenn dieser Schwebende Berg ein Abbruch von der Höhlendecke ist, dann heißt das ja nichts weiter, als daß dort noch ein viel größerer Teil der Höhlendecke ohne jeden Halt ist. Wie kann das stabil sein? Vielleicht, weil es ein längliches Gebilde ist? - Es muß so sein. Eigentlich kann es nur eine Frage der Zeit sein, bis diese Welthöhle irgendwo zur Oberfläche durchbricht. Warum ist es nicht schon längst passiert?
Andererseits fasziniert mich der Gedanke an den Weg über den Schwebenden Berg auch, weil man dort so weit nach oben kommt, nahe an die Erdoberfläche heran. Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, daß es vielleicht irgendwo einen anderen Weg an die Oberfläche gibt.
Charmion schmiegt sich an mich und sieht nach oben, in die dunklen Winkel der Höhlendecke über uns, zwei bis drei Kilometer über unseren Köpfen, die dunkelsten Stellen noch weiter entfernt:
"Und da kommst du wirklich her, Herwig?"
"Ja. Da komme ich wirklich her."
Sie schaudert: "Ich bin selten über den Wolken. Der Fels da oben macht mir Angst."
"Warum?" frage ich, "Es sieht doch über eurer ganzen Welt so aus! Nur ist von ganz unten immer die leuchtende Wolkendecke dazwischen."
"Ja, schon," sagt sie, "aber es ist hier anders. Hier ist es dunkler."
Tatsächlich. Sie hat recht. Wie kommt das? Unter den leuchtenden Wolken hat man oder habe wenigstens ich den Eindruck eines trüben Tages, hier oben hat man den Eindruck einer großen, dunklen Höhle, die mit einem leuchtenden Meer gefüllt ist. Vielleicht strahlt die leuchtende Wolkendecke nach oben und nach unten unterschiedlich hell, bedingt durch eine asymmetrische Schichtung, vielleicht ist das aber auch eine Folge der zerklüfteten und unregelmäßigen Struktur der Höhlendecke über uns.
"Ist dieser Berg geeignet zum Üben mit Paraglidern?" unterbricht Ougom uns.
"Im Prinzip schon. Aber es wäre zweckmäßig, wenn man etwas mehr von der Landefläche sieht. Nicht, daß jemand bei einem Übungsflug bereits die Grenzen von Casabones überfliegt und dann ganz alleine unten ankommt!"
"Was die Landeflächen betrifft, so läßt sich da wenig machen. Diese Wolkendecke sieht immer so aus wie sie jetzt aussieht, sie ändert sich kaum. Aber es reicht doch, wenn man auf den letzten Metern den Boden sieht, oder?"
"Kommt drauf an, wo man runterkommt. Jedenfalls schärft es die Reflexe."
"Die was?"
Ich muß ihm kurz erklären, was Reflexe sind. Ougom versteht es und ist nicht mehr interessiert. Das kommt davon, wenn man leichtfertig versucht, Fremdworte in die Xonchensprache einzuführen.
"Gehen wir noch ganz diesen Berg hinauf?" frage ich.
"Das ist nicht nötig. Man sieht kaum mehr, und weiter oben wird dieser Berg auch schwierig. Wir gehen jetzt ins Dorf."
"Ins Dorf?"
"Wo die meisten Gefangenen ihre Hütte haben."
"Ach so." Frustration, wie immer, wenn ich an einem Berg umkehren muß, dessen Gipfel ich nicht erreicht habe. Aber wir sind ja nicht als Touristen hier.
Weil Ougom, Och und Ohohohom beim Abstieg vorangehen, sind Charmion und ich ziemlich unbeobachtet. Einige Schritte versuchen wir, umarmt zu gehen, aber dazu ist der Weg zu uneben. Und als wir einmal anhalten - schon wieder mitten in den Wolken, an einer ebenen Pfadstelle - und uns lange küssen, dreht sich Ougom um:
"Was macht ihr denn da?" ruft er zurück. Er weiß es wirklich nicht. Für diese Leute dürfte sich Sexualität auf Bumsen oder zum Bumsen gezwungen werden beschränken. Andere Formen der Zärtlichkeit sind ihnen fremd. Wie kann ich ihnen daraus einen Vorwurf machen? Auch Charmion lernt ja noch. Und ich auch.
"Weißt du, was die eigentlich vorhaben, wenn sie tatsächlich diesen Berg verlassen sollten?" frage ich Charmion später.
"Nein. Vielleicht wollen die meisten dahin zurück, wo sie hergekommen sind. Oder sie behalten die Schiffe und werden Piraten. Oder sie wollen Grom überfallen."
"Könnten sie das?"
"Dieser undisziplinierte Haufen? Nein."
Ougom dreht sich wieder ungeduldig um: "Wo bleibt ihr denn? Was redet ihr da? Beeilt euch!"
"Jaja, wir kommen doch schon!" beruhige ich ihn. Und zu Charmion: "Und was machen wir, wenn wir wieder unten sind?" Vielleicht eine sehr akademische Frage. Noch ist es lange nicht so weit. Noch gibt es auf ganz Casabones nicht einen einzigen Fallschirm.
"Spielen!" schlägt Charmion vor.
"Ja, natürlich. Aber was dann? Was machen wir auf lange Sicht?"
"Auf lange Sicht? Wie meinst du das?" Charmion zeigt Unverständnis.
"Den nächsten Tag, den Tag darauf, und so weiter!" erkläre ich.
"Spielen! Solange wir können!" Schon bei dem bloßen Gedanken stellen sich ihre Brustwarzen wieder auf.
Hat sie recht? Bin ich auf dem Holzweg, mit meiner ständigen Sorge um das Morgen und das Übermorgen? Nur noch das Jetzt genießen, ist das die weisere Methode? Weil wir nicht wissen, ob wir morgen schon tot sind, oder, wer weiß, vielleicht heute schon? Aber wenn ich hier wieder weg will, dann muß ich mir schon ein paar längerfristige Überlegungen machen. Ich glaube kaum, daß Charmion das verstehen wird. Die längerfristigen Überlegungen nicht, und daß ich wieder weg will schon gar nicht.
24.4 Das Dorf der Meuterer
Wir haben den Fahrweg wieder erreicht und gehen auf ihm weiter. Es dauert nicht lange, bis Hütten am Wegesrand auftauchen, erst vereinzelt, dann immer mehr. Apathisch herumsitzende Männer. Andere zeigen Interesse, als sie uns sehen. Kaum einer steht auf und folgt uns, um herauszukriegen, wohin wir gehen.
Die Hütten sind jämmerlich. Gebaut mit Material, das sich zufällig anbot: Bretter, in den Boden gerammte Äste, zerfetzter Stoff, manchmal sogar Zweigwerk, als ob Kinder versucht hätten, sich eine Hütte zu bauen. Habe ich auch gemacht, als Kind. Regendicht war so ein aus Ästen geflochtenes Dach nie, und die hier sehen nicht besser aus.
"Sieh dir das an!" sage ich zu Charmion, "Das ist doch der reine Zufall, daß die die Fortbesatzung überwältigen konnten!"
Ougom hat das gehört. Er dreht sich kurz um. Auf seinem Gesicht ist eine Mischung zwischen resignierter Zustimmung und Zorn über unsere Bemerkung zu lesen. Weil keine dieser Emotionen die Oberhand gewinnt, sagt er auch nichts. Wir gehen weiter.
Dieses Hüttendorf zieht sich hin, immer dem Fahrweg entlang. Ich fühle mich an Bilder aus der dritten Welt erinnert. Es ist deprimierend. So etwas hatte ich bei den Granitbeißern nicht erwartet.
Einige sehen Charmion feindlich an, erstaunlich wenige lüstern. Charmion tut so, als merke sie das nicht. Die meisten ignorieren sie sowieso, genauso wie Ougom und mich und die beiden anderen.
Ich sehe auch Kranke, Leute, die nicht mehr von ihrem Lager hochkommen können. Üble Hautekzeme, schlecht verheilte Wunden, faule Zähne. Ist es die Wirkung des hilflosen Dahinvegetierens, bedingt durch das hilflose Eingesperrtsein auf Casabones, das diese Leute so verkommen läßt? Auf dem Saurierfänger waren alle in einem wesentlich besseren Gesundheitszustand, sogar die Männer.
Sogar Charmion zeigt gelegentlich einen Anflug von Ekel. Das ist bei ihr ungewöhnlich.
"Hat Grom auch solche Viertel?" frage ich.
"Nein, natürlich nicht."
Ougom heißt uns schweigen. Wir haben ein größeres Gebäude erreicht. Wenn ich ihn richtig verstehe, handelt es sich um eine Art Dorfzentrum. Wir gehen hinein.
Das Gebäude hat nur einen Raum. Es stinkt, die Beleuchtung ist schlecht, und palavernde Männer versperren überall den Weg. Ougom äußert ein paar scharfe Worte, und eine erstaunliche Anzahl verschiedener Gestalten verlassen fast fluchtartig den Raum.
Ich sehe mich um, so gut es geht. Ein Dorfzentrum im Sinne von 'Kneipe' ist es nicht, denn es wird nichts ausgeschenkt. Es ist auch kein Laden für Dinge, die in einer Gefangenenkolonie eben gebraucht werden. Es ist tatsächlich nur eine etwas größere Hütte.
Ougom hat offenbar nach bestimmten Personen geschickt. Bis die kommen, lassen wir uns in der Mitte des Raumes nieder.
24.5 Von Winden und vom Luftwiderstand
Die nächsten Stunden sind ermüdend und langweilig. Es ist klar, was Ougom vorhat: Verschiedene Personen, die innerhalb dieser Gefangenenkolonie durch Intelligenz und Initiative aufgefallen sind und auf diese Weise gewisse Gruppenführungsfunktionen an sich gerissen haben - so etwas beobachtet man immer in Gefängnissen und Gefangenenlagern - müssen mit unserer neuen Fluchtidee vertraut gemacht werden. Immer wieder muß ich - praktisch ohne graphische Hilfsmittel, denn die gibt es hier nicht - erklären, wie ein Fallschirm oder ein Paraglider funktioniert. Und immer wieder muß ich deutlich machen, daß niemand sich Charmion zu nähern hat. Kaum, daß Ougom's Autorität dazu ausreicht.
Diese Leute, die ich in den nächsten Stunden kennenlerne, sind völlig uninteressant. Phantasielos, voll Haß auf die, die sie hierhergebracht haben, voller Aggression, die meisten haben sich ihr persönliches Provinzfürstentum mehr durch Brutalität erstritten denn durch Intelligenz. Der getötete Oaszom war unter diesen Männern schon eine große Ausnahme.
Es gibt Grund, sich Gedanken darüber zu machen, wie es zu dieser Sammlung von Abschaum kommt. Ist es die Wirkung des Gefangenendaseins auf den normalen männlichen Durchschnittsbewohner der Granitbeißer-Welt? Oder werden Menschen, die man leicht mit dem Wort 'Abschaum' disqualifiziert, auch bei den Granitbeißern leichter in Situationen verwickelt, die sie in ein Gefangenenlager bringen? Nichts genaues weiß ich. Bisher weiß ich ja nicht einmal, für welche Vergehen man in diesem Lager landet, für welche Zeitdauer Strafen ausgesprochen werden und ob überhaupt das Konzept einer zeitlich begrenzten Gefangenschaft vorgesehen ist. Diese Dinge von einzelnen zu erfragen bin ich nicht hier. Vielleicht ergibt sich später die Gelegenheit.
Ich komme zwar schon bald auf die Idee, den Luftwiderstand eines großen Tuchstückes mit einem solchen zu demonstrieren, das einen Teil der Wand in diesem Raum verkleidet. Es ist etwas größer als ein Quadratmeter, dreckig wie alles hier, aber es ist ein Tuch. Zwei Personen können es in die Hände zwischen sich nehmen, senkrecht ausbreiten und ein paar Schritte damit auf der Straße laufen. Dann fühlt man den Luftwiderstand.
Aber damit stolpere ich wieder in eines meiner ureigensten Vorurteile, nämlich das, daß fast alle Menschen in der Lage sein sollten, einfache Abstraktionen und Verallgemeinerungen aufzustellen. Das Tuch ist kleiner als ein Fallschirm und wird bei solchen Demonstrationen auch oft falsch gehalten. Die Kraft des Luftwiderstandes, die man dabei also spüren kann, ist gering. Viel geringer als das Gewicht eines Menschen. Und schon kommt das Argument, daß man mit einer solchen Kraft doch unmöglich einen Menschen tragen könne.
Ein junger Bursche kommt mit einem ähnlichen Einwand, der mir aber fast schon wieder Hoffung macht. Seine Argumentation geht etwa so: Angenommen, es sei gelungen, einen Fallschirm herzustellen, der 90 Prozent des Gewichtes seines Benutzers trägt. Müßte wegen der fehlenden 10 Prozent der Benutzer nicht abstürzen? Er sagt es natürlich mit anderen Worten.
Das ist immerhin mitgedacht. Deshalb gebe ich mir bei diesem jungen Mann mehr Mühe als bei den meisten anderen.
Ich versuche, zu erklären, daß in einem solchen Falle die Fallgeschwindigkeit einfach etwas größer wird, bis der Luftwiderstand die 100 Prozent des Gewichtes des Benutzers und des Fallschirms zusammen erreicht. Wenn sich dieses Gleichgewicht eingestellt hat, dann fällt der Fallschirm mit genau dieser Geschwindigkeit weiter. Der junge Mann - er heißt Oomboo - glaubt mir nicht so recht. Aber es sieht so aus, als ob er sich Gedanken machen wird. Ich bedeute Ougom, sich um Oomboo zu kümmern, und er ist einverstanden.
Wir reden mit diesen Leuten nicht nur über das Prinzip Fallschirm, sondern auch über die Tuchherstellung. Das sieht ganz finster aus. Es mag sein, daß von den notwendigen pflanzlichen Rohstoffen genügend auf Casabones vorhanden sind. Das kann ich nicht beurteilen. Aber mit dem untrüglichen Instinkt des von Arbeit entwöhnten Menschen merken sie sofort, daß da etwas auf sie zukommen könnte, was Mühe bedeutet. Soviel Argumente, daß das nicht möglich ist, was sie noch nie versucht haben, habe ich noch nie gehört.
Wenigstens fällt nicht nur mir und Charmion das auf. Auch Ougom, der doch einer aus ihrer Mitte ist, merkt, woran das Projekt zu scheitern droht. Mehrfach wird er wütend, wenn zuviele belanglose 'Wenn und Aber's vorgetragen werden. Dafür fängt er sich mißtrauische Blicke von allen Seiten ein, wenn er sich mit Charmion bespricht. Das geschieht zunehmend häufiger - sie versteht etwas von der Segelmacherei mit den Mitteln, die in dieser Welt zur Verfügung stehen. Mit den Vorarbeiten war sie zwar selbst nie befaßt, aber sie kennt sie. Da ist das Ernten gewisser flachsartiger Fruchtfäden bestimmter Pflanzen, das Kämmen dieser Fäden und die dann mögliche Weiterverarbeitung zu verdrillten Schnüren oder gewebten Tüchern.
Mit letzteren wird es allerdings schwierig werden, weil ich Charmion's Erklärungen entnehme, daß es bei den Granitbeißern mechanische, mit Muskelkraft betriebene Webstühle gibt. Besonders in Grom soll es sehr viele dieser Einrichtungen geben, aber sogar an Bord des Saurierfängers war einer, erfahre ich jetzt erst. Wahrscheinlich ist der irgendwo in raumsparend zusammengeklappter Form aufbewahrt worden.
Wie dem auch sei, hier gibt es keine Webstühle. Also zwei Alternativen: Tücher nähen, oder Webstühle bauen. Oder beide Ansätze gleichzeitig verfolgen. Und das mit diesen Leuten!
Dann gibt es noch die Möglichkeit, das Tuch zu verwenden, was man hier und dort finden kann. Aber es dürfte viel zu wenig sein, und von viel zu ungleichmäßiger und schlechter Qualität.
Das Palaver an diesem Tag ist endlos. Erst um 16 Uhr verlassen wir das Dorfhaus wieder in Richtung Fort. Fast zehn Stunden Gequatsche, rechne ich aus.
Wir werden von Oomboo begleitet, weil ich Ougom auf seine potentielle Begabung hingewiesen habe. Ein junger Mann von vielleicht 21 Jahren, der ab und zu einige intelligente Fragen gestellt hat. Hoffentlich lebt er länger als Oaszom. Vielleicht sieht Ougom inzwischen auch ein, daß es Dinge gibt, die man geheimhalten sollte, und Dinge, die der Geheimhaltung überhaupt nicht bedürfen, und daß Fachleute und fähige Mitarbeiter nicht wie Sand am Meer gesät sind. Aber ich bin skeptisch - auch bei meinem Arbeitgeber in unserer Welt da oben sind solche Einsichten durchaus nicht Allgemeingut.
Als unsere Gruppe von jetzt sechs Leuten, also Charmion und ich, Ougom, Och, Ohohohom und jetzt auch Oomboo das Fort wieder betreten, erfahren wir, daß es Streit gegeben hat. Worüber, das bleibt mir verborgen. Vielleicht erfährt Ougom es auch nicht. Irgendeine Nichtigkeit. Immerhin hat diese Nichtigkeit sieben Menschenleben gekostet, wie wir erfahren.
"Wenn die so weitermachen, brauchen die bald keine Fallschirme mehr!" sage ich in einem stillen Moment zu Charmion. Sie erwidert nichts darauf, aber weil Ougom den Rest des Abends damit beschäftigt ist, dem Streit auf den Grund zu gehen, gibt es keine weiteren Besprechungen.
Aber noch vor dem Schlafengehen um 20 Uhr erfahren wir, daß es weitere drei Hinrichtungen gegeben hat. Nur den Grund erfahren wir nicht. War es eine Meuterei gegen Ougom? War es ein Streit um irgendeinen kleinen Vorteil in der Hierarchie der Meuterer? War es Spaß, der plötzlich eskalierte? Ich nehme an, daß die Speisekammer wieder aufgefüllt wurde. Immerhin müssen wir an diesem Abend nicht von Fleisch leben - Charmion hat unterwegs, unter den mißtrauischen Augen von Ougom, allerlei Kräuter vom Wegesrand gesammelt. Jetzt erfahre ich, warum: Alles eßbar. Sie teilt meine Abneigung gegen Menschenfleisch nicht, sie versteht sie nicht einmal, aber sie respektiert sie. Ich kann an diesem Abend vegetarisch leben.
Charmion hingegen holt sich Fleisch aus der Küche. Es ist roh und sieht sehr frisch aus. Wahrscheinlich aus 'neuester Produktion'. Ich sehe nicht hin.
"Dieser Oomboo" erzählt sie beiläufig mit vollem Mund, "ist weg."
"Weg? Ist ihm etwas passiert?" frage ich ahnungsvoll zurück.
"Nein. Er hat das Fort wieder verlassen. Zurück ins Dorf."
"Merkwürdig. Will er doch nicht mit uns zusammenarbeiten? Mir schien es so, als ob er wollte."
"Weiß ich nicht." sagt Charmion. Und ich weiß es auch nicht.
Jedenfalls sind die sozialen Strukturen um uns herum sehr in Bewegung. Und viele dieser Bewegungen sind mir völlig unverständlich. Leute streiten sich und bringen sich um, manche werden ohne besonderen Grund hingerichtet, und manche laufen weg. Wissen wir, wer morgen hier das Sagen hat? Wissen wir, ob die Idee von der Flucht mit Fallschirmen demnächst in Ungnade fällt? Wissen wir, ob und wann wir in Ungnade fallen?
Man läßt uns diesen Abend in Ruhe, und als wir, dicht aneinandergedrängt aus dem kleinen Fenster schauen, ist aus dem ganzen Fort kein Laut zu hören. Der See liegt reglos vor uns, der dampfende Urwald hinter den Steilufern, der zu allen Tageszeiten gleich aussieht und der durchaus auf die Anwesenheit menschlicher Wesen verzichten kann, steht uns in herber Gleichgültigkeit gegenüber. Ich muß daran denken, daß sich dieses Bild nicht um ein Deut ändern würde, wenn sich heute Nacht noch alle Einwohner von Casabones entschieden, sich gegenseitig umzubringen. Im Gegenteil, unzugänglich, wie Casabones jetzt ist, läge für den Rest der Zeit, die diesem abgeschiedenen Fleck Erde aus geologischen Gründen noch bleibt, eine feierliche Ruhe über dem Urwald. Pflanzen und Tiere würden ihren üblichen Kampf ums Dasein führen, die Reste menschlicher Aktivität würden überwachsen, das Gefangenendorf würde sogar sehr bald schon völlig verschwunden sein.
Die einzige Gefahr für diesen Platz wäre die, daß irgendeinem Geologen bei uns oben einmal irgend etwas auffällt. Die Gefahr, daß Menschen die Welthöhle der Granitbeißer entdecken. Ich bin ja eigentlich schon die Vorhut. - Ob es schon andere gegeben hat?
Sollte ich das geplante Buchprojekt doch nicht ausführen? Sollte ich den Mund halten, wenn es Irene und mir gelingt, wieder nach Hause zu kommen? Und wenn ich darauf schon eine einfache Antwort finde, was sollte ich tun, wenn es nur mir gelingt, nach Hause zu kommen, ich Irene aber nicht mitnehmen kann, weil sie in dieser Welt verschollen ist? Schließlich sind wir nun schon einige Tage getrennt - ich weiß nicht, wo sie ist. Alles mögliche kann inzwischen passiert sein.
Und wenn wir beide nach Hause kommen, dann werde ich immer noch wissen, daß Charmion in dieser Welt lebt. Ist das ein Argument für oder gegen weitere Nachforschungen? - Alles reduziert sich auf die Frage, ob es einen Kontakt zwischen unserer Zivilisation und dieser Welt jemals geben darf.
Charmion neben mir spricht nichts. Vielleicht hat sie analoge Gedanken. Sie weiß etwas über unsere Welt da oben - das, was ich ihr erzählt habe und was sie mindestens teilweise verstanden hat. Wenig genug. Für sie ist da noch die unüberwindliche Barriere des Nichtverstehens zwischen unseren Welten. - Was passiert, wenn unsere Zivilisationen aufeinander treffen sollten, überlegt sie sich wahrscheinlich nicht. Was sie interessiert ist, was aus uns beiden wird.
Und als allernächstes interessiert sie, was wir miteinander machen werden sowie wir uns auf unser karges Lager zurückgezogen haben. Weiteres Üben für das Fest der Körper, das sich immer wiederholt und immer gleich und dann wieder anders ist. Leidenschaft und schlechtes Gewissen kämpfen in mir einen nur kurzen Kampf. Wie immer in letzter Zeit gewinnt die Leidenschaft. Bei Charmion sowieso - für sie ist es das natürlichste, das, worauf jeder und auch sie ein Anrecht hat, das, was man sich, wenn notwendig, holen darf.
In ihren Umarmungen denke ich auch manchmal, daß wir lediglich ein Recht wahrnehmen. Was stimmt mit meiner Moral nicht? Muß man sich leichter und widerstandsloser korrumpieren lassen, um glücklich zu sein? Rechtfertigen die Umstände und unser gemeinsames Erleben in den letzten Tagen irgend etwas?
Diese Gedanken werden, wie immer vor dem Einschlafen, weggeschwemmt durch Lust und Willen zur Lust. Wie immer ist es so, daß es überhaupt keine Frage ist, daß das, was wir machen, richtig ist.
Und wie immer ist der Schlaf nach der Liebe tiefer und erschöpfter als jeder andere Schlaf.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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