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******** 022. Tag: Samstag 95-09-09 ********

22.1 Chrwerjat

Der erste Schritt, bis man im ersten Bügel kauert, ist schwierig, aber dann geht es. Eigentlich geht es sogar gut - es ist wie üblich nur eine Nervensache, die prinzipielle Möglichkeit, zwischen den Bügeln hindurchzurutschen, zu ignorieren.

Das Schwert schlägt dauernd irgendwo an - das ist lästig. Aber wir sind ja nicht gezwungen, uns leise fortzubewegen. Der Wind ist immer noch frisch und die Bewölkung unter uns so dicht, daß wir nur zeitweise einen Blick auf die Schäreninseln erhaschen können.

Charmion geht wieder als erste, dann ich, dann Chrwerjat, dann die anderen beiden. Beim Einstieg hatte ich den Eindruck, das Chrwerjat einen inneren Frieden ausstrahlte, aber ich kann mich auch irren. Herwig, sage ich mir, bilde dir nicht allzuviel ein!

Von dem Stollenloch sehen wir rasch nichts mehr, und nun verliere ich fast meine Courage, als rundherum nur noch die weite Felswand oder Felsdecke zu sehen ist und unter uns ein dichtes Wolkenmeer. Auch wenn der letzte Klettersteig am Hufeisen das schlimmste war, was ich bis jetzt gesehen habe, darf man sich nicht verleiten lassen, sich zu sicher zu fühlen. Und da ist immer noch die Möglichkeit, daß einige dieser gut begehbaren Bügel nicht mehr fest sind - wenn Charmion keinen Scherz gemacht hat. Ist sie zu so subtilen Scherzen in der Lage? Ich denke darüber nach, aber ich finde keine definitive Antwort. Bei ihr kann ich mir vorstellen, daß sie eher aus Spaß einen Bügel absichtlich lockert, um jemanden anderes in Schwierigkeiten zu bringen.

Wie lange werden wir gehen müssen? Ich versuche, es zu überschlagen: Die hängende Ringstraße soll 3000 Meter über dem Meer liegen, wir haben etwa bei 2300 Meter angefangen - das war die Höhe des letzten Stollenloches. Macht 700 Meter Höhenunterschied. Bei einer Überhangneigung von ungefähr 45 Grad bedeutet das eine Länge des Klettersteiges von 1000 Metern, und bei einem Abstand von 30 Zentimetern sind das etwa 3300 Eisenbügel. Immer wieder das gleiche Problem, ärgere ich mich: Man hätte schon beim ersten Bügel daran denken müssen, mitzuzählen.

So, ohne Orientierung, könnte man auf die Idee kommen, daß dieser Klettersteig von Unendlichkeit zu Unendlichkeit führt. Das ist natürlich Blödsinn, weil wir ja erst vor kurzem das Stollenloch verlassen haben.

Ein kurzer, metallender Klang hinter mir schreckt mich aus meinen Gedanken auf. Dann sehe ich Chrwerjat, die sich plötzlich unter mir in mein Blickfeld schiebt und sich immer rascher entfernt. Sie schreit nicht. Ein paarmal überschlägt sie sich. Ich habe den Eindruck, daß sie dazwischen immer noch zu uns zurücksieht. Aber gegen das Sichüberschlagen kann sie nichts machen, weil sie mitten in der Luft ihren Drehimpuls nicht abbauen kann. Es dauert Sekunden, bis ich vollständig begriffen habe, daß sie abgestürzt ist.

"Großer Gott." sage ich. Was soll ich sonst sagen? Sie ist tatsächlich abgestürzt. Einfach so. Und sie hat nicht einmal geschrien. Um uns nicht zu irritieren?

Immer kleiner wird die Figur unter uns. Wir folgen ihr mit unseren Blicken - das ist alles, was sie als sogenanntes 'letztes Geleit' je kriegen wird. Dann taucht sie in die Wolken ein und ist verschwunden.

Ich drehe mich um: "Was ist denn passiert?"

Chechmirch und Chmerm haben der fallenden Chrwerjat auch bewegungslos zugesehen. Chechmirch war direkt hinter ihr.

"Ich weiß nicht," sagt sie, "Sie hat losgelassen. Ganz plötzlich. Durchgerutscht. - Dieser Bügel ist jedenfalls fest, und der da auch."

Keine Vermutung, keine Spekulationen, keine Wertung, nicht die Spur einer Bestürzung.

Ich sehe nach vorne. Auch auf Charmion's Gesicht dieselbe gleichgültige Ratlosigkeit.

Der Wind weht um uns herum. Er ist nicht stark. Er hätte den Schrei dieser Frau nicht verweht. Nicht aus wenigen Metern Abstand. Wir hätten ihn gehört. Also hat sie tatsächlich nicht geschrien. Und diesem Wind ist es so verdammt egal, ob jemand schreit oder nicht.

Nun muß Chrwerjat unten auf dem Wasser oder auf einer der Felseninseln aufgeschlagen sein. Zerschmettert im Augenblick.

Arme Chrwerjat. Gibt es jemanden, der viel über dich weiß? Jemanden, der über dich weinen würde? Du warst eine gute Sprachlehrerein, da unten, auf dem Saurierfangschiff. Besser als viele, die sich bei uns oben mit einem Diplom schmücken. Talent und Begabung. Wie sonst hätten wir in so ungewöhnlich kurzer Zeit einen brauchbaren Einstieg in diese schwierige Sprache finden können? Was wärst du in unserer Welt geworden?

Und hier, auf unserer Excursion, hast du immer im beherrschenden Schatten von Charmion gestanden. Ich habe ja nichts über dich gewußt. Jetzt werde ich auch nichts mehr über dich erfahren. War das dein Wille? Und was hat diese zwangsweise - Begegnung - zwischen uns vor kurzer Zeit bedeutet? Hast du daran gedacht, als du eben fehlgegriffen hast? Aber warum nur? Gibt es da einen Zusammenhang? Es ist doch nicht so wichtig, in eurer Welt? Oder stimmt das nicht? Ist das immer nur die Behauptung der Charmion's und der Cherkrochj's und all der starken Frauen? Weil die Schwachen sich nicht zu Wort melden und nicht widersprechen? - Was weiß ich schon über euch? Vielleicht hat Charmion recht, wenn sie sagt, daß ich überhaupt nichts begriffen habe. In dieser Welt gibt es den Löwen und das Lamm - und das Lamm ist noch unwichtiger als bei uns.

"Gehen wir weiter." sagt Charmion.

"Schon?" frage ich.

"Natürlich. Was willst du denn noch hier?"

Und so gehen wir denn weiter. Chechmirch schließt auf. Von keinem ein Wort des Bedauerns. Wir sehen Chrwerjat auch nicht mehr hinterher. Warum sollten wir auch? Da unten sind nur verwaschene, driftende Wolkenfelder. Auch in einer Wolkenlücke würde man nichts sehen. Im Meer nicht und auf den Inseln nicht. Es ist zu weit weg.

So, Herwig, denke ich mir, wäre es auch gewesen, wenn du es gewesen wärst, der am Hufeisen oder hier abgestürzt wäre. Sie alle hätten mit gemessenem Interesse hinter mir hergeschaut, bis mein Körper in die Wolken eingetaucht wäre. Ein paar Bemerkungen - Weitermarsch. Wie jetzt. Das wäre die Reaktion gewesen, die Charmion von sich selbst erwartet hätte. Fallenlassen und sich selber festhalten.

Wieder zwinge ich mich zur Konzentration. Irene soll mich nicht durch eine Unachtsamkeit verlieren. Es muß möglich sein, auf dieser Excursion zu überleben. Habe ich doch schon länger gelebt als wenigstens ein anderes Mitglied dieser Excursion, das mit dieser Welt bestens vertraut war!

Im Laufe der Zeit sehe ich, daß wir mehr Abstand zu den Wolken unter uns gewinnen und daß die Überhangneigung noch weiter zunimmt. Das macht das Klettern deutlich schwieriger, weil immer mehr Körpergewicht auf den Armen ruht und der Griff immer fester sein muß. Dieser Klettersteig ist auch kein Klettersteig zum Ausruhen wie etwa eine Hängende Straße oder ein Stollen. Man muß sich dauernd festhalten. Die Ruhepause kommt erst, wenn wir oben sind.

22.2 Seiltanz

Als wir um etwa 2 Uhr an der Hängenden Straße ankommen, sehe ich schon von weitem, daß das ein Irrtum ist: Es handelt sich um eine Folge kleinerer Seilbrücken von der Art, wie wir sie auf unserem Weg in diese Welt beschritten haben: Ein Tretseil, zwei Handseile, gelegentliche Querseile zum Abstand halten, Aufhängung alle dreißig bis vierzig Meter. Ich hoffe noch, daß die Folge hängender Bögen, die man schon von hundert Metern Entfernung erkennen kann, sich noch als etwas anderes herausstellen. Aber diese Hoffnung wird entäuscht.

Die Seile sind aus einem hanfähnlichen Material. Wir haben die Wahl, rechtwinklig rechts oder links abzubiegen. Charmion entscheidet sich für links, so daß wir in derselben Richtung wie bisher um den Pilzberg herumgehen. Worauf sie ihre Entscheidung gründet, sagt sie nicht. Ich nehme an, sie weiß, was sie tut.

Die Seile sind leicht. Das Tretseil ist fünf Zentimeter stark, die beiden Handseile etwa vier Zentimeter. Das sollte ausreichen, mehrere Menschen zu tragen, solange das Seilmaterial in einem guten Zustand ist. Das Tretseil ist so von einem weiteren Seilgeflecht umwickelt, wie wir es auch schon kennen, allerdings habe ich den Verdacht, daß dieses Seilgeflecht gegenüber dem eigentlichen Tretseil leichter verruschten kann als bei einem massiven Stahlseil. Vielleicht hat man es dann mit bloßen Füßen leichter, oder mit dem bei den Granitbeißern üblichen Schuhwerk.

Kein Vergleich mit den schweren und deutlich dickeren Stahlseilen von jener Brücke, die von dem Gewicht eines Menschen kaum Kenntnis genommen haben. Ich vermute, daß sich das Tretseil unter meinen Füßen zur Seite schieben wird. Daß Charmion die erste Seilbrücke betritt und problemlos auf ihr entlangbalanciert, darf mich nicht täuschen. Ich weiß, wie behende sie sich in der Takelage des Saurierfängers bewegt hat. Wahrscheinlich könnte sie sogar freihändig gehen, wenn sie es darauf anlegte.

Und daß unter diesen Seilbrücken nur 3000 Meter Fallstrecke sind, im Gegensatz zu den mehr als 8000 Metern, die ich hinuntergefallen wäre, wenn ich mich auf jener Stahlseilbrücke nicht doch noch festgehalten hätte, ist auch nur ein begrenzt wirksamer Trost. Tatsächlich dürfte es so sein, daß der Widerstand der dichten Luft hier in beiden Fällen eine etwa gleich große Endgeschwindigkeit zugelassen hätte.

Es gibt nicht einmal eine kleine Plattform am Ende des Klettersteiges. Vom letzten Bügel läßt man sich sofort auf das Tretseil herunter. Da hier gerade eine Aufhängung der Brücke ist, ist das Tretseil noch relativ stabil.

Dann folge ich Charmion, wohl spürend, daß die beiden anderen Frauen dicht hinter mir sind. Das Tretseil zittert und schwankt, und darunter sind Wolken, sonst nichts. Ich habe Schwierigkeiten mit dem Focussieren: Sind die Wolken nun nahe oder fern? Ich kann es ausrechnen, aber nicht direkt sehen.

Sogar die Handseile winden sich in meinen Händen, und je weiter ich mich vom Aufhängepunkt entferne, desto deutlicher werden die Schwankungen zur Seite. Ich habe Angst.

Charmion ist inzwischen an der nächsten Aufhängung angekommen. Sie sieht sich um. Bis jetzt ist sie vielleicht noch gar nicht auf die Idee gekommen, daß ich Schwierigkeiten haben könnte.

Die habe ich aber. Meine Reflexe werden mit dem widerspenstigen Tretseil nicht fertig. Nur wenige Meter vom letzten Aufhängepunkt entfernt weicht es bedenklich weit mal zur rechten, dann wieder zur linken Seite aus, kaum, daß ich mich mit den Handseilen im Gleichgewicht halten kann. Bei Charmion senkte sich das Seil unter ihrem Fuße nur etwas ab. Wie sie das wohl macht? Naja, Kunststück, wenn man die Kletterei mit der Muttermilch eingesogen hat.

Meine Füße sind mehrfach kurz nacheinander in Gefahr, einfach abzurutschen. Dazu wird mir der unstete Wind nur zu deutlich bewußt. Ich habe die Befürchtung, daß mir in einer momentanen Schräglage ein harmloser Windstoß den Rest geben könnte.

"Es geht nicht!" sage ich. Ich will zurück, zum Aufhängepunkt der Brücke. Allerdings sind Chechmirch und Chmerm direkt hinter mir, und rückwärts kann ich ohnehin noch schlechter gehen.

Charmion sieht mir eine ganze Weile so zu, wie ich auf dem Tretseil zappele.

"Wenn du glaubst, daß ich dich trage, dann kannst du lange warten!" sagt sie in einer Mischung zwischen Ärger und Spott.

"Wie lange geht es denn so weiter?" will ich wissen. Charmion meint, daß der größere Teil des Weges so konstruiert ist. Das heißt, daß es etliche Kilometer sein müssen.

Diese Seilbrücken sind schlimmer als die große Seilbrücke vor drei Wochen. Den Beinah-Absturz damals hätte ich mit etwas mehr Aufmerksamkeit vermeiden können. Hier kann ich so etwas auf die Dauer nicht vermeiden.

"Das Seil ist zu wackelig. Ich müßte es erst lange üben!" verteidige ich mich. Dabei habe ich das unangenehme Gefühl im Kreuz, daß eine der beiden Frauen hinter mir damit beginnen könnten, mich zu drängeln.

"Üben muß er es." Charmion schüttelt den Kopf, "Soviel Zeit haben wir nicht." Sie kommt zurück, leichtfüßig und sicher. Vielleicht noch leichtfüßiger und sicherer als sonst, bloß, um es mir zu zeigen. Und bei ihr wackelt das Tretseil überhaupt nicht. Was noch an Bewegung im Tretseil ist, kommt von mir.

Dicht vor mir bleibt sie stehen, so dicht, daß ihre nackte Brüste meine Brust und ihr Bauch meinen Bauch berühren.

"Üben muß er." wiederholt sie. "Was muß er denn wohl üben?" Dabei fängt sie an, absichtlich hin- und herzuschwanken und dabei das Tretseil mitzubewegen. Mit sichtlichem Genuß reibt sie sich an mir. Hinter mir höre ich Kichern. Unter mir spüre ich drei Kilometer Leere. In mir spüre ich ein kaltes Kribbeln. Ein eiskaltes Kribbeln. Charmion muß sich schließlich selbst festhalten, wenn ich jetzt bei diesem blöden Spielchen runterfalle, dann kann sie mir nicht helfen. - Und das Tretseil dreht und windet sich unter meinen Füßen.

"Wir haben doch erst vor zwei Stunden da unten ..." versuche ich zu argumentieren, aber Charmion läßt nicht locker. Ihre Brustwarzen stellen sich wie harte Knorpel auf. Wie kann ihr das jetzt, in dieser Situation, soviel Spaß machen? Und wieso sieht sie nicht, daß es mir überhaupt keinen Spaß macht? Und hat sie den Absturz von Chrwerjat schon wieder vergessen?

"Wir können richtig loslegen, sowie wir wieder festen Boden unter den Füßen haben!" schlage ich vor. Wenn man Todesangst hat, dann wird man verhandlungsbereit.

Sie hält inne. "So richtig?" fragt sie.

"So richtig." Die ganze Seilbrücke schwankt noch nach.

"Ja dann," sagt sie und dreht sich um. Leichtfüßig macht sie sich wieder auf den Weg: "Das ist ein Wort."

Damit ist das Problem, wie ich diese Seilbrücke bewältige, noch lange nicht gelöst. Charmion bemerkt das und kommt wieder zu uns zurück. Sie spricht zu den zwei Frauen hinter mir:

"Ich gehe dicht vor ihm, ihr dicht hinter ihm. Dann wackelt das Seil nicht so. Das macht unserem Cherwig Angst! Wir müssen ihn sicher weiterbringen! Er macht es uns dann 'so richtig'!"

Sprachs und dreht sich um. Unsere seltsame Karawane setzt sich wieder in Bewegung.

Es funktioniert tatsächlich. Da diese Granitbeißerinnen, das Seilesteigen gewöhnt sind, ist das zwischen ihren Füßen gespannte Seil durch ihren Gleichgewichtssinn genug stabilisiert, so daß ich es nicht mehr durch meine Ungeschicklichkeit dazu bringen kann, zur Seite auszuweichen. Dabei muß ich mich vollständig auf ihren Gleichgewichtssinn verlassen. Wenn ich mir unsere Gruppe von außen gesehen vorstelle, dann sehe ich nicht, was uns daran hindern sollte, uns auf der Mitte einer Brücke als Ganzes um die Längsachse zu drehen und dann alle zusammen zwischen Hand- und Tretseil hindurchzufallen.

Durch unser dichtes Zusammengehen sind die Seilbrücken lokal sehr stark belastet, so daß wir am Anfang einer Brücke steil hinunter, am Ende der Brücke wieder steil hinauf gehen müssen. Unangenehm, aber nicht unüberwindlich.

Auf jeden Fall erfordert diese Brücke viel Konzentration. Deshalb gelingt es mir, den Vorfall eben weitgehend zu verdrängen. Außerdem besteht sowieso begründete Hoffnung, daß Charmion es auch vergißt, bis wir wieder festen Boden erreicht haben.

Es ist schwer, gefühlsmäßig die Senkrechte zu erfassen. Die Felswand, an der die Seilbrücken hängen, ist etwa 45 Grad übergeneigt, so daß man links dauernd den Fels sieht, der sich immer weiter entfernt, je mehr man den Blick nach unten richtet, bis er in der Wolkenschicht tausend Meter unter uns verschwindet. Nach rechts sieht man in horizontaler Richtung viele Kilometer weit, aber da zwischen der hohen, leuchtenden Wolkenschicht und der unteren, aufgewühlten Wolkendecke nur gelegentlich einige fernere Säulen zu sehen sind, ist da die Orientierung der Waagerechten auch nicht so genau auszumachen.

Nach einigen hundert Metern Marsch denke ich, daß es so tatsächlich noch eine ganze Weile gut gehen könnte. Allerdings hat Charmion etwas neues gefunden, um mich zu ärgern: Sie legt einfach an Tempo zu. Um das Seilstück zwischen der Frau vor mir und den beiden Frauen hinter mir kurz zu halten, muß ich einfach folgen. Das ist der Trittsicherheit aber auch nicht förderlich.

Trotzdem sage ich nichts. Ich verlasse mich darauf, daß meine Reflexe sich kurzzeitig wenigstens etwas anpassen. Immer wieder sage ich mir, daß es sich um höchstens einige Kilometer handeln kann. Auf ebenem Boden ist das ein Klacks. Aber hier scheint der Weg endlos.

Früher habe ich mal rumtheoretisiert, daß einem solche Extremsituationen, die nicht vorbeigehen wollen, die also die subjektive Zeitempfindung strecken, eigentlich das Leben subjektiv verlängern. Aus dieser Überlegung jetzt irgendeine Art von Beruhigung gewinnen zu wollen scheint mir jetzt aber weit hergeholt. Ich will raus hier, so schnell wie möglich. Dafür würde ich ohne weiteres ein ordentliches Zeitstück meines ferneren zukünftigen Lebens eintauschen.

Weil es keine Möglichkeit gibt, irgendwie eine Himmelsrichtung auszumachen - mein Kompaß ist auf dem Saurierfangschiff - weiß ich nicht, wieweit wir um den Pilzberg herumgegangen sind, als endlich etwas zu sehen ist. Es ist eine Plattform, die unter einem der Aufhängepunkte quer zu den Seilbrücken hängt - ein kleiner Steg von acht mal zwei Metern. Eine Gruppe von mehr als nur ein paar Leuten würde darauf nur noch unbequem Platz finden. Auf der linken Seite müßte man schon gebückt stehen, weil man die Felswand direkt über sich hat.

Wahrscheinlich ist der Zweck dieser auch an Seilen an der Felswand aufgehängten Konstruktion nicht nur der eines Rastplatzes. Ein paar entschlossene Leute können von dort jeden Durchgangsverkehr auf der Brücke unterbinden. Von dieser im Verhältnis zur Seilbrücke selbst etwas erniedrigten Position gestaltet sich das Bekämpfen von Menschen auf der Brücke sogar besonders effektiv, erleichtert auch durch die Tatsache, daß letztere sich ja festhalten müssen und auf dem schwankenden Seil stehen. Bei diesen Überlegungen fällt mir auf, daß ich schon die Gedanken der Granitbeißer denke. Daß die Granitbeißer an einen Rastplatz gedacht haben, ist eher unwahrscheinlich.

"Will etwa jemand eine Pause machen?" fragt Charmion, als wir uns der Plattform nähern. Zum selben Zeitpunkt fällt mir auf, daß auf der Plattform Gegenstände liegen.

Als wir näherkommen, sehe ich, was es ist: Ein grauer Totenkopf, der von einem schweren Schwert durchbohrt worden ist. Die Klinge dringt in die linke Augenhöhle ein und kommt durch ein zersplittertes Loch im Hinterkopf wieder heraus.

Andere Knochen sind nicht zu sehen. Wahrscheinlich hat der Wind sie schon längst von der Plattform heruntergeweht. Es scheint, als ob in der Umgebung des Pilzberges öfter mal Menschen oder Leichen oder Leichenteile vom Himmel regnen. Nur das Gewicht des Schwertes hat diesen Totenkopf schon wer weiß wie lange Zeit hier oben gehalten.

Ich will keine Pause machen. Nur rasch zum wirklichen Ende dieser Seilbrücke. Ich glaube nicht, daß ich mich vorher effektiv ausruhen kann. Außerdem besteht ja auch noch die Gefahr, daß Charmion sich noch an das 'es ihr mal richtig machen' erinnert. Darauf habe ich in der Nähe dieses Totenkopfes schon gleich überhaupt keine Lust.

Da überhaupt keiner auf Charmion's Frage antwortet, gehen wir in stillschweigender Übereinkunft weiter.

22.3 Charmion's Spott

Das macht sich bezahlt. Schon vielleicht vierhundert Meter hinter der Plattform ändert sich der Aufbau des hängenden Weges. Plötzlich werden wieder Planken verwendet, die in üblicher Weise am Felsen aufgehängt sind. Diese Planke, die wir nun gehen, ist zwar schmal - 40 bis 50 Zentimeter im Durchschnitt - aber übereinander verschränkt doppelt gelegt, und die Handseile sind immer noch da, so daß man selbst, wenn eine solche Planke brechen sollte, nicht ganz ohne Chancen ist.

Ich warte jede Sekunde auf eine Bemerkung von Charmion, aber es kommt keine. Sie geht in Gedanken versunken weiter, und wir können uns jetzt auch beim Gehen einen etwas größeren Abstand leisten. Was man sich nicht leisten kann, nach wie vor, ist Unkonzentriertheit. Auf einem 40 Zentimeter breiten Pfad kann man durchaus schon einmal daneben treten, wenn man aus dem Gehen heraus längere Zeit die Aussicht bewundert. Auf die Idee, wegen der Aussicht mal anzuhalten, wird hier keiner kommen. Meine größere Sorge ist, daß uns wieder eine Strecke Seilbrücken bevorsteht.

Die Sorge verschärft sich, als wir in einigen hundert Metern Entfernung sehen, daß der Hängende Weg wieder endet. Allerdings endet er nicht in einer Seilbrücke, sondern er endet vollständig! Das kann doch nicht sein!

Es ist aber so. Als wir am Ende des Weges ankommen, haben wir Gewißheit. Und wir sehen auch, warum:

Hier ist aus dem überhängenden Felshang ein gewaltiges Stück rausgebrochen. Es hat ein domartiges Loch von über zweihundert Metern Durchmesser hinterlassen, seine Höhe muß sogar noch größer sein, denn nach oben hin ist es undurchdringlich dunkel. Die innere Form entspricht einer unregelmäßigen, auf dem Kopf stehenden Schüssel.

Dieser Felsbruch muß schon vor langer Zeit geschehen sein. Charmion weiß nichts darüber, aber da man sie nicht gewarnt hat, muß es eine Möglichkeit geben, diesen Dom zu umgehen.

Es gibt auch eine. Als dieser Felsbruch den Hängenden Weg unterbrach, hat man darauf verzichtet, die Umgehung in ähnlicher Bauweise wiederaufzubauen. Vielleicht war es zu mühsam, das Material in der benötigten Menge heraufzuschaffen.

Statt dessen wurde am unteren Rand der Domkante ein Weg in den Fels gehauen. Wir können ihn fast vollständig rund um das halbe Loch herum verfolgen, bis er uns gegenüber, an der anderen Seite des Loches wieder ungefähr auf den Hängenden Weg stößt. Der allerdings fängt erst ein Stück hinter der Kante wieder an. Einzelheiten kann man von hier aus nicht sehen.

In die letzten Trageseile rechts des Hängenden Weges an unserer Seite des Domes ist eine Strickleiter eingearbeitet. Damit kann man bis zur Felswand oder zur schrägen Felsdecke klettern. Dort ist dann wieder eine Folge massiver Eisenbügel in den Fels eingelassen, der so gebildete Klettersteig windet sich nach wenigen Metern um die Kante des Loches und verschwindet aus unserem Blickfeld. Dort wird er wahrscheinlich den in den Felsen geschlagenen Weg, dessen Anfang wir von hier aus nicht sehen können, erreichen.

Das Stück Klettersteig über unseren Köpfen ist kritisch. Die Kletterrichtung ist dort für einige Meter waagerecht, während die Felsdecke ja um 45 Grad geneigt ist. Das wird einen zur Seite wegziehen. Es wird viel Kraft kosten, sich da überhaupt festzuhalten. Da es die letzten Meter vor der Kante des Domes einen Hängenden Weg unter diesem Klettersteig nicht mehr gibt, gibt es nicht einmal die Illusion einer Sicherung.

Wahrscheinlich kann ich die kurze Strecke so bewältigen, indem ich meine Unterschenkel um die Eisenbügel hake. Jeden Moment erwarte ich eine Bemerkung von Charmion. Sie muß sich aber auch erst einmal mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut machen.

Daß sie damit fertig ist, erfahren wir durch die erwartete Bemerkung von Charmion:

"Nun, Cherwig? Wie fühlen wir uns?"

Dieser Krankenschwester-Tonfall geht mir gerade noch ab. Versuchen wir es mal mit Logik:

"Das kann ich nicht sagen, wie wir uns fühlen, weil ich nicht weiß, wie du dich fühlst!"

Sie sieht sinnend nach oben, prüft die Strickleiter, zieht dran. Sie hält.

"Wie ich mich fühle," denkt sie laut nach, "ja, wie denn? Lust hätte ich, auf ein bißchen Spielen. Willst du mir mal den Arm reinstecken? Bis zum Ellenbogen? Es ist schön heiß bei mir drin! Vielleicht kannst du damit kräfiger stoßen als mit deinem ..."

Bei dieser so unschuldig aussehenden Charmion weiß man nie, was sie ernst meint, und womit sie nur provozieren will. Ich ergreife die Strickleiter:

"Nein, ich will dir den Arm nicht reinstecken! Auf geht's!"

Alle drei Frauen lachen schallend auf, als ich mich die Strickleiter emporhangele. Ich achte nicht allzusehr darauf, weil die Strickleiter - wie alle Strickleitern - sehr widerspenstig ist. Diese ist zwar durch das Gewicht des hängenden Weges und der drei Frauen auf ihm gespannt, aber doch nicht so sehr, als daß das Ausweichen der Stufen nicht doch noch möglich wäre. Erst, als ich die Befestigungsbügel der Strickleiter und damit den ersten Bügel des Klettersteiges erreicht habe, fühle ich mich für einen Moment wohler.

"Du kannst dir deinen Arm selber reinstecken!" rufe ich hinunter. Ich brauche ein bißchen Wut. Das wird mir vielleicht über die nächsten Meter helfen. Das brauche ich dringend.

22.4 Überkopf im Felsendom

Kein Lachen von unten. Vielmehr sehen mir die drei Frauen mir interessiert zu. Wird der ungeschickte Fremde abstürzen?

Ich will es ihnen zeigen. Diese Bügel haben eine lichte Öffnung von 20 mal 30 Zentimeter. Das ist also definitiv zu wenig, um sich innerhalb der Bügel zu bewegen. Der Abstand der Bügel voneinander ist ebenfalls 30 Zentimeter, wie üblich. Es muß also möglich sein, sich mit Kniekehlen und Handgriffen daran vorzuarbeiten. Leider sind die von den Bügeln umschriebenen Rechtecke wegen der Neigung der Felsdecke auch geneigt. Das macht mir am meisten Schwierigkeiten, weil sowohl Hände als auch die in den Bügeln eingehängten Kniekehlen immer in eine Ecke des Bügels rutschen.

Trotzdem - es geht. Es tut zwar weh, und ich brauche alle Kraft, die ich habe. Aber es sollte ja nach wenigen Metern zu Ende sein. Das ist lang, den ich brauche für jeden Bügel mindestens zwanzig Sekunden.

Als ich an der Ecke ankomme, wo sich der Klettersteig in die dunkle Höhe des Domes hineinwindet, wird es einen Moment lang noch schwieriger, weil ich weit über meinen Kopf greifen muß, um zum nächsten Bügel zu gelangen. Erst, als mein Körper sich, dem Klettersteig folgend, allmählich aufrichtet, kann ich die Kraft meiner Beine zum Steigen mitverwenden. Dann, nach einer kleinen Ewigkeit, bin ich endlich auf dem senkrechten Stück, und ich kann die Füße normal auf die Bügel setzen.

Ich muß anhalten, weil ich fürchterlich ins Keuchen gekommen bin, außerdem trieft der Schweiß. Die gesamte Muskulatur meines Oberkörpers und meiner Arme tut mir weh. Vom Hängenden Weg und von den drei Frauen kann ich jetzt nichts mehr sehen. Unter mir sind nur Wolken. Es ist, als ob ich alleine in einem Steinbruch bin, der kopfüber vom Himmel hängt.

Ich steige weiter. Nach nur drei weiteren Metern ist der Klettersteig zu Ende. Die letzten Bügel winden sich in eine schräge Felsscharte hinein, in der man offenbar weiterklettern soll. Die Tritte und Griffe sind nicht sehr vertrauenerweckend und alle etwas nach unten und nach außen geneigt. Der Klettersteig hatte sichereren Halt geboten. Aber es hilft nichts, ich muß hinübertreten. Ich zittere vor Anstrengung und vor Aufregung.

Dem Spalt muß ich einige Meter in die Höhe folgen, dann endet er in einem herausgehauenen Sims. Es hat eine Breite von vierzig Zentimetern und bietet einen leidlich horizontalen Boden. Festhalten kann man sich nirgends, aber es ist möglich, sich an der Felswand des Loches abzustützen.

Die Bügel des Klettersteiges kann ich von hier aus nicht mehr sehen, obwohl sie nur wenige Meter unter mir sind.

"Der nächste!" brülle ich nach unten. Hohl echot meine Stimme in dem Dom hin und her. Das müssen sie hören.

Es dauert noch eine ganze Weile, bis ich das Knirschen unten in der Scharte höre. Charmion's Kopf taucht auf. Mit wenigen Schritten steht sie dicht neben mir. Auch sie wirkt etwas angestrengt, und ihre Duftwolke könnte ein Pferd einschläfern, trotz des Windes.

"Das hätte ich nicht gedacht, daß du als erster reinkletterst!" sagt sie, "Für einen Mann hast du doch viel Mut!" War das eine Spur von Anerkennung? Oder eine besondere Kombination zwischen Anerkennung und Beleidigung?

"Du kannst natürlich in mich reinstecken, was und wann immer du willst!" erklärt sie. Anderen Menschen wird mit diesem Tonfall eine Medaille überreicht. Jedenfalls war es dann tatsächlich Anerkennung, wenn sie mir so die Initiative für ihre Lust anbietet.

"Ich fühle mich geehrt!" versuche ich in der Xonchensprache zu formulieren, aber das geht wahrscheinlich vollständig daneben, so verständnislos, wie sie mich darauf ansieht. Ich sollte noch nicht versuchen, Untertöne von Sarkasmus in dieser fremden Sprache zu vermitteln.

"Machen wir mal Platz für die anderen!" schlage ich dann vor und gehe einige Schritt weiter. Die Luft riecht da wieder sauerstoffhaltiger. Charmion tritt gleich wieder neben mich, um das zu ändern. Ich sehe, daß sich unter ihrer Lederjacke ihre Brustwarzen schon wieder aufgestellt haben.

"Hier nicht!" sage ich bestimmt, und laut: "Der Nächste!"

Eine Zwangspause von wenigen Minuten ist immer gefährlich, weil man nie weiß, auf welche Ideen Charmion kommt. Hoffentlich beeilen die anderen sich.

Charmion lehnt neben mir, sieht mich unverwandt an und greift sich unter ihren Rock zwischen die Beine. Während sie sich reibt und reibt, fährt sie fort, mich dabei anzusehen.

Mir ist das peinlich. Zwar waren wir schon öfter Zeuge intensiver Masturbationstätigkeit. Aber jetzt sieht Charmion mich dabei so intensiv an, daß es keine Frage ist, was sie sich dabei denkt.

"Ich kann hier nicht! Es geht einfach nicht!" sage ich. Dabei habe ich mich für gar nichts zu entschuldigen.

Andererseits bin ich auf ihr Wohlwollen angewiesen. Was kommen denn noch für abenteuerliche Stellen? Ich fürchte, ich muß sie bei Laune halten.

Ich strecke meine Hand aus, öffne ihr ihre Jacke etwas weiter und fange an, vorsichtig mit dem Finger um ihre Brustwarze herumzufahren, immer der Begrenzung des Hofes folgend, dann langsam nach innen kreisend.

Das wirkt. Sie werden noch roter und noch steifer, und Charmion schließt die Augen.

"Nicht weiter!" warne ich, "du fällst noch runter! Später!"

Sie öffnet die Augen wieder uns sieht mich an, mit einem Blick, als hätte ich ihr die Butter vom Brot gestohlen.

Wo bleiben die anderen? Wir müssen weiter. Ich höre auf, ihre Brustwarzen zu umkreisen. Ich möchte ja auch vermeiden, daß ich selber erregt werde.

Das mag sie gar nicht. Sie ergreift meine linke Hand und führt sie sich zwischen die Beine, wo ich weitermachen soll, was ihre Hand schon angefangen hat. Ich versuche, mich zu wehren, aber sie ist stärker. Für etliche Sekunden habe ich Gelegenheit, taktile Anatomiestudien der weiblichen primären Geschlechtsteile zu treiben. Dann taucht endlich Chechmirch's Kopf in der Scharte unter uns auf, und ich bekomme meine Hand wieder. Zu spät: sie ist triefend naß. Bäh.

Zu dritt warten wir noch weitere Minuten. Charmion tut nichts mehr, aber sie sieht mich an, als ob sie mich jede Sekunde quer in sich hineinstecken könnte. Chechmirch, die am günstigsten steht, um die Scharte unter uns zu beobachten, dreht sich plötzlich zu uns um, schnüffelt kurz aber hörbar, sieht Charmion an und wendet sich wieder von uns ab. Charmion stört sich nicht daran.

Nun taucht Chmerm auf. Sie atmet schwer. Offenbar hat sie solche Klettereien noch nicht mitgemacht. Es beruhigt mich, daß sie auch zittert, aber das gibt sich schnell, bis sie neben uns steht.

"Gehen wir weiter?" frage ich. Ich muß ja anfangen, weil ich jetzt der erste bin, und ich mag mich nicht an den anderen vorbeidrängeln, um wieder einen Platz in der Mitte der Gruppe einzunehmen.

Dann greife ich noch einmal Charmion, die mich immer noch ansieht, verstohlen unter die Jacke, um ihren Brustwarzen ein 'Lebewohl' zu streicheln: "Später." sage ich, "Wirklich! Jetzt müssen wir weiter." Die anderen beiden sehen gleichgültig zu, und mir gelingt es, etwas von der Feuchte von meiner Hand abzustreifen, ohne daß Charmion diese Absicht bemerkt.

Außerdem kann ich ruhig diese weitgehenden Versprechungen geben - sie holt es sich ja doch.

Dann wende ich mich ab und marschiere los. Ich höre, daß die anderen mir sofort folgen.

22.5 Chechmirch

Der Weg ist halbwegs einfach. Die Breite des Sims schwankt zwischen dreißig und fünfzig Zentimetern, und besonders an den schmaleren Stellen muß man verdammt genau aufpassen, wo man hintritt. Der Weg ist so gelegt worden, daß möglichst wenig Felsen herausgeschlagen werden mußte. Deshalb gibt es Stellen, wo es steil aufwärts, und solche, wo es steil abwärts geht. Auf dem ersten Teil des Weges überwiegen die Abwärts-Stellen, drüben wird es umgekehrt sein. Man muß die Hände häufiger zu Hilfe nehmen. Dabei wird besonders meine linke Hand, die Charmion so schön naß gemacht hat, ordentlich dreckig. Die brauche ich leider häufiger, weil es die wandseitige Hand ist.

An einigen Stellen, wo es sehr steil abwärts geht, bin ich versucht, mich umzudrehen und wie auf einer Leiter herabzusteigen, Arsch voran. Aber hinter mir drängeln sie zu sehr. Und als ich diese Wegstücke vorwärts hinuntersteige, habe ich die Vision, daß sich meine dabei stark eingeknickten Knie an einer Unregelmäßigkeit in der Felswand stoßen könnten und ich mich so auf diese Weise ganz einfach vom Weg herunterhebele.

Weil wir uns alle so sehr auf den Weg konzentrieren müssen, reagieren wir etwas zu spät auf das Rauschen, das aus der dunklen Höhe auf uns niederfällt. Ich halte an, stelle fest, ob ich einen sicheren Stand habe, und sehe mich um.

"Es ist ein Rhchochchider!" schreit Chechmirch, "Es hat da oben ein Nest!"

Das muß eine Flugsaurierart sein, wenn ich mich richtig an unseren Sprachunterricht erinnere. Das hat uns gerade noch gefehlt.

Wir alle haben unsere Schwerter draußen. Nutzlos, wir können kaum etwas erkennen. Es schießt aus der Dunkelheit über uns auf uns herab. Dann ist es da, und ich kann erst recht nichts erkennen. Rechts von mir höre ich das scharfe Rauschen von Charmion's Schwert. Verglichen damit halte ich mein Schwert nur in die Gegend. Da sind mächtige Schwingen, und ein Körper, dessen Anatomie ich in dem Wirbel der Flügel kaum erfassen kann. Ich glaube kaum, daß ich etwas treffe.

Die drei Frauen verteidigen sich wesentlich heldenhafter. Der Saurier hat es auf eine von ihnen abgesehen, weil ich hier nur den Flügel zu sehen bekomme. Trotzdem besteht die Gefahr, daß mich ein Flügelschlag von dem schmalen Felsweg in die Tiefe reißt.

"Charmion, paß auf!" schreie ich. Blödsinnig, natürlich, so etwas muß ich ihr nicht sagen.

Da weicht das Tier nach hinten aus, flattert mitten über dem Abgrund. Eine Frau hängt ihm um den Hals. Es ist Chechmirch, und sie ist fürchterlich verletzt. Ihre ganze Seite ist aufgerissen, Blut und Gedärm fällt heraus, wie ich einen Augenblick lang sehe. Trotzdem hält sie sich immer noch fest und drischt auf das Tier ein. Es scheint auch schon böse Schnitte in der Kopfgegend und am Hals abgekriegt zu haben. Es flattert, als ob es wenigstens teilweise blind wäre.

"Wenn ich nur meinen Bogen hier hätte!" flucht Charmion neben mir. Ihr Schwert trieft von Blut. Meines ist beschämend sauber.

Das Tier schlägt seitlich an der Domwand an, versucht, zu steigen. Wir sehen die dunklen Spritzer, die nach allen Seiten von ihm abgeschleudert werden.

Es wird schwächer, so daß ich einen Moment seine Anatomie besser sehen kann, die weiten, ledrigen Flügel, den großen aber schmal gebauten Körper, den fast pfeilförmigen Kopf. Chechmirch hängt ihm immer noch am Hals, aber sie bewegt sich nicht mehr. Ihr Schwert fällt taumelnd in die Tiefe.

Dann sinkt das Tier ab, überschlägt sich, überschlägt sich wieder, ist schon mindestens hundert Meter tiefer. Chechmirch wird immer noch nicht abgeworfen, aber ich bezweifele, daß sie noch lebt. - Vielleicht ist es nur noch ein Reflex, der sie sich festhalten läßt. Ein urkindlicher Klammerreflex in einem sterbenden Körper.

Das Tier fällt nicht senkrecht, da es durch seine Flügel ständig in verschiedenen Richtungen abgelenkt wird. Flugsaurier sind auch nicht sehr schwer. Wir verfolgen seinen Fall, solange es noch über den Wolken sichtbar bleibt. Selbst dann, als der tanzende Fleck verschwunden ist, sehen wir noch eine ganze Weile hinterher.

"Arme Chechmirch." sage ich.

"Was geht dich das denn an!" faucht Chmerm mich an Charmion vorbei an. Auch ihr Schwert ist blutig, aber sie sieht aus, als ob sie Tränen in den Augen hätte. Oder verbissene, ohnmächtige Wut. Vielleicht irre ich mich auch.

"Lassen wir die Schwerter draußen," sagt Charmion und blickt nach oben, "Vielleicht ist da noch einer. Ist jemand verletzt?"

Das ist nicht der Fall. Deshalb können wir weitergehen. Wir drei. Noch drei: Charmion, Chmerm, und ich. Der Wegezoll für dieses Stück ist entrichtet.

Der weitere Weg um den Dom herum sieht so aus wie der bisherige Abschnitt, wenn man davon absieht, daß stellenweise dunkle, feuchte Flecken auf dem Fels liegen. Das Tier hat sein Blut weit verspritzt. Sein eigenes und das von Chechmirch.

Als wir den Dom vollständig umgangen haben, was wir an der zunehmenden Häufigkeit der Stellen, wo wir aufwärts klettern müssen, bemerken und auch daran, daß wir jetzt den Hängenden Weg, von dem wir gekommen sind, an der anderen Seite sehen, aber nicht mehr den, den wir erreichen wollen, endet unser Felspfad ganz plötzlich in einer dunklen Felsnische.

"Wie es wohl weiter geht?" denke ich laut nach und schiebe das Schwert wieder in die Scheide. Ich rechne mit einer abwärts führenden Scharte, so wie drüben, und einem ähnlichen Stück Klettersteig. Wir sehen am Felsen unter unserem Weg nach unten, uns vorsichtig überlehnend.

Da kann man nichts Definitives erkennen. An einer Stelle sieht es so aus, als ob, gerade eben erreichbar, unter unserem Wege brauchbare Tritte und Griffe im Felsen sind. Aber genau weiß man das erst, wenn man versucht, abzusteigen. Und wenn Klettersteig und Straße nicht genau unter uns sein sollten, dann findet man sich plötzlich an dem zurückweichenden Teil der Felsdecke wieder, wo es keinerlei Halt mehr gibt. Vielleicht kann man dann nicht einmal mehr zurück.

Geht es also nicht weiter? War alles umsonst? Müssen wir zurück und die andere Richtung um den Pilzberg einschlagen? Ist Chechmirch ganz umsonst gestorben? Nur weil wir eine falsche Abzweigung genommen haben?

Charmion geht zum Ende des Weges und untersucht die dunkle Nische. Ein kurzer Aufruf verrät uns, daß sie etwas gefunden hat.

"Sieh mal!" sagt sie zu mir, als ich in der engen Nische neben ihr stehe, "Was hältst du davon?"

Die Nische hat einen dunklen Spalt verborgen. Er ist sehr eng, noch enger als die Nische, vielleicht 25 Zentimeter. Aber das ermöglicht, daß sich ein menschlicher Körper gerade noch durchzwängen kann.

"Ich gehe zuerst," entscheidet Charmion, "weil man am anderen Ende wahrscheinlich klettern muß. Es sieht wirklich so aus, als ob da unten Licht ist."

Sie drückt sich gegen mich, weil die Nische das so erzwingt. Oder weil sie es so will und die Gelegenheit wahrnimmt.

22.6 Charmion's Brüste

"Es ist verdammt schmal," sage ich, "und vielleicht wird es noch schmaler. Schaffst du das? Du hast oben mehr Umfang als ich!" Dabei zeige ich kurz auf ihren Busen.

"Gefallen sie dir?" fragt sie. Das war nicht das, was ich gefragt hatte.

Ihr Blick ist seltsam weich. Vielleicht liegt das auch nur an dem Halbdunkel in dieser Nische, in die das Licht nur auf dem Umweg über diffuse Reflexion durch die Decke des Felsendomes hineinkommt. Eigentlich ist es Charmion völlig egal, ob sie jemandem gefällt oder nicht. Wieder ein neuer Zug an ihr.

"Diese sind weich," erklärt sie, demonstrativ ihr Brüste knetend, "ich komme mindestens überall da durch, wo du auch durch kommst, ganz besonders, weil du so ungeschickt bist."

Wie man sich Freunde macht, denke ich, Auflage drei, Band zwei, Kapitel siebzehn: Die Direktheit und ihre offensive Anwendung zur Hebung der allgemeinen Stimmung. Ich sage aber nichts. Sie hat ja recht, sowohl, was ihre Anatomie betrifft als auch mit der Aussage über meine Kletterkünste.

"Paß auf dich auf, vielleicht kann man sich in dem Spalt nicht überall halten!" sage ich ihr.

"In einem solchen Spalt kann man sich immer halten." erwidert sie und läst ihre eigenen Brüste los.

"Ich meine ja nur. Damit du keine Schrammen bekommst. - Die gefallen mir schon! - Du gefällst mir." verteidige ich mich. Experimenteller Vorstoß. Ich muß wissen, ob es da nicht doch noch Ähnlichkeiten mit der Psyche von Frauen gibt, wie ich sie aus unserer Welt kenne.

Ich weiß es einen Augenblick später. Sie hängt sich an meinen Hals, 'wie eine Christbaumkugel', wie Irene sich immer ausdrückt. Mit dieser Erinnerung ist das schlechte Gewissen auch gleich wieder da. Ich meine es ja gar nicht so, verteidige ich mich vor mir selbst. Das ist hier doch etwas ganz anderes. Inwieweit anders, darüber will ich jetzt keine detaillierten Aufstellungen machen. Charmion hat sich verändert, in den letzten Tagen oder Stunden. Ich hoffe, ich nicht.

Chmerm steht dabei, vor der Nische, sagt nichts und sieht mit unbewegtem Gesicht zu.

"Wir wollen nicht noch mehr Verluste haben, auf dieser Excursion," sage ich zu Charmion. Beim Reden kann man die ganze Zeit ausatmen, und das bringt definitive Vorteile. "Du nicht, und ich nicht, und Chmerm auch nicht."

"Warum Chmerm nicht?" flüstert sie mir ins Ohr, während sie meinen Unterkörper mit ihren Beinen einklammern will, "Das war doch aufregend, wie Chechmirch auf den Rhchochchider losgegangen ist!"

"Und dabei umgekommen ist!" entgegne ich.

"Ohne die Gefahr wäre es doch langweilig!"

"Egal. Ich möchte jetzt, daß wir alle am Leben bleiben! Alle drei!"

"Warum? Gefällt dir Chmerm so?"

Oh, diese weibliche Logik!

"Nein. Das ist es nicht. Wenn man eine solche Gruppe wie uns führt, dann ist nicht nur das Erreichen des Zieles notwendig, sondern auch das Überleben aller Gruppenmitglieder. Alles andere bedeutet eine Führungsschwäche. Inkompetenz in der Vermeidung von Gefahren. Leichtfertiges Aufgeben von wertvollen Personalresourcen! Deshalb will ich, daß Chmerm auch am Leben bleibt! Wir brauchen sie noch."

Mit Humanität argumentiere ich gar nicht erst, außerdem vermeide ich rhetorisch alles, wo ich mich entscheiden müßte, ob nun Charmion die Gruppe führt und geführt hat, oder ich. Ob Charmion mir da folgen kann?

"Mit uns hat das nichts zu tun," setze ich hinzu, "ich will nur dich."

Dem kann sie folgen. Sie drückt mich oben und unten wie ein glühender Schraubstock. Die Nische könnte jetzt noch enger sein. Jedenfalls darf ich hoffen, daß Chmerm am Leben bleiben darf. Irene, wo du jetzt auch bist, sieh das gelassen, denke ich.

Wieder habe ich etwas gelernt. Die emotionale Variabilität von Frauen, die wir in unserer Welt kennen, die gibt es hier auch. Man braucht eben etwas länger, um das festzustellen. Menschenfresserinnen sind auch Menschen und sind auch Frauen.

Es gibt wohl andere Unterschiede. Charmion ist mit ihren 22 Jahren in gewisser Hinsicht viel reifer als Mädchen dieses Alters in unserer Welt. Sie schlägt ihre Zeit nicht so tot, wie ich das von manchen Frauen kenne, wo man sich wirklich fragen muß, ob sie zwischen Beauty-Shop und Disko noch etwas von der wirklichen Welt wissen. Die wirkliche Welt der Granitbeißer erlaubt nicht, daß man sie ignoriert. Die wirkliche Welt der Granitbeißer formt jeden ihrer Bewohner. Sie duldet keine Schwächlinge, Träumer, Gammler, Taugenichtse.

Ob das ein Plus oder ein Minus ist kann ich nicht so in Bausch und Bogen bewerten. Als human kann man diese Gesellschaft ja nun wirklich nicht bezeichnen, andererseits hat es Vergleichbares in unserer Geschichte ja genug gegeben.

Jedenfalls ein Mißerfolgserlebnis für unsere Feministinnen: Eine matriarchalische Gesellschaft ist nicht automatisch human. Das wird ihnen nicht schmecken. Wenn ich jemals Gelegenheit haben sollte, darüber zu berichten.

Charmion umarmt mich immer noch. Einen Moment habe ich eine andere Vision: Sie verbirgt ihr Gesicht an meiner Schulter, um die Gefahren um uns herum nicht zu sehen. Einen Moment lang ist das kleine, furchtsame Mädchen, das sie vielleicht in einem Alter von wenigen Jahren war, durchgebrochen. Das ist eine schlimme Vision, denn wenn sie von einem Moment zum anderen von Schwindel oder von Angst vorm Tod heimgesucht würde, dann hätte ich Schwierigkeiten, sie von hier wegzubringen. Gerade ich, der immer noch glaubt, in einem Alptraum herumzulaufen, bloß, weil es ein paar Zentimeter seitlich von unseren Füßen erst abschüssig wird und dann dreitausend Meter in die Tiefe geht, bloß, weil man gelegentlich das eigene Leben gegen die verschiedensten Sauriertypen verteidigen muß, und gelegentlich auch gegen die Bewohner dieser Welt. Ein Alptraum, in dem ich sogar schon bei einer Tötung assistieren mußte. - Jedenfalls kann ich nicht die Rolle des Beschützers übernehmen. Hier nicht.

Die Befürchtung einer plötzlichen Motivationskrise von Charmion ist unbegründet. Sie ist nach wie vor eine Kämpferin in dieser Welt. My Lady of the Sword. Nur hat sie mich emotionell vereinnahmt.

"Gehen wir weiter!" sage ich. Ihre in jeder Beziehung heiße Umarmung löst sich. Dann steigt sie in den Spalt ein.

Schon nach einigen Metern ist sie so tief, daß ich sie kaum noch sehe. Ich höre nur noch das Klirren ihres Schwertes und das Scharren über die engen Felswände der Spalte.

"Da ist tatsächlich Licht!" kommt es dumpf herauf. Ich mache mich bereit, ebenfalls in den Spalt einzusteigen. Er ist schräg und deshalb von mir auch ohne eine Ausbildung in Kaminkletterei zu bewältigen. Bald sehe ich auch das Licht von unten heraufscheinen. Schon fällt mein Blick zwischen den Felswänden auf die Wolkenschicht unter uns.

Das Schwert ist beim Klettern sehr lästig, aber ich kann es nicht ändern. Es wird schon seinen Grund haben, warum unsere Alpinisten keine Schwerter in die Berge mitnehmen.

22.7 Sportstunde am Ritzenweg

Als ich mich etwas weitergeschoben habe, erkenne ich die Ränder des Spaltendes. Was ich nicht sehe ist der Hängende Weg. Eigentlich dachte ich, daß wir über demselben herauskommen. Aber ich sehe nur das wesenlose Weiß der Wolken - von hier drinnen gesehen blended es, obwohl die Helligkeit absolut gesehen ja gar nicht so groß ist.

Über der unteren Spaltkante schwebt Charmion's Gesicht. Ich sehe ihre Finger auf dem Felsrand.

"Worauf stehst du?" frage ich.

"Auf nichts. Der Spalt endet hier. Aber es gibt eine Ritze, in die man die Finger hineinstecken kann. Die Ritze geht bis zum Hängenden Weg, so, wie ich das von hier aus verfolgen kann."

Es dauert eine Weile, bis ich so ungefähr begriffen habe, wie es weitergeht.

"Du mußt es Chmerm beschreiben, damit sie vorbereitet ist!" fährt Charmion fort.

"Heißt das, wir müssen uns so gewissermaßen an der Felsdecke entlanghangeln?" frage ich entsetzt.

"Wenn du hierherkommst, wirst du es sehen. Der Abstieg ist das schwierigste. Sowie du erst einmal mit den Fingern in der Ritze hängst, ist es ganz einfach. Ich helfe dir."

"Wie denn?"

"Du steigst auf mich. Erst auf die Schultern, dann greifst du an meine Handgelenke und steigst weiter ab, bis du in die Ritze hineingreifen kannst."

"Das ist doch Wahnsinn!"

"Wieso? Die Ritze hält. Ist bester Fels!"

Chmerm ist bereits dicht hinter mir. Ich muß weiter.

Wieder einmal bin ich auf Charmion angewiesen. Vielleicht ist es richtig, daß ich mich an der Ritze entlanghangeln kann. Aber aus diesem Spalt heraus ins Freie zu klettern, wobei man eine Zeitlang die besagte Ritze zu Füßen hat, wo sie einem nichts nutzt und wo man sie auch noch nicht sieht, das hätte ich nicht alleine geschafft. Ich habe auch keine Idee, wie Charmion es angestellt hat - sie hat ja überhaupt nicht gewußt, was auf uns zukommt. Wir werden wenigstens gewarnt.

Wir machen es so, wie Charmion vorgeschlagen hat. Sie ermutigt mich mehrfach, daß ich ruhig kräftig auf sie treten kann - ihr Griff ist fest. Nur abrutschen darf ich nicht. Sie kann mich hier nicht mehr halten.

Dann ist es soweit, und ich hänge auch im Klimmzug mit den Fingen in der Ritze, Gesicht nicht weit vom Fels entfernt. Die Ritze ist etwa zwei Zentimeter breit und hinreichend tief. Sie sieht vertrauenerweckend aus. Wahrscheinlich eine natürliche Formation, die man hier ausgenutzt hat. Griff für Griff bewegen wir uns auf den Hängenden Weg zu, der vielleicht siebzig Meter entfernt ist. Das sind verdammt lange siebzig Meter. Von der anderen Seite des Loches sah es aus perspektivischen Gründen kürzer aus.

Und unter uns ist ein Meer von Wolken. Der Wind zerrt an uns, wenn auch schwach. Leider ist die Ritze horizontal: Man kann die Finger nicht hinter einen Griff hineinkrümmen. Für einen Untrainierten wäre diese Stelle völlig unüberwindbar.

Chmerm ist schon neben uns. Ich konnte ihr nicht so helfen wie Charmion mir geholfen hat. Ich habe auch nicht beobachtet, wie sie den Übergang vom Spalt zur Ritze geschaft hat.

Schweigend arbeiten wir uns vorwärts. Nur wenige Zentimeter pro Sekunde sind möglich. Bei diesem Tempo wird es eine halbe Stunde dauern, bis wir den Hängenden Weg erreicht haben werden. Die ganze Zeit rechne ich damit, daß meine Arme irgendwann den Dienst versagen könnten.

Als wir auf halber Strecke sind, sagt Charmion aus heiterem Himmel:

"Ich bin ganz naß zwischen den Beinen."

"Wieso denn gerade jetzt?" frage ich.

"Ich weiß nicht. Es kommt so plötzlich. - Ich könnte den ganzen Tag spielen!"

Hoffentlich nicht gerade jetzt. "Wenn wir wieder festen Boden unter den Füßen haben!" verspreche ich.

Eine ganze Weile hangeln wir uns schweigend weiter, ohne derartige niveauschwangere Diskussionen. Der rettende Hängende Weg kommt langsam, viel zu langsam, näher. Wenigstens ist es wieder die Ausführung mit Planken und nicht die Seilbrückenversion.

Vielleicht war hier noch ein besserer Weg geplant, und diese Lösung mit der Ritze ist nur provisorisch. Es ist mir klar, daß Gefangene hier kaum fliehen können. Aber ebenso muß das Gefängnispersonal doch große Schwierigkeiten mit diesem Weg haben, besonders, wenn man schweres Gerät transportieren muß. Ich verstehe das nicht. Ist der Weg an der anderen Seite um den Pilzberg herum vielleicht einfacher? Hat Charmion aus purer Bosheit diesen Weg gewählt, weil sein 'Unterhaltungswert' größer ist?

Noch sechs Meter bis zum Hängenden Weg. Ich erkenne schon die Strickleiter, die uns von dieser Ritze auf die Planken runter bringen wird. Noch fünf Meter.

Plötzlich knackt es links neben mir. Ich sehe Chmerm an, die augenblicklich in ihren Bewegungen erstarrt ist.

Sie hat Angst. Das Geräusch kam genau aus dem Ritzensegment, an dem sie gerade hängt.

"Ruhig und langsam weiter!" sagt Charmion, die es auch gehört hat. Ist die Ritze an der Stelle, an der ich hänge, auch schon betroffen?

Zentimeter um Zentimeter schieben wir uns weiter. Dabei entferne ich mich von Chmerm, die weiter bewegungslos hängt.

"Warte noch einen Moment," schlägt Charmion vor, "damit wir das Stück der Ritze entlasten können!"

Guter Vorschlag. Auf diese Weise entfernen Charmion und ich uns von der Stelle, wo es geknackt hat. Sehr guter Vorschlag.

Und es knackt wieder. Charmion ist vielleicht noch einen Meter von der Strickleiter entfernt, ich einen Meter dahinter, Chmerm ist vier Meter von uns entfernt. Lächerliche sechs Meter von dem rettenden Hängenden Weg!

"Ich weiß nicht, wie groß das betroffene Stück ist!" flüstert Charmion neben mir, "besser, wir steigen schon mal runter!"

Das ist mir nur recht, auch, wenn es mir wie Verrat an Chmerm vorkommt.

Charmion erreicht die Strickleiter, prüft sie und turnt an ihr herunter. Sie steht einige Meter unter mir, als ich mit der rechten Hand nach der Strickleiter greife. Dann lasse ich meine Füße etwas schwingen, um die Sprossen zu fassen.

"Vorsicht - erst die Leiter ganz greifen!" warnt Charmion von unten.

Die Finger meiner linken Hand rutschen erst aus der Ritze heraus, als ich mit einem Fuß und meiner rechten Hand einen guten Halt habe. Ich bin sicher. Meine Oberarmmuskeln zittern, aber ich kann trotzdem schnell zum Plankenweg absteigen.

Nun ist Chmerm dran. Charmion hält mich derweil überflüssigerweise fest, oder vielleicht doch nicht so überflüssigerweise, weil die nachlassende Anspannung durchaus dazu führen kann, daß man jetzt auf dem relativ sicheren Grund des Hängenden Weges zur Seite kippen oder fehltreten kann.

Chmerm hat schon drei Meter zurückgelegt. Noch drei Meter. Sie müßte aus dem Bereich der Ritze, die geknackt hat, schon heraus sein.

Noch zwei Meter. Noch einen. Weniger sogar. Die Strickleiter ist in ihrer Reichweite.

"Du schaffst es!" sage ich. In dem Moment bricht die Ritze auf einer Länge von fast zwei Metern aus. Chmerm fällt, zusammen mit einigen länglichen Felsstücken.

Nun geschieht alles sehr schnell. Im Fallen greift sie, auf unserer Höhe angekommen, eines der tragenden Seile. Ihr Griff muß stahlhart sein. Die Kraft der Verzweifelung.

Das Seil, so ruckartig belastet, reißt dicht unter dem Haltebügel an der Felsdecke. Chmerm fällt weiter, unter das Niveau des Plankenweges. Sie hält das Seil immer noch.

Ein scharfer Ruck geht durch die Planken. Charmion und ich beginnen, uns entlang des Hängenden Weges zurückzuziehen. Oben reißen weitere Trageseile. Der Weg, auf dem wir stehen, kippt zur Seite.

"Festhalten!" schreit Charmion. Wir greifen eines der Handseile, dasjenige auf der Seite, wo die Trageseile nicht gerissen sind. Die Planken fallen unter uns weg. Eine Strecke des Hängenden Weges von etwa fünf Metern Länge wird im Augenblick unbrauchbar.

Ich sehe unter uns die Planken in die Tiefe trudeln. Einen Moment lang denke ich, daß Chmerm getroffen worden ist. Aber sie hängt immer noch einige Meter unter uns an einem der ehemaligen Trageseile und sieht unverletzt aus. Das schwere Holz muß haarscharf an ihr vorbeigesaust sein.

Wir alle schaukeln wild hin und her. Unser Handseil hält. Weitere Trageseile reißen nicht. Noch nicht. Bei der Schaukelei werden sich die Knoten um die Tragebügel aufreiben.

"Weiterklettern!" ruft Charmion. Ich ignoriere meine zitternden Muskeln und hangele mich wie Charmion an dem ehemaligen Handseil entlang. Es hält immer noch. Es ist schwierig, zwischen oben und unten zu unterscheide, aber wenn man dem Handseil folgt, dann müßte man eigentlich zum unbeschädigten Teil des Weges kommen.

Wir erreichen diesen auch relativ schnell. Bei Chmerm dauert es länger. Wir können sie jetzt erst wieder beobachten. Vielleicht sind ihr Muskeln oder Sehnen gerissen. Aber sie macht nicht den Eindruck, als wäre es so. Sie hat einfach mehr zu klettern.

Als sie auch den unbeschädigten Teil des Weges erreicht, marschieren wir sofort weiter, nachdem wir festgestellt haben, daß niemand verletzt ist. Gar nicht erst irgendwelchen Knien die Zeit geben, weich zu werden. Meine Uhr sagt, daß es 5 Uhr ist. Irgendwie eine völlig bedeutungslose Zahl.

"Wie soll man über diesen Weg irgend etwas nach oben transportieren?" frage ich Charmion. Ich denke an das Saurierfleisch, daß unten, an der Anlegestelle, jetzt schon längst vollständig ausgeladen sein sollte.

"Andersrum," sagt Charmion, "ist es leichter."

Aha, denke ich. Und warum gehen wir hier herum?

22.8 Das Hängende Fort

Die nächste halbe Stunde ereignet sich nichts von Bedeutung. Der Hängende Weg wird besser, und aus irgendeinem Grunde auch breiter. Mir erscheint das unlogisch, weil man bei einem Weg ja eigentlich zuerst die schlechtesten Stellen ausbauen müßte. Was nützt ein hervorragender Weg, der an einigen Stellen von unüberwindlichen Hindernissen unterbrochen worden ist?

Dann aber schiebt sich um die Wölbung der Felsdecke ein seltsames, geschachtelt kastenförmiges Gebilde in unser Blickfeld hinein. Es sieht wie ein Holzgebäude aus, das von der schiefen Felsdecke herunterhängt. Es befindet sich genau auf der Höhe des Hängenden Weges, und dieser führt genau dorthin.

Man muß sich eine Art Blockhaus vorstellen, das wie ein Vogelhäuschen am Felsen klebt oder hängt, oder wie eine große Schublade. Der Hängende Weg führt zum Basisstockwerk, von dort gibt es einen fast zwei Meter breiten Weg, der von einem massiven Holzgeländer gesichert ist, rund um dieses Gebäude herum.

Ein weiteres, kleineres Stockwerk hängt unter dem Hauptgeschoß, und außen, wo der Geländerweg um das Gebäude herum aus unserer Sicht verschwindet, ist noch ein weiterer, balkonartig angebrachter Raum, der ebenfalls von einem Geländerweg umgeben ist und der selbst keine Verbindung zur Felsdecke mehr hat.

Wir betreten den Geländerweg und gehe zunächst um das Gebäude herum. An der anderen Seite führt, wie erwartet, der Hängende Weg weiter. Wenn dies der Einstieg zum weiteren Weg nach oben ist, dann hätten wir auch von dort kommen können. Vielleicht wäre Chechmirch dann noch am Leben.

Ich betrachte die massiven Balken des Gebäudes, die nach oben in die Felsdecke führen. Wie fest dieses Gebäude mit der Felsdecke verbunden ist, darüber kann ich im Moment noch keine Aussagen machen. Ich hoffe, die Baumeister haben ihr Handwerk verstanden. Andererseits ist unser Körpergewicht geringer als die Kräfte, die durch den Staudruck eines stärkeren Windes auf das ganze Bauwerk entstehen können. Schon daraus kann man schließen, daß wir im Moment in keiner Gefahr sind.

"Ist denn niemand hier?" frage ich, während wir nach einem Eingang in das Hauptstockwerk suchen. Charmion findet es unnötig, mir darauf zu antworten.

Es gibt Fensteröffnungen, die aber alle mit Holzbalken verrammelt sind, und gegenüber der ausladenden Balkonkammer gibt es, sowohl in dieser als auch im Hauptgeschoß, so etwas, das wie eine große Tür aussieht, die ebenfalls geschlossen ist.

Ich gehe einmal um die Balkonkammer herum. Dabei entfernt man sich aber sehr weit von der Felsdecke, und man glaubt, den Boden schwanken zu fühlen. Man kann von hier aus jedenfalls einen großen Teil der umgebenden Felsdecke und des Hängenden Weges zu beiden Seiten überblicken, und wenn die Wolken unter uns nicht wären, dann hätte man wahrscheinlich auch auf die Inseln des Schärenringes einen umfassenderen Ausblick.

Während ich mich auf das vertrauenerweckende Geländer lehne und mich umsehe, steht Charmion hinter plötzlich mir. Ich merke es zuerst daran, daß die frische Luft, die ich mir um die Nase wehen lasse, nicht mehr ganz so frisch ist.

"Chmerm hat herausgefunden, wie man die Tür aufmacht."

"Also ist es doch ganz gut, daß sie noch bei uns ist!" stelle ich fest.

"Wir hätten es über kurz oder lang auch herausgefunden."

Einen Moment ist Stille. Charmion lehnt sich an mich.

22.9 Wollust

"Erinnerst du dich an das, was ich gesagt habe, als wir vorhin in der Ritze hingen?"

"Du hast sehr viel gesagt." meine ich. Das stimmt nicht. Die Dialoge, die wir in der Ritze geführt hatten, hielten sich in engen thematischen Grenzen. Ich weiß auch ganz genau, worauf sie hinauswill. Aber ich muß ihr ja die Gesprächsfortführung nicht unbedingt leichter machen.

"Das ist mir bei einem Mann noch nie passiert!" sagt sie, offenbar unterstellend, daß ich schon weiß, wovon sie spricht.

"Bei einer Frau schon?" frage ich.

"Nein. Überhaupt nicht. - Ihr seid irgendwie anders. Ich bin schon wieder naß. Wollen wir?"

"Wir müssen weiter." verteidige ich mich.

"Wir haben immer noch Zeit genug. Chmerm sucht die Fackeln."

"Fackeln?"

"Ja, Fackeln. Ohne die kommen wir hier nicht mehr weiter. Es gibt hier immer einen Vorrat an Fackeln."

Sie dreht mich mit Gewalt zu ihr um und zwingt mich dann in die Knie. Im Augenblick hat sie ihre Jacke ausgezogen und hinter sich geschmissen. Sie drückt mein Gesicht auf ihren Busen. Er ist glitschig von einer Mischung von altem und neuem Schweiß.

"Du hast doch gesagt, daß sie dir gefallen, ja?"

"Ja, aber ..."

"Dann zeig es ihnen doch. Faß mich an - hier." Und nach einer Pause, in der ich nicht das gewünschte Maß an Interesse zeige: "Seid ihr alle so stur?" Schon hat sie sich völlig ausgezogen und fummelt jetzt an mir herum.

"In unserer Welt ist es für einen Mann eine Ehre, wenn er mit einer Frau spielen muß." fährt sie fort. 'Muß' sagt sie, nicht 'darf'. Inzwischen liege ich mit dem Rücken auf dem Boden des Geländerweges, ob ich will oder nicht. Sie setzt sich auf mich. Es ist noch keine sechs Stunden her, daß sie mich das letzte Mal so überfallen hat, am letzten Mundloch des Stollens. Davor waren die Perioden sexueller Inaktivität auch nicht übertrieben lang. Ich fürchte, es bringt nichts, jetzt mit diesem Argument zu protestieren.

Eigentlich will ich auch gar nicht protestieren. Von einem Moment zum anderen ist die Bereitschaft da. Zu rasch und zu bequem ist die Erregung und das Eindringen, zu lustvoll und zu entschieden ihre Stöße, zu verlangend die Hitze ihres Körpers. Ein Widerspruch ist nicht vorgesehen. Die Vereinigung zweier Urwelttiere - ein altes und eine junge. Es ist so natürlich. Vielleicht bin ich ja gar nicht der wohlverheiratete Angestellte und brave Ehemann aus der Welt da oben. Vielleicht war ich ja schon immer hier, Teil dieser Welt, und was wir machen ist richtig und natürlich. Aber woher dann die Erinnerungen an diese andere Welt?

Wie immer beim Bumsen denke ich an etwas ganz anderes. Das muß einen neurologischen Grund haben - die Großhirnrinde wird elementar angeregt, und gelegentlich löst man Probleme, die eigentlich zu anderer Zeit anliegen. Machen andere das anders? Geben sich andere ganz dem Augenblick hin? Dem Augenblick wahrer und unmittelbarer Animalität und Emotionalität, wie er wahrer und unmittelbarer wohl nicht sein kann: Wie eine Sphinx hockt sie auf mir, ich wie ein besiegtes Wild unter ihr und baumstark und entschlossen in ihr, die einzige Stelle, wo ich Stärke zeigen kann und will, wie eine Brandung schaukeln ihr Brüste vor meinen Augen hin und her und auf und ab, perspektivisch vergrößert, ganz nahe und doch nicht greifbar, denn um wie jeder Eventualität einer Gegenwehr von mir zuvorzukommen hat sie meine Unterarme ergriffen und nebem meinem Kopf fixiert. Die einzige Freiheit, die ich habe, ist zu stoßen und gestoßen zu werden und mir gelegentlich ihren Busen ins Gesicht klatschen zu lassen, wenn sie ihren Rücken weit genug durchbiegt.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, daß Chmerm um die Ecke gekommen ist. Sie sieht uns, bleibt stehen und fährt fort, uns genau zu beobachten. Charmion stört das nicht. Warum soll es mich dann stören? Ich denke an die Hündchen auf der Straßenkreuzung in Lanzarote. So tun wirs, und wir tun es lang, und Charmion gibt nicht eher auf als bis ich nichts mehr auf der Welt, sondern nur noch ihren Körper sehe und fühle und diesen wie ein heißer Strom auffülle, so, wie das Gesetz es befielt, und dann ist es soweit, und schmerzhaft drücken unsere Körperteile, wo wir am intensivsten vermischt sind, aneinander, es ist soweit, der Strom durchbricht aller Mauern, und jauchzet, frohlocket zum ersten, und es soll nur fortdauern, denn dafür würde ich alles tun, und ich greife mit meinen Lippen ihre Brustwarze wie um den Augenblick zu halten, aber es dauert nicht fort und der Augenblick läßt sich nicht halten, und die Entspannung ist groß und die Leere dahinter weit.

Auch Charmion entspannt sich, richtet sich auf und sieht auf mich herab, die Augen voller Befriedigung.

"Es war schön." sage ich, noch außer Atem, unwürdig für einen Ausdauersportler, den ein paar periodische Bewegungen eigentlich nicht erschöpfen sollten.

"Ja, es war schön," stimmt sie zu, "aber wir müssen jetzt weiter. Hast du die Fackeln gefunden?"

Die Frage war an Chmerm gerichtet, die immer noch dabeisteht. Charmion steht auf und ich falle aus ihr heraus, immer noch sichtbar erregt. Von ihrer Erregung scheint nichts mehr übrig zu sein - so schnell ist sie fertig.

22.10 Chmerm

Chmerm läßt sich neben mir auf die Knie fallen. Das Schauspiel hat sie offenbar nicht unbeeindruckt gelassen. Sie zeigt eine für eine Granitbeißerin mir ungewohnte Verwirrtheit. Es ist bei ihr eine Mischung von Erregung und Verdrängung des Verlustes, den sie mit dem Tod von Chechmirch erlitten hat. Ich kann mich nicht in sie hineinversetzen, und so beobachte ich sie nur passiv. Sie greift nach meinem triefend naßen Glied wie ein Kind nach einem Spielzeug: "Ich möchte jetzt auch ..."

Wie ein Wirbelwind hat Charmion sich gebückt und aus dem Haufen ihrer Ausrüstung und Kleidung ihr Schwert herausgezogen. Es dauert nur Millisekunden, und ein feiner, transparenter, zischender metallender Bogen ist in der Luft zu sehen. Dann spüre ich einen scharfen Ruck an meinem Penis.

"Nein!!" tönt der urweltliche Schrei von Charmion, "Der gehört mir!"

Der unterhalb des Ellenbogens sauber abgetrennte Unterarm Chmerm's fliegt über das Geländer in die Tiefe, sich überschlagend und torkelnd wie ein falsch geworfener Bumerang. Mit einer Mischung zwischen Sprachlosigkeit und Entsetzen starrt Chmerm auf ihren Armstumpf. Und nicht nur sie:

"Wie kannst du ihr nur den Arm abschlagen?" frage ich Charmion.

"Wieso denn nicht? Gefällt sie dir etwa?" Ihre Schwertspitze zeigt auf meinen Bauch. Vermutlich nicht zufällig.

"Sie hat doch überhaupt nichts getan!"

"Sie hat dich angefaßt. Das darf nur ich. Nicht einmal 'deine Frau' darf das, von jetzt an!"

Chmerm sieht immer noch bewegungslos auf ihren Armstumpf. Sie versucht nicht, den pulsierenden Blutstrom, der aus ihm quilt, zu stoppen. Mein ganzer Unterkörper ist bereits von der tiefroten, warmen Flüssigkeit besprenkelt.

"Wie soll sie denn jetzt klettern?"

"Das ist mir doch egal." zischt Charmion. Sie ist dabei, sich wieder anzuziehen. Ich sehe inzwischen aus, als ob ich bis zum Bauch in Blut gewatet habe.

Ich wage nicht einmal, Chmerm verbal den Vorschlag zu machen, die Wunde abzubinden, aus Angst, Charmion könnte heftig reagieren. Chmerm selber kommt nicht auf die Idee. Ob das Absicht ist? Vielleicht weiß sie, daß eine Einarmige in dieser Welt sowieso nicht lange lebt.

Langsam steht sie auf. Charmion beobachtet sie lauernd. Chmerm hat ihr Schwert griffbereit an der Seite, aber ich bezweifele, daß sie gegen Charmion eine Chance hätte, insbesondere, weil es ihre rechte Hand ist, die sie verloren hat. Charmion hat ihr Schwert zudem noch draußen.

Chmerm sagt nichts. Ich habe von ihr auf dieser Excursion nichts erfahren und tue es auch in dieser Sekunde nicht. Ein schweres Schicksal ist auf sie niedergefahren, und alles, was sie tut ist still zur Seite zu treten. Auf das Geländer zu.

"Zieh dich an!" sagt Charmion zu mir, "Jetzt sehen wir uns die inneren Räume an!"

Chmerm's Blut klebt ekelhaft an meinem Körper, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als meinen Rock auch noch zu verschmutzen. So schmell werden wir kein Wasser zum Säubern finden, vermute ich.

Dann gehen wir über den Geländerweg zum Haupteingang, den Chmerm geöffnet hat. Wir lassen Chmerm, die am Geländer steht und in die Tiefe sieht, zurück.

Das Innere des Gebäudes zeigt, daß es sich im wesentlichen um einen Werkzeugschuppen handelt. Vielleicht könnte man das auch Straßenmeisterei nennen, wenn man diese Wege als 'Straßen' bezeichnen würde. Wahrscheinlich läßt sich auch hier eine Verteidigungsstellung gegen fliehende Gefangene einrichten.

Seile, Planken, Eisenteile, ein großer Vorrat an Fackeln, einige geschlossene Gefäße mit Flüssigkeiten, die beim Bewegen glucksen - vielleicht Farben, oder Öl zum Brennen.

Kerzen finde ich nicht, und weil ich das Xonchen-Wort dafür nicht kenne, kann ich auch nicht fragen. Vielleicht kennen die Granitbeißer auch keine Kerzen. - Eigentlich seltsam, fällt mir ein, denn Kerzen sollten bei dem hohen Luftdruck heller brennen als bei uns. Ideale Lichtquelle. Oder hält kein Docht das aus? Oder kennen die Granitbeißer keine geeigneten wachsähnlichen Stoffe?

Eine Falltür in den Raum unter uns. Aber ein kurzer Blick zeigt, daß dieser Raum leer zu sein scheint. Viel kann man in diesem Halbdunkel sowieso nicht erkennen.

Der hintere Teil dieses Raumes ist überraschend groß. Er ist wahrscheinlich in den Fels hineingehauen.

"Ich suche ein paar gute Fackeln aus." sagt Charmion, "geh du raus und hole Chmerm. Wir marschieren gleich weiter."

Ich tue wie befohlen. Aber als ich auf dem Geländerweg um den äußeren Raum biege, finde ich Chmerm nicht. Auf den Planken des Geländerweges ist ein obszön großer Blutfleck, und das Geländer ist an einer Stelle ebenso durchtränkt. Außer der Blutspur, die ich selber mit Chmerm's Blut verursacht habe, gibt es jedoch keine weitere.

Neben der großen, schon antrocknenden Blutpfütze liegen Chmerm's Schwert und ihr Proviantbeutel.

Ich beuge mich über das Geländer. Die Wolkendecke unter uns ist immer noch dicht. Natürlich ist nichts zu sehen.

Ich nehme Chmerm's Sachen auf. Das zweite Schwert stecke ich zunächst nach Samuraiart in meinen Gürtel, denn den Tragegurt für das Schwert hat sie mitgenommen. Dann kehre ich zurück.

Charmion hat inzwischen - ich weiß nicht wie - eine der Fackeln entzündet und ist dabei, eine zweite anzustecken. Diese Fackeln sind mit irgendeinem Öl oder Teer getränkt und brennen hell und rauchend.

"Sie ist gesprungen." sage ich.

"So?" murmelt Charmion. Es interessiert sie überhaupt nicht. Oder sie hat es erwartet.

Wie selbstverständlich wird dann der Inhalt von Chmerm's Proviantsack zwischen uns aufgeteilt. Charmion sieht, daß ich Chmerm's Schwert trage. Aber sie kommentiert das nicht weiter, auch als ich provisorisch den Teil der Schwertklinge von Chmerm's Schwert, der unter meinem Gürtel ist, umwickle, um nicht den Gürtel mit der Zeit zu durchschneiden.

Das Thema Chmerm wird auch nicht weiter verfolgt. Wir brechen sofort auf. Es ist 7:45 Uhr.

22.11 Wendeltreppe

Zunächst betreten wir, nachdem wir die Eingangstür des Forts wieder geschlossen haben, einen horizontalen Stollen, der noch weiter in den Berg hineinführt. Der ist aber höchstens hundert Meter lang, bis wir zum Boden eines kreisrunden, vier Meter durchmessenden Schachtes kommen. In diesem Schacht ist eine rechtsdrehende, hölzerne Wendeltreppe eingebaut. Der horizontale Stollen geht zwar noch weiter in den Berg hinein, aber wir kümmern uns nicht mehr darum.

Als wir beginnen, die Wendeltreppe zu besteigen, merke ich erst, wie sehr das getrocknete Blut von Chmerm zwischen meiner Haut und dem Rock reibt. Das wird Schürfstellen geben, wenn ich nichts dagegen unternehme. Ich wersuche, das getrocknete Blut mit einer Hand so gut es geht abzubröseln. Mit der anderen muß ich ja meine Fackel halten. Es geht nicht ganz leicht, weil das Blut noch an einigen Stellen klebrig ist. Jedenfalls habe ich zu tun.

Charmion geht vor mir. Sie redet nicht. Ich mag mit ihr auch nichts reden. Vielleicht hätte ich vor ihr gehen sollen, um der ohnehin stickigen Luft in diesem Schacht nicht auch noch ihren Körpergeruch hinzuzufügen. Jetzt ekelt es mich wieder an.

Die Wände des Schachtes sind roh aus dem Fels herausgehauen. Ab und zu gibt es Vertiefungen, in denen Stützbalken der Wendeltreppe eingelassen sind. Andernfalls müßte diese ganze Wendeltreppe ja auf ihrem Mittelpfeiler ruhen, und ich glaube nicht, daß das Holz das aushält - so allmählich haben wir ja schon einige weitere hundert Höhenmeter unter uns gelassen.

Jedenfalls ist mir diese Art des Vorwärtskommens noch angenehmer als diese Klettersteige außen am Berg. Ohne Chmerm's Blut an mir wäre es fast ein Genuß. Naja, nicht nur: ohne die Hitze, ohne die stickige Luft, ohne den Tragebeutel und ohne die Schwerter. Ich hätte früher nie gedacht, wie lästig es ist, dauernd ein oder zwei Schwerter mit sich herumzuschleppen.

Man kann die Höhe, die wir erreicht haben, schwer schätzen, und natürlich habe ich wieder nicht rechtzeitig daran gedacht, mitzuzählen. Das ärgert mich jedesmal.

Charmion ist zur Zeit nicht ganz auf der Höhe - ich habe sie lange Treppen vor nicht allzu langer Zeit ja schon viel schneller und trotzdem ausdauernd hinaufrennen sehen. Im Moment machen wir jede Sekunde bloß eine Stufe - also in fünf Sekunden einen Meter. Vielleicht eine Idee schneller. Das kann ich noch lange aushalten. Hoffentlich bleibt es bis zum Oberfort so. Und rechnen kann man damit:

Es ist jetzt 8:30 Uhr. Wir sind also etwa 2500 Sekunden lang gestiegen, dann sollten wir ungefähr 500 Meter Höhe über dem Hängenden Fort gewonnen haben. Das sind 3500 Meter über dem Meeresspiegel draußen. Oder etwa 7000 Meter unter der Erdoberfläche. Die allerdings kommt in meinen Gedanken kaum noch vor.

Wir kommen an eine Stelle, an der Stollen nach zwei gegenüberliegenden Richtungen abzweigen. Da wir uns aber seit mehr als einer halben Stunde beständig im Kreise drehen, haben wir nicht die geringste Ahnung, welche Richtungen das sein könnten. Wir folgen dem Schacht mit der Wendeltreppe weiter.

Wie ich dachte, brütet Charmion über irgend etwas. Plötzlich hält sie an, dreht sich um und fragt:

"Würde man mich in eurer Welt einsperren?"

"Wegen Chmerm?"

"Ja."

"Ich weiß nicht," sage ich, etwas überfordert durch die plötzliche Notwendigkeit einer juristischen Erörterung, "der Fall ist kompliziert. Auf jeden Fall wegen schwerer Körperverletzung. Das würde schon einige fünf mal fünf mal fünf Tage Kerker bringen. Vielleicht sogar fünf mal fünf mal fünf mal fünf."

'Kerker' klingt in der Xonchen-Sprache direkter als 'Gefängnis'. Was das Strafmaß betrifft, habe ich nicht die Absicht, jetzt mit Charmion solche Fälle zu erläutern, wo unsere Justiz dem Täter mehr Verständnis entgegenbringt als dem Opfer.

"Gewußt zu haben, daß sie springen würde, würde man dir vorwerfen. Vielleicht. Aber es würde sich nicht mehr auf das Strafmaß auswirken. Nicht direkt."

"Aber Chmerm wollte dich!" verteidigt Charmion sich.

"Na und? Du doch auch!"

"Ich bin die bessere Kämpferin!"

"Ist das Grund genug?" frage ich.

"Ja, natürlich. Bei euch ist es doch auch so!"

"Nein," sage ich, "unsere Rechtssprechung ist gerade dazu da, daß nicht überall das Recht des Stärkeren gilt!"

"Aber die, die euer Recht durchsetzen, sind doch die Stärkeren, denn sonst könnten sie das nicht tun! Also ist euer Recht das Recht des Stärkeren, denn das Recht ist das Stärkere! Andernfalls könnte man das Recht bei euch ja nicht durchsetzen. Oder etwa nicht?"

Weil ich nicht gleich antworte, dreht sie sich um und steigt wieder weiter, während ich noch an einer leicht faßlichen Antwort herumformuliere. Aber sie macht nicht den Eindruck, als wollte sie die Antwort hören.

"Jedenfalls hat sie nichts getan, was eine schwere Strafe verdient!" rede ich gegen Charmion's Rücken, "Nicht das geringste. Sie war verwirrt. Und dann hat sie uns da bumsen sehen. Das hat sie völlig durcheinandergebracht. Ich weiß nicht, warum, aber so war es."

"Geil ist sie geworden." knurrt Charmion vor mir. Die Bedeutung des Wortes 'geil' in der Xonchen-Sprache erschließe ich nur aus Kontext und Tonfall. Ich habe es vorher noch nie gehört.

"Na und? Und was bist denn du gewesen?"

22.12 Charmion's Jähzorn

Wie ein Wirbelwind hat Charmion sich umgedreht. Ehe ich weiß, was mit mir geschieht, liege ich auf den Treppenstufen. Meine Fackel poltert mir aus der Hand. Charmion ist über mir, eine Hand um meine Kehle, mit der anderen hält sie ihre Fackel unangenehm nahe an mein Gesicht. Mein eigenes Schwert bohrt sich mit dem Griff in meinen Rücken, und auch ohne das wäre meine Lage schon unbequem genug.

Charmion's Gesicht ist tatsächlich wutverzerrt. Ein großer Gegensatz zu ihrer üblicherweise gezeigten Ausdruckslosigkeit. Sie schüttelt mich mit ihrem Griff um meine Kehle hin und her. Zeitweilig ist der Abstand zwischen meinem Gesicht und der Fackel nur noch wenige Zentimeter. Ich spüre die Hitze im Gesicht. Jetzt braucht nur noch ein brennender Span abzuspringen, und ich habe es im Auge.

"Du, ich habe dir schon mal gesagt, wenn ich will, dann will ich! Ob Spielen oder totmachen, ich kriege, was ich will! Deine Besserwisserei sind hier nicht erwünscht! Deine Welt da oben interessiert hier nicht! Was bist du denn? Alles könnt ihr da angeblich besser! Aber du bist hier, und du bist ein Jämmerling! Du kannst dich nicht einmal festhalten, wenn man ein bißchen in den Bergen spazieren geht! Und wahrscheinlich gibt es deine Welt da oben auch gar nicht, und du versuchst nur, uns zu verwirren. - Lass mich haben, was ich haben will, und misch dich da nicht ein! Du bist bloß ein Mann, vergiß das nicht!"

Während der ganzen Zeit hat sie meinen Hinterkopf rhythmisch auf die Stufen geschlagen.

"Du brennst mich!" stoße ich mühsam hervor. Keine Argumentation. Wenn eine Frau in dieser Stimmung ist, das weiß ich auch aus unserer Welt, dann ist Argumentation ohnehin nicht gefragt.

Sie sieht mir in die Augen. Langsam nimmt sie die Fackel gnädigerweise etwas weiter weg. - Wenn man mit ihr im Moment reden könnte, dann könnte man durchaus ihr letztes Argument einmal analysieren, denke ich mir. Ich soll mich nicht darin einmischen, wenn sie vergewaltigt, auch wenn es sich bei ihrem Opfer zufällig um meine eigene Person handelt!

Jedenfalls habe ich wieder etwas gelernt. Keine Belehrungen, nichts, was auch nur entfernt an Belehrungen erinnert. Das verträgt sie nicht.

Plötzlich sieht Charmion zur Seite:

"Feuer! Steh auf. Schnell!"

"Was?" frage ich. Mit ihrer Hilfe stehe ich rasch wieder auf den Beinen. Als ob ich nicht selber gehen könnte zwingt sie mich die nächsten Stufen der Treppe hinauf. Kaum kann ich einen Blick nach unten werfen.

Aber der genügt. Meine Fackel, die mir aus der Hand gefallen ist, ist zwei oder drei Windungen der Wendeltreppe unter mir liegengeblieben. Der Licht- und Rauchentwicklung nach haben dort einige Stufen der Wendeltreppe Feuer gefangen.

22.13 Flucht

Vielleicht könnte man es noch löschen. Wenn man sehr entschlossen handelte und Tücher oder Wasser zum Löschen hätte. Draufpissen wäre auch eine Möglichkeit. Vielleicht. Vielleicht ist das Holz der Wendeltreppe im Innern auch so feucht und modrig, daß sich das Feuer ohnehin nicht verbreiten wird. Vielleicht ist es aber auch trocken.

Aber Charmion hat sich bereits dafür entschieden, auf keine dieser Möglichkeiten zu setzen. Sie sieht nicht einmal nach, ob das Feuer noch löschbar ist. Wir rennen weiter nach oben, diesmal sehr schnell, zunächst immer zwei Stufen mit einem Schritt nehmend. Ich habe keine Zeit, eine Ersatzfackel für mich anzuzünden.

Noch ist schon nach wenigen Metern weder Rauch zu riechen noch ein Zug wahrzunehmen. Aber mir ist nur zu klar, und wahrscheinlich auch Charmion, daß wir uns in einem ganz hervorragendem Schornstein befinden. Wenn die Wendeltreppe ernsthaft Feuer fängt, dann werden wir wie mit einem gigantischen Bunsenbrenner behandelt. Wenn dieser Schacht nicht bald zu Ende ist, dann haben wir keine Chance.

Ich stolpere gelegentlich, weil nur Charmion eine Fackel hat und deshalb die Stufen vor meinen Füßen sich immer im flackernden Halbdunkel befinden. Jede Doppelstufe bringt weitere 40 Zentimeter zwischen uns und dem Brandherd. Das sind vielleicht nur Millisekunden, wenn sich der Schachtbrand erst entwickeln sollte.

Immer noch ist kein Anzeichen dafür wahrzunehmen. Die Luft riecht stickig und modrig, und sie steigt auf jeden Fall langsamer als wir selbst. Wegen des schnellen Steigens sind wir in Schweiß gebadet.

"Wie lange noch?" frage ich. Charmion sagt nichts darauf. Wenigstens fragt sie mich nicht, ob sie mich tragen soll. Aber ihre Geschwindigkeit vermindert sie nicht. Also noch lange. Wenn wir diesen Schacht schon demnächst verlassen könnten, dann könnten wir uns auch ein geringeres Tempo leisten.

Allmählich glaube ich, daß wir doch noch einmal davongekommen sind. Das feuchte Holz hat das Feuer nicht ausreichend genährt und spätestens mit Abbrennen der Fackel ist es vollständig erloschen. Andererseits - die Fackel von Charmion brennt ja auch noch. Dann ist es vielleicht etwas voreilig, sich in Sicherheit zu wähnen.

Wir hätten auch, fällt mir ein, rasch am Brandherd vorbei nach unten steigen und dort abwarten können, ob das Feuer wirklich ausbricht. Das wäre sicherer gewesen. Ja, man hätte sogar versuchen können, das Feuer zu löschen. Die Option, im Mißerfolgsfall doch noch nach unten zu flüchten hätte es dann auch noch gegeben. Daß man auch immer in der momentanen Panik nicht alle Optionen sauber durchdenkt!

Aber Charmion hat sich für das unbedingte Fortführen der Excursion entschieden, warum auch immer. Nach allem, was ich weiß, ist dieses der einzige Weg nach oben, und wenn man ihn schon benutzen muß, dann besser, bevor er abbrennt.

Wir müssen schon viele hundert Meter über dem Brandherd sein. Eigentlich müßten wir schon wieder langsamer gehen können, denn wenn dieser Schacht bis zum Oberfort durchgehen sollte, dann gibt es nur einen Umstand, der uns retten könnte: Daß nämlich die Wendeltreppe kein Feuer gefangen hat.

Aber Charmion verrät ihre Gedanken nicht, und so hetzen wir weiter. Die Flüssigkeit in den Labyrinthgängen unseres Gleichgewichtssinnes muß jetzt schon präzise mit derselben Geschwindigkeit kreisen, mit der wir uns um die Mittelsäule der Wendeltreppe bewegen: Die Rotation wird kaum noch wahrgenommen, dafür ist die ganze Motorik irgendwie merkwürdig durcheinandergekommen, da die Fliehkräfte ja immer noch wirksam sind. Wie lange muß man leben, ständig eine Wendeltreppe aufwärts rennend, um sich daran zu gewöhnen? Ist eine Welt mit solch langen Wendeltreppen denkbar?

Charmion hält plötzlich an. Ich natürlich auch. Augenblicklich muß ich mich an der Wand abstützen, weil sich alles dreht. Charmion offenbar nicht, sie bringt das Kunststück fertig, freihändig zu stehen. Ob ihr Gleichgewichtssinn auch anders funktioniert als meiner? Oder ob sie die Wirkungen ihrer rotierenden Labyrinthgänge wegabstrahieren kann?

"Psst!" haucht sie. Mit angehaltenem Atem - schwierig genug nach der Aufwärts-Rennerei, aber man ist ja ein bißchen trainiert - lauschen wir. Kommt ein Wind von unten? Ist etwas zu hören? Ich würde beide Fragen verneinen, aber Charmion ist anderer Ansicht:

"Es brennt!" sagt sie, "Weiter."

Und weiter rennen wir die Wendeltreppe rauf.

Es gibt keine weiteren Pausen. Irgendwann bin ich auch der Meinung, daß das geringe Maß an Gegenwind, das wir durch unser Aufwärtsrennen uns mühsam genug verdienen, nicht mehr so stark ist wie es sein sollte. Dann scheint er plötzlich ganz zum Erliegen gekommen sein. Und wenig später haben wir definitiv Rückenwind.

"Schneller!" ruft Charmion.

"Schaffen wir es noch?" frage ich keuchend.

"Sicher."

Das ist ein Wort. Wenn Charmion es sagt.

Eine Zeitlang ist der Wind, der uns überholt, nahezu erfrischend. Dann fängt es an, erwartungsgemäß nach Holzrauch zu riechen. Bald wird es auch wärmer, oder ich bilde mir das nur ein. Noch wird die Abluft des Feuers ja durch hunderte von Metern von Wendeltreppenschacht unter uns von Rauch und Hitze weitgehend befreit. Tausende von Quadrametern Holz- und Felsoberfläche sollten ordentlich Schwebeteilchen absorbieren.

Aber dann wird es doch wärmer, und der Wind nimmt weiter zu. Der Rauchgeruch wird stärker, und bald stellt sich auch der erste Hustenreiz ein. Daß auch Charmion husten muß macht sie wieder menschlich. Wenigstens funktionieren ihre Bronchien so ähnlich wie meine.

Natürlich habe ich jetzt meine Visionen: Wir, erschöpft, unfähig, im Rauch zu atmen, durch immer weiter steigende Hitzegrade und Hustenkrämpfe gelähmt, zusammengesunken und bewegungsunfähig. Ob noch 50 Meter Wendeltreppenschacht über uns sind, oder 500 ist kein Unterschied mehr. Wir können nicht mehr weiter, und aus der Tiefe wird bereits rote Glut sichtbar. Irene wird niemals erfahren, was aus mir geworden ist. Es sei denn, sie bleibt in dieser Welt, erreicht eine gewisse Stellung und kümmert sich irgendwann einmal um die Gefängnisinsel Casabones. Vielleicht findet man den verkohlten Schacht, vielleicht kann sie zwei und zwei zusammenzählen, vielleicht findet man sogar unsere Knochen. Meine werden nicht von den Knochen eines Granitbeißers zu unterscheiden sein, und ich führe ja nichts mehr mit mir, was auf unsere Zivilisation hinweist. Nein, das stimmt nicht ganz: Die Armbanduhr. Das ist aber auch alles. Ob sie von meinen Unterarmknochen runterrutschen wird? Und wie wird es sein, im Todeskampf in der Feuerwolke, die die Wendeltreppe heraufstürmt, Charmion nicht weit von mir, aber genauso mit dem Krepieren beschäftigt wie ich selbst? Gibt es noch ein paar unschöne Szenen, bevor wir gegrillt werden? Schuldzuweisungen? Oder sollten wir uns umbringen, weil ein Schwert im Thorax noch angenehmer ist als verbrannt zu werden?

Aber so wird es nicht. Das schlimmste bleibt uns erspart. Noch lange, bevor wir von dem Feuer unter uns überhaupt etwas sehen können, weichen die Wände des Schachtes plötzlich zurück. Die Wendeltreppe ist nun in einem turmähnlichen Gerüst und ragt so in eine nachtdunkle Höhle hinein. In dem schwachen Schein von Charmion's Fackel kann ich allerdings so gerade eben die Abmessungen dieser Höhle erkennen: Die Wände sind in allen Richtungen acht bis zehn Meter von dem Wendeltreppenturm entfernt, dabei handelt es sich in drei Richtungen um natürlichen Fels, in der vierten Richtung sieht die Wand wie gemauert aus. Diese vielleicht 15 Meter breite aber sehr viel höhere Mauer scheint leicht gebogen. Das kann aber bei dem schwachen Licht auch eine Täuschung sein. Trotzdem kann ich aber auch erkennen, daß die Mauer sehr präzise gefügt ist, und daß die Steine genau behauen sind.

Die Krümmung der Mauer ist keine Täuschung. Der Wendeltreppenturm endet, und wir betreten eine Art Aussichtsplattform ohne jede Aussicht. Von dieser Plattform führt ein schmaler Steg zu der Mauer. Wie immer in dieser Welt ohne jedes Geländer, und ich bin mir der 30 oder 40 Meter Fallstrecke unter mir wohl bewußt. Charmion, die jetzt nicht mehr so hetzt, scheint die dunkle Tiefe gar nicht zu interessieren.

Die Luft ist jetzt wieder besser, da sich der Rauch aus der Tiefe mit mehr 'frischer' Luft vermischen muß. Das ist gut, denn auf dem schmalen Steg möchte ich mir keine Hustenanfälle leisten. Der Drehschwindel macht das Begehen dieses Steges schon schwierig genug.

Der Steg trifft die Mauer an ihrem oberen Ende. Dahinter ist Wasser, nach einer nur eineinhalb Meter breiten Krone. Jetzt begreife ich es: Es ist eine Staumauer! Eine Höhle unbekannter Größe öffnet sich über dem See hinter der Staumauer. Charmion's Fackel kann diese nicht ausleuchten. Ob diese Staumauer auch eine Leistung der Erbauer der Toten Städte ist?

Dann stehen wir auf der Krone der Staumauer. Vor dem Feuer sind wir jetzt wohl sicher. Deshalb sehen wir in die Tiefe, zum Fuße des Wendeltreppenturmes, wo das Licht der Fackel nicht mehr hindringt.

"Wie lange das wohl noch dauert?" frage ich mehr mich als Charmion.

"Nicht mehr lange." sagt sie kurz. Ist sie schon wieder eingeschnappt? Sie hat doch gerade erst ihren Wutanfall gehabt! Das Feuer ist der sichtbare Beweis dafür. Oder der in Kürze sichtbar werdende Beweis.

Es dauert aber noch einige Minuten. In diesen Minuten wird der Rauchgeruch stärker, und ein warmer Wind scheint uns aus der Tiefe vor der Staumauer entgegenzuwehen. Der Geruch schwelenden Holzes zieht durch die Höhle, als ob wir uns einem riesigen Ofen befänden, der gerade angeheizt wird.

Dann hören wir ein fernes, gedämpftes Knistern und Knacken, darüber ein Rauschen. Vor uns, in Dunklen, gibt der Wendeltreppenturm die Geräusche von arbeitendem Holz von sich: Es knackt und knirscht. Wahrscheinlich bewegt sich die Mittelsäule der Wendeltreppe. Balken bewegen sich gegeneinander, die das vielleicht schon seit Jahrhunderten nicht mehr getan haben. Und immer noch steht dieser Wendeltreppenturm, als ob diese vergangenen Jahrhunderte eine Garantie für weitere Jahrhunderte wären. Jemand mit einem pan-animistischen Weltbild würde dem Turm jetzt Angst unterstellen.

Dann entwickelt sich in wenigen Sekunden ein schwacher roter Schein am Fuße des Turmes. Nach einigen weiteren Sekunden sehen wir die ersten Flammen, und dann ist auch schon die ganze Höhle schnell von ihrem Licht und ihrer Hitze erfüllt. Von einem Augenblick zum anderen steht der Wendeltreppenturm in einem brausenden, rotgelbem Feuermeer, das ihn von unten her auffrißt. Im Schacht wäre jetzt kein Überleben mehr möglich. Hätten wir uns mehr Zeit gelassen, dann wären jetzt meine Visionen von vorhin Wirklichkeit geworden. Aber wir leben noch. Die Kunst des Überlebens, Kapitel Weglaufen, Abschnitt Rechtzeitig.

Ich sehe Charmion von der Seite an. Denkt sie daran, daß das die Fackel war, die sie mir im Jähzorn aus der Hand geschlagen hat? Aber sie läßt sich nichts anmerken. Unbeweglich starrt sie ins Feuer, und auch, als der Wendeltreppenturm in einer Kaskade von sprühenden Funken mit Getöse zusammenbricht, zuckt sie mit keiner Miene. Polternd fällt der Steg in die Tiefe. Zeitweise ist die Hitze hier auf der Mauerkrone unangenehm groß.

Das Schachtloch stößt noch mehrfach Feuerfontänen aus, die große Mengen von Asche und brennenden Holzresten mit sich führen. Aber es fällt auch viel in das Schachtloch zurück. Vielleicht gewinnen schwere Aschen, die den Schacht auf Hunderte von Metern erfüllen, die Oberhand über die aufsteigende Heißluft, wenn sie jetzt beginnen, in die Tiefe zu stürzen. Egal wie, dieser Schacht ist als Weg raus oder rein versperrt.

Hoffentlich ist das nicht der einzig mögliche Weg gewesen.

Nach einigen Minuten mit Eruptionen wechselnder Stärke sinkt das Feuer immer mehr in sich zusammen. Wir können daran gehen, uns um das nächstliegende zu kümmern: wie geht es weiter? Ich sehe auf der Uhr, daß es erst kurz nach 9 Uhr ist.

22.14 Charmion's Furcht

Wir zünden eine neue Fackel für mich an. Das dauert eine Minute, bis sie ordentlich brennt. Die ganze Zeit sieht Charmion die Fackeln an, um den Kontakt der Köpfe sicherzustellen - so, als ob sie diese Routineangelegenheit zum ersten Male macht. Mich sieht sie dabei nicht an. Interessant. Das leibhaftige schlechte Gewissen. Na warte, denke ich mir, dich lasse ich schmoren. So schnell bekommst du keine Absolution!

"Wie geht's jetzt weiter?" frage ich, etwas ungeduldig. Mir fällt ein, daß bei einem Feuer dieser Größenordnung viel Holz mit zuwenig Sauerstoff verbrannt sein muß, als in den späteren Phasen des Feuers schon Wendeltreppenteile einstürzten und den Durchzug blockierten. Zuwenig Sauerstoff heißt Kohlenmonoxid. Ich weiß nicht, ob das Volumen der uns umgebenden Höhle groß genug ist, um eine gefährliche Kohlenmonoxidkonzentration zu verhindern. Es riecht zwar nach Rauch, aber man kann noch gut atmen. Als ob der Rauch irgendwo abgesogen würde. Also nehme ich an, daß das Volumen dieser Höhle wirklich sehr groß ist.

"Einfach über den See rüber. Genauer hat man es mir auch nicht erzählt. Es sollen mal Raubsaurier im Wasser gewesen sein, um die Überquerung gefährlich zu machen, aber die konnten hier, in der Dunkelheit, nicht richtig leben. Das Füttern war zu aufwendig. Deshalb hat man es wieder gelassen, schon vor langer Zeit."

"Sicher?" frage ich.

"Sicher." Sie hält ihre Fackel hoch und leuchtet die Mauerkrone ab und auf den See hinaus. Die Mauerkrone schließt rechts und links direkt an die Felswand an, die Öffnung zwischen dem See und dem Raum, in dem der Wendeltreppenturm gestanden hatte, hat die Form eines großen, geschwungenen Bogens über der Mauerkrone. Die höchste Stelle dieses Bogens ist vielleicht acht Meter über uns.

"Ist dies vielleicht das Wasserreservoir, aus dem dieser schräge Spalt, durch den wir geklettert sind, der mit der Führungsrille und den Schwertern, gefüllt werden kann?" frage ich.

"Weiß ich nicht." knurrt Charmion. Das hat sie auch nicht gerne: Dinge gefragt zu werden, die sie nicht weiß. Ist jedesmal eine kleine Niederlage. Niederlagen mag sie nicht. Da würde sie sich in einer Industriegesellschaft ganz gewaltig umstellen müssen.

Was sind das überhaupt für Überlegungen, denke ich mir. Charmion in unserer Welt da oben? Wie sollte sie denn dahin kommen? Wieso sollte sie das überhaupt wollen? In erster Linie wollen ich und Irene die Welt der Granitbeißer wieder verlassen. Ob wir da jemanden zum Mitgehen bewegen wollen steht überhaupt nicht zur Debatte.

Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf den See. Die Höhle weitet sich über ihm aus, sowohl in der Höhe als auch in der Breite. Die Stelle, wo die Mauer gebaut worden ist, ist nur ein vergleichsweise schmaler Abschluß. Das sah man dem Pilzberg von außen überhaupt nicht an, was für interessante Höhlensysteme er enthält!

"Es sollen Steine sein, auf die man treten kann!" erklärt Charmion, die beide Enden der Mauer absucht, "Aber ich kann nichts finden."

"Soll der weitere Weg denn am Ufer lang gehen, an der Felswand entlang?" frage ich.

"Weiß ich nicht." antwortet sie gereizt.

"Ich frage nur, weil hier etwas ist!" Ich zeige in das Wasser direkt vor mir. Direkt vor der Mauermitte ist etwas im Wasser, aber es ist schwer zu sehen, weil das Spiegelbild der Fackel blendet, wenn man sie über das Wasser hält. Charmion kommt näher.

"Das muß es sein. Es sind Tretsteine unter der Wasseroberfläche, auf denen man entlanggehen kann."

"Tretsteine? Das müssen ja Säulen vom Grunde des Sees sein! Oder ist der See so flach? Das kann doch nicht sein, so hoch wie die Mauer ist!"

"Weiß ich nicht!" schnaubt sie mich an. Dann ist sie sofort wieder still. Dreht sie mir durch? Aber warum denn? Sie ist doch mit dieser Welt vertraut, nicht ich. Und im Moment befinden wir uns ja nicht einmal in Lebensgefahr.

Dann fällt mir ein, daß die Dunkelheit für sie vielleicht eine größere Belastung sein könnte als für mich - die Granitbeißer sind immerwährendes, wenn auch trübes Tageslicht gewöhnt. - Andererseits ist sie durch andere, nachtdunkle Stollen schon sehr zielsicher gestiegen. Wo ist der Unterschied? War, am Anfang dieser Excursion, die Welt für sie noch in Ordnung? Ich überlege mir, ob ich sie direkt fragen sollte, entscheide mich dann aber dagegen.

"Soll ich zuerst gehen?" schlage ich vor, "Es ist ja nicht gefährlich. Wir können schwimmen. Nur die Fackeln gehen aus, wenn wir ins Wasser fallen. Das sollten wir vielleicht vermeiden, daß uns beiden das zugleich passiert."

Charmion sieht mir ins Gesicht:

"Herwig, ich habe Angst!"

"Wovor denn?"

"Vor Chmerm!"

"Aber die ist doch tot!"

"Hast du sie springen sehen?"

"Nein. Glaubst du, sie hatte sich versteckt?"

Sie schüttelt den Kopf. Sie sieht sehr beunruhigt aus, fast fiebrig. Ist sie krank? Nebenbei, wie hoch steigt die Körpertemperatur bei einem Granitbeißer, der krank ist? Ob die überhaupt Fieber kriegen? Ich weiß die alltäglichsten Dinge nicht, trotz des umfassenden Sprachunterrichtes.

"Angenommen, sie ist nicht gesprungen," fahre ich fort, "dann muß sie den Pilzberg wieder verlassen, wenn sie nicht verhungern will. Wie soll sie das denn machen? Mit einer Hand? Auch, wenn sie den anderen Weg nimmt und die Ritze vermeidet - die Klettersteige, wie will sie die schaffen? Und hinter uns her ist sie auch nicht. Dann ist sie entweder in das Feuer geraten oder sie ist gar nicht erst da durchgekommen. Das ist jetzt ein langer Schacht voller glühender Asche. Und wir haben sie nicht herauskommen sehen, bevor das Feuer sichtbar wurde! Wir sind allein, glaub mir!"

"Wenn es nicht noch einen anderen Weg gibt."

"Dann ist es aber nicht sehr schön, daß man ihn uns nicht verraten hat. Und warum sollte gerade sie einen anderen Weg finden, behindert, wie sie ist?"

"Aber vielleicht kommt sie hinter uns her, weil sie tot ist!"

Ach du liebe Zeit. Das sieht nach metaphysischen Vorstellungen aus. Das erste Mal, daß ich bei den Granitbeißern etwas über solche Dinge höre.

"Glaubst du, daß jemand, der tot ist, noch herumläuft?"

Sie sieht mich nur an.

"Was glaubst du denn, was mit den Toten geschieht?" bohre ich nach.

"Eigentlich" sagt sie, "sollten sie verfaulen, wenn man sie nicht aufißt. Aber Sterben ist so wie weggehen. Die Körper sind noch da, aber es ist nicht mehr dasselbe. Es ist so, als ob die Toten irgendwohin gegangen sind."

Ich nehme sie in die Arme und sehe ihr in die Augen.

"Viele Menschen bei uns denken das auch. Sie wollen nicht akzeptieren, daß es ein absolutes Ende gibt. Es beleidigt ihren Stolz. Da läuft jemand ein ganzes Leben lang herum, handelt und spricht und verändert etwas an der Welt, und dann liegt er plötzlich nur noch da und verfault, und das ganze Gerede von der Überlegenheit des Menschen, von der Krone der Schöpfung ist nur noch stinkendes Fleisch wert. Die meisten Menschen können sich dieser Wahrheit nicht stellen. - Aber ich dachte, bei euch ist das anders! Ihr seid doch im Leben dem Tode viel näher - fast könnte man sagen, ihr seid die Gegenwart des Todes gewöhnt!"

Sie weiß nichts darauf zu sagen. Sie klammert sich an mich, und ich spüre, daß sie zittert. Was soll ich dummer Verstandesmensch denn da für Trost geben, wenn ich mich nicht einmal so in sie hineinversetzen kann, daß ich verstehen könnte, was sie bedrückt, und warum gerade jetzt?

"Man ist nur eine Zeitlang auf der Welt, und vorher und nachher sind unendliche Zeiträume, in denen man noch nicht ist und nicht mehr ist. Die Welt findet ohne uns statt. Auch das wollen viele nicht wahrhaben. Sie glauben, das wäre eine Beleidigung dessen, was den Menschen zum Menschen macht. Die Beschränktheit in Zeit und Raum, die völlige Machtlosigkeit, bei all der Macht, die wir sonst haben. Als ob die Welt unser Dasein und Dabeisein nötig hätte!"

Sie versteht mich nicht. Ich rede irgendwie an ihr vorbei. Aber wie?

"Aber sie denken falsch. Hast du mir nicht selbst gesagt, wie natürlich der Kreislauf des Menschen und seines Körpers ist? Wir sind doch aus dem Stoff, aus dem all die andere belebte Natur gemacht ist! Wenn wir unseren Körper aufgeben, dann geben wir unsere Bausteine zurück. Zurück an den Rest der Welt, damit andere leben können: Saurier, Bäume, Tang, Schlangen, Menschen. Jeder hat seine Chance, ein Teil der Welt zu sein. Für eine gewisse Zeit."

Sie sieht sich um, nach hinten über den See, an mir vorbei nach unten, in die jetzt dunkle Höhle, wo der Wendeltreppenturm stand, als ob von dort Gefahr drohe.

"Und wir haben nur eine gewisse Zeit, so, wie wir auch nur einen gewissen Raum ausfüllen. Wir müssen uns damit abfinden. Die eine, unumstößliche Wahrheit im Leben. Wir sind hier und nicht dort, wir sind jetzt und nicht zu anderer Zeit, wir waren nicht, und wir werden nicht sein. Wenn wir mehr als das wollen, dann kann man nur hoffen, daß die, die nach uns kommen, etwas mehr erreichen - was immer es auch ist, das man erreichen kann. Vielleicht können wir ihnen eine bessere Startchance geben. Aber für uns fällt irgendwann der Vorhang, und dann haben wir unsere Rolle ausgespielt. Dann kommt nichts mehr. Kein Rumgehen in der Welt, kein Nachdenken, kein Erinnern, keine Gedanken, kein Abwägen, was war gut und was war schlecht, kein Bedauern, kein Stolz, keine Trauer, keine Freude. Es ist wirklich Schluß. So, wie es für Chmerm jetzt schon der Fall ist. Sie denkt nicht mehr an ihren Tod. Sie spürt nichts mehr. Sie bedauert nichts mehr. Sie haßt dich nicht mehr, wenn sie das jemals im Leben getan hat. Sie wird dich nicht - heimsuchen. Das grosse Vergessen vergibt alles, und die Zeit deckt alles zu. Sei froh, daß es so ist. Es wäre sonst noch zu viel von dem Schlechten, was Menschen getan haben, in der Welt, zuviel unbeglichene Rechnungen und Gegenrechnungen."

Sie hat mir sprachlos zugehört. "Du kannst so seltsam schön reden," sagt sie jetzt, "das ist merkwürdig. Unsere Sprache kannst du immer noch nicht so richtig, aber du sagst Dinge, die ich nicht verstehe. Oder du redest über dieselben Dinge, aber du siehst sie ganz anders!"

"Vielleicht verstehe ich auch nicht alle Dinge!" sage ich ihr, "Das habe ich nie behauptet. Und ich behaupte auch nicht, daß meine Art, die Dinge zu sehen, die einzig richtige ist. Es ist nicht so, daß es falsch ist, Menschen zu essen, bloß weil sich in mir alles dagegen sträubt. Es ist nicht so, daß es unbedingt falsch sein muß, wenn in eurer Welt die Männer rechtlose Geschöpfe sind, obwohl ich leidenschaftlich dagegen kämpfen sollte. Vielleicht ist das alles für euch richtig. Ihr habt auf die Frage des Lebens und des Überlebens eine andere Antwort gefunden, die sich mit unseren Antworten nicht verträgt. So wenig verträgt, daß ich glaube, daß meine Leute und deine Leute besser niemals aufeinander treffen sollten. - Vielleicht wäre ich selbst besser nie hier herunter gekommen, zu euch."

Sie schüttelt unmerklich den Kopf.

"Weißt du, für mich ist das Leben ein ungeheures Rätsel." fahre ich fort, "Da sind wir in der Welt, und durch einen Zufall in der Entwicklung des Menschen haben wir genug Gehirn im Kopf, um zu begreifen, daß da eine gigantische Frage hinter allem ist. Die Frage nach dem Sinn, den Woher und dem Wohin und dem Warum, und warum so und nicht anders. Wir haben genug Hirn, um diese Frage zu ahnen, aber wir haben nicht genug Gehirn, um die Antwort zu finden. Ich finde, daß das eine Zumutung ist, aber es ist so. Niemand gibt uns eine Antwort. Man läßt uns völlig allein in dieser Welt. Wie Kinder, denen man vergessen hat, zu sagen, was wichtig und was richtig ist, und wo der Weg ist, und wie das Ziel heißt. Und deshalb sollten wir auch von selbst und aus uns selbst heraus erwachsen sein und nicht die Dinge wollen, die wir nicht und niemals bekommen können. Die eine, alles umfassende Antwort. Solange wir leben, bekommen wir sie nicht. Was dann kommt, das habe ich dir eben gesagt, was ich darüber glaube. Manche glauben, nach dem Tode erhielte man diese Antwort. Ich glaube das nicht. Es wird diese Antwort nicht geben. Für dich nicht und für mich nicht."

Sie legt den Kopf an meine Schulter, und es ist an mir, beide Fackeln so von uns weg zu halten, daß wir uns nicht brennen.

"Und weil ich das nicht glaube, ist für mich das Leben ungeheuer wertvoll. Es gibt nichts anderes. Mein Leben, das Leben meiner Frau, dein Leben. Auch Chmerm's Leben, und das von Chechmirch und Chrwerjat. Aber es stand nicht in unserer Macht. 'Der Herr über Tod und Leben hat es genommen wie er es gegeben.'"

"Welcher Herr?" fragt sie.

"Vergiß es. Diesen Herren über Tod und Leben, das ist eine der Antworten, die meine Leute da oben sich ausgedacht haben. Aber die Antwort ist voreilig. Nimm es als ein Bild. - Wir sind noch auf dem Weg. Wie können wir behaupten, das Ziel zu kennen, wenn wir nicht einmal wissen, ob es ein Ziel gibt? - Es gibt keine Herren über Tod und Leben. Sei lieber froh, daß du lebst, und versuche, am Leben zu bleiben. Darüber hinaus kann man sich manchmal den Luxus leisten, auch anderen Lebewesen das Leben zu retten oder zu erleichtern. Wenn die Umstände es zulassen. Aber erst dann. - Und aus diesem Grunde hätte ich es lieber, wenn Chrwerjat, Chechmirch und Chmerm noch am Leben wären."

Eine Weile sagen wir gar nichts. Dann:

"Hast du noch Angst?" frage ich.

"Ich weiß nicht," sagt sie. "Es ist so seltsam mit dir. Es ist überhaupt alles so seltsam. Früher, als meine Mutter noch lebte, da war alles so sicher. Ich war geborgen, und ich wollte stark werden, damit ich Geborgenheit zurückgeben konnte. Ich lernte, mit Waffen umzugehen, und wie man die großen Saurier bezwingt. Ich lernte, schneller und gewandter als alle anderen zu sein. Ich lernte auch Technik und Baukunst. Aber dann ist meine Mutter bei einem Wettkampf umgekommen, und ich war plötzlich allein. Und seitdem ist alles so in Bewegung. Nichts ist sicher. Sicher, ich bin stärker und klüger als die meisten, aber das kann mir nicht immer helfen. Das Leben nimmt immer neue, unerwartete Wendungen! Und es braucht doch nicht viel, daß alles zu Ende ist. Ein kurzes Stück Eisen zwischen die Rippen, ein ausbrechendes Stück Fels in einem Steilhang. Es ist alles so unsicher!"

"Aber das geht doch nicht nur dir so!" sage ich, während ich ihr über das verklebte Haar streiche, "Das ist bei uns genauso. Jeder Mensch, der heranwächst, erlebt das. Die Welt ist nicht nach unseren Wünschen gestaltet. Nicht einmal über unsere Wünsche haben wir Macht. Nicht einmal über uns selbst. Ein Dichter hat einmal gesagt, wir werden getrieben vom Strom des Lebens, das Leben ist in uns und es brennt in uns, es will heraus, es gibt keinem Rechenschaft, warum es ist und warum es will. Wir haben keine Macht. Nicht die Macht, um zu erzwingen, am Leben zu bleiben, und nicht die Macht, zu entscheiden, ob wir am Leben bleiben wollen oder nicht. - Wir haben nicht einmal die Macht, zu entscheiden, wen wir lieben wollen oder nicht, und wann die Liebe beginnt und wann sie aufhört."

Sie nickt, als ob sie mir folgen kann und zustimmt.

"Du bist nicht allein, Charmion! Unzählige vor dir haben das gefühlt. Legionen. Niemand, der denken und empfinden kann, trägt die Last des Lebens leicht. Da mußt du durch. Erst, wenn du weißt, was in deiner Macht liegt und was nicht, und was besser nie in deiner Macht liegen sollte, erst, wenn du das weißt, dann bist du innerlich so stark wie du es jetzt schon körperlich bist. Dann bist du sogar so stark, daß du im Alter gefaßt deinen verfallenden Kräften zusehen können wirst."

Ich gebe ihr einen Kuß auf die Stirn:

"Aber das ist für dich noch lange hin! Du bist noch jung und schön! - Gehen wir jetzt weiter?"

"Ja!" sagt sie. Auf das Kompliment reagiert sie, als ob ich es nicht gesagt hätte. Unweiblich, nach unseren Begriffen - es ist für sie nicht wichtig, ob jemand sie 'schön' findet und das auch sagt. Sie drückt mich fest: "Spielen wir nachher noch einmal miteinander? Ich meine, wenn wir oben sind?"

"Sicher!" sage ich. Was für ein Fortschritt: sie fragt und holt sich nicht einfach, was sie will. Und wie Knetgummi in ihren Händen will ich, was sie auch will. Schweig stille, mein Gewissen.

Manchmal, wenn man sehr persönliche Überlegungen anderen erläutert hat, dann hat man eine Art Katzenjammer. Da sind Gedanken unfertig und irgendwie doch nicht richtig und deshalb verdreht ausgedrückt worden, und darunter ist vielleicht auch einiges, was man besser nicht hätte sagen sollen. Diesmal empfinde ich das nicht so, aber vielleicht liegt das auch daran, daß Charmion nicht alles verstanden haben kann - da kann ich von manchen Schnitzer einfach annehmen, er sein nicht angekommen.

Wir sehen uns das Wasser vor der Mauermitte genau an, die Fackel so haltend, daß ihr Spiegelbild im Wasser nicht alles überstrahlt.

"Es sind Tretsteine, etwa einen Fuß im Quadrat groß und einen Fuß unter Wasser. Aber ich kann nicht erkennen, worauf sie liegen." stelle ich fest.

"Es macht Sinn," sagt Charmion, jetzt wieder ganz sachlich, "denn wenn es früher mal geplant war, durch gefährliche Tiere im Wasser den Durchmarsch zu hindern, dann ist es besonders einfach, wenn man fliehende Gefangene zwingt, durch das Wasser zu waten. Das Geräusch würde sie anlocken!"

"Und wie kommen die Leute durch, die dazu berechtigt waren?" frage ich. Charmion weiß es auch nicht.

"Jedenfalls sind jetzt ja keine Saurier mehr da." stelle ich fest, "Also ich zuerst."

"Nein," sagt Charmion, "ich zuerst. Du bist nicht schnell genug, wenn etwas Unerwartetes passiert."

Sie hat ja recht. Ich sehe zu, wie sie in das Wasser steigt und mit weitem Schritt den ersten Tretstein erreicht. Dann tritt sie auf den zweiten.

22.15 Das Tentakelmonster

"Glitschig." sagt sie, und noch einen Vergleich, wie glitschig es ist. Ich verstehe ihn nicht, aber es muß ein obszöner anatomischer Vergleich gewesen sein. Umgangssprache. Naja. Ich bin dran.

Das Wasser ist urinwarm, wie alles in dieser Welt. Wenn ich mir von dem Fußbad irgendeine Art von Erfrischung versprochen habe, dann wird diese Erwartung spätestens jetzt enttäuscht.

Wenn man vorsichtig ist, dann ist diese Art der Fortbewegung relativ ungefährlich. Man hält die Fackel weit seitlich, damit ihr Spiegelbild nicht gerade genau auf dem Tretstein liegt, den man als nächstes betreten will. Die Tretsteine haben alle horizontale Oberflächen. 30 mal 30 Zentimeter sind genug Platz. Wir gehen etwa zwei Meter voneinander entfernt hintereinander. Das Wasser ist sehr klar - auch wenn man mit Wasser dieser Temperatur wieder eher ein trübes Medium verbindet, aber meine eigenen Erfahrungen gehen in der Welt der Granitbeißer ja dauernd daneben.

Da ich die Information, daß hier im Wasser keine Tiere mehr zu finden sind, für absolut zuverlässig halte - wie sollten Lebewesen sich hier halten, ohne Licht oder Fütterung? - habe ich in dieser Richtung am allerwenigsten Befürchtungen. Deshalb bin ich auch mehr überrascht als erschrocken, als sich nach etlichen Minuten - längst sind die Felswände, die den See begrenzen, nicht mehr in der Reichweite unserer Fackeln - plötzlich zwischen uns aus einer Lücke zwischen den Tretsteinen eine saugnapfbewehrte Tentakel erhebt und nach Charmion greift.

Noch bevor Charmion berührt wird ist meine Schrecksekunde vorbei. Herwig, tu jetzt mal was richtiges! Diese Erkenntnis rollt wie eine nichtverbale Welle durch meinen ganzen Körper. Mein Schwert ist draußen als ob ich mein ganzes Leben nichts anderes getan hätte. Wie gut, denke ich, oder denke ich auch nicht, daß ich die Fackel gerade in der linken Hand halte!

Ein Sausen in der Luft, und ich habe das Ding abgetrennt. Der Stumpf zieht sich zurück, während Charmion sich überrascht umdreht. Gerade noch sieht sie die abgetrennte Tentakel ins Wasser plumpsen. Von meinem Schwert tropft eine bleiche, zähe, jedenfalls nicht rote Flüssigkeit.

"Es ist doch etwas da!" sage ich, "Vielleicht lockt sie das Licht an!" Dabei ziehe ich die Klinke zischend durch das Wasser, um sie zu säubern.

"So." sagt Charmion. Ohne sonderlich beunruhigt zu sein hat sie ihr Schwert im Augenblick ebenfalls draußen. Aber es passiert zunächst nichts mehr.

"Ich verstehe nicht, wie hier etwas leben kann," sage ich, mehr zu mir selbst. Einen Zufluß halte ich für unwahrscheinlich - wir müssen uns noch tausend Meter unter der Oberfläche von Casabones befinden. Vielleicht Abwässer, die genügend Nährstoffe hinunterbringen, so daß manche Lebewesen sich hier noch halten können. Wir können das jetzt nicht herausfinden. Aber wir müssen auf der Hut sein.

"Achte auch auf das Wasser hinter dir!" sagt Charmion. Das braucht sie mir nicht zu sagen. Für mich ist die Situation etwas ungünstiger als für sie, weil ich sie beim Marschieren dauernd vor mir sehe, sie aber nicht mich. Ich muß schon selber dauernd hinter mich schauen. Habe ich endlich einmal die Gelegenheit, von uns beiden den gefährlicheren Teil der Aufgabe zu übernehmen!

Aber so gefährlich ist die Sache nicht. Jetzt, wo wir gewarnt sind, stellen wir fest, daß sich diese Tiere nicht sehr schnell bewegen. Noch einige Male in den nächsten Minuten taucht so ein Saugnapfarm auf, meistens zwischen uns, zweimal hinter mir, einmal vor Charmion. In allen Fällen schlagen wir das Ding ab. Ich sogar einige mehr als Charmion! Wie das Tier in seiner Gesamtheit aussieht bekommen wir nicht zu sehen.

Da wir sowieso schon im Wasser stehen, benutze ich schließlich die Gelegenheit, mich vollständig von Chmerm's Blut zu säubern. Ein weitergehendes Bad täte uns beiden gut, aber dafür sollten wir ein anderes Gewässer abwarten.

Es ist 10:50 Uhr, als sich vor uns ein Felsenufer aus der Dunkelheit herausschält. Außerdem sehe ich in den letzten Minuten gelegentlich bis zum Grund des klaren Wassers - wir haben einen weniger tiefen Teil des Höhlensees erreicht, und die Angriffe der Saugnapftentakeln hören völlig auf. Andere Lebensformen - Algen auf dem Grund, kleine Wassertiere - sind nicht zu sehen. Keine Ahnung, wovon die Saugnapfarm-Tiere leben.

Immerhin ist die Anlage leicht zu begreifen: Wer immer sich hier fortbewegt, ist auf einer langen Strecke gezwungen, im Wasser zu waten und mit den dabei entstehenden platschenden Geräuschen wirklich gefährliche Tiere anzulocken, wenn welche da sein sollten. Ich glaube nicht, daß die Anwesenheit der Tentakel-bewehrten Tiere jemals geplant gewesen ist. Zu langsam, um einem vorgewarnten Menschen ernsthaft gefährlich zu werden. Die sind sicher später hier eingewandert.

Die Gesamthöhle verengt sich so weit, daß wenigstens die Felswände rechts und links wieder in den Bereich unserer Fackeln kommen. Der See wird jedoch noch schmaler als die Höhle und läßt auf beiden Seiten ein zunehmend breiteres Ufer frei. Wir steigen aus dem Wasser und können nun viel bequemer weitergehen.

Der Rest des Sees hat sich bald zu einer Rinne von knapp einem Meter Breite und ebensolcher Tiefe verdünnt. Es sieht wie ein tiefer Bach mit stehendem Wasser aus. Man kann bequem hinüber und herüber springen. Ich kann nicht erkennen, ob dieser Bach auf natürliche Weise durch Erosion entstanden ist - dann müßte er ja zu Zeiten fließen - oder ob er künstlich ausgehoben wurde.

Wir kommen rasch vorwärts. In einigen Stunden ist es Zeit zum Schlafen, und wir möchten, daß wir bis dahin vielleicht sogar das Oberfort erreichen. Dann haben wir wenigstens die Besteigung des Pilzberges hinter uns.

Außerdem möchte ich mit Charmion schlafen. Es ist schlimm: Wenn der Sexualinstinkt sich erst ein Ziel ausgesucht hat, dann haben alle anderen Erwägungen praktischer oder 'moralischer' Natur Sendepause. Überhaupt ist es so, daß ich mich seit knapp drei Wochen wie in einem Traum oder einem Abenteuerroman fühle - jedenfalls so, als ob ich ein ganz fremdes Leben lebe. Gerade jetzt, wo Irene weit weg ist, wo überhaupt das Einzige, was an die Zivilisation erinnert, nämlich meine digitale Armbanduhr, bei flüchtigem Hinsehen auch noch für ein Schmuckring gehalten werden könnte, wo ich mich selbst in jeder anderen Hinsicht äußerlich nicht mehr von einem Bewohner dieser Welt unterscheide, wo ich auf viele Aspekte meiner Existenz nicht mehr den geringsten Einfluß habe, wo hingegen mehr mein früheres Leben eine traumartigere Qualität gewinnt als mein jetziges, gerade jetzt fühle ich mich allen Prinzipien, die früher mein Leben bestimmt haben, weit entrückt.

Es ist nicht mehr notwendig, jeden Tag diszipliniert zur Arbeit zu gehen, um eventuell sehr nutzlose Dinge ineffizient zu erledigen, sondern es ist, in variablen Zeitabständen, notwendig, sich effizient seiner Haut zu wehren. Es ist nicht mehr vollkommen nebelhaft, ob das, was man tut, richtig ist, eine Erfahrung, die wohl jeder in einem Großkonzern gelegentlich macht, sondern es wird unmittelbar klar, ob man das momentane Klassenziel erreicht: überleben oder nicht. Es gibt hier keine langfristigen Strategien, die den Rhythmus des Lebens in unserer Welt da oben bestimmen: Keine Vermögensbildung. Kein weiterer Kompetenzaufbau in den Dingen, die man in der Branche so braucht. Kein Rumärgern mit der Einkommenssteuererklärung, kein Beiseitelegen von Belegen, keine Versicherungsplanung, keine Rentenberechnung. Nein, was jetzt zählt ist die unmittelbare Bewährung.

Wie in dieser Welt eine langfristige Lebensplanung aussehen soll ist mir unklar. Die meisten Granitbeißer leben ja nicht lang - die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr gering. Also wird so etwas wie eine langfristige Lebensplanung für einen Granitbeißer oder eine Granitbeißerin ein sehr seltsames Konzept sein.

Das alles beeinfußt alle Werte. Wie sehr die Außenwelt das Bewußtsein formt! Bin ich überhaupt noch ich, bei diesen Änderungen des Ich? Was ist der kleinste gemeinsame Nenner? Etwa der, daß ich Irene wieder treu sein werde, sowie es uns gelungen sein wird, in unsere Welt zurückzukehren? Daß aber jetzt der Ausnahmezustand herrscht? Ist mein Ich jetzt ein anderes?

Ich habe mal eine Definition des Ichs von Popper gelesen, die auf eine nachvollziehbare Kontinuität des Erlebens und eine dadurch bedingte Kontinuität des Ichs hinausläuft. Es ist so, daß sich in jedem Moment Erinnerungen aus dem Bewußtsein in das Vergessen hinein abseilen, aber immer noch, je nachdem, wie lange sie zurückliegen, wieder hervorgerufen werden können. Diese Anbindung an die eigene Vergangenheit bewahrt das Ich vor dem Zerfall in zeitlich getrennte Stücke. Diese Stetigkeit der Änderungen aller Umstände, das Mitschleppen der Erinnerungen an die Umstände, die mal waren. Deshalb gibt es eine stetige Verbindung zwischen all den Ichs, die ich mal war, bin und je sein werde. Deshalb bin ich noch der, der ich auch vor einer Minute war, oder vor einer Stunde, oder der, der ich in einer Stunde sein werde. Nur langsam und kontinuierlich verändert Lernen und Vergessen das Bewußtsein.

Aber nicht alles wird vergessen. Bestimmte Kindheitserinnerungen oder auch traumatische Erlebnisse bleiben und machen ein bestimmtes Bewußtsein so unverwechselbar und unterscheidbar von allen anderen. Gewissermaßen die Bergriesen am Bewußtseinshorizont, die man von überall sieht, und die der Landschaft ihr unverwechselbares Gepräge geben, auch, wenn sie sich dauernd weiter entfernen.

Wir aber sind vor drei Wochen leichtsinnig in einen Höhlenspalt hineingegangen, und von da an war alles anders. Von da an sind alle Verbindungen zur eigenen Vergangenheit gebrochen, und im Moment sogar die bloße Möglichkeit, wieder dorthin zu gelangen. Es ist wie das Einfliegen eines Raumschiffes in ein Schwarzes Loch: Die lokale Raumzeitstruktur ist die ganze Zeit immer noch die vertraute, aber nachdem man den Ereignishorizont hinter sich gelassen hat ist der Rückweg für immer versperrt. Unser Ereignishorizont war irgendwo auf dem Abstieg in die Welt der Granitbeißer. Unser Ereignishorizont, der auch die Schwelle für ein neues Ich erzwang. Denn unser altes Ich ist nicht für diese Welt gemacht. Und die unverwechselbar persönlichen Erinnerungen 'passen plötzlich nicht mehr'.

Bin ich eigentlich, jetzt, mit meinem neuen Ich, eifersüchtig, wenn ich mir jetzt vorstelle, daß auch Irene jetzt einen anderen Sexualpartner hat? Ich glaube nicht. Ich darf es auch nicht, der Symmetrie wegen. Und ich darf es nicht, weil sie vielleicht auf diesem Wege ihre Überlebenschancen erhöht. Ja, so geht das Argument: Überlebenschancen erhöhen. Wir müssen uns gegenseitig Generalamnestie geben, solange wir hier unten sind. Solange wir jemand anders sind. Dann, wenn wir wieder oben sind, werden wir wieder die alten. Hoffentlich.

Jetzt aber möchte ich Charmion. Am liebsten gleich - etwas in mir ist auf den Geschmack gekommen.

Die Höhlenwände weichen wieder von uns zurück. Der stillstehende Bach geht quer durch diese Höhlenerweiterung hindurch. Er macht eine Biegung, um die Mitte dieses Raumes zu vermeiden. Dann verschwindet er in einem niedrigen Loch in der hinteren Höhlenwand. Rechts daneben ist das Loch eines dunklen Tunnels, der in die Richtung weiterführt, die wir bisher schon gegangen sind.

In der Mitte des Raumes ist eine drei Meter durchmessende Grube, die sich aber mit Wasser gefüllt hat, das genauso hoch steht wie der Bach außen. Wie tief diese Grube ist kann ich nicht erkennen.

Mitten in dieser Grube stehen zwei Holzbalken, dicht nebeneinander, in einem Abstand von vielleicht dreißig Zentimeter. Ihre Querschnitte sind etwa 4 mal 10 Zentimeter. Nach oben verschwinden diese Holzbalken aus dem Lichtbereich unserer Fackeln. Die Höhlendecke ist, wie bisher auch schon, nicht zu sehen.

Dann fällt mir noch etwas auf. Ich habe es nicht gleich gesehen, weil wir erst um die beiden Balken herumgehen: alle vier Meter gibt es ein keilförmiges Stück Holz, das an dem Balken befestigt ist.

"Ich weiß nicht, wie es weitergeht, ich weiß nur, daß es weitergeht." gibt Charmion zu, "Entweder wir folgen dem Bach noch weiter, oder wir müssen hier nach oben. Ich weiß nur nicht, wie."

Die Holzbalken erinnern mich an etwas. Ein uralter Angsttraum aus meiner Kindheit:

"Es ist eine Fahrkunst!" rufe ich aus.

"Eine was?"

"Eine Fahrkunst!" Aufgeregt erkläre ich Charmion, was das ist.

22.16 Fahrkunst!

Wahrscheinlich ist die Einrichtung einer Fahrkunst in der Welt der Granitbeißer nicht sehr verbreitet. Die meisten Menschen bei uns oben kennen diese einfache technische Vorrichtung auch nicht mehr. Um so überraschender ist es, daß wir hier so etwas vorfinden!

Man hat diese Einrichtung in früheren Zeiten im Oberharzer Bergbau verwendet, um Bergleuten zu ermöglichen, schnell in die Tiefe der Schächte und wieder zurück nach oben zu gelangen. Das war lange bevor der Förderkorb in den Bergbau eingeführt wurde.

Es geht so: Wasser treibt ein Wasserrad an. Damals hatte man noch keine andere Quelle mechanischer Energie in der benötigten Menge. Dieses Wasserrad treibt über eine Pleuelstangenkonstruktion eine hölzerne Wippe an - wie überhaupt das Konstruktionsmaterial der ganzen Einrichtung im wesentlichen Holz ist. Die Größe dieser Wippe ist so berechnet, daß die Enden um etwa zwei Meter auf und ab wippen. Das geschieht in einem einige Sekunden langen Turnus, wenn das Wasserrad beschickt wird.

Diese Holzwippe befindet sich über einem Schacht. An beiden Seiten der Wippe ist jeweils ein langes Holzgestänge aufgehängt. Diese oft einige hundert Meter langen Holzgestänge werden über Gelenke nahe zusammengeführt, bevor sie parallel und nahe beieinander in den Schacht hinunterhängen. Wenn die Wippe in Betrieb ist, werden diese Holzgestänge im Gegentakt auf und ab bewegt, mit einer Amplitude von drei bis vier Metern gegeneinander.

Der Rest der Konstruktion sind Holztritte, die in regelmäßigen Abständen an dem Holzgestänge angebracht worden sind. Dabei sind die Positionen dieser Tritte so bemessen, daß sich jeweils Tritte an beiden Stangen gegenüberstehen, wenn diese bei ihrem Auf und Ab die Extrempositionen erreicht haben.

Die Benutzung dieser Fahrkunst ist ganz einfach: Man tritt auf einen Tritt an der Stange, die sich im nächsten Zug abwärts bewegen wird. Damit legt man drei bis vier Meter zurück, bis die betreffende Stange in ihrer unteren Extremposition ist. Dann tritt man flink auf den gegenüberliegenden Tritt an der anderen Stange hinüber. Der ist nämlich gerade in seiner oberen Extremposition. Mit dem fährt man in den nächsten Sekunden die nächsten drei bis vier Meter in die Tiefe. Dann wechselt man wieder zurück, und so weiter. Wenn man mit einer Fahrkunst nach oben will, geht es genauso.

Natürlich ist es nicht ganz ungefährlich, und es sind auch seinerzeit viele Bergleute verunglückt. Einen Moment der Unachtsamkeit, und schon ist es passiert. Eigentlich ist es kein Wunder, daß die Fahrkunst in der Welt der Granitbeißer auch erfunden wurde - bei der Immunität gegenüber allen Situationen, die unsereinem Höhenschwindel in seiner puresten Form verursachen.

Ich erinnere mich, daß ich als kleiner Junge die Fahrkunst in einem Clausthaler Bergwerksmuseum das erste Mal gesehen und begriffen hatte. Der Angestellte des Museums, der das Gerät an einem Modell in natürlicher Größe erklärte, muß mich damals fürchterlich erschrocken haben, weil er andeutete, wir müßten das Ding auch benutzen. Wegen meiner geringen Körpergröße konnte ich damals nicht sehen, daß das Loch im Boden gar nicht der Eingang zu einem echten Schacht war. Deshalb war meine Angst echt, und noch lange Zeit danach erschien mir die Fahrkunst als eine ganz schreckliche Einrichtung.

Natürlich habe ich bis heute noch nie eine wirkliche Fahrkunst benutzt, noch damit gerechnet, dies je tun zu müssen. Aber jetzt hier, an diesem Ort, diese Konstruktion wieder vorzufinden ist eine angenehme Überraschung - die Fahrkunst ist etwas Vertrautes aus der Welt da oben.

Charmion findet nichts Schreckliches daran, als ich ihr den Mechanismus erkläre. Sie kennt ihn noch nicht, aber sie ist ganz begeistert von dieser Methode.

"Eine tolle Sache," sagt sie, "hat sich das etwa auch ein Mann ausgedacht?"

Diplomatisch bleiben. "Vielleicht war es in eurer Welt eine Frau. Bei uns war es sicher ein Mann."

So weit so gut. Eine Fahrkunst, die sich nicht bewegt, nützt uns nichts. Entweder, es gibt hier irgendwo eine Steuerung, um die Fahrkunst in Betrieb zu nehmen, oder dies ist nicht der Weg hinauf. Wir suchen die Höhle weiter ab. Es kann der Weg hinauf sein, es muß nicht. Schließlich waren die Mittel, auf den Gefängnisberg zu gelangen, bis jetzt sehr heterogen: Tunnel, Klettersteige der verschiedensten Art, Hängender Weg, Rillenpfad im Fels, Stollen, Wendeltreppenschacht, Wendeltreppenturm, Pfad im See. Jetzt ist es eben eine Fahrkunst. Nun gut.

In diesem Moment hören wir aus dem Stollen, der demjenigen, aus dem wir gekommen sind, gegenüberliegt, ein fernes Geräusch: Ein Kratzen oder Schleifen über den Fels. Dann ist es wieder still. Ich brauche Charmion nicht anzusehen - sie hat es auch gehört. Ich habe gar nicht gesehen, wie sie das Schwert zog, so schnell ging es.

"Was war das?" flüstere ich.

"Weiß nicht."

Wir sind beide im Lichte unserer eigenen Fackeln aus diesem Stollen gut zu sehen, während dieser für uns nur ein schwarzes Loch ist. Schon in den ersten Metern sehen wir kaum noch etwas.

Immerhin fallen mir erst jetzt genau neben diesem Stollen eine Anzahl von Metallringen auf, die dort in den Fels eingelassen worden sind. Durch diese Metallringe gehen zwei Seile locker nach oben. Die Enden dieser beiden Seile liegen auf dem Boden, und beide haben die Farbe des Felsens angenommen. Deshalb sehen wir sie erst jetzt.

"Das könnte die Steuerung für die Fahrkunst sein!" flüstere ich zu Charmion, "wahrscheinlich kann man mit einem der beiden Seile oben irgendwo ein Wehr öffnen und mit dem anderen schließen. Wenn es noch funktioniert."

Charmion ist über meine langen Erklärungen nicht sehr erbaut. Das Geräusch hat sich wiederholt. Vielleicht ist es ein bißchen nähergekommen.

"Du links, ich rechts!" flüstert sie, "Ist dein Schwert kaputt?"

Rüge begriffen. Ich ziehe auch mein Schwert. Dann gehen wir auf die dunkle Öffnung des Stollens zu, ich an die Seite, wo die Seilbefestigungen sind.

Die Vermutung, daß man durch Ziehen an den Seilen die Fahrkunst in Betrieb nehmen könnte, löst sich genauso schnell in Luft auf wie die Seile selbst: Das erste zerkrümmelt mir in der Hand, gleichzeitig reißt es irgendwo über mir. Ich springe zur Seite, und neben mir schlagen die Bruchstücke des Seils auf den Boden. Es hätte mich nicht ernsthaft verletzen können, aber es staubt und riecht widerlich muffig.

Das zweite Seil ist von derselben Qualität. Als ich es auf dieselbe Weise zerstört habe, knirscht es im Tunnel wieder. Das Geräusch ist definitiv nähergekommen. Außerdem höre ich ein Schmatzen oder Gurgeln, das die scheußlichsten Assoziationen erweckt.

"Wie bringen wir jetzt die Fahrkunst in Betrieb?" frage ich.

"Später." flüstert Charmion, "Wir haben jetzt andere Sorgen." Sie stellt sich bereit, um zuzuschlagen. Todesmutig ist dieses Mädchen, das muß man ihr lassen. Sie hat nicht die mindeste Ahnung, was da auf uns zukommt, aber wie selbstverständlich stellt sie sich zum Kampf.

Ich überlege, ob wir vielleicht zum See zurücklaufen sollten. Aber das kann ich unter den Augen von Charmion natürlich nicht tun. Also reiß dich zusammen.

Um einen sicheren Stand zu haben, halte ich mich mit der linken Hand an einem der Eisenringe in der Felswand fest und hebe eines meiner Schwerter zum Schlag. Die Fackel habe ich so wie auch Charmion solange auf den Boden gelegt.

Der Eisenring bewegt sich unmerklich.

22.17 Inbetriebnahme

Im Augenblick begreife ich: Wo immer in der Welt der Granitbeißer Eisen in eine Wand geschlagen worden war, da saß es felsenfest. Wenn dieses sich bewegt, dann ist das Absicht. Ich drehe und ziehe mit allen Kräften an dem Eisenring, zuerst mit einer, und dann, nachdem ich das Schwert auf den Boden gelegt habe, mit beiden Händen.

"Was machst du denn da?" fragt Charmion empört.

"Hilf mir lieber!" sage ich, aber es ist nicht mehr nötig. Der Eisenring kommt mir entgegen. Er ist an einer langen Stange mit quadratischem Querschnitt, die sich um etwa sechzig Zentimeter herausziehen läßt, im Fels befestigt. Dann gibt es wieder einen deutlichen Widerstand.

Wieder das Geräusch. Beunruhigt versucht Charmion, mit ihrem Blick das Dunkel des Tunnelloches zu durchdringen, während ich mich an dem zweiten der vier größten Ringe zu schaffen mache. Ich habe den Verdacht, daß nur die vier größten Ringe diese Manipulation erlauben.

Es gelingt mir rasch, tatsächlich einen Eisenstab nach dem Anderen herauszuziehen. Als ich den letzten in seine äußere Extremposition gebracht habe, rasselt es gedämpf hinter der Felswand, Sekunden später poltert es über unseren Köpfen, ohne daß jedoch etwas herunterfällt. Dann rasselt es in der Höhe, und wenig später poltert es aus noch größerer Höhe herab. Das wiederholt sich noch einige Male, dann ist wieder Stille. Auch das, was da im Tunnel ist, ist vorübergehend ruhig geworden.

Dann glaube ich, ein fernes Rauschen zu hören, aber ich kann mich auch irren.

Nein, ich irre mich nicht. Von weitem ist das Knarren und Quietschen und Schleifen von Holz auf Holz zu hören.

"Nimm die Fackel!" rufe ich und deute auf die Fahrkunst, "ich glaube, wir haben es in Betrieb gesetzt!"

Charmion sieht mich ungläubig an, aber sie folgt mir.

Am Rand der Grube, in der Mitte der Höhle, stellt sich heraus, daß es einen weiten Schritt braucht, die Stangen zu erreichen - über einen Meter. Eine Steighilfe ist nicht vorgesegen. Außerdem ist an einer der Stangen der Tretkeil in einem Meter Höhe über dem Wasser, bei der anderen sind es drei. Immer noch beschleicht mich die Besorgnis, daß meine Interpretation der Geräusche weit über uns falsch sein könnte, und daß die Fahrkunst sich nicht die Spur bewegen wird.

Aber dann bilden sich kaum sichtbare kreisförmige Wellen um die Stelle, an der die Stangen die Wasseroberfläche durchstoßen. Kurz danach zittern die senkrechten Balken schon deutlich wahrnehmbar.

Charmion sieht es auch. "Rein!" befiehlt sie. Die Fackel über dem Kopf haltend lasse ich mich vom Rand der Grube in das brühwarme Wasser gleiten. Es gelingt mir, mich ohne die Fackel zu ertränken an den Balken heranzuschieben. Charmion steckt auch ihr Schwert in die Scheide und macht es mir nach.

An dem Balken, an dem sich der nächste Tretkeil in drei Metern Höhe über dem Wasser befindet, finde ich etwa einen Meter unter Wasser einen weiteren Tretkeil. Wie stabil der ist weiß ich allerdings nicht - wer weiß, wie lange das Wasser schon in dieser Grube steht.

Drüben, im Tunnelloch bewegt sich etwas, aber wir werden von unseren eigenen Fackeln zu sehr geblendet.

Als die Stangen anfangen, sich knirschend zu bewegen, sehe ich allerdings, daß ich auf das falsche Pferd gesetzt habe: Meine Stange sinkt, die andere hebt sich. Ich muß vorübergehend wohl wieder schwimmen. Charmion auch.

Zwei Meter über den Wasserspiegel bewegen sich zwei Tretkeile aufeinander zu, werden wieder langsamer, kommen in gleicher Höhe nebeneinander etliche Sekunden zur Ruhe. Dann kommt der eine wieder herunter, und der, auf dem ich vorübergehend schon gestanden habe, läßt sich wieder mit meinen Füßen ertasten. Ich stelle mich drauf, und langsam hebt er mich, bis ich mit meinen Füßen so gerade eben die Wasseroberfläche durchstoße. Zu gleicher Zeit ist an der anderen Stange der Tretkeil, der etwa einen Meter über der Wasseroberfläche war, ebenfalls bis zur Wasseroberfläche heruntergekommen, und ich kann hinübersteigen. Es geht ganz leicht.

Charmion schwimmt noch im Wasser. Sie steigt im nächsten Takt auf. Ich bin nun etwa vier Meter über ihr.

"Was habe ich gesagt!" rufe ich herunter, voller Euphorie, letztere besonders auch, weil wir das Viech, oder was immer da im Tunnel hockt, nun hinter uns lassen.

Eine Hand zum Festhalten, eine Hand für die Fackel. Es sollte vollkommen sicher sein - nach hiesigen Maßstäben. Wenn alle Tretkeile sauber befestigt sind. - Wie alt diese Holzkonstruktionen wohl sind? Aus der Nähe sieht das Holz der Fahrkunststangen sehr alt, trocken und mürbe aus.

Die Holzstangen bewegen sich träge auf und ab. Zumindestens auf einer kurzen Treppe kann man wesentlich schneller aus eigener Kraft hinauflaufen. Aber sie bringen uns sicher in die Höhe, und als nach wenigen Takten der Fahrkunst das Licht unserer Fackeln den Boden der Höhle nicht mehr erreicht, fühle ich mich schon übermütig sicher.

"Was es wohl war? Du kennst doch die Tiere hier! Oder waren es Menschen?" rufe ich hinunter.

"Ich weiß es nicht. Ich habe es nicht genau gesehen." antwortet Charmion. Aus dem Unterton in ihrer Stimme bemerke ich, daß sie ihre Freude an dieser technischen Einrichtung hat. So ähnlich hat sie - und auch Chrwerjat - reagiert, als ich ihnen das Prinzip des Segelkiels erklärt habe. Diese Menschen haben noch viele Begabungen. Ob ihre Welt humaner werden würde, wenn man ihnen einige technische Dinge verriete?

Weit unten, vielleicht jetzt schon dreißig Meter unter uns oder mehr - ich habe schon wieder die Anzahl der Takte der Fahrkunst nicht mitgezählt - scharrt etwas Schweres über den Boden der Höhle, dann platscht es in der Wassergrube am Fuße der Fahrkunst. Ein harter Schlag läßt die Balken erzittern.

"Es kommt uns nach." stellt Charmion fest.

"Dann kriegen wir ja doch noch raus, wie es aussieht." sage ich, aber Charmion antwortet nicht darauf. Ich mache mir Gedanken darüber, wieviel Hände man braucht, um sich festzuhalten, eine Fackel zu halten und ein Schwert zu führen. Da sehe ich ein unlösbares Problem auf uns zukommen.

Das unlösbare Problem scheint tatsächlich hinter uns herzuklettern. Allerdings scheint es damit Schwierigkeiten zu haben - plötzlich hören wir einen unmenschlichen, tiefen, guturalen Schrei. Ein Schmerzschrei. Wieder schwanken die Balken seitlich in vom Konstrukteur nicht vorgesehener Weise.

Wahrscheinlich kommt es mit der Fahrkunst nicht klar und hat sich zwischen den sich auf- und abbewegenden Balken und Tretkeilen eingeklemmt. Dann muß es wenigstens so groß sein wie ein Mensch. Wahrscheinlich größer, denn es bringt die ganze Konstruktion noch öfter heftig zum Schwanken.

"Es bleibt zurück." stelle ich fest. Rhythmisch und präzise wechseln wir die Balken. Hoffentlich wird die Fahrkunst nicht nach einer gewissen Zeit abgestellt. Zum Klettern eignen sich diese Balken nicht. Und inzwischen dürften wir weit über hundert Meter Luft unter uns haben. Sehen tun wir das nicht. Gerade eben sichtbar ziehen Felswände im Schein unserer Fackeln vorbei. Das ist auch alles.

Nach einigen weiteren Versuchen des für uns noch immer unsichtbaren Wesens unter uns, die Erschütterungen verursachen, die mich an einen Riesenaffen denken lassen - eine Art King-Kong - passiert ihm wohl ein Malheur. plötzlich ist es völlig still. Sekunden vergehen. Ein Knurren, daß vielleicht Verwunderung ausdrücken könnte, aus weiter Entfernung unter uns. Dann ein dumpfer Aufschlag, gefolgt von schwachen, klatschenden Geräuschen. Kein Schrei. Das gedämpfte Echo verläuft sich. Es ist wieder Stille.

"Abgestürzt." sagt Charmion. Erleichterung in ihrer Stimme - da sie unter mir ist, wäre sie zuerst mit dem Viech konfrontiert worden.

Über uns kommt etwas näher, was rauscht und knarrt. Wahrscheinlich das obere Ende der Fahrkunst. Der Antriebsmechanismus. Ewig lang kann sie ja nicht sein. Es dauert aber noch etwas, und als endlich ein in diesen senkrechten Naturschacht eingebaute schwere Holzkonstruktion in Sicht kommt, stellen wir fest, daß es sich zwar um einen Antrieb und eine Aufhängung für die Fahrkunst handelt, nicht aber um das Ende derselben.

Ohne das wir unseren Steigrhythmus ändern müssen, passieren wir einen Doppelboden. Wir sehen eine Wippe, so, wie sie für eine Fahrkunst benötigt wird, aber sie scheint nur einen Teil der Betriebsenergie und der Aufhängestabilität beizusteuern. In einer Nebenhöhle, so hört es sich jedenfalls an, arbeitet ein Wasserrad. Aber bevor ich Einzelheiten der Konstruktion durchschauen kann, sind wir schon vorbei.

Das läßt auf eine ausgefeilte Anlage schließen. Offenbar habe ich durch die Ringe synchrone Wasserräder und Wippen ausgelöst. Das mit der hiesigen, rein mechanischen Technologie herzustellen erfordert schon einiges an ingenieurmäßigem Erfindungsreichtum. Sind das die Granitbeißer, die das gebaut haben und instandhalten? Oder ist es auch eine Hinterlassenschaft der Menschen aus den Toten Städten, über die wir nichts wissen?

"Bist du noch da?" frage ich überflüssigerweise. Es ist wirklich überflüssig. Wer sonst sollte da unter mir die Fackel halten? Charmion antwortet auch nicht.

Der Höhlenteil, durch den uns die Fahrkunst nun trägt, ist stellenweise eng und an einigen Stellen nachbearbeitet worden, um Platz für das Gestänge der Fahrkunst zu schaffen. Manchmal ziehen die Felswände in Ellenbogenreichweite vorbei. Ich vermeide es aber, sie zu genau anzuschauen, weil wir uns konzentrieren müssen.

Nach ungefähr derselben Zeit, die wir gebraucht haben, um die erste Zwischenstation zu erreichen, erreichen wir die nächste. Es müssen jedesmal 300 Meter sein. Auch diese zweite Station ist nicht die Endstation, wohl aber die dritte. Als wir sie erreichen, hören, als wir durch ein Loch in einem Holzboden getragen werden, die Tretkeile auf. Die obersten, die noch da sind, erreichen gerade eben das Niveau dieses Zwischenbodens. Ich warne Charmion. In der nächsten Sekunde haben wir dann schon wieder festen Boden unter den Füßen.

Der Schritt vom Tretkeil zum Rand des Loches brauchte nur 50 Zentimeter zu überbrücken - leicht machbar, aber das Loch um die beiden Stangen ist immer noch groß genug, daß man dazwischen durchrutschen kann. Der Kitzel in der Magengrube bleibt.

Ich bin etwas stolz. Habe ich doch dieses Gespenst aus der frühen Kindheit überwunden, die Angst vor der Fahrkunst, von der doch eigentlich nie die Gefahr ausging, daß ich mal eine benutzen müsste. Dazu noch die Bedrohung durch dieses Höhlenwesen, das ja tatsächlich hätte gefährlich werden können, wenn es etwas geschickter im Klettern gewesen wäre. Wir sind schon ein paar Helden, denke ich mir. Aber wie oft haben diese Helden auch schon überlebt, weil die Umstände nicht ganz so schlecht waren, wie sie es schlimmstenfalls hätten sein können?

Die junge Frau neben mir mustert die Decke. Dahinter rumort die letzte, tragende Wippe. Es gibt dort ein Loch, das gerade so groß ist, daß unsere Fahrkunststangen dort verschwinden. Irgendwo ist auch wieder das klappernde Rauschen eines Wasserrades zu hören, aber ich kann im Moment nicht erkennen, wo. Dafür sehe ich einen Stollen, an dessen Seite vier Eisenstangen aus dem Fels ragen. Sie tragen an den Enden Ringe.

"Das wird der Schalter sein." zeige ich Charmion, "Wir sollten die Maschinerie wieder anhalten!"

Gesagt, getan. Mit Mühe gelingt es mir, alle Eisenstangen wieder in den Fels zu drücken. Wieder höre ich ein anhaltendes, gedämpftes Kettenrasseln. Dann geschieht eine Weile lang nichts, bis wir merken, daß die Wippgeschwindigkeit der Fahrkunst abnimmt. Das Rauschen im Hintergrund wird schwächer.

Bald schon kommt die Mechanik knirschend zum Stehen. Es bleiben tropfende und knackende Geräusche übrig, Restwasser aus dem Antrieb, das jetzt in blockierten Wasserrädern übriggeblieben ist. Ich stelle mir vor, daß hier oben irgendwo eine Wasserquelle ist, die man bis zum Fuße der Fahrkunst mehrfach über Wasserräder laufen lassen kann. Das geschieht wahrscheinlich in einem getrennten Schacht, denn wir haben ja nichts dergleichen mit eigenen Augen gesehen. Es würde auch den stillstehenden Bach erklären, der unten aus dem niedrigen Loch aus der Wand kam.

Wieder beschleicht mich der Gedanke, daß wir etwas wesentliches übersehen haben könnten. Dieser für Granitbeißer ungeheure technische Aufwand für das letzte Stück des Weges, verglichen mit der Ritze, an der bis jetzt überhaupt kein Aufwand für die Erhaltung des Weges getrieben wurde. Dann das mögliche Maximalalter der verschiedenen Einrichtungen entlang unserer Weges, jetzt auf den Pilzberg hinauf und vor drei Wochen in diese Welt hinunter, das so unterschiedlich ist: In einer permanent trockenen Felswand können Eisenbügel schon seit zehntausend Jahren oder mehr stecken, ohne sich zu verändern, eine Fahrkunst wie diese sollte aber schon nach wenigen Jahrzehnten Schäden zeigen, wenn sie nicht instandgehalten wird. Man braucht nur an die Enden der Balken unten in der wassergefüllten Grube zu denken, oder auch an den mechanischen Antrieb dieser Fahrkunst, wo viele Bauteile mit Wasser in Berührung kommen müssen. Das hält keine Ewigkeit. Ist diese Welt nicht in Ordnung, oder verstehe ich etwas nicht?

"Am besten, wir folgen diesem Stollen!" schlage ich vor, um in die Welt der konkreten Maßnahmen zurückzukehren. Charmion ist einverstanden. Auch das ist immer wieder eine Art Trost: zeigt es doch, daß meine Gedanken so falsch nicht laufen können, wenn Charmion häufig derselben Ansicht ist wie ich. Aber sie sieht diese Welt mit den Augen von jemandem, der wirklich hier aufgewachsen ist. Welche Widersprüche mögen ihr entgehen? - Außerdem ist sie sowieso nicht der Typ, der sich lange über Widersprüche Gedanken macht.

"Wir müßten bald oben sein." vermute ich.

"Das ist gut!" meint Charmion, wobei sie mich von oben bis unten mustert. Es kribbelt mich in der Körpermitte. Aber jetzt möchte ich erst einmal diese Höhlen wieder verlassen.

Ich vermute, daß wir nur noch 100 Meter unter der Oberfläche des Pilzberges sind, nicht mehr weit von dem Oberfort Casabones entfernt. Dreimal 300 Meter mit der Fahrkunst über die 4000 Meter Höhe des Tentakel-Sees hinaus macht etwa 4900 Meter. 5000 Meter ist der Berg hoch, jedenfalls am Rand.

Wir betreten diesen Stollen, obwohl da eine Leiter zum nächsthöheren Boden ist. Aber ich nehme an, daß über dieselbe im wesentlichen die technischen Einrichtungen der Fahrkunst erreichbar sind, und vielleicht die Räume mit den Wasserrädern. Der Stollen verspricht eher ein Fortkommen in die gewünschte Richtung. Es ist jetzt 12:30 Uhr. Wie viel ist an diesem Tag schon passiert, denke ich. Unter normalen Umständen kann man daraus schon eine ganze Reisebeschreibung machen.

Zunächst ist der Stollen noch von gleichbleibendem Querschnitt. Es gibt Windungen und Treppen, die weiter nach oben führen. Dann weitet sich der Stollen in eine offenbar natürliche Höhle. Lediglich der weitere Weg ist befestigt und ausgebaut, wo nötig. Alles andere scheint naturbelassen.

22.18 Im Reiche des Bergkönigs

Wir gehen am Ufer eines flachen, stillen, unterirdischen Sees vorbei. Wenig später finden wir Tropfsteine, erst vereinzelt, dann ganze Galerien. Wahrscheinlich ermöglicht die Nähe der Oberfläche der Gefängnisinsel die notwendige Penetration von Wasser, das zur Tropfsteinentstehung notwendig ist. Charmion hat das noch nie gesehen, und ich nehme die Gelegenheit wahr, ihr etwas über deren Entstehung zu erklären - wobei ich davon ausgehe, daß die Tropfsteinentstehung hier nicht anders vor sich geht als in unserer Welt. Eine vielleicht etwas voreilige Annahme, denn die Tropfsteine bestehen nicht aus Kalkgestein, oder jedenfalls nicht aus reinem Kalkgestein. Das Material scheint viel härter zu sein.

Immer wieder blicken wir hinter neue, orientalisch anmutende Vorhanggalerien aus Tropfsteinen, während wir dem sich stark windenden und verzweigten See folgen. Der Weg führt über kleine Brücken und über gefrorene Wasserfälle. Die Höhle wird sehr unübersichtlich und zeigt ständig neue, geheimnisvolle Winkel. Ein gefrorener Garten - die Hallen des Bergkönigs. Eine unwirkliche Schönheit, die ihren Eindruck auf Charmion nicht verfehlt, was mich veranlaßt, darüber nachzudenken, wie es kommt, daß man sich zu Menschen hingezogen fühlt, die ähnlich empfinden wie man selbst. Aber der Gedanke ist im Moment nicht objektiv weiterverfolgbar, weil ich mich sowieso zu Charmion hingezogen fühle.

Jedenfalls verändert sich unsere Stimmung, so, als ob wir nicht auf einer Excursion sind, die letzten Endes darauf hinausläuft, Gefangene zum Fort auf dem Schärenring hinunterzubringen. Ein Job, der mir inzwischen unmöglich erscheint, besonders wegen des blockierten Wendeltreppenschachtes. Aber das verdränge ich jetzt. Wir sind in einer Märchenwelt, von der man sich nur schwer vorstellen kann, daß sie eigentlich Teil einer Gefängnisanlage ist.

Wir steigen weiter auf und verlieren damit den See, der vermutlich etwas mit der Wasserversorgung der Fahrkunst zu tun hat, aus den Augen. Mir fällt auf, daß dieser Weg, der doch offenbar schon häufiger verwendet worden sein muß, nicht von Spuren des Vandalismus an Tropfsteinen gesäumt ist. Wo es zur Anlage des Weges nicht nötig war, die Tropfsteine zu bearbeiten oder wegzuschlagen, dort ist dies auch nicht geschehen. Wie anders sähe eine touristisch zugängliche Höhle bei uns aus!

"Ich bin müd!" stelle ich fest. Nicht zum ersten Male. Entspricht auch den Tatsachen. Außerdem will ich Charmion. Während wir gehen, fasse ich ihr hinten unter die Jacke und folge mit dem Fingern ihrem Rückgrat. Sie läßt es geschehen, aber ich zucke zusammen, weil mir einfällt, wie oft ich das bei Irene gemacht habe. Charmion sieht mich verwundert an, bleibt stehen, dreht sich um, drückt sich an mich.

"Besser, wir sind erst wieder am Licht!" sage ich. Wohl wahr. Fast hätte ich ihr mit der Fackel die Haare versenkt.

Der Weg führt wieder abwärts, und wir erreichen den See wieder. Vielleicht ist es sogar ein unterirdischer Fluß. Ich muß mir immer in die Erinnerung zurückrufen, wie die Dimensionen dieser Landschaft eigentlich aussehen: Eine weitverzweigte Höhlenlandschaft dicht unter dem Plateau eines pilzförmigen Berges, der einen größten Durchmesser von 10 Kilometern hat und auf einem Stamm von nur drei Kilometern Durchmesser steht. Das ganze in einer kontinentgroßen Höhle von durchschnittlich 8 bis zehn Kilometern Höhe, die, bislang unentdeckt, sich unter weiten Teilen Mitteleuropas erstreckt. Vollständig isoliert, offenbar unauffindbar durch alles, was Geologen bislang in Europa angestellt haben. Jeder Geologe wird mir sagen, daß es die Welt der Granitbeißer nicht gibt. Aber hier, in der Welt der Granitbeißer, gibt es keine Geologen.

Da wir jeder noch eine Ersatzfackel haben, und da das Oberfort ja nicht mehr weit entfernt sein kann, schlage ich vor, in dem See ein Bad zu nehmen. Charmion ist sofort einverstanden.

Wir befestigen die beiden Fackeln am Ufer, eine dritte, die wir anzünden, ebenfalls. Dann legen wir unsere Klamotten am Ufer ab und lassen uns in das warme Wasser gleiten - springen sollten wir besser nicht, weil der Seegrund dazu zu unregelmäßig sein dürfte.

22.19 Charmion's Wasserspiele

Die Höhle wirkt aus der neuen Perspektive von dicht über der Wasseroberfläche aus gesehen unwirklich und faszinierend genug, und ich würde gerne im Wasser treiben und meditieren. Aber Charmion hat sich schon anders entschlossen. Sie drängt mich an eine flache Uferstelle, wo das Licht der Fackeln kaum hindringt. Ihr Sinn für Romantik, sofern sie denn einen hat, wird vom Wunsch nach fleischlicher Lust an die Wand gedrängt.

"Wir wollen doch erst nach oben!" protestiere ich.

"Da können wir es ja noch einmal machen," bestimmt sie, während sie mich zurecht- und sich dann auf mich drauf legt, "Ich will es gleich haben!"

Mein Protest bleibt schwach und sowieso unberücksichtigt. Wenigstens ist das Uferstück so flach, daß sie mich nicht unter Wasser drückt.

Die Fackeln brennen ein ordentliches Stück herunter, denn es dauert lang. Eine direkte Folge sexueller Erschöpfung: Dann dauert es eben lang. Angenehm lang. Sie nutzt es absichtlich aus. Sie reitet unermüdlich auf mir auf und ab, so, als ob sie dicht vor der Erfindung des Achtstundentages stände.

Ich sehe nicht sehr viel von ihr, weil es an dieser Stelle so dunkel ist. Hinter und über ihr, an der Decke, ist eine Tropfsteinkaskade, die etwas besser beleuchtet ist. Einige dieser hängenden Säulen aus dem harten Material schweben direkt über uns. Ich denke daran, daß dieses die Implementation des Donnerschlages vom Himmel sein könnte, der den Ehebrecher bestraft. Aber dann denke ich an etwas anderes, oder an nichts, spüre und erforsche die Hitze in Charmion's Körper, und sie stößt auf und ab wie ein Schiff im Sturm. Wie eine dritte Hand umfaßt mich ihr Körperteil, der mich nicht wieder sogleich hergeben will. Wie eine Hand, die mich immer weiter in sie hineinzieht.

Alles geht automatisch, wie selbstverständlich. Unsere Körper wissen, was sie zu tun haben. Fast ist es so, daß man sich der reinen Beobachtung widmen kann. 'Aktive Beobachtung', müßte man sagen.

Und wir reden nichts. Jeder ist mit seinen Gedanken allein, trotz der intensiven Umklammerung. Jeder denkt an den Augenblick, und einen Moment frage ich mich, ob genug davon bleibt, um auch nach vielen Jahren noch von der Erinnerung zu zehren. Wenn wir dann noch leben.

Erst, als eine der Fackeln flackert und zu verlöschen droht, erlaube ich mir die Eruption, den heißen Guß in sein vorbestimmtes Ziel. Wie im Krampf spannt sich ihr Unterkörper, streckt und dehnt und reckt sich, während sie den Strom in sich spürt und lenkt und aufsaugt. Wie ein Akt der endgültigen Versiegelung ist das letzte Aufbäumen, Vulkanismus und verschlingender Erdschlund, Schwarzes und Weißes Loch, die Korrespondenz zweier eigentlich separater Individuen, die vermöge Bestimmung der Evolution und Zugehörigkeit zur selben Spezies doch Bestandteil ein und desselben Organismus sind.

Dann, die wohlige Erschöpfung, die Befriedigung und der Wunsch, aneinander und ineinander zu liegen und zu schlafen und die Welt draußen zu lassen. Vielleicht schlafe ich auch einen Moment, vielleicht schläft sie an meiner Brust auch etwas. Nachher können wir das gar nicht so genau sagen.

"Wir müssen noch ein bißchen weiter." bringe ich uns auf den Boden der Wirklichkeit zurück, und sie stimmt zu. Schnell ziehen wir uns wieder an - abtrocknen ist unnötig, bei dieser Hitze - nehmen Fackeln und Schwerter auf und marschieren weiter.

Noch eine ganze Weile geht es auf und ab, durch verschiedene Höhlen, noch mehrfach sehen wir unseren See, manchmal tief und unergründlich, manchmal seicht, so daß man jeden Stein am Grunde sieht. Die feierliche und innige Stimmung weicht nicht von uns. Dann geht es mehr aufwärts als abwärts, und endlich sehen wir die Spur eines Lichtscheines.

Der Höhleneingang ist am Grunde einer sechzig Meter tiefen Schlucht. Er fügt sich sehr unauffällig in den Felsen ein - man käme nicht automatisch auf die Idee, daß ein großes Höhlensystem durch diesen Eingang erreichbar ist. Farne und Moose wachsen auf den Wänden der Schlucht, die acht bis zwölf Meter voneinander entfernt sind, und es gibt ein kleines Rinnsal am Grunde der Schlucht, das an unserem Weg entlang uns entgegen fließt und in unserer Höhle verschwindet. Nebelschwaden durchziehen die Schlucht, und trübe Wolken treiben über uns hinweg. Ich erinnere mich, daß wir ungefähr in der Höhe der leuchtenden Wolkenschicht sein müssen. Trübes Wetter wird hier der Normalfall sein.

Endlich können wir die Fackeln löschen und aus der Hand legen. Eigentlich sollten an so einem Höhleneingang die Reste gebrauchter Fackeln herumliegen, aber das ist nicht der Fall. Wahrscheinlich werden sie ab und zu weggeräumt, um nicht ausbrechenden Gefangenen die Beleuchtungsmittel noch frei Haus zur Verfügung zu stellen. Jedenfalls würde ich das für eine naheliegende Maßnahme halten.

Es ist 14 Uhr. Zeit zum Schlafen. Charmion findet sehr rasch ein geeignetes Plätzchen. Wir machen es uns ohne Umstände bequem. Wir essen von dem wenigen, was wir noch haben. Unser Begehren zielt jedoch in eine andere Richtung. Schade, daß Kraft und Leidenschaft begrenzt sind. Gut, daß Zärtlichkeit und Nähe sich mehren, je mehr man davon gibt und nimmt.

"Leg dich auf mich," sagt sie, "so kannst du besser schlafen. Ich will dich immer spüren, wenn ich aufwache!"

Ich versuche, ihr das auszureden. Der Boden ist hart und uneben. Warum soll ich sie mit meinem Gewicht noch zusätzlich unnötig belasten? Aber sie will es so. Sie spürt den harten Stein nicht. Herwig, denke ich, was hast du angerichtet? Bloß wegen deiner peripheren philosophischen Überlegungen, daß du in dieser Welt ein anderer Mensch bist, weil dich diese Welt - und auch Charmion - eben dazu gemacht haben, bloß deshalb hast du doch nicht das Recht, jemanden emotionell so an dich zu binden. Ihr seid doch zueinander gekommen wie Wesen von verschiedenen Planeten! Oder war es unvermeidlich? Eure Hormone haben euch zueinander geführt. Ihr seid gar nicht gefragt worden, ob ihr das gewollt habt. Sowenig, wie der Magen frei entscheiden kann, ob er seinen Inhalt an den Dünndarm weiterleiten muß oder nicht.

Ist da eine Hoffnung, über alle kulturelle Gegensätze und alle Abgründe des gegenseitigen Unverständnisses hinweg sich wenigstens noch über die Zuneigung zu begegnen, die in ihrer nachdrücklichsten Form als Erotik sich über alle Vernunft hinwegsetzt? Ist das die instellare Verbrüderung, oder wenigstens die Hoffnung darauf? Ist nur der Trieb gut und der reine Geist schlecht? Ist das eine Hoffnung, daß sogar Gott, wenn es ihn denn geben sollte, mehr durch seine Liebe zu den Menschen denn durch seine Allmacht und seine Allwissenheit gebunden sein könnte? Und wenn er die Menschen - und die Granitbeißer - liebt, weil er selbst keine Wahl hat, ist er dann noch allmächtig? Ist das eine frohe Botschaft, wo wir doch wissen, was man mit zuviel Macht anrichten kann? Ist Gott nur respektabel, wenn er eben nicht allmächtig und allwissend ist? Ist er nur deshalb in die Welt gekommen, weil nur die körperliche Existenz die Liebe zu den Menschen manifestieren kann, und weil die körperliche Existenz Allmacht und Allwissen ausschließt?

Die Überlegungen verblassen. Der Schlaf kommt schnell. Auch wenn wir nach diesem Tag beieinander liegen mehr wie Brüderlein und Schwesterlein denn wie Männlein und Weiblein, so glaube ich doch, daß wir nie näher waren als jetzt.

Denn der Tag war groß, und wir sind nicht gebeugt worden. Wir haben ein Recht, einander zu haben, weil das Leben in uns es so will.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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