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******** 023. Tag: Sonntag 95-09-10 ********

23.1 Charmion's Liebe

Es ist kurz vor Mitternacht, als wir aufwachen. Das ist ein langsamer, kontinuierlicher Prozess. Aus Träumen werden Tagträume, aus der geträumten Nähe wird die wirkliche Nähe, und so schmusen wir uns gegenseitig wieder in das Wachsein hinein. Nur zu selbstverständlich gleiten wir wieder ineinander, ununterscheidbar, wo der eine aufhört und die andere anfängt. Der Rest der Welt existiert nicht.

Einen Moment lang beschleicht mich der Gedanke, daß uns nur die Abwesenheit der drei anderen Frauen die Gelegenheit zu dieser Muße und dieser Ausführlichkeit gibt. Sogar in der Liebe stehen wir noch auf Gräbern.

Drei Stunden lang reden wir von diesem und jenem. Ich erzähle aus meinem Leben, und Charmion aus ihrem. Fenster öffnen sich zwischen zwei Welten, Subjektivitäten und Verwundbarkeiten werden ausgetauscht. Der Boden ist immer noch hart, aber keiner bemerkt es. In zwei Menschen begegnet sich die Welt der Granitbeißer und die Welt unserer Zivilisation da oben. Wir sehen weiter über den Zaun als es bisher möglich war.

Und es ist da die Drohung, daß all dieses zu Ende gehen wird. Es kann nicht dauern. Entweder, es gelingt mir, wieder in meine Welt zurückzukehren - dann sehen wir uns nie wieder. Oder ich bleibe hier - als Mann ist aber der Aufenthalt in dieser Welt, unter den Granitbeißern, auf die Dauer nicht akzeptabel. Charmion mag mich als vollwertigen Mitmenschen akzeptieren, die anderen Granitbeißer werden das nie tun. Ich kann hier nicht als Schoßhündchen von Charmion's Gnaden leben.

Und ich kann Charmion nicht in unsere Welt mitnehmen. Sie würde sich dort niemals zurechtfinden, ebensowenig wie ich mich hier. Ganz abgesehen davon, daß Irene da ein Wörtchen mitreden würde.

Wir beide wissen das, und beide sprechen es nicht aus. Es werden lediglich keine Zukunftspläne gemacht, wie es so oft in solchen Situationen üblich ist. Unser Verhältnis hat Gegenwart und Vergangenheit. Das Heute ist so intensiv, weil es kein Morgen geben wird. Irgendwann wird es enden. Aber wie? Arme Charmion. Armer Herwig.

23.2 Durch die Schlucht und zum Oberfort

Irgendwann müssen wir aber doch weiter. Nur widerwillig stehen wir auf, erfrischen uns etwas in dem Bach auf dem Boden der Schlucht und laden unsere Sachen auf.

Wie geht es weiter? Die Schlucht, in der wir uns befinden, endet hier in einigen Höhlen. Aus einer von diesen sind wir eben gekommen, und ich vermute deshalb, daß es im Pilzberg noch weitere Höhlensysteme geben wird. Wenn wir nicht über die Felswände hinaufturnen wollen, müssen wir dem Grunde der Schlucht weiter folgen. Charmion meint, daß das der richtige Weg ist, so, wie es ihr beschrieben wurde.

Die Schlucht windet sich, und der Bach, der uns entgegenfließt, nimmt ab und zu den gesamten begehbaren Grund der Schlucht ein. Stellenweise wird die Schlucht auch sehr schmal, ein oder zwei Meter nur, und wir müssen über Geröll klettern. Dabei gewinnen wir weiter an Höhe, aber weil das die Schlucht umgebende Terrain offenbar auch ansteigt, werden die Wände der Schlucht nicht wesentlich niedriger.

An einigen Stellen der Schlucht fällt mir das erste Mal ein geologisch definitiver Hinweis auf: Es gibt an gegenüberliegenden Stellen der Schluchtwände morphologisch korrespondierende Formen, die fast wie Positiv- und Negativformen zusammenpassen würden, wenn man die Wände der Schlucht zusammendrückte. Sie ist also offenbar nicht durch die Erosion des Baches entstanden, sondern der Bach hat erst später hier ein geeignetes Bett gefunden.

Vor meinem geistigen Auge baut sich ein Bild von einem fast gespaltenen Pilzberg auf, einem geologischen Vorgang, der unterbrochen wurde. Aber das ist sicher auch zu stark vereinfacht. Da die Schlucht dort, wo wir sie vorhin erreicht haben, erst ihren Anfang nimmt, kann sie keine geologische Formation sein, die den ganzen Gefängnisberg umfaßt oder durchschneidet.

"Das Fort Casabones liegt direkt am Ende dieser Schlucht!" behauptet Charmion bestimmt, "Es kann nicht mehr weit sein!"

Es ist auch nicht mehr weit. Die Schlucht, deren Wände immer noch 50 Meter hoch sind, weitet sich, wir folgen einer weiteren Biegung, und da ist es.

Jetzt begreife ich auch, warum das Fort in einer Schlucht gebaut wurde: Die Schlucht teilt sich und windet sich in zwei Armen um einen Schiff-förmigen Mittelfelsen herum. Dieser ist mindestens 200 Meter lang - genau können wir es von hier aus nicht erkennen - und an seiner breitesten Stelle etwa 30 Meter breit - weiter hinten könnten es aber noch mehr werden. Er wird von den beiden Schluchtwänden durch jeweils mindestens 10 Meter getrennt. Genau auf diesem Felsen steht das Fort.

Es erinnert an eine mittelalterliche Burg. Ein Konglomerat aus Steinmauern und Türmen, beidseitig gibt es Zugbrücken, die gerade herabgelassen sind, die wenigen Fenster scheinen völlig planlos in den Mauern verteilt.

"Was hindert die Gefangenen, hier einfach direkt in die Schlucht abzusteigen und die Flucht zu versuchen?" frage ich. Ich erfahre, daß ein großes Gebiet um das Fort herum für die Gefangenen gesperrt ist. Jeder, der dort aufgegriffen wird, hat mit seiner sofortigen Hinrichtung zu rechnen.

"Auch jetzt werden wir schon beobachtet, wie wir uns dem Fort nähern!" erklärt Charmion, "Wahrscheinlich sind sie sehr beunruhigt, wieso ich von einem bewaffneten Mann begleitet werde. Vielleicht solltest du deine Schwerter vorübergehend mir aushändigen, bis ich dich bekannt gemacht habe!"

"Vorschlag abgelehnt," sage ich, "mir gefallen meine Schwerter. In eurer Welt fühlt man sich mit einem Schwert einfach wohler! - Außerdem habe ich jetzt schon die ganze Zeit zwei Schwerter geschleppt, jetzt behalte ich sie auch."

Charmion zuckt mit den Schultern. "Wir müssen zur anderen Seite des Forts. Da ist der Eingang."

Wir erreichen erst jetzt in dem aufsteigenden Boden der Schlucht das Niveau des Fußes des Felsens, auf dem das Fort steht. Vor unseren Augen öffnet sich eine Wasserfläche, aus der unser kleiner Bach gespeist wird. Der Felsen des Forts ist von einem See, der sich auf dem Boden der Schlucht gebildet hat, umgeben.

So ab und zu verbergen ziehende Nebelschleier das Fort vor unseren Augen. Eigentlich sollte in dieser Höhe, wo die absolute Milchsuppe durchaus die Regel ist, die optische Überwachung von irgendwelchen Mauern und Absperrungen und Zugängen schwierig sein.

"Ist es auch," sagt Charmion, als ich sie danach frage, "die Mauern, die das eigentliche Gefangenengebiet abtrennen, sind hoch und sehr steil. Da sind viele Wachtürme, und von außen kann niemand sagen, welcher besetzt ist und welcher nicht."

Am rechten Ufer des Sees, der nun die ganze Schlucht ausfüllt, finden wir einen steinigen Pfad, nur einen Fußbreit unebenen Boden zwischen der senkrechten Felswand der Schlucht zur Rechten und dem Wasser links. Dahinter erhebt sich drohend und leicht überhängend der Felsen des Forts. Sogar jetzt, wo wir uns praktisch unter dem Fort entlang bewegen, kommt es vor, daß das eigentliche Fort unseren Blicken durch Nebelbänke entzogen wird.

Der Felsen des Forts ist etwa 300 Meter lang, länger, als es zunächst den Anschein hatte. Dahinter weitet sich die Schlucht noch weiter auf, so daß man mehr von einem See mit 50 Meter hohen Steilufern sprechen kann, dessen Ende wir im Nebel nicht sehen können. Als wir das Ende des Felsens unter dem Fort erreichen, fällt mir eine Treppe auf, die drüben in den Felsen des Forts geschlagen ist.

"Wie kommen wir rüber?" frage ich.

"Schwimmen." sagt Charmion, als ob es das selbstverständlichste der Welt wäre. Ist es vielleicht auch, wenn man nicht daran denkt, daß über diesen Weg Material und Gefangene zwischen dem Oberfort Casabones und dem Fort auf dem Schärenring transportiert werden müssen. Ich verstehe das nicht. Allmählich bin ich davon überzeugt, daß es einen ganz anderen Weg auf den Pilzberg geben muß, und daß wir diesen anderen Weg für den Gefangenentransport auch unbedingt benötigen. Vielleicht ist es aber auch Wunschdenken, an einen anderen Weg zu glauben.

Triefend naß steigen wir wenig später die eingehauene Treppe zum Fort hinauf. Diese Treppe ist kein Luxus, sondern nach bester Granitbeißer-Art nur 30 Zentimeter breit. Die Stufen sind wenigstens sauber. Trotzdem müssen wir aufpassen - das Wasser unten ist zu flach, um bei einem Sturz aus bis zu 50 Metern Höhe groß von Nutzen zu sein.

Dicht unter dem Niveau der Linie, wo die Felswand in die Außenmauern des Forts übergehen, biegt die Treppe nach innen in den Fels hinein. Ein kurzes, enges Tunnelstück, das eine Höhendifferenz von nur vier Metern überwindet. Dann stehen wir in einer Art Hof, mitten im Fort. Der Hof ist so klein, daß er außer dem Aufgang, den wir gerade benutzt haben, keinen weiteren Boden hat. In den vier Wänden rundherum ist auch weder eine Tür noch ein Fenster.

"Wie geht's jetzt weiter?" frage ich. Noch bevor Charmion etwas sagen kann, saust neben uns ein Seil herunter. Es kommt aus einer Fensteröffnung, die vielleicht acht Meter über unseren Köpfen ist. Auch eine Möglichkeit, denke ich: Gegen den Willen der Fortbesatzung kommt keiner in das Fort hinein.

Charmion klettert als erste hinauf, gewandt und schnell, wie es ihre Art ist. Als sie oben durch das Loch verschwunden ist, komme ich dran. Seilklettern ist mir sehr unangenehm, aber man kann die Füße in die Mauerfugen einstemmen, und dann geht es. Trotzdem brauche ich wesentlich länger als Charmion, weil das Klettern mit den Händen am Seil und den Füßen in der Mauer mich immer wieder von der Mauer wegdrückt. Auf den letzten Metern sieht mir jemand von oben zu. Mit raschen und festen Griffen hilft man mir über das letzte, schwierige Stück, wo das Seil über die Unterkante des Fensters aus dem Inneren des Gebäudes herauskommt. Mit beherztem Schwung lande ich auf dem Boden des Raumes hinter dem Fenster. Es ist zunächst so dunkel, daß ich kaum etwas sehen kann. Dafür merkt man sofort am Geruch, daß viele Granitbeißer anwesend sein müssen - da ich und Charmion im Höhlensee gebadet haben, hatte mein Geruchssinn wieder eine Weile Gelegenheit, sich an frische Luft zu gewöhnen.

"Kommt noch jemand?" fragt eine agressive Stimme. Eine männliche, aggressive Stimme. Ungewöhnlich für diese Welt.

"Nein," sage ich, "nur wir zwei. Wir kommen von ..."

Schmerzhaft schnell werde ich auf die Beine gestellt.

23.3 Gefangen unter Meuterern

"Ihr werdet uns schon in allen Einzelheiten erzählen, woher ihr kommt." sagt ein Bär von einem Mann vor mir. Zwei andere halten mich fest, einer davon hält mir ein Messer unter meine Kehle. Ein vierter, der an der Seite steht, hält zwei Schwerter in den Händen, die ich als meine eigenen erkenne. Ich habe eben überhaupt nicht gemerkt, wie man sie mir abgenommen hat.

An der gegenüberliegenden Wand wird Charmion in ähnlich hilfloser Weise festgehalten. Entsetzt sehe ich den großen, blauen Fleck auf ihrem Bauch. Von ihrer Stirne läuft Blut herunter, und sie hat Abschürfungen auf beiden Oberarmen. Sämtliche Kleidung und Ausrüstung ist von ihr heruntergerissen worden. Sie muß in den wenigen Sekunden, die ich gebraucht habe, um das Seil heraufzuklettern, ganz schön verprügelt worden sein, dazu noch völlig lautlos.

Wir sind in eine Art Falle gelaufen. Was wollen diese Menschen? Ist das die Besatzung von Casabones? Warum sind es Männer?

"Abführen. Getrennt abführen. Und beide befragen!" schnauzt der Bär vor mir die anderen an.

Charmion wird vor mir aus dem Raum gebracht, auf einem Gang biegen wir aber in verschiedene Seitengänge ein. Wir verlieren uns aus den Augen.

Allerdings habe ich noch deutlich genug gesehen, wie gierig einige der Männer Charmion angestarrt haben.

Mir wird angst um sie. Aber ich kann nichts tun. Ich kann nicht einmal für mich selbst etwas tun.

23.4 Im Dreckloch

Etwa eine halbe Stunde verbringe ich in einem engen, fensterlosen Raum. Er ist nicht ganz lichtlos, weil Außenlicht durch Mauerritzen eindringt. Das ist genug, um zu sehen, daß sich in den drei Quadratmetern dieses Raumes keinerlei Einrichtungsgegenstände befinden, aber daß der Boden vor Dreck starrt. Wahrscheinlich handelt es sich um eingetrocknete Fäkalien. Es ist widerlich.

Besonders widerlich ist es, daß sie mich gleich auf den Boden geworfen haben. Seit ich in der Welt der Granitbeißer bin, war ich praktisch noch nie sauber, aber auch die Unsauberkeit hat viele Abstufungen. Ich lerne jetzt eine neue kennen.

Bei aller Verwirrung und Panik schält sich doch allmählich eine plausible Idee heraus, was passiert sein könnte: Eine Gefangenenrevolte war insofern erfolgreich, als daß das Fort besetzt werden konnte. Wahrscheinlich ist es noch nicht allzulange her, denn sonst sollte man erwarten, daß bereits ein Versuch gestartet worden wäre, den Gefängnisberg zu verlassen. Dann hätten sie uns in irgendeiner Weise entgegenkommen müssen. Das wäre unangenehm geworden.

Großer Gott, denke ich, Charmion! Was werden sie mit dir machen! Wahrscheinlich ist alles, was weiblich ist, hier Inbegriff der verhaßten Führungsschicht. Ich habe die schlimmsten Befürchtungen.

Meine Armbanduhr hat man mir nicht genommen. Es ist 4 Uhr, als sie mich holen.

Der Raum, in den sie mich bringen, ist größer und hat zwei Fenster. Im Hintergrund sehe ich den See, der sich mit seinen gegenüberliegenden Steilufern im Nebel verliert. Fast ein romantisches Bild, das in krassem Gegensatz zu meiner jetzigen Situation steht. Aber um das zu diskutieren haben sie mich nicht geholt.

Es gibt keinen Tisch und keinen Stuhl. Ich muß mich mit dem Rücken an die Wand setzen, die den Fenstern gegenüberliegt. Drei Männer sind anwesend. Einer davon ist ausschließlich damit beschäftigt, mir mein eigenes Schwert unter den Hals zu halten. Das scheint ihnen als Sicherheitsmaßnahme ausreichend - ich werde nicht gefesselt. Die anderen stellen Fragen.

Die üblichen Fragen, die man erwarten würde: Was wir hier wollen, woher wir kommen. Woher ich komme. Sowie sie rausgekriegt haben, daß ich auch eine Art Gefangener bei den Granitbeißern bin, wird ihr Ton eine Spur versöhnlicher. Auch, daß ich genaue Ortskenntnis des Weges auf den Gefängnisberg habe, interessiert sie.

Ihre Xonchen-Sprache unterscheidet sich von dem Dialekt, den ich auf dem Saurierfangschiff kennengelernt habe. Vielleicht Dialekt, vielleicht Slang einer unterprivilegierten Klasse. Manchmal ist es schwer, zu verstehen, was sie wollen.

Sie kommen nicht auf die Idee, zu hinterfragen, wer bei dieser Excursion die formale Führungsverantwortung hat. Sie unterstellen, daß das Charmion ist. Und ich stelle das nicht richtig. Natürlich habe ich vor mir selber die - vielleicht sogar richtige - Ausrede, daß ich so für Charmion mehr tun kann, als wenn ich mir ein größeres Maß an Zorn zuziehe. Aber genaugenommen bin ich zu feige.

Einer der Männer, der die meisten Fragen stellt und der offenbar von den dreien die meiste Weisungsbefugnis hat - woher er die auch immer her hat - ist vielleicht 32 Jahre alt. Er wird nur mit einem Xonchen-Wort angesprochen, das soviel wie 'Käptn' bedeutet. Seinen Namen erfahre ich nicht. Er scheint leidlich intelligent zu sein, aber in ihm brennt ein Haß auf alle die, die ihn in seinem bisherigen Leben ausgebeutet und beherrscht haben. Objektiv hat er wahrscheinlich Grund dazu, nachdem, was ich bis jetzt bei den Granitbeißern im Allgemeinen gesehen habe. Da seine 'Ausbeuter' im wesentlichen Frauen sind, dürfte man erwarten, daß er Frauen gegenüber intolerant, grausam, sadistisch, rachesüchtig und geringschätzend denkt. Ich merke rasch, daß ich mir mit jeder Aussage, die Granitbeißerinnen irgend etwas positives unterstellt, sofort Minuspunkte und Verärgerung einhandle.

Trotzdem gelingt es mir, im Laufe des Verhörs wenigstens die Führungsverantwortung für unsere Expedition von Charmion weg auf Chrwerjat, Chmerm und Chechmirch zu delegieren. Denen kann das nicht mehr schaden.

Dann aber, bei der Beschreibung unseres Aufstieges, kommen wir zu einem Punkt, der den 'Käptn' brennend interessiert: Der zerstörte Wendeltreppenschacht.

"Vollständig abgebrannt?" fragt er. Er ist natürlich nicht entsetzt. Das würde er nie zeigen. Aber daß das Bestreben dieser Männer ist, Casabones zu verlassen, ist ja eigentlich klar.

"Kann man das ausräumen?" fragt der andere. Er ist jünger, vielleicht 25, und wurde einmal mit 'Och' angeredet.

"Unmöglich," meine ich, "Der Schacht ist immer noch heiß. Glühende Holzkohle, große Mengen davon, auf hunderten von Höhenmetern keine Wendeltreppe mehr, noch viele Tage erstickende Feuerungsgase, die nicht abziehen können. Keine Chance."

Sie überlegen eine Weile laut, was man da machen könnte. Es sieht so aus, als wären viele Gefangene mit verbundenen Augen auf den Gefängnisberg gebracht worden. Wie man den Weg mit verbundenen Augen bewältigen kann ist mir allerdings völlig unklar. Andere Bemerkungen lassen auf einen anderen Weg schließen, der mit 'von oben' umschrieben wird und der mindestens genauso gefährlich sein soll. Aber Einzelheiten darüber erfahre ich nicht, und es ist jetzt nicht an mir, Fragen zu stellen.

"Wie habt ihr denn gedacht, wieder runter zu kommen?" fragt der Käptn. Er gibt dem Mann neben mir einen Wink, und der nimmt mein Schwert von meinem Hals weg und legt es griffbereit auf den Boden.

"Soviele Gedanken habe ich mir bis jetzt darüber nicht gemacht," sage ich, "aber ich hatte den Eindruck, daß es andere Wege geben muß. Meine Begleiterin ist ortskundig. Sie müßte es wissen."

"Das werden wir herausfinden, ob sie etwas weiß." stellt der Käptn kurz fest. Ich kann mir verdammt gut vorstellen, wie das 'herausfinden' aussehen soll. Ich muß sie retten. Irgendwie.

"Meine Begleiterin ist übrigens mein Eigentum!" stelle ich fest.

"Ach wirklich? Seit wann dürfen Männer Sklavinnen haben?" fragt der Käptn ungläubig.

"Nicht alle." phantasiere ich drauf los. Ich muß mir etwas ausdenken. Etwas plausibles, um diesen frustrierten und brutalen Leuten klarzumachen, daß ich eine ungewöhnliche Stellung hatte. Mir fallen die Methoden ein, die ich den Granitbeißerinnen verraten habe, wie man mit einem Schiff Höhe am Wind gewinnen kann. Das müßte gehen. Vielleicht geht noch mehr in dieser Richtung.

"Nicht alle," wiederhole ich, "nur die Techniker." Und ich erläutere etwas über die Bedeutung eines Kiels bei einem Segelschiff, und wie ich dieses den Granitbeißerinnen an Bord des Saurierfängers erklären wollte, und wie dies zu gewissen Privilegien geführt hat.

Der Käptn ist nicht sonderlich beeindruckt. Wahrscheinlich hat er keine Fachkenntnisse in der Seefahrt. Also muß eine andere Idee her. Am besten eine Idee, die auch eine Möglichkeit der Flucht von diesem Gefängnisberg andeutet. 'Man müßte fliegen können', habe ich mir schon mehrfach gedacht.

23.5 Die Mär vom Gleitschirmfliegen

Warum eigentlich nicht? Aber jetzt konsistent bleiben. Bis jetzt habe ich im Verhör im wesentlichen die Wahrheit gesagt, weil ich erstens nicht weiß, welche Unwahrheiten mir Vorteile brächten und weil es zweitens für mich sowieso ein Prinzip ist, die Wahrheit zu sagen. Nicht aus ethischen Gründen, sondern aus Denkökonomie: Wenn man Unwahres als wahr erzählt, dann muß man sich diese alternativen 'Versionen' der Wirklichkeit zusätzlich merken, um nicht in Widersprüche verwickelt zu werden, und aus genau dem gleichen Grund muß man auch einigen Überlegungsaufwand hinein stecken, um nicht inkonsistente Lügengeschichten zu konstruieren. Wenn man bei der Wahrheit bleibt, dann braucht man das nicht zu tun, weil die Wirklichkeit sowieso in sich konsistent ist. 'Lügen haben kurze Beine' ist für mich keine ethische Forderung, sondern eine Erfahrungstatsache. Eben eine Eigenschaft der üblichen sozialen Interaktionen. Lügen kann man sich nur leisten, wenn man sehr intelligent ist, so daß man die Übersicht über die eigenen Lügen behält. Das bin ich aber nicht.

Ich will es aber mal mit Halblügen versuchen. Über das Segeln mit einem Kiel habe ich an Bord des Saurierfängers gesprochen. Über die Anwendung von Segeln zum Fliegen aber noch nicht. Aber hätte ich das nicht über kurz oder lang tun können?

"Paraglider!" sage ich, "Das war das nächste Vorhaben! Es war allerdings nicht so dringend, weil sich die Schiffskommandantin nicht dafür interessierte. Aber es könnte ein Weg sein, von diesem Berg herunterzukommen! Ich meine, wenn diese anderen Wege von diesem Berg herunter nicht existieren sollten!"

"Paraglider?" fragt der Käptn, die Xonchen-angepaßte Aussprache dieses Wortes möglichst gut reproduzierend.

Ich versuche, es zu erklären. Unglauben. Drohung, man werde mich wegen dieser versuchten Lügen foltern. Das sei doch Unfug. Ich zeichne Skizzen in den Dreck auf dem Boden. Der Käptn und Och denken nach. Man sieht ihnen an, daß das für sie eine ungewohnte Situation ist. Naja, dafür können sie vielleicht nichts, wenn ihnen in ihrem Leben jede Form von Bildung und geistige Tätigkeit vorenthalten worden ist. Leider ist es tief in mir drinnen, durch Erziehung in früher Kindheit eingebrannt, dieses Herabblicken auf dümmere als ich. Ich muß mich vorsehen, daß ich mir das nicht anmerken lasse.

"Du kommst aus einer Welt, die woanders liegt als unsere?" fragt der Käptn noch einmal nach. Wahrscheinlich stellt er sich eine andere Welthöhle vor. "Und dort gibt es solche Dinger?"

Ich muß Farbe bekennen. Ich habe noch nie selber solche Geräte gebaut, erzähle ich. Aber ich habe sie gesehen. Die ungefähre Form ist mir klar, es gibt die Möglichkeit, Experimente anzustellen, bis man ein funktionsfähiges Modell hat. Dann die volle Größe. Ich erläutere auch den normalen Fallschirm, den man vielleicht auch benutzen könnte, um die Hochebene von Casabones zu verlassen.

"Es ist für viele Menschen bei uns eine Art zweckfreier Beschäftigung." ende ich, "Sie fliegen aus Spaß. Man kann mit den Dingern ja keine Höhe gewinnen." Ein bißchen muß ich zunächst schon vereinfachen.

"Man braucht Stoff. Viel Stoff." überlegt Och. Kluges Kerlchen.

"Reißfesten Stoff. Er muß mehr als das Gewicht eines Menschen tragen." stimme ich zu.

Sie diskutieren noch eine Weile. Ich merke, daß keiner von beiden auch nur eine blasse Ahnung von Strömungsdynamik oder überhaupt von Mechanik hat. Da kennt Charmion sich besser aus. Wie diese Leute wohl die eigentliche Besatzung des Forts überwältigt haben? - Och zeigt mehr Spuren des Verstehens als der Käptn. Der bricht an dieser Stelle das Verhör wieder ab. Er muß wohl noch länger nachdenken.

"Ich will meine Sklavin wieder haben!" sage ich.

"Du bekommst eine Sklavin." sagt der Käptn kurz.

"Nein. Nicht irgendeine. Meine Sklavin!"

Der Käptn ist sich unschlüssig. "Mal sehen." sagt er. Dann werde ich in meine Zelle zurückgeführt.

Es ist gleich 6 Uhr. Wie wenig man in zwei Stunden Palaver erreichen kann, denke ich mir. Naja, bei meinem ehemaligen Arbeitgeber war das ineffiziente Besprechungswesen noch viel schlimmer.

Die Zelle ist in meiner Abwesenheit nicht sauberer geworden, und es ist immer noch nichts da, womit ich das selbst ändern könnte. Im Gegenteil, die normale Tätigkeit meines Verdauungstraktes zwingt mich dazu, die Ecke der Zelle, die am schmutzigsten aussieht, noch etwas mehr einzusauen. Wenigstens weiß ich, daß diese Art von Gestank nicht gesundheitsschädlich ist. Und irgendwie ist einem die eigene Scheiße auch immer noch vertrauter als die von anderen Leuten.

Durch die dicke Tür höre ich gedämpft lautes Reden, das gelegentlich in Schreien übergeht. Nur Männerstimmen. Ich kann nichts verstehen. Hoffentlich lassen sie Charmion in Ruhe. Immer noch erinnere ich mich in pathologischer Deutlichkeit an ihre Verletzungen, die sie ihr beigebracht haben.

Ich überlege, ob ich den Mund eben nicht zu voll genommen habe. Manchmal habe ich früher Kollegen gegenüber solche Gedankenspiele geäußert: Was wäre, wenn Hannibal oder irgendein anderer Feldherr Flugdrachen oder Hanggleiter gehabt hätte? Ein faszinierender Gedanke. Die Technologie, die man dazu braucht, ist in der europäischen Geschichte schon seit Jahrtausenden vorhanden: Man braucht nichts weiter als reißfeste, leichte Stoffe, reißfeste Seile und stabile Stäbe. Bambus, oder bestimmte Hölzer, die vielleicht speziell bearbeitet worden sind. Wenn dann die Anfangsidee da ist, dann braucht es nichts weiter als stete Experimente, Versuch und Irrtum, Menschen, die mechanische Strömungsvorgänge intuitiv erfassen können. Aber erst Leonardo da Vinci hat sich eine Art Fallschirm überlegt, jedenfalls, soweit wir wissen. Es hätte Jahrhunderte früher der Fall sein können. Ein historischer Zufall, daß das Segelschiff dem Flugdrachen vorausging. Es hätte auch anders kommen können. Insbesondere militärische Anwendungen hätten der Idee des Flugdrachens die nötige Schubkraft verliehen.

Daß, die geeigneten Materialien vorausgesetzt, die Granitbeißer diese Fluggeräte haben können, bezweifele ich nicht. Unsicher ist aber, ob es mir schnell genug gelingt, die Idee zu vermitteln. Schnell genug für irgendwelche Anfangserfolge. Für etwas, das man sehen und vorführen kann.

Zumindestens gibt es Stoffe, die sich für Segel eignen. Das haben wir ja unten gesehen. Ob es hier auf Casabones welche gibt ist eine andere Frage. Dafür arbeitet ein anderer physikalischer Effekt für uns: Der hohe Luftdruck. Hier, auf dem Pilzberg, 5000 Meter über dem Meer unten und etwa 5000 Meter unter dem Meeresspiegel unserer Ozeane, ist der Luftdruck doppelt so groß wie in unserer vertrauten Meereshöhe. Unten, am Fuße des Pilzberges, ist der Druckfaktor sogar vier. Nur den bisher sehr großen körperlichen Anstrengungen ist es zu verdanken, daß sich mein und auch Irene's Körper dem bisher ohne Schaden, ja ohne es zu bemerken, angepaßt haben. Dieser hohe Luftdruck erleichtert jede Art von Segelverwendung, sei es nun auf Segelschiffen oder für Luftfahrzeuge.

Ich muß mir eine Strategie zurechtlegen. Fallschirme zuerst, kleine Demonstrationsmodelle. Dann steuerbare Fallschirme. Die ersten Versuche mit Menschen draußen am Steilufer. Es sollte möglich sein, das ohne den Verlust von Menschenleben durchzuziehen. Es muß gehen.

Ich bin wohl im Pläneschmieden etwas schneller als die Führung der derzeitigen Fortbesatzung. 3 Stunden muß ich tatenlos rumgammeln, bevor man mich um 9 Uhr wieder holt.

Wieder sind Och und der Käptn anwesend, dafür verzichtet man auf jemanden, der mich ständig mit einer Waffe bedroht. Nach einigen Minuten betritt ein weiterer Mann den Raum. Er ist jung, noch keine 20, würde ich sagen, und er setzt sich auf die Fensterbank, mit dem Rücken nach draußen. Zunächst sagt er gar nichts, obwohl Och und der Käptn mit ihrem Verhör offensichtlich gewartet haben, bis er anwesend ist.

Sie kommen gleich zum Punkt: Wie verläßt man die Gefängnisinsel, diesen unzugänglichen Pilzberg. Wir gehen noch einmal in die Einzelheiten des Herweges, auch wenn ich nicht weiß, was das noch bringen soll.

Nach einer kurzen Dauer der Unterhaltung gelange ich aber zu der Einsicht, daß dieser Weg nicht mehr ernsthaft in Betracht gezogen wird. Einmal sieht der Käptn den jungen Mann am Fenster an, und der nickt unmerklich. Dann begreife ich: der muß den Weg auch etwas besser kennen als die anderen. Meine Aussagen wurden jetzt auf Richtigkeit überprüft.

Sie wechseln das Thema. Der Paraglider, das interessiert sie wirklich. Besonders den jungen Mann. Er kommt nach vorne, setzt sich neben die beiden anderen und sagt:

"Ich bin Oaszom. Ich war Fischer, bevor sie mein Dorf überfallen haben. Dann war ich lange auf einem Schiff als Gehilfe der Segelmacherin. Ich weiß etwas über Segel."

"Das ist gut, Oaszom," sage ich, "denn wir brauchen jemanden, der sich gut mit Segeln auskennt. Das ist sehr wichtig!"

Sofort wächst er innerlich einige Zentimeter, obwohl er sich bemüht, es nicht zu zeigen. Aber das kann man in dem Alter noch nicht so gut verbergen. Wahrscheinlich hat ihn noch nie jemand gelobt.

"Du sollst mir alles über diesen - Paraglider? - erzählen!"

Also erzähle ich alles noch einmal. Mitten drin fällt mir etwas ein:

"Meine Begleiterin ist auch Segelmacherin. Jedenfalls kennt sie sich in der Schiffstechnik aus. Das war so ungefähr ihre Aufgabe an Bord des Saurierfängers. Ich glaube, sie sollte dabei sein, weil wir wirklich viele brauchen, die sich mit der Paraglider-Technik auskennen!"

"Eine Frau?" mischt sich der Käptn ein, "Nein."

"Aber sie kann uns nützlich sein!"

"Sie wird uns nützlich sein. Aber nicht so." Es ist entschieden. Versuch mißglückt. Charmion ist noch nicht mit von der Partie.

Hoffentlich habe ich nicht noch einen anderen Fehler gemacht. Vorhin habe ich Charmion als 'meine Sklavin' bezeichnet, jetzt als 'meine Begleiterin'. Das ist nicht ganz genau dasselbe. Solche Widersprüche in Nuancen können einem irgendwann später noch einmal Schwierigkeiten machen, wenn sich jemand dran erinnert und einen plötzlichen Anflug von logischem Denken hat.

Oaszom begreift tatsächlich etwas schneller als die beiden anderen. Und er fängt Feuer. Er gehört zu den Leuten, die von Technik fasziniert sind. Das entscheidet sich teilweise durch genetisch bedingte Variation und Ausprägung der cortikalen Musterdarstellung, teilweise durch Zufälligkeiten in der eigenen Biographie, besonders in frühester Jugend: Wer als Kind von den unbelebten Dingen weniger Enttäuschungen erfährt als von den Mitmenschen, dessen Weltbild wird mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr um die unbelebten Dinge kreisen als um die Menschen. Bei uns oben wäre er ein Ingenieur geworden, oder ein Physiker, vor 50 oder 100 Jahren wahrscheinlich ein geschickter Handwerker. Hier hat er so viel weniger Chancen gehabt, seine Begabungen zu entfalten, daß diese neue Idee bei ihm auf sehr fruchtbaren, aufnahmefähigen Boden fällt. Nun ja, auch Charmion würde diese Idee sehr rasch begreifen. Vielleicht gelingt es mir doch noch, sie irgendwie zu beteiligen.

"Die Qualität des Stoffes ist ganz wesentlich," erzähle ich, "meine Begleiterin ist darin eine große Expertin. Sie ist eine gute Segelmacherin, auch wenn sie eine Frau ist!"

"Nein." sagt der Käptn. Vorstoß zurückgeschlagen.

Jedenfalls fängt Oaszom bereits an, selbstständig Ideen zu entwickeln:

"Wenn so ein Schirm sehr groß ist, dann kann er doch auch mehrere Menschen tragen?" fragt er.

"Im Prinzip ja. Aber dann ist er sehr schwer oder überhaupt nicht zu lenken. Besser, jeder Mann hat einen Schirm oder einen Paraglider."

Ich vermeide es, von Fallschirmjägern zu erzählen, denn dann müßte ich auch ein Wort über Flugzeuge verlieren, und das würde jetzt mehr Verwirrung als Klarheit stiften.

Aber ich brauche auch nichts über die militärische Anwendung von Paraglidern oder Fallschirmen zu erzählen. Der Käptn mischt sich plötzlich ins Gespräch ein:

"Eigentlich müßte es möglich sein, mit diesen Dingern in ein feindliches Lager zu fliegen. Was das für eine Überraschung wäre, wenn die Schwertkämpfer so plötzlich vom Himmel herabschweben!" Jetzt zeigt er zur Abwechslung etwas Begeisterung.

"Und vor der Landung sind sie minutenlang hilflose Zielscheiben für die Pfeile der Verteidiger!" dämpfe ich seine Hoffnung auf schnelle militärische Großtaten.

"Wenn niemand aufsieht? Wenn man völlig lautlos herabschwebt?"

"Völlig lautlos geht das nicht. Der Wind rauscht immer im Schirm, wie bei jedem Segel. Und irgendjemand wird bei einer größeren Menge von Leuten irgendein Geräusch machen. Außerdem - so einen Überraschungsangriff macht man vielleicht ein einziges Mal. Dann spricht sich so etwas rum, und jede Anhäufung von Menschen, die eine Wache für nötig halten, werden wenigstens einen abstellen, der den Himmel beobachten soll."

Der Käptn ist nicht überzeugt, daß ich recht habe, schon weil es seine eigene Idee war, aber er hält zunächst wieder den Mund. So kann ich mit Oaszom schon über technische Einzelheiten reden. Einzelheiten, die ich selbst schon nicht mehr kenne. Habe ich denn jemals einen Paraglider oder einen Fallschirm selbst hergestellt? Bezüglich der handwerklichen und technischen Einzelheiten hänge ich doch selbst zu sehr in der Luft. Genausowenig kann ich den Leuten hier den Nutzen und die Herstellung eines Benzinmotors oder eines Personalcomputers klarmachen, bloß weil ich selbst die Funktion dieser Dinge kenne.

Oaszom weiß etwas über die Herstellung von Segeltuch. Es gibt auf Casabones keine nennenswerte Vorräte von Textilien, aber die Grundstoffe sind pflanzlicher Art. Die gibt es.

"Wieviele Menschen sind denn in Casabones?" frage ich.

23.6 Umgangston

"Mehr als die Hälfte von 5 mal 5 mal 5 mal 5 mal 5!" sagt Oaszom. Das ist das letzte, was er sagt. Das Schwert des Käptns saust von oben quer in seinen Schädel und trennt Gesicht von Hinterkopf. Oaszom fällt nach vorne um. Ich werde von Blut und Gehirnfetzen bespritzt.

Reglos bleibe ich sitzen. Der Käptn steckt sein Schwert, blutig, wie es ist, wieder in die Scheide. Oaszom's grausam verstümmelter Körper liegt zwischen uns. Er kann nicht mehr am Leben sein. Nicht mit dieser Verletzung. Hoffe ich.

"Wieviele Leute hier einsitzen, geht niemand etwas an!" sagt er wütend zu mir und zu Och, "Das habe ich schon hundert Mal gesagt, daß ich bestimme, was gesagt werden darf und was nicht!"

Einen Moment lang Schweigen. Bin ich der nächste? Und wenn nicht, was kann man noch erreichen, wenn man nicht einmal wesentliche Zahlenwerte erfragen darf, Zahlenwerte, die man unbedingt für ein solches Unternehmen braucht? Woher soll man die Anzahl der benötigten Fallschirme denn wissen, wenn man nicht die Anzahl der Personen wissen darf, für die sie bestimmt sind?

In mir regt sich Aggression gegen soviel führungstechnischer Dummheit. Es ist die alte Wahrheit: Gewaltsame Revolutionen stürzen manchmal den Herrscher, doch nie den Thron. Mit diesen Leuten ist keinesfalls leichter zu verhandeln als mit der Originalbesatzung, wenn diese noch hier wäre.

Vielleicht hatte der Käptn noch eine alte, unbeglichene Rechnung mit Oaszom, einen persönlichen Streit. Oder sein plötzlicher Jähzorn war eine Folge der Frustration, nicht zu jenen zu gehören, die die technischen Dinge am besten verstehen. Ich weiß es nicht.

Inzwischen hat das Denken des Käptns seinen Ausbruch an Jähzorn wieder eingeholt. Allmählich dämmert ihm, daß es sehr ungeschickt war, einen der Kenntnisträger so einfach zu eliminieren, und das aus einem nichtigen Grund. Außerdem dämmert ihm, daß das mir und Och wohl auch klar sein muß. Hoffentlich ist ihm klar, daß ich jetzt der einzige bin, der etwas über Paraglider und Fallschirme weiß.

Er steht auf und wendet sich an Och: "Sorge dafür, daß das ..." Er deutet auf die Leiche mit dem gespaltenen Kopf. "... daß das in der Speisekammer verschwindet." Dann verläßt er den Raum.

Och ist sich auch noch nicht darüber klar, wie er diese neue Entwicklung der Dinge interpretieren soll. Nicht, daß er durch diese Grausamkeit schockiert ist - das ist für einen Bewohner dieser Welt ja alltäglich. Aber er wird andere Sorgen haben: Der Käptn hat einen wesentlichen Fehler gemacht, und wie immer, wenn so etwas passiert, wird dieser versuchen, diesen Fehler auf seine Untergebenen zu schieben. Und da ist Och die nächste Adresse. Oder ich. Aber mich brauchen sie noch, wenn sie von Casabones runterwollen.

Och steht auch auf, geht an die Tür und ruft etwas hinaus. Nur Sekunden später kommen zwei andere Männer, die den Leichnam Oaszom's hinaustransportieren. Keiner von beiden zeigt sich überrascht.

Dann sind Och und ich wieder allein.

"Wie soll es weitergehen?" frage ich. Bloß selber keinen Vorschlag machen. Wenn einem schon das Wissen, daß sich zwischen 1500 und 2000 Menschen auf Casabones aufhalten, so übel genommen wird, dann sollte man anderen die Initiative überlassen.

"Wir müssen ein paar andere Leute finden, die etwas von Segelmacherei oder Seilerei verstehen." überlegt Och laut. Er ist durchaus nicht glücklich über die Entwicklung der Dinge. Vielleicht habe ich in ihm eher jemanden, der zum Mitdenken in der Lage ist. Was das technische betrifft, wäre Oaszom da die erste Wahl gewesen.

"Gut, finden wir ein paar. Werden die dann gleich umgebracht?"

Och schaut mich sorgenvoll an. Er ist sich deutlich bewußt, daß sein Kopf nicht allzu fest auf seinen Schultern ruht.

"Ougom hat immer recht. Manchmal kommt er erst nach langer Zeit von selbst auf die richtige Lösung. Vorher darf man sie nicht unter seine Nase halten. Nachher darf man aber nicht mehr erwähnen, wer diese Idee zuerst hatte. Es sei denn, sie geht schief."

"Ougom?" frage ich.

"Der Käptn. Er läßt sich immer 'Käptn' nennen. Halt dich besser daran."

"Mmh. Gut. Und du glaubst, daß er von selbst auf die Idee kommen wird, meine Begleiterin an dem Unternehmen zu beteiligen? Ich meine, wenn sich nicht noch ganz qualifizierte Leute finden lassen?"

"Erstmal hoffe ich," sagt Och, "daß er bisher von selbst auf die Idee gekommen ist, sie überhaupt am Leben zu lassen."

"Kannst du etwas für sie tun?" frage ich.

"Ich kann es versuchen."

"Gut." fahre ich fort, "Wenn ich darum bitten dürfte. Die Paraglider sind nämlich nicht das einzige Problem, mit dem man sich beschäftigen muß."

"Was denn noch?" fragt Och beunruhigt.

"Angenommen, es gelingt, alle Gefangenen von Casabones mit Paraglidern unbeschädigt nach unten zu bringen. Was dann? Da ist nur ein Ring von Inseln rund um den Gefängnisberg. Einige davon sind völlig kahl. Nackte Felsen. Was auf den anderen wächst, reicht vielleicht nicht aus, um diese Leute zu ernähren. Dann ist da noch das Unterfort mit seiner Besatzung. Die werden vielleicht nicht ganz tatenlos zusehen, wenn ein größerer Gefangenenausbruch vor sich geht."

"Bei der Anzahl von Angreifern?" zweifelt Och.

"Überschätze die bloße Anzahl nicht. Die da unten sind bewaffnet und geübt. Nach der ersten Überraschung werden die erbitterten Widerstand leisten. Ich glaube kaum, daß die ihre Schiffe uns freiwillig ausliefern."

"Dann holen wir sie uns." sagt Och bestimmt, "Und Waffen haben wir. Die von der Besatzung dieses Forts."

"Für alle?" frage ich, "Und was richtet man mit Schwertern gegen massive Mauern aus? Und dann - was die an Schiffen da haben, das reicht nicht für alle Gefangenen. Es sei denn, wir haben ganz fürchterliche Verluste. Dann reicht es."

Vielleicht habe ich Och jetzt etwas überfordert. Aber irgendwie muß ich diese Erwägungen in seinen Kopf hineinkriegen. Nur, wenn wir erfolgreich diese Gefängnisinsel verlassen, habe ich die Möglichkeit, Irene wiederzutreffen, und nur dann können wir versuchen, wieder unsere eigene Welt zu erreichen. Das bleibt das letzte Ziel.

Und Charmion. Was wird mit ihr? Kurzfristiges Ziel: Sie muß in die Fallschirmmacherei mit eingebunden werden, und zwar als sakrosankter Kenntnisträger. Wenn es nicht dazu schon zu spät ist.

Es ist 11 Uhr, und ich werde wieder in meine Zelle gebracht. Was für eine Resourcenverschwendung: Anstatt sich unverzüglich an die Arbeiten zu machen, die die Flucht von diesem Berg ermöglichen sollten, werde ich zu unproduktivem Nichtstun gezwungen. Ja, und die Meuterer müssen sich wohl kaum zum Nichtstun groß zwingen lassen. Vielleicht gärt in einigen Köpfen allmählich eine Vorstellung davon, was jetzt zu tun ist.

Wenigstens gelingt es mir, von Och etwas zu essen zu fordern, bevor die Zellentür hinter mir zuschlägt. Wenig später wird mir auch etwas gebracht: Wasser und rohes Fleisch. Der Hunger treibt es runter. Und mir ist, weil ich die Geschmacksunterschiede kenne, restlos klar: Das was ich esse, ist Teil der ehemaligen Fortbesatzung:

Menschenfleisch.

23.7 Von Segelmacherei, Sklaverei und Motivation

Nach weiteren drei Stunden, um 14 Uhr, ist das nächste Verhör fällig. Och und der Käptn Ougom sind anwesend, dazu zwei weitere Männer, die aber offensichtlich nur zu reden haben, wenn sie gefragt werden.

Besondere Überraschung: Sie bringen auch Charmion. Sie ist, wie ich, unbewaffnet, hat aber noch oder schon wieder ihren Lederstreifenrock und ihre Jacke an. Auch scheint sie nicht mehr Verletzungen zu haben als die, die ihr gleich zu Anfang beigebracht wurden. Dafür ist sie, wie ich, völlig verdreckt. Zweifellos ist sie mißhandelt worden, aber ihr Trotz ist ungebrochen. Ihre Miene hellt sich kurz auf, als sie mich sieht. Wahrscheinlich ist das auch bei mir der Fall. Besser, wir zeigen das nicht zu deutlich.

"Tja," sagt der Käptn Ougom, "da sind noch einige Dinge, über die wir sprechen müssen. Einige Widersprüche.!" Er zeigt auf Charmion und spricht weiter zu mir: "Deine Sklavin hat behauptet, ihr hättet Waffen, von denen wir nicht einmal träumen könnten!"

"Was für Waffen?" frage ich.

"Sie spricht da von einer Art Feuerball, der ganze Landschaften verbrennen und vergiften kann!"

Oh weh. Charmion hat irgend etwas erzählt, um ihre oder meine Haut zu retten, indem sie die Neugier unserer Bewacher geweckt hat. Irgendwann in den letzten Tagen habe ich sicher etwas von der Waffentechnik in unserer Zivilisation erwähnt. Aber wie kann sich jemand aus einem Naturvolk Bau und Wirkungsweise etwa von Atomwaffen vorstellen? Wie kann jemand, der weiß, wie man Pfeile schlitzt und schärft, Bögen schneidet und spannt und Schwerter schmiedet und schleift, eine Vorstellung davon haben, welch immenser Aufwand erforderlich ist, bevor man über eine Rakete oder eine Kernwaffe oder ein Jagdbomber verfügen kann?

"Es sind Waffen, wie wir sie in unserer Welt haben. So etwas führen wir nicht mit uns. Das wäre völlig unmöglich!"

Ougom läßt nicht locker. Fast eine Stunde lang versuche ich, etwas über unsere Militärtechnik zu erzählen und gleichzeitig klarzumachen, warum man solche Dinge hier nicht nachvollziehen kann. Diese ganze Diskussion kostet wieder kostbare Zeit, und meine Glaubwürdigkeit wird dadurch nicht besser.

"Und dann behauptet sie aber, daß ihr etwas mit euch hattet, was eine Art kaltes Feuer ist. Man bewegt es, und es leuchtet!" bohrt Ougom ein anderes Thema an. Unsere Dynamolampen! Charmion hat aber viel erzählt, stelle ich fest.

Ich mache ihm klar, daß ich diese durchaus vorführen könnte, wenn ich sie hier hätte. Habe ich aber nicht - sie sind auf dem Saurierfänger. Immerhin stelle ich in Aussicht, daß ich das vorführen kann, wenn wir erst einmal unten sind.

Och und Ougom sehen sich an, ebenso die anderen beiden Männer. Wenn Skepsis Gestank kompensieren könnte, dann wäre hier jetzt richtig frische Luft.

"Ihr dürft euch keine Illusionen machen!" versuche ich zu erklären, "Diese Dinge gibt es nur in unserer Welt, und es gibt keinen Grund, sie hierherzubringen. Ich habe, als ich in eure Welt abstieg, nicht erwartet, daß es hier Menschen gibt. Sonst hätte ich Bilder über unsere Welt mitgebracht!"

Endlich kommt das Thema wieder auf die Fallschirme. Die beiden anderen Männer stellen sich als Fachleute heraus, weil sie jetzt bei dem Gespräch beteiligt werden. Sie heißen Ozcham und Ochom, und ich merke schnell, daß es sich um kleine Lichter handelt. Ozcham hat lange Zeit unter Anleitung und Aufsicht mechanisch Seile flechten müssen, ohne sich für weitergehende Fertigkeiten dieser Art auch nur rudimentär zu interessieren. Der andere hat einmal als Seemann auf einem Schiff gearbeitet. Das sind also meine Experten! Es ist aussichtslos, mit diesen Leuten.

Ich fürchte, ich muß ihre Inkompetenz demonstrieren. Ich drehe den Spieß also um und befrage die beiden intensiv, und zwar nach Art eines Betreuers eines physikalischen Praktikums.

Das Betreuen eines Praktikums habe ich vor über 20 Jahren einige Male gemacht. Es handelte sich um ein Demonstrationspraktikum, das die Technische Universität Clausthal in ihrem Lehrprogramm anbot, in dem Lehramts-Studenten lernen sollten, wie man Schülern physikalische Experimente vorführt. Natürlich ist es dazu nötig, daß man weiß, was man macht, und deshalb war es die Aufgabe der Assistenten, die Praktikumsteilnehmer gelegentlich in 'intensive Gespräche' zu verwickeln, um herauszubekommen, ob die wußten, was sie taten. War ein Student nicht genügend vorbereitet, dann kam es durchaus vor, daß er gleich wieder nach Hause gehen durfte. Passierte ihm das mehr als ein- oder zweimal pro Semester, dann war seine Teilnahme an diesem Praktikum umsonst und er durfte im nächsten Semester noch einmal antreten.

Zu Unrecht wurde den Assistenten - die selbst Studenten der Physik in höheren Semestern waren - vorgeworfen, sie würden Praktikumsteilnehmer 'herausquizen'. Das ist nie der Fall gewesen. Im Zweifelsfall haben wir immer noch die Unkenntnis des befragten Studenten zu seinen Gunsten abgerundet, bis auf die ganz krassen Fälle natürlich, wie zum Beispiel der, der es fertigbrachte, zu einem Versuch, in dem er Elektrolyse demonstrieren sollte, wobei man mit scharfen Säuren und Laugen umgehen muß, mit Anzug und Krawatte zu erscheinen und auf diese Weise zu demonstrieren, daß er überhaupt keine Ahnung hatte, was ihn erwartete. In dem Fall mußten wir natürlich frühzeitig mit der Befragung anfangen, um zu verhindern, daß dieser nicht mehr ganz so junge Mann mit etlichen Löchern im seinem vermutlich einzigen Jacket oder in seiner sicherlich einzigen Haut das Institut wieder verließ.

Auch wenn wir also niemals jemanden absichtlich so befragten, daß er keine Chance mehr hatte, so waren wir dennoch in der Lage, das zu tun. Jeder routinierte Prüfer kann das. Jeder Prüfer kann den dümmsten Studenten durch die schwerste Prüfung hindurchwürgen und das größte Genie durchfallen lassen. Wer die Autorität hat, die Fragen auszusuchen und zu stellen, kann eine Prüfung im Prinzip in jede Richtung lenken. Das macht es ja so schwer, eine gerechte Prüfung durchzuführen. Eine Prüfung zu manipulieren ist viel einfacher.

Und genau das mache ich jetzt. Es dauert nicht lange, bis es so aussieht, als ob Ozcham noch nie in seinem Leben ein Seil gesehen hat und als ob Ochom nicht den Unterschied zwischen Bug und Heck und Mastspitze kennt. Ich sehe, daß das auf den Käptn Eindruck macht. Bald jedenfalls dürfen die beiden sich wieder entfernen. Sie werden nicht mehr gebraucht. Hoffentlich tut man ihnen nichts. Diesen Leuten ist das zuzutrauen.

"Und diese Frau kennt sich mit Paraglidern aus?" fragt der Käptn und deutet auf Charmion.

"Noch nicht. Wie ich gesagt habe, standen wir erst dicht davor, diese Technologie einzuführen. Sie macht die technische Überwachung an Bord des Saurierfangschiffes."

Der Käptn denkt wieder nach. Allmählich müßte er Übung darin bekommen. Dann wendet er sich wieder an mich:

"Wie würdest du an meiner Stelle verfahren?"

"Um alle Gefangenen von diesem Berg herunter zu bekommen?"

"Ja."

"Wir müßten mehrere Dinge gleichzeitig beginnen. Erstens ist es sicher, daß wir riesige Mengen an Stoff und an dünnen Schnüren brauchen. Sehr viele Leute müssen sofort dazu eingesetzt werden, um diese herzustellen. Zweitens müssen wir Experimente machen. Dazu brauchen wir auch Stoff und Schnüre, aber nicht so viele. Wir müssen ein paar Probeexemplare schneidern und mit denen die ersten Sprünge üben. Am Anfang da draußen auf dem See, vom Steilufer herunter. Dann von einem höheren Hang herunter, wenn es auf der Oberfläche von Casabones so etwas gibt."

Ougom nickt, also gibt es so etwas.

"Dann," fahre ich fort, "müssen wir mehr und mehr Paraglider herstellen. Mit denen, die wir schon haben, fängt dann ein Ausbildungsprogramm an: Jeder muß in etlichen Probesprüngen damit umgehen können. Wir können den Absprung von allen Gefangenen auf Casabones nicht eher wagen, als bis jeder an kleineren Hängen wenigstens einige Male geübt hat."

Ougom sieht von einem zum anderen. Dann sieht er Charmion an. Sie hält seinem Blick trotzig stand. Sie hat schon begriffen, was vor sich geht.

"Das Herstellen des Stoffes ist am schwierigsten." sagt er.

"Wieso?" frage ich nach, "Ich denke, der Vorrat an den nötigen pflanzlichen Rohmaterialien ist groß genug?"

"Das ist es nicht," sagt Ougom, "aber diese Männer sind das Arbeiten nicht gewöhnt."

"Wollen die nicht die Gefängnisinsel verlassen?"

"Doch. Wenn es so einfach ist, drauf loszulaufen und, wenn nötig, drauf loszuschlagen. Den Zusammenhang zwischen solchen Arbeiten und einer möglichen Flucht wird kaum einer sehen."

"Wie würdest du es tun?" frage ich, die Frage diesmal direkt an Charmion gerichtet.

"Ich? Um die zum Arbeiten zu bringen?"

"Ja."

Sie macht die Bewegung des Halsabschneidens: "Jeder zwanzigste. Wenn sie dann immer noch nicht arbeiten, noch einmal."

Ougom sieht so aus, als wolle er sie am liebsten gleich anspringen und so bestrafen, wie er es mit Oaszom getan hat. Wie Wellen in flachem Wasser sehe ich einige der Muskeln von Charmion unter ihrer Haut spielen. Sie ist auch ohne Waffen durchaus nicht wehrlos, und Ougom will wohl vermeiden, sich ein paar Blessuren abzuholen, auch wenn er mit seinem Schwert am Ende doch Sieger sein würde. Außerdem hat er schon einmal einen Know-How-Träger beseitigt. Zu oft kann man sich das nicht leisten, wenn man Erfolg haben will.

"Wir haben unsere Bewacher beseitigt, weil wir genug von diesen Bestrafungsaktionen haben!" sagt er, "Hier kommandiert keiner mehr herum!"

Vermutlich schließt er sich selbst bei dieser Aussage nicht ein, aber ich frage nicht nach.

"Ich bin gefragt worden, wie ich es anstellen würde, eine große Menge von Menschen zu einer großen Aufgabe zusammenzufassen und zu gemeinsamen Anstrengungen zu bringen. Darauf habe ich geantwortet. Wenn meine Antworten unerwünscht sind, dann sollte man mich vielleicht gar nicht erst fragen!"

Großartige Charmion! Jetzt hat sie es ihm gegeben. Ougom sieht sie haßerfüllt an. Aber was kann er tun?

"Was sie meint," versuche ich zu beschwichtigen, "ist, wenigstens einen machbaren Weg zu zeigen, wie man diese Arbeiten organisieren kann. Das hat sie getan. Es gibt aber noch andere Wege."

"Ach ja? Und welche?"

Jetzt darf ich mir etwas ausdenken.

"Spaß!" sage ich.

"Was?"

"Spaß. Wie ich vorhin erzählt habe, wird diese Art des Fliegens in unserer Welt als eine Freizeitbeschäftigung betrieben. Wenn man es einmal anfängt, dann läßt es einen kaum los. Ich denke, das sollte man ausnutzen: Jeder Mann, der seinen eigenen Fallschirm im wesentlichen selbst herstellt, darf ihn nachher behalten! Ich denke, schon nach den ersten Probeflügen wird es sich herumsprechen, wieviel Spaß das macht!"

Ougom sieht sehr zweifelnd drein. Menschen mit positiver Motivation zu etwas zu bringen hat er wohl noch nicht erlebt. Ich muß mir wieder klarmachen, daß mehr oder weniger alle auf Casabones ein Schicksal hinter sich haben, das mit den Worten 'Unterdrückung' oder 'Ausbeutung' oder 'Zwangsarbeit' am besten beschrieben werden kann. Ob diese Leute tatsächlich an etwas arbeiten können, weil sie es wollen und nicht, weil sie es müssen, das muß sich erst noch zeigen.

Und dann muß ich auch damit rechnen, daß sich bei ihm ähnliche Vorbehalte bilden, wie sie ansatzweise in der 'Unternehmenskultur' meines Arbeitgebers zu finden sind: Wenn etwas Spaß macht, dann ist es keine Arbeit und damit nicht nützlich. Ein teures Vorurteil, aber nichtsdestoweniger nicht auszurotten.

Trotz allem, unsere Stellung scheint schon sehr viel besser als am Anfang zu sein. Das sollte man ausnutzen. Das muß ich ausnutzen. Ich stehe auf, gehe die drei Schritte zu Charmion, setze mich neben sie und nehme sie in die Arme:

"Wenn ihr hier wirklich von diesem Berg herunter kommen wollt," erkläre ich, "dann ist es besser, wenn es das Wort 'unmöglich' nicht mehr gibt. Irgendwie werdet ihr alle Leute hier zum Arbeiten bringen, oder ihr werdet eure Tage auf dem Gefängnisberg beschließen. Ihr könnt auch den Weg versuchen, den wir gekommen sind und etwas an dem alten Wendeltreppenschacht schnüffeln, wenn ihr mir nicht glaubt. Oder findet einen anderen Weg."

Nebenbei beginne ich, einige der schlimmsten Abschürfungen an Charmion's Oberarmen zu untersuchen.

"Ihr könnt alles mögliche probieren. Wir brauchen nie wieder miteinander zu reden. Ihr könnt uns sogar umbringen. Aber wenn wir den Weg durch die Luft nehmen wollen, dann gibt es nur eine Autorität, die weiß, wie man das anstellt. Und das sind wir. Ich möchte, daß das völlig jenseits jeden Zweifels klar ist."

Ougom und Och blicken uns starr an, wohl immer noch unsicher, ob sie soviel Arroganz auf der Stelle bestrafen oder ob sie uns weiter zuhören sollten.

"Und wo wie schon einmal dabei sind," fahre ich fort, "Um gute Arbeit leisten zu können, brauche ich eine gute Arbeitsumgebung. Die Drecklöcher, in die ihr mich und sie geworfen habt, sind ja wohl unzumutbar. Ich verlange auf der Stelle eine bessere Unterkunft. Und ich will unsere Schwerter zurück!"

"Nein," entscheidet Ougom, "eure Schwerter bekommt ihr nicht. Aber eine bessere Unterkunft sollt ihr haben."

Charmion und ich sehen uns an. Gewonnen, denke ich! Wenn man erst einmal einen Hebel hat, mit dem man wieder am eigenen Schicksal herumdrehen kann, dann geht es auch irgendwie weiter.

Vielleicht war es sogar ganz gut, daß ich auch unsere Schwerter zurückverlangt habe. So hat Ougom wenigstens etwas, was er uns abschlagen kann, und wir bekommen eine bessere Unterkunft.

Das Verhör ist zunächst mal zu Ende. 16 Uhr ist es geworden. Es gelingt mir noch, während irgendwo weiter oben im Fort ein Raum für uns freigemacht werden soll, die Erlaubnis zu erwirken, das Fort für ein Bad im See zu verlassen. Erstens haben wir das nötig, und zweitens kann ich dann vielleicht mit Charmion alleine sprechen.

"Was hast du ihnen denn alles erzählt?" frage ich, als wir wenig später, unter den zwischen Gleichgültigkeit und Strenge und Neugier und Verwunderung wechselnden Blicken zweier zu unserer Bewachung abgestellten Männer im See am Fuße des Fortsfelsens schwimmen.

Sie erzählt in kurzen Stichworten. Die beiden Männer brauchen nicht alles mitzukriegen. So ähnlich wie mich hat man sie über den Herweg befragt, und sie ist Gottseidank nicht auf die Idee gekommen, sich etwas auszudenken. So haben unsere Beschreibungen übereingestimmt. Dann aber hat sie allmählich gemerkt, daß alle ihre Befrager eigentlich bescheidenen Geistes waren, und sie hat angefangen, einige Räuberpistolen zu erzählen, um sie zu verwirren. Dabei hat sie einiges von dem, was ich ihr über unsere Welt erzählt habe, benutzt. Damit hat sie einen Pegel von Verwirrung und Neugier erzeugt, der sie vielleicht vor Schlimmerem als vor bloßer Intensivbefragung bewahrt hat.

Jetzt, wo die schlimmsten Befürchtungen nicht eingetreten sind, kann ich wieder Genuß an Charmion's Nähe und dem warmen, milden Wasser des Sees und dem romantischen Steilufer, das sich in einigen hundert Metern Entfernung im Nebel verliert, empfinden. Einen unangenehmen Gedanken habe ich aber noch:

"Haben sie versucht, dich zu vergewaltigen?" frage ich, während ich um sie herumschwimme.

"Ja, natürlich!" sagt sie, "einmal, und dann nicht wieder!"

"Einmal?"

"Ja."

"Hat er?"

"Was?"

"Ich meine, hat er?"

"Ach das meinst du. Nein. Er wollte mir sein Ding ins Gesicht stecken, und da habe ich ihm den Schwanz abgebissen. Danach hatte er keine Lust mehr."

Das sagt sie in einem Tonfall, in dem andere Leute sagen 'Ich habe gerade ein Eis am Stiel gegessen'.

"Da kannst du aber froh sein, daß sie dich nicht in Stücke gerissen haben!" sage ich.

"Da war keine Gefahr. Die anderen beiden im Raum, die zugucken wollten, haben sich fast totgelacht!"

"Und der, den du - abgebissen hast?"

"Hat erst entsetzt an sich heruntergestarrt, dann hat er angefangen zu heulen wie ein kleines Kind und ist rausgerannt."

"Jedenfalls hast du jetzt einen Feind mehr." vermute ich.

"Was macht das schon." sie legt sich auf den Rücken und läßt sich fast bewegungslos treiben, "außerdem glaube ich das nicht. Der wird jetzt überall ausgelacht werden. Der kann sich nirgends mehr blicken lassen. Nein, der ist alle. Ich weiß, was in solchen Fällen passiert: Es kommt dauernd wieder zu Raufereien, wenn ihn jemand dumm anquatscht. Bei einer davon wird er umkommen."

Sie paddelt glücklich weiter. Ich sehe ihr an, wie sie den Gedanken an einen besiegten Feind und an ein ruiniertes Menschenleben genießt.

"Tja, Herwig," sagt sie und sonnt sich sichtlich im Lichte ihrer wiederhergestellten Überlegenheit, "so ist das. Du kannst von Glück sagen, daß du zu mir gehörst!"

Ich bin mir nicht restlos sicher, ob ich ob dieser Bemerkung auch eingeschnappt sein sollte. Bei aller Intimität - Charmion denkt in völlig anderen Kategorien als ich. Wie leicht kann einer von uns die größte Liebeserklärung von sich geben, und der andere faßt sie als Beleidigung auf. Oder umgekehrt.

Als wir hinreichend erfrischt und sauber sind - wir haben auch gleich die Gelegenheit wahrgenommen, unsere Klamotten zu waschen - treten wir wieder ans Ufer und steigen mit unseren Bewachern den bekannten Felsenweg zum Fort auf.

Wenig später stehen wir in unserem neuen Quartier. Es ist ein sehr kleiner Raum mit nur einem Fenster, das auch in Richtung See zeigt. Aus dieser Höhe sehen wir aber nicht nur den See und die beiden divergierenden Steilufer, sondern auch die Mischung zwischen Steppe und Regenwald, die das Land jenseits der Steilufer bedeckt. Dort, wo unser Blick wegen des Nebels kaum noch hinreicht, scheint das Land sich aufzuwölben, wie der Fuß eines Berges. Aber das ist nur eine Vermutung.

"Ob da im See Saurier sind?" überlege ich laut, während ich mit Charmion in den Armen am Fenster stehe, "In einem der ersten Seen, an dem wir vorbeigekommen sind, als wir in eure Welt abstiegen, waren welche. Der war etwa in derselben Höhe über dem Meer."

"Hier sind überall Saurier," sagt Charmion und windet sich in meinen Armen, "Manche sind in Seen, manche in Höhlen. - Du glaubst gar nicht, in wieviel Höhlen eine große Schlange lauert! Andere Schlangen müssen ihre Höhle noch finden - ich finde, in jeder Höhle sollte eine Schlange zuhause sein!"

Wink verstanden. Es ist ohnehin schon 17 Uhr. Zeit zum Schlafen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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