Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



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******** 021. Tag: Freitag 95-09-08 ********

21.1 Der Hafen am Felsloch

Kurz vor Mitternacht unserer Zeit an der Erdoberfläche ist es dann so weit: Nur einen halben Kilometer weiter in Fahrtrichtung zeigt sich in der Wand der Gefängnisinsel eine Höhle, direkt über der Wasserlinie. Das Schiff steuert diese Höhe direkt an, wobei die Fahrtrichtung nicht allzusehr von der Richtung des Windes abweicht. Allerdings weht der Wind in der Nähe der Felswand immer tangential zu dieser, denn wohin oder woher sollten sich denn sonst die Luftmassen bewegen?

Die Besatzung arbeitet konzentriert, denn wenn das Schiff überschießt, dann kann es nicht zurück. Höhe am Wind gewinnen geht für diese Floßschiffe ja nicht. Wenn einem so etwas passiert, dann heißt es rudern. Da besser gleich Konzentration.

Dabei fällt mir etwas ein:

"Was hat Cherkrochj eigentlich von der Idee mit der Unterwasserstabilisierung von Segelschiffen gehalten?" frage ich Charmion.

"Ich habe ihr nichts gesagt."

"Hast du es ihr gesagt?" frage ich Chrwerjat.

"Nein. Ich hatte es vor. Aber ich bin nicht mehr dazu gekommen."

"Also weiß keiner an Bord UNSERES Schiffes, wie man es anstellt, um Höhe am Wind zu gewinnen?"

Kurzes Nachdenken bei allen. "Deine Frau weiß es doch?" mutmaßt Charmion. Wie immer habe ich den Eindruck, daß ihr die Worte 'deine Frau' schwer über die Lippen gehen, weil das Konzept ihr so fremd ist. Ich muß ihr bei Gelegenheit mal nahelegen, daß sie auch 'Irene' sagen könnte, oder wenigstens 'Chirene', um den Namen an die Xonchen-Sprache zu adaptieren.

"Jaein." sage ich, "Sie hat es wahrscheinlich verstanden. Aber in technischen Dingen weiß sie nicht, was sie weiß. Da bin ich immer noch der Spezialist. Also, ohne äußeren Anlaß wird sie von sich aus das Thema nicht zur Sprache bringen. Vielleicht kommt sie in einer geeigneten Situation drauf. Ich weiß es nicht. Wirklich nicht."

Schweigen, während das Schiff weiter auf die Höhle in der Felswand zudriftet. Charmion sieht mich etwas seltsam an, mustert mich von oben bis unten. Wenn ich es richtig interpretiere, hat sie schon wieder Lust. Aber vor Zeugen traut sie sich nicht. Wie soll das auf dieser Excursion noch weitergehen?

Nun zeigt sich allmählich, wie einfach dieser Hafen aufgebaut ist. Die Höhle ist ein etwa zehn Meter breites und fünf Meter hohes Loch, das sich für vielleicht fünfzehn Meter in den Fels hineinerstreckt. Der Boden ist flach und etwa fünfzig Zentimeter höher als der Wasserspiegel davor. In der Höhle liegt allerhand Gerümpel: Werkzeuge, Seile, Fässer, Balken und Planken. An dem Rand dieser Fläche, der zum Wasser abschließt, gibt es einige Felsnasen, die sich dazu eignen könnten, Seilschlingen darüber zu werfen, um das Schiff festzulegen. Das Wort 'Poller' suggeriert dafür eine geometrische Form dieser Felsnasen, die einfach nicht vorliegt.

Wie es von dieser Höhle aus weitergeht, das kann ich im Moment noch nicht erkennen. Ich weiß, daß da ein Klettersteig sein soll, aber ich sehe ihn nicht. Deshalb beschränken wir uns darauf, das Anlegemanöver zu beobachten.

Es geht schnell und routiniert. Es ist nur noch ein Segel gesetzt, und auch das wird jetzt eingeholt. Wenige Meter Wasserfläche trennen uns von der vorbeidriftenden Felswand, und ich suche in dem Gestein wieder nach geologischen Auffälligkeiten, finde aber nichts. Als wir nur noch einige Dutzend Meter bis zu dem Hafenloch zurückzulegen haben, sehe ich einige Kratzspuren, Zeugen vergangener, ähnlicher Anlegemanöver.

Dann fliegt auch schon die erste Seilschlinge, wie erwartet legt sie sich über eine der Felsnasen. Es dauert keine dreißig Sekunden, bis das Schiff vor dem Loch zur Ruhe kommt, Höhlenboden und Schiffsdeck fast auf gleicher Höhe.

"Wir marschieren sofort los!" schlage ich vor, und keine der vier Frauen hat Einwände. Wir nehmen unsere Marschbündel auf und springen von Bord, ohne weiter auf die Besatzung des Schiffes zu achten. Bin neugierig, ob sie befehlsgemäß unsere Rückkehr abwarten.

Charmion ist in der Tat ortskundig. Sie zeigt nach links. Im Schatten der seitlichen Höhlenwand sehe ich ein Loch, vielleicht einen Meter breit und fast zwei Meter hoch. Gehauene Treppenstufen verschwinden im Dunkeln. Ohne weitere Besprechungen betreten wir die Treppe, Charmion zuerst, dann ich, dann die drei anderen. Ich sehe mich noch einmal kurz um: Die meisten Besatzungsmitglieder auf dem Schiff stehen tatenlos an Deck und sehen uns nach. Auf die Idee, das Fleisch unverzüglich auszuladen sind sie noch nicht gekommen, obwohl doch genügend Männer an Bord sind.

Die Treppe muß etwa parallel zur Außenwand führen, aber es sind zunächst keine Durchbrüche da. Es wird immer dunkler.

"Kommt da noch Licht?" frage ich.

"Später." sagt Charmion. Okay. Also später.

Es wird vollkommen dunkel. Zwar geht der Gang mit gleichbleibender Richtung und Steigung der Treppe aufwärts, aber gewisse Unregelmäßigkeiten der Gangführung haben den direkten Blick auf den Einstieg bereits versperrt. Zu spät komme ich auf die Idee, die Stufen zu zählen. Meine Dynamolampe und der Höhenmesser gehen mir ab.

"Vorsicht!" warnt Charmion vor mir, "der Gang macht eine Biegung nach rechts. Am besten Hände auf die Wände legen!"

Hätte sie eigentlich früher sagen können. Links trifft meine Hand gleich den Fels, aber rechts greife ich einen Moment ins Leere. Dann fällt meine Hand auf nackte Haut, unter den Fingerspitzen spüre ich Haare, und mein Handrücken streift an der rauhen Innenseite des Leders von Charmion's Rock vorbei. Ich begreife, daß der Gang eine 180-Grad Biegung macht, und daß ich Charmion, die etliche Stufen höher ist als ich, versehentlich unter den Rock gegriffen habe. Kann ja passieren.

Sie kommentiert das aber nicht, und ich auch nicht. Die gewinkelten Stufen sind in der Dunkelheit schwierig genug. Dann geht der Gang endlich wieder gerade aus.

Wir alle atmen recht heftig von dem raschen Anstieg und der gebückten Haltung. Es ist wahr, Irene würde nicht mitkommen. Es ist reiner Zufall, daß ich als Läufer die Kondition habe, um mitzuhalten, trotz der allgegenwärtigen feuchten Hitze. Ich könnte schon wieder etwas trinken.

Dieser Gang macht noch häufiger überraschende Biegungen, aber im Gegensatz zu den früheren Tunneln, die wir beim Abstieg in die Welthöhle beschritten haben, gibt es keinen einzigen Durchbruch nach außen. Es bleibt also finster.

21.2 Sturzfalle

"Vorsicht jetzt," sagt Charmion plötzlich, laut hörbar für alle, "wir sind gleich an der Sturzfalle."

"An der was?"

"An der Sturzfalle."

Wir bleiben alle stehen. Die anderen hinter mir haben das wohl auch nicht gewußt.

"Was ist das denn?" frage ich.

"Eine der Fallen für ausbrechende Gefangene, die bis hierher kommen sollten. Die Treppe verläuft nicht mehr in einem Stollen, sondern auf einem Grat in einer größeren Höhle. Rechts und links geht es steil runter, außerdem hat die Treppe in diesem Abschnitt viele unerwartete Windungen."

"Wie tief geht es rechts und links herunter?" frage ich beunruhigt.

"Tief genug, für den beabsichtigten Zweck. Und unten, am Fuße dieser Abhänge, soll es recht abwechselungsreich sein: Steinharter Felsboden wechselt mit Palisaden aus senkrecht stehenden Speerspitzen ab. Zwischen der Treppe und dem Fuß der Wand sind auch an einigen Stellen Schwertklingen in der Felswand befestigt, die in die wahrscheinliche Fall-Linie hineinragen. So sind manche, die abstürzen, schon tot und in mehrere Teile zerlegt, bevor sie unten ankommen."

"Verdammte Tat. Schon wieder so etwas." murmele ich, und lauter: "Und wie willst du im Dunkeln den Weg finden?"

"Es ist nicht so schwer. Es ist haupsächlich so, daß diese Sturzfalle völlig unerwartet kommt, nachdem man von oben und von unten eine ganze Zeit lang dem gewöhnlichen Stollen gefolgt ist. Die Stufen der Treppe sind rechts und links abschüssig, um die Treppe noch gefährlicher zu machen. Aber genau an dieser Eigenschaft der Stufen kann man sich orientieren, um auf der Mittellinie der Treppe zu bleiben. Wenn man diese Einrichtung nicht kennt und nicht erwartet, dann stürzt man meistens ab."

"Da wäre mir Licht lieber!" sage ich, "Ich weiß nicht, ob ich das schaffe."

Ich kann im Dunkeln nicht sehen, ob Charmion mich spöttisch ansieht, weil ich diese Unsicherheit zugebe. Nach einigen Sekunden, in denen es vor mir in der Dunkelheit raschelt, sagt sie:

"Licht ist nicht nötig. Das braucht man nur, um Gefangene mit verbundenen Augen hier durchzuführen. Leg deine Hände um meine Hüften. Ich bin gerade vor dir."

Das tue ich. Genau da, wo ich ihrer Stimme nach ihre Körpermitte vermute, ist dieselbe auch. Allerdings bin ich überrascht:

"Wieso hast du deinen Rock ausgezogen?"

"Damit mein Schwert nicht dauernd beim Gehen in dein Gesicht pendelt."

"Ach so." Wie nett von ihr.

Ich fasse ihre Hüftknochen rechts und links an. Wieder bin ich über ihre hohe Körpertemperatur erstaunt. Dabei überlege ich, wieso es nicht ausreicht, wenn sie nur das Schwert ablegt, aber ich will das jetzt nicht ausdiskutieren.

"Sollen die hinter mir das genauso machen?" frage ich. Es wird verneint, Chmerm, Chrwerjat und Chechmirch können sich ganz gut auf der nachtdunklen Treppe zurechtfinden. Sagen sie.

"Kann es losgehen?" fragt Charmion.

"Ja." Und wieder ärgere ich mich, daß Charmion praktisch die Führung übernommen hat, obwohl Cherkrochj doch mich dazu auserkoren hat. Andererseits ist sie im Moment die, die sich am besten auskennt, und ich werde den Teufel tun, bloß aus Prinzip den Anführer zu markieren und uns dadurch alle in Gefahr zu bringen. Oder präziser: uns in noch mehr Gefahr zu bringen. Ich habe noch nie Kenntnisse und Fähigkeiten behauptet, die ich in Wirklichkeit gar nicht besitze. Das ist für mich ein Prinzip sowohl der wissenschaftlichen als auch der menschlichen Aufrichtigkeit. Ich werde in der Welt der Granitbeißer auch nicht damit anfangen. Also bleibt Charmion der faktische Boß, solange es sinnvoll ist.

Wir gehen langsamer als vorher, und ich weiß nicht, ab welchem Zeitpunkt die Felswände rechts und links tatsächlich einem tiefen Abgrund Platz machen. Irgendwann spüre ich unter den Füßen, daß die Stufen tatsächlich konvex gerundet sind, und die Akustik ist anders, sogar, wenn wir nichts sagen. Das Echo des eigenen Atems kommt hohl von einer fernen Wand, nicht mehr aus greifbarer Nähe.

Die Hüfte von Charmion windet und wiegt sich in meinen Händen, unter ihrer Haut gleiten ihre Muskeln hin und her, und ich muß an unsere intensive Begegnung auf dem Schiff denken, die gerade etwas mehr als 20 Stunden her ist. Ich habe das Gefühl, daß sie jetzt auch daran denkt, aber jetzt ist es notwendig, konzentriert zu marschieren und sonst gar nichts. Irene, in Gedanken betrüge ich dich schon wieder, ich kann es nicht anders! Und wenn es nur das wäre - einen Moment Unkonzentriertheit, deshalb oder aus einem anderen Grunde, und ich habe dich von deinem Mann befreit - er würde in einem dunklen Abgrund auf Speeren aufgespießt verrecken, diese Frauen würden für ihn nicht mehr als ein Achselzucken übrig haben, vielleicht würde sich niemand die Mühe machen, dir zu erzählen, was aus mir geworden ist!

Nein, konzentrieren, symmetrisch gehen. Am Leben bleiben. Das kann ich noch für dich tun, Irene, auch, wenn der Ruf des Blutes mich mehr an die Frau zwischen meinen Händen denken läßt, und den Weg in ihren Körper. Diese Methode der Führung im Dunkeln ist nicht gut. Beim nächsten Mal müssen wir uns etwas anderes ausdenken, oder besser noch Licht mitnehmen.

Allmählich haben die Dunkelheit und die Anstrengung auch andere Folgen: Da entstehen tanzende Lichtmuster, die neuronale Restaktivität des Sehnervs, des Okzipitallappens und der visuellen Assoziationsrinde, die aus nichtexistierenden Signalen noch etwas herauszuinterpretieren versuchen. Konturen in der Dunkelheit, sogar dicht vor mir, dort, wo ich den Körper von Charmion zwischen den Händen spüre und wo nichts anderes sein kann, scheinen wabernde, schlangenartige Muster hin und her zu fließen. Rechts und links, knapp außerhalb des Gesichtsfeldes, ist es schlimmer: leuchtende Schichten über den Felsen, die ich objektiv ja gar nicht sehen kann, zudem bewegen sich die Felsen noch, scheinen Greifarme auszubilden, die mit langen, geschmeidigen Fingern nach dem eigenen Nacken greifen.

Ich weiß, daß es Halluzinationen sind, aber sie machen mir trotzdem zu schaffen. Auch das geringste bißchen Licht, eine Fackel oder unsere Dynamolampen, würden diesen Spuk beendigen. Ob Charmion und die drei anderen auch darunter leiden? Ich wage nicht, zu fragen. Aber die Konzentration wird mir immer schwerer. Die vagen, wesenlosen Lichterscheinungen machen Angst, und die Angst verstärkt diese Erscheinungen. Es ist nur das Echo der Tätigkeit der Millionen unterbeschäftigten Neuronen in deinem Kopf, sage ich mir. Aber das hilft wenig.

Und es gibt noch eine zweite störende Quelle von geisterhaften Lichterscheinungen: Wenn ich meine Augen heftiger bewege, dann kommen am Rande des Gesichtsfeldes schon mal ein paar Blitze vor. Ich weiß wohl, woher das kommt, ich kenne das schon seit Jahren: Der Glaskörper der Augen schwingt bei jeder heftigen Bewegung hin und her und zerrt dabei an der Netzhaut. Das gibt solche Lichterscheinungen. Ich weiß, daß das ein frühes Symptom der Netzhautablösung sein kann, aber diese Symptomatik kann auch über Jahrzehnte unverändert bleiben.

Als mir das vor knapp zehn Jahren das erste Mal aufgefallen ist, hat es mich eine ganze Zeit lang deprimiert. Intensives Studium augenmedizinischer Literatur tat ein übriges, um meine Besorgnis zu erhöhen. Die befürchtete Netzhautablösung trat aber nicht sogleich ein, und so habe ich mich an die Blitze gewöhnt. Ich vermeide nun gerne heftige Bewegungen des Kopfes und Dunkelheit. Ich schlafe zuhause normalerweise sogar im Licht einer gedämpften Energiesparlampe. Dann kann ich diese Symptome gut ignorieren.

Im Moment habe ich allerdings wenig Einfluß darauf, ob ich solche Situationen vermeiden kann oder nicht. Es ist wie verhext: Im Laufe der Jahre hat man in einem 45-jährigen Leben zwar schon einige kleinere Schäden und Zipperlein und wie man solche Dinge eben nennt entwickelt, kann aber immer noch sein Leben so um diese körperlichen Defekte herumbauen, daß sie nicht wirklich stören. Auch wenn es sich nur um einen graduellen Unterschied handelt, ist man noch weit von jeder Gebrechlichkeit entfernt. Man kann sogar fast abenteuerliche Unternehmungen wie etwa eine Zugspitzbesteigung durch das Höllental unternehmen und sich, besonders wenn man Ausdauersport gewöhnt ist, fast jung und völlig gesund fühlen, jünger und gesünder als manche Zwanzigjährige, denen man immer wieder begegnet, deren Lebensführung schon eine körperliche und geistige Vergreisung bewirkt hat. Die Defekte sind zwar da, und man ist sich ihrer bewußt, aber sie bleiben im Hintergrund, Mahner gewissermaßen, Hinweise auf die Begrenztheit der eigenen körperlichen Resourcen, Hinweise auf die Begrenztheit der Zeit, die man noch hat, frühe Vorboten des Alters. Man ist noch im Vollbesitz der eigenen Kräfte, ja, die Kombination zwischen den Noch-Fähigkeiten, die man hat, und den Erfahrungen, die man schon angesammelt hat, bewirken eigentlich, daß man sich auf der Höhe der eigenen Leistungsfähigkeit befindet und daß man sich doch dessen bewußt ist, daß es nun langsam bergab geht. Man wird sich bewußt, daß man die Zeit gut nutzen müßte.

Wenn man aber das eigene Schicksal sowenig in der Hand hat wie das jetzt der Fall ist, wenn man nicht einmal zwischen den Pfaden, die man beschreiten kann und jenen, die man besser nicht beschreiten sollte, wählen kann, dann gerät man mit viel größerer Wahrscheinlichkeit in Situationen, in denen man sein Alter spürt.

Es dauert lange. Ich hoffe nicht auf ein baldiges Ende, weil wir ja die ausgedehnten Anstrengungen kennen, die die Klettereinrichtungen in dieser Welt verursachen. Dann aber, ganz plötzlich, ändert sich wieder die Atmosphäre, und das Echo des eigenen Atems ist wieder nah. Wahrscheinlich wird Charmion gleich sagen, daß die Sturzfalle zu Ende ist.

Sie sagt nichts dergleichen. Selbst, als ich durch vorsichtiges Zur-Seite-Treten feststelle, daß die Stufen nicht mehr konkav sind, und als ich definitiv höre, daß die Frauen hinter mir wieder mit den Fingern über die Felswand rechts und links fahren, und als ich bei jedem Versuch, aufrechter zu gehen, bereits die Höhlendecke meine Haare streifen spüre, sagt Charmion nicht, daß wir wieder normal gehen können.

"Ist die Sturzfalle denn schon zu Ende?" frage ich.

"Natürlich." sagt Charmion.

"Warum sagst du das denn nicht?"

"Warum soll man das offensichtliche sagen?"

Ich nehme meine Hände von ihren Hüften.

"Pause!" ruft Charmion kurz. Hinter mir Äußerungen der Zustimmung.

21.3 Zungenspiele

"Wollen wir nicht wenigstens weitergehen, bis wir wieder ans Licht kommen? Da können wir dann etwas essen!" schlage ich vor. Ich will endlich wieder etwas sehen.

"Wir halten nicht, um zu essen!" sagt Charmion bestimmt.

"Nein?"

"Nein."

Eigentlich, denke ich, bin ich es, der darüber zu befinden hat. Aber ich komme nicht dazu, weitere Einwendungen hervorzubringen.

Plötzlich faßt sie mich im Dunklen auf die Schultern, und ehe ich mich versehe, sitze ich auf der Treppe auf den Knien. Sie drückt meinen Kopf nach unten. Meine beiden Wangen berühren ihre Haut - es muß sich um die Innenseite ihrer Oberschenkel handeln. Ehe ich etwas sagen kann, preßt sie mein Gesicht in die warme Feuchte der Körperregion, wo sie am weiblichsten ist. Jedenfalls kann ich die Situation in der Dunkelheit nicht anders interpretieren.

Wehren kann ich mich auch nicht. Jetzt schiebt sie mein Gesicht über ihre Schamregion auf und ab. Ihre rauhen Schamhaare geraten in meine Augen, und mein Gesicht wird überall naß. Sagen kann ich nichts, solange mein Mund abwechselnd durch ihre auf- und abgleitenden Schamlippen und durch ihren Schamhaarwald verschlossen wird, und hören kann ich jetzt auch nichts mehr, weil ihre Oberschenkel meine Ohren meistens abdichten. Sie wird immer naßer und rutschiger, und einige der Dinge, die über mein Gesicht auf- und abgleiten, schwellen immer mehr an.

Die Stellung ist sehr unbequem, jedenfalls für mich. Wahrscheinlich denkt sie aber nur an ihre eigene Lust, und das treibt sie noch eine ganze Weile so weiter. Wenigstens ab und zu komme ich dazu, Luft zu holen. Die Geräuschentwicklung muß für die anderen drei Frauen eine Quelle ganz besonderer Unterhaltung sein. Aber ich kann nichts dagegen tun - irgendwie liegen meine Arme ganz unglücklich und nutzlos hinter meinem Rücken, ohne daß ich weiß, wie sie dahingekommen sind, und werden dort festgehalten.

Eine unwürdige Situation, ermöglicht durch die Dunkelheit, versteckt durch die Dunkelheit und trotzdem öffentlich, was unsere Zuhörerinnen betrifft. Ich kann nichts tun. Frauchen zeigt, wer hier der Boß ist, und was Cherkrochj irgendwann mal bezüglich meiner Stellung an Bord des Saurierfängers entschieden hat ist lange her und ohne Bedeutung.

Dann richtet Charmion mich mit kräftigem Griff wieder auf, hebt zielsicher in der Dunkelheit meinen Lederstreifenrock hoch, und ich spüre ihre schlangengleichen Beine, die rechts und links an meinen Hüften vorbeihuschen und mich dann fest umschlingen. Mein Schwert wird zur Seite gedrückt und kratzt an der Felswand.

"Dafür haben wir doch jetzt keine Zeit!" versuche ich, zu protestieren. Genaugenommen versuche ich, mich zu wehren. Ich greife aber ins Leere. Dafür fassen ihre Hände ganz plötzlich wie ein Schraubstock meine Unterarme an, und wieder kann ich überhaupt nichts mehr machen. Hinter mir kichert eine der drei anderen Frauen. Sie hören sich ganz genau an, was hier gespielt wird.

Charmion hebt meine Unterarme hoch über ihren Kopf und zieht mich dabei an und über ihren Körper. Durch leichtes Auf- und Absenken, das sicherlich viel Kraft kostet, bewirkt sie damit, daß sich mein Geschlecht auf dem naßen Kampfplatz des ihren reibt. Das vollbringt rasch, worauf sie im Moment am meisten Wert legt. Dann hebt sie mich mit einem Ruck in sich hinein. Immer noch sind meine Arme über ihrem Kopf hilflos gefangen. Meine Fingerknöchel stoßen heftig gegen die Decke des Stollens. Kratzer werde ich mir dabei also auch noch holen.

"Geht ganz schnell!" flüstert sie in mein Ohr, "Du darfst jetzt spritzen! Dann gehen wir weiter!"

Es geht auch ganz schnell. Ihr Körper holt in Wellen aus meinem heraus, was sich in den letzten vierundzwanzig Stunden angesammelt hat. Ich wühle in ihrem Körper herum wie ein kraftvoll gezogener Pflug in dampfender Erde, fülle ihren ganzen Bauch, als wollte ich wie eine Flutwelle bis an ihr Herz vordringen. Die Härte und die Eruption lösen sich kurz nacheinander, das Klatschen des Fleisches und der raschere Atem echot von den nahen Wänden wider, dann Erschlaffen und Ruhe. Viel zu schnell. Ich bekomme meine Unterarme wieder. Rasch reibe ich mein Gesicht von ihren scharf duftenden, salzigen Sekreten trocken.

"Gut," sagt Charmion, als sie sich von mir löst, "jetzt wir gehen weiter. Nehmt eure Sachen mit!"

Und wir gehen weiter, als ob nichts gewesen wäre, als ob wir eine ganz normale Pause eingelegt hätten. Das haben wir nach den hiesigen Maßstäben wohl auch. Madam hat sich befriedigen müssen. Das war alles. Der Bissen zwischendurch. Keine große Sache, nicht auf langen Genuß ausgelegt. Und ohne großen Widerstand - ein Mann funktioniert so gut, der macht so etwas nach kurzer Zeit schon mit. Das hat sie begriffen: Daß von mir nicht mit allzugroßem Widerstand zu rechnen ist. Wie oft wird sie das noch ausnützen?

Und wie oft werde ich es noch ausnützen? Denn was anderes ist es, sich willig ausnützen zu lassen? Wie lange wird es noch dauern, bis man die Erniedrigung und den Zwang nicht mehr wahrnimmt? Bis man dankbar die Verantwortung delegiert hat? Bis man die objektiv vorliegende Situation der Vergewaltigung nicht mehr als solche erkennt? Genausowenig, wie man sich durch den Zwang, ab und zu den eigenen Darm entleeren zu müssen, vergewaltigt vorkommt?

Die Freiheit der Gefangenen, denke ich, ist die, die Gitter nicht mehr zu sehen. Wenn man sich der Vergewaltigung nicht mehr entziehen kann, dann darf man das nicht mehr Vergewaltigung nennen. Den bloßen Begriff kennen sie hier nicht. Den gibt es in der Xonchen-Sprache gar nicht. Das ist genauso eine durch die Sprache festgeschriebene Lüge wie die 'innereheliche Vergewaltigung', von der viele Menschen in unserer Welt auch meinen, daß es sie per definitionem nicht gibt. Dabei ist sie der Normalfall bei diesen biederen Bürgern da oben. - Was hier der Normalfall ist, das habe ich eben erlebt.

Ob sie wohl jemals auf die Idee kommt, etwas mehr mit sich selbst und etwas mehr im Verborgenen zu spielen, wie das andere brave Mädchen auch tun?

Wir steigen weiter, lange Zeit. Einmal nur nehmen wir uns die Zeit, anzuhalten und zu trinken. Dabei reden wir kaum etwas. Danach geht es sofort im Eilmarsch weiter.

Endlich Licht. Ein grauer Schimmer von ferne. Kurz darauf stehen wir am Ende des Ganges. Die Treppe hört übergangslos auf, hinter der letzten Stufe ist die äußere Felswand. Ein weiter Ausblick empfängt uns: Das Meer, 1500 Meter unter uns, schräg unten die Kette der Schäreninseln, in weiterer Ferne zahllose Säulen, die aus Inseln aufsteigen und in der ewig gleich grau leuchtenden Wolkendecke verschwinden, hoch über uns die drohend überhängende Felswand des Pilzberges, eine auf den Kopf gestellte Landschaft, die einen schwindeln macht.

Ich sehe die vier Frauen nacheinander an. Ich zwinge mich dazu. Gar nicht erst anfangen, die Blicke schamvoll niederzuschlagen. Eine davon hat mich vor kurzem vergewaltigt, die drei anderen waren mehr oder weniger interessierte Zeugen. Trotz der Dunkelheit dürfte ihnen kaum etwas entgangen sein. Gibt es Spuren von Spott oder Belustigung in ihren Augen?

Nichts dergleichen. Diesen alltäglichen Vorgang haben alle schon wieder vergessen. Alle außer Chrwerjat, die mich etwas seltsam ansieht. So hat sie mich noch nie angesehen, und ich begreife: sie hat auch Lust. Ihre passive akustische Beteiligung hat die Wirkung nicht verfehlt. Aber sie zeigt es nicht offen, da Charmion und theoretisch auch ich rangmäßig über ihr stehen. Ich sehe aber, daß ich sie jederzeit nehmen könnte, wenn ich es nur wollte. Das ist natürlich eine rein theoretische Überlegung, aber ich denke weiter: vielleicht ist es irgendwann einmal nützlich, zu wissen, wer was will.

Was ich nicht sehe ist, wie es hier weitergeht. Und was ich spüre ist eine ordentliche Müdigkeit in meinen Knochen.

"Fängt hier der Klettersteig an?" frage ich Charmion. Es sieht nämlich so aus, als ob rechts und links und unter uns und über uns nur die senkrechte, allmählich schon sich leicht nach außen neigende Felswand sei. Genau kann man rundherum die Felswand nur ansehen, wenn man sich auf den Bauch auf die letzte Stufe legt und sich weit hinauslehnt. Dazu habe ich aber überhaupt kein Nerv.

Hoffentlich fängt der Klettersteig nicht erst ein paar Meter entfernt von diesem Loch an, so daß irgendwelche akrobatischen Taten notwendig sind, um bis dahin zu gelangen. Es würde ins Bild passen - ein weiteres Hindernis für ausbrechende Gefangene.

"Hast du es nicht bemerkt?" fragt Charmion mich, eine Spur von Triumph in der Stimme.

"Nein. Was denn?"

Wir sind an der richtigen Abzweigung schon vorbei. Hat es jemand von euch bemerkt?"

Auch Chrwerjat, Chmerm und Chechmirch verneinen das. Charmion sonnt sich sichtlich im Lichte ihrer exklusiven Ortskenntnis.

"Gehen wir zurück. Ich zeige es euch."

21.4 Der Schwertgang

Höhe zu verlieren ist im Gebirge immer ärgerlich, bergab zu gehen schlecht für die Gelenke, und das ganze im Dunkeln sowieso lebensgefährlich. Wenn wir eine Abzweigung übersehen haben, dann hätte Charmion uns eigentlich früher darauf aufmerksam machen können. Hoffentlich müssen wir nicht bis zu der Sturzfalle zurück.

Als der letzte Lichtschimmer hinter uns verschwunden ist und wir Stufe für Stufe erfühlen müssen, um nicht zu stürzen, ruft Charmion:

"Gleich haben wir es!"

Wir gehen zwar in umgekehrter Reihenfolge nach unten wie wir nach oben gekommen sind, also ich jetzt als vierter, aber trotzdem bin ich der erste, der etwas merkt: Obwohl ich rechts und links die Felswand unter meinen Fingern entlanggleiten spüre, glaube ich plötzlich, einen seitlichen Zug zu spüren.

"Hier ist etwas!" rufe ich. Alle bleiben stehen. Tatsächlich: da ist ein Zug. Man spürt es besonders deutlich an den Beinen.

Ich gehe in die Knie. Links, oder, wenn man aufsteigt, rechts, ist die Felswand vollkommen normal und geht in Fußhöhe in die Treppe über. Gegenüber weicht sie jedoch zurück, und dicht über dem Boden fingere ich ins Leere.

"Hier geht es irgendwie rein!" sage ich. Dabei bemerke ich, daß ich immer noch so erregt bin, daß mir die Doppelbedeutung von 'hier geht es irgendwie rein' sofort auffällt. Dabei meine ich wirklich eine Öffnung im Felsen, und die anderen werden das auch genauso auffassen.

"Ganz richtig," stellt Charmion fest, "das ist ein Durchgang zu einem zweiten Stollen, der so aussieht wie dieser hier. Es ist etwas anstrengend, weil es sich um eine enge, schräge Spalte handelt. Man muß die ganze Zeit auf den Knien rumrutschen."

Schon wieder. Auch den letzten beiden Sätzen könnte man eine Doppelbedeutung unterstellen. Aber ich bezweifele, daß Charmion das beabsichtigt hat und daß sie es überhaupt bemerkt. Denn wie sollte man diesen Sachverhalt auch anders ausdrücken? Es ist Zufall.

"Wie weit?" frage ich.

"Fünf mal fünf mal fünf mal zwei Menschenlängen." sagt sie. Das sind ungefähr vierhundert Meter, rechne ich rasch aus. Wird ganz schön anstrengend. Es kommt aber noch schlimmer:

"Dieser Spalt geht zunächst nach unten und nach der Hälfte des Weges wieder aufwärts." fährt Charmion fort, "Und es gibt einen Mechanismus, ihn unter Wasser zu setzen. Dann ist er unpassierbar. Wie dieser Mechanismus in Gang gesetzt wird, und von wo er ausgelöst wird, und woher das Wasser kommt weiß ich nicht."

"Schöne Aussichten," murmele ich, "hoffentlich kommt jetzt niemand auf die Idee, das genau jetzt auszuprobieren!"

"Um die Schwierigkeiten zu erhöhen hat man in diesem Spalt eine ganze Reihe Schwertklingen befestigt. Sie ragen von schräg unten und von schräg oben in den Spalt hinein. Dazwischen ist aber reichlich Platz. Man darf nur auf der Schräge nicht ausrutschen. Dann sitzt man drin."

Ich habe das Gefühl, Charmion macht die Beschreibung dieser Anlage Spaß. Sie redet weiter:

"In der Mitte des schrägen Bodens verläuft eine in den Fels gehauene Rille. Sie dient gleichzeitig zur Orientierung und zum Festhalten. Sie ist zu flach, um von Nutzem zu sein, wenn der Spalt unter Wasser ist, aber jetzt ist es ein Kinderspiel. Es gibt auch ein paar gewinkelte Rillen mit gleichem Profil. Unter Wasser würde man diese verwechseln und sich selbst mit großer Sicherheit mit einigen Schwimmstößen in die Schwertklingen bohren."

"Und der Gang drüben," frage ich, "Wenn der so aussieht wie dieser hier, dann geht der doch auch sowohl nach oben als auch nach unten?"

"Richtig."

"Wohin kommt man denn da, wenn man da nach unten geht?"

"Das," sagt Charmion, "ist eine weitere Falle. Eine ganze Weile geht es so weiter nach unten wie in diesem Gang. Es kommt sogar eine Höhle mit einer Sturzfalle, ganz von der Art, wie wir sie schon durchquert haben. Was man aber nicht sieht, wenn man von oben kommt, nicht einmal, wenn man Licht hat, ist, daß das letzte Stück der Treppe, das in die Sturzfalle von oben hineinragt, aus einem lose aufliegenden, schlanken Felsblock besteht. Dieser Felsblock kommt bereits aus dem Gleichgewicht, wenn nur ein Mensch sich weit genug auf dieser Treppe in die zweite Sturzfalle hinunterwagt. Er kippt dann, oder er bricht, auf jeden Fall stürzt er in die Tiefe. Ein großer Teil des Stollens ist dann auch unbrauchbar, weil die Treppe dann verschwunden ist. Die Anlage ist groß genug, um Gruppen mit mehr als hundert fliehenden Gefangenen mit sich in die Tiefe zu reißen!"

"Ihr habt vielleicht eine Phantasie!" sage ich, "Was für ein immenser Aufwand, um ein paar Gefangene am Fliehen zu hindern! Wer hat sich das bloß ausgedacht? Würde nicht ein massives, bewachtes Tor ausreichen?"

"Diese Anlagen sind aus alter Zeit." entgegnet Charmion, "wir können so etwas heute gar nicht mehr bauen. Außerdem funktioniert diese Falle nur einmal, und sie ist bis jetzt ja noch nicht aktiviert worden. Bewachte Tore gibt es weiter oben auch noch. Noch nie sind fliehende Gefangene soweit gekommen."

"Wer hat es denn gebaut? Die Bewohner der Toten Städte?" frage ich.

"Ich weiß es nicht," sagt Charmion nach einigen Sekunden des Überlegens, "ich weiß es wirklich nicht. Es ist so lange her. Es gibt kaum Überlieferungen."

"Also auf jeden Fall müssen wir da durch. Oder gibt es noch einen anderen Weg?" will ich wissen.

"Nein." sagt Charmion kurz, "Es sei denn, du willst außen an der Felswand entlangklettern. Da ist aber nichts, wo du dich festhalten könntest."

Wieder einen Moment Schweigen. Vielleicht bilde ich es mir ein, aber da scheint irgendwo Wasser zu tropfen. Natürlich weiß ich jetzt von der Möglichkeit, die Spalte unter Wasser zu setzen, und wenn das stimmt, was Charmion erzählt, dann muß es irgendwo eine Art Wehr oder Dichtung oder sonst etwas geben, welches dieses Wasser jetzt noch zurückhält. Und das wird kaum hundertprozentig dicht sein, wenn es sich um eine so alte Anlage handelt.

"Gehen wir!" entscheide ich. Die einzige Entscheidung, die gemacht werden kann, weil das ja sowieso unser Auftrag ist. "Du voran, Charmion! Du kennst den Weg." Das hätte ich vielleicht nicht sagen sollen, fällt mir gleichzeitig ein: Entweder, Charmion will sowieso vorangehen, dann tut sie es auch, oder sie will nicht. Dann habe ich einen lustigen Satz, der keine weiteren Folgen hat, ins Leere gesagt.

Sie will aber offenbar voran. Geschwind drängt sie sich an mir vorbei und bückt sich. Wenig später höre ich ihre gedämpfte Stimme, die uns zum Hinterherklettern auffordert. Ich steige als Zweiter ein, indem ich mich auf die Knie niederlasse und so von den Stufen nach links herunterrutsche. Natürlich stoße ich mir prompt den Schädel an der Decke des Spaltes. Er ist sechzig oder siebzig Zentimeter dick, genug, wenn man sich auf Händen und Knien weiterbewegt.

Charmion greift in der Dunkelheit meine Hand und legt sie auf die Führungsrille, bevor ich den Halt der Treppenstufen verliere. Ich mache dann dasselbe mit meiner Nachfolgerin, und die mit ihrer, und so weiter.

Man kann sich gut festhalten. Die Rille hat etwa das Profil eines Trapezes mit drei Zentimeter Kantenlänge - das sind die aus dem Fels herausgehauenen Flächen - und vier Zentimeter Basislänge. Eine Art verkleinertes Kanalprofil. Aber da ist das kitzelige Gefühl in der Magengrube und im Schritt, das von dem Bewußtsein herrührt, daß nicht allzuweit die schiefe Ebene des Spaltes abwärts scharfe Klingen auf einen zeigen. Diese Turnübung wäre in jeder Turnhalle, einige Zentimeter über dem Hallenboden, trivial. Ich versuche, mir das klarzumachen - diese Überlegung hat mir beim Abstieg in die Welthöhle vor fast drei Wochen an einigen Stellen ja auch geholfen. Ein bißchen wenigstens.

"Sind hier schon Menschen gescheitert?" frage ich Charmion.

"Ich weiß es nicht. Wenn wir Licht hätten, könnten wir nachsehen. Aber da wir keins haben, können wir uns genausogut auch auf das Klettern konzentrieren."

Sie hat ja recht, denke ich. Da liegen wahrscheinlich noch Knochen und Totenköpfe um die Schwerter herum, nur wenige Meter von uns entfernt. Ich bin nicht so scharf darauf, das genau zu sehen.

Wenige Sekunden später spüre ich mit Knien und Händen eine zweite Führungsrille, die senkrecht zur ersten verläuft - auf der schrägen Ebene von unten nach oben. Klar, denke ich, unter Wasser, ohne genaue Vorstellung von unten und oben, und dann in absoluter Finsternis, da könnte man die Rillen gut verwechseln. Ein genialer Trick.

Im Laufe der Zeit passieren wir noch mehrere der Täuschungsrillen, die man immer deutlich betasten kann. Was man weniger deutlich fühlt ist, daß der Spalt zunächst etwas in die Tiefe und dann wieder aufwärts führt. Irgendwann warnt Charmion uns, daß er gleich zu Ende ist. Kurz darauf ändert sich ihr Klettergeräusch, und dann spüre ich auch das Ende der Führungsrille. Ich fingere weiter nach links und ergreife Stufen. Mit Hilfe von Charmion bin ich im Augenblick auf einer Treppe. Nacheinander kommen die drei anderen nach.

"Gut gegangen." sage ich, "gehen wir gleich weiter, ja?"

Niemand protestiert. Der Stollen ist dem anderen, den wir vor über einer halben Stunde verlassen haben, völlig ähnlich. Bald sehen wir das Licht der Stollenöffnung, und als wir sie erreichen, haben wir den schon bekannten Ausblick auf die See und die fernen Säulen und die Schäreninseln.

Wo ist den das andere Stollenloch, wo wir eben waren?" frage ich, als ich mich ein wenig hinauslehne. Im Gegensatz zum anderen Stollenloch beginnt hier der Klettersteig. Massive Stahlbügel von der Art, wie wir sie schon gesehen haben, beginnen an der linken Stollenwand, zunächst parallel zu dieser in der Stollenwand befestigt, dann, jeder gegen den darunter liegenden um fünfzehn Grad gedreht, sich langsam über den Abgrund ins Freie schiebend.

21.5 Zwischen Himmel und Himmel

"Hinter der Felskrümmung, nach rechts. Man kann es von hier aus nicht sehen. Wenn man weiß, wo man hinsehen muß, dann kann man die beiden Löcher von unten erkennen, von den Inseln aus." erklärt Charmion. Sie ergreift routinemäßig die Stahlbügel und klettert los. Da kann ich mich nicht lumpen lassen, ich gehe sofort hinterher. Nach einigen Steigschritten bin ich in der Wand, und 1500 Meter unter mir ist die Wasserfläche. Dazwischen ist nichts. Herwig, denke ich mir, das hast du doch schon gemacht, auch, wenn es jetzt bald drei Wochen her sind. Greif fest zu, und es wird dir nichts passieren. Du hast sowieso keine andere Wahl.

Die Selbstsuggestion funktioniert. Allerdings steigen wir recht schnell, den Charmion ist ja auch gut durchtrainiert. Ich muß wie schon auf der Treppe heftig atmen. Hoffentlich gibt es keinen Blackout, kein orthostatisches Syndrom, wie ich es bei mir schon kenne. Das wäre jetzt fatal.

Da die Wand deutlich überhängt - das ist keine Einbildung - hat man dauernd den Eindruck, als wolle einem jemand die Füße von den Steigbügeln herunterziehen. Zusätzlich hängt ein wesentlich größerer Teil des eigenen Gewichtes an den Steigbügeln als das der Fall bei einer genau senkrechten Wand wäre. Es ist sehr anstrengend, und ich habe schon die Vision, daß mich vor dem Hängenden Weg, der in 3000 Metern Höhe um die Gefängnisinsel herumführen soll, die Kräfte verlassen könnten. Zunächst versuche ich aber, mit kräftigen Klimmzügen mit Charmion Schritt zu halten.

Jedenfalls sehe ich rasch ein, daß mich diese Klettertour ganz anders fordert als der senkrechte Klettersteig, der bei unserem Abstieg in diese Welt die letzte schwierige Etappe war. Irene wäre hier nicht weitergekommen. Cherkrochj hatte recht. Ich bin ihr dankbar, daß Irene auf dem Saurierfangschiff jetzt sicher ist.

Noch dankbarer wäre ich, wenn ich da jetzt auch wäre.

21.6 Höhenkoller

Dreihundert Steigbügel - hundert Meter Höhendifferenz. Die Arme schmerzen. Ich werden langsamer, deutlich langsamer. Der Abstand zu Charmion ist mindestens zwanzig Meter. Um das zu sehen muß ich aber den Kopf in den Nacken legen, und dann könnte mir schlecht werden. Wenn ich aber an meinen Füßen vorbeisehe, dann sehe ich Chechmirch, Chmerm und Chrwerjat dicht hinter mir, und dahinter die Felswand, die sich zum Wasser herunterkrümmt. Wie eine gestickte Naht kann ich auch den bisherigen Teil des Klettersteiges verfolgen. Wenn ich das so sehen kann, dann heißt das nur eins: Die Überhangneigung nimmt noch zu! Das ist keine Illusion, was dein Gleichgewichtssinn und deine schmerzenden Muskeln dir melden, Herwig! Erinnere dich an das Profil des Pilzberges: je höher, desto größer der Überhangwinkel! Nimm es zur Kenntnis: aus der Felswand wird kontinuierlich eine Felsdecke! Oder nimm es besser nicht zur Kenntnis.

Ich habe den Eindruck, daß ich jeden Moment von den Steigbügeln runterrutschen muß. Wie weit noch bis zum Hängenden Weg? Das kann ich nicht aushalten! Das schaffe ich nicht.

Und doch versuche ich noch mein bestes. Wegen mir werden die anderen nicht umkehren. Dieser Klettersteig ist für die Granitbeißer eine Routineangelegenheit. Sie werden es nicht verstehen, daß ich hier Schwierigkeiten habe. Charmion wird es nicht verstehen. Und gerade ihr möchte ich es eigentlich zeigen, ihr, die so selbstverständlich über mich verfügt als wäre ich ein Ausrüstungsgegenstand. Soll ich ihre Vorurteile bestätigen? Nein.

Der Gedanke, daß einer der Steigbügel locker sein könnte macht mir Angst. Nicht jetzt auch noch meine Reflexe trainieren - ich brauche den ganzen Willen, den ich habe, um mich überhaupt festzuhalten, die ganze Konzentration, um mit den Füßen nicht von den Steigbügeln runterzurutschen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn das passiert: An den Armen hängend, mit den Füßen hin- und herpendelnd, versuchend, die Füße wieder auf die Bügel zu setzen, und das mit diesen erlahmenden Armen. Ich kann zwar ein paar Klimmzüge hintereinander machen. Im Prinzip. Aber der bisherige Aufstieg hat meine Arme schon wachsweich gemacht.

Und dann nimmt der Wind zu. Wenig nur, aber die bloße Vorstellung, daß er noch mehr zunehmen könnte, um ein bißchen an uns herumzuzerren, reißt an dem letzten Rest meines Selbstvertrauens herum.

Wie lange fällt man 1700 Meter? Ein paar Sekunden mindestens. Rechne es aus, Herwig, teste deinen Verstand. Wenn das noch funktioniert, dann funktioniert auch vieles anderes noch. Es ist doch ganz einfach, die Beschleunigungsformel: S ist a halbe mal t zum Quadrat, umgeformt ist das Zwei s durch a ist t zum Quadrat. Das habe ich nicht umgeformt, sondern ich erinnere mich noch an die Umformung. Die Formel habe ich doch schon oft gebraucht. Zwei s durch a ist 340, das ist t zum Qadrat, dann ist t, moment, 340 liegt zwischen den Quadratzahlen 256 = 16 * 16, 289 = 17 * 17, ist auch noch zu wenig, 18 * 18 =, ja, was ist es denn? Ich kann mich nicht konzentrieren. Festhalten, greifen, weitersteigen! 18 * 18 ist soviel wie 9 * 9 * 4, das geht doch viel einfacher, das ist 324. Ist auch noch kleiner als 340, aber 19 * 19 müßte schon drüber sein. Also ein 18 Sekunden langer Fall, etwas mehr, vielleicht noch ein paar Sekunden mehr wegen der Luftreibung.

Und steigen und greifen und steigen und greifen und steigen und greifen. Konzentrieren. Irene soll ihren Mann nicht verlieren. Und Charmion nicht ihren Feind. Ja, Feind ist wohl das richtige Wort. Sie würde amüsiert zusehen, wenn ich hilflos loslasse und in der Tiefe verschwinde.

18 Sekunden, ist denn das richtig? Mal Erdbeschleunigung heißt das, daß man mehr als die halbe Schallgeschwindigkeit erreicht. So schnell wird man aber nicht. Jeder Fallschirmspringer weiß das. Im freien Fall schafft man etwa zweihundert Stundenkilometer. Hier ist Druck und Dichte der Atmosphäre höher, unten, auf dem Niveau der See etwa das vierfache der entsprechenden Werte an der Erdoberfläche. Das heißt, wenn man sich mit ausgebreiteten Armen fallen läßt, dann kann man etwa mit hundert Stundenkilometern rechnen. Bloß? Dann wäre der Fall wesentlich länger. Und: Kann man es überleben? Vom Zehn-Meter-Turm im Schwimmbad erreicht man schon die Hälfte. Vor dem Eintauchen ins Wasser, aber wirklich kurz vorher, Körper senkrecht ausrichten? Das müßte doch gehen?

Und wenn es nicht geht, dann zerplatzt dir beim Aufschlag die Lunge. Herwig, sieh es realistisch: Du bist einmal in deinem Leben von einem Fünf-Meter-Brett gesprungen, in deiner unnachahmlichen Art: Rechte Hand Nase zuhalten und mit den Füßen zuerst. Du hast keine Sprung-Erfahrung. Und wer sagt dir, daß da nicht eine weiter innen liegende Schäreninsel ganz plötzlich im Wege ist? Oder ein Riff, dicht unter Wasser? Auf nacktem Fels sind auch hundert Kilometer pro Stunde zuviel.

Gib dich bloß keinen Illusionen hin, was das Überleben beim Absturz aus dieser Wand betrifft. Halt dich fest! Halt dich bloß fest.

Und die Arme sind mir so lahm. Ich kann nicht mehr. Nur noch festhalten, nicht mehr steigen. Wenn ich es versuche, rutsche ich ab. Es ist so weit.

Ich klammere mich mit den Beinen in einen der Steigbügel hinein, und mit den Armen in den zweiten darüber. So hänge ich im Moment fest. Es geht nicht mehr weiter. Ein klassischer Anfall von Höhenschwindel. Ich kann nichts dagegen machen. Wie ein Embryo klammere ich mich fest, weil die Schwerkraft mich vom Berg zu reißen versucht.

So schlimm wie diese Stelle war nichts, was wir während des Abstieges in diese Welt erlebt hatten.

"Charmion!" rufe ich, "Ich kann nicht mehr!"

Sie hält ein, ich höre es. Hinzusehen traue ich mich nicht, weil ich immer noch und schon wieder die irrationale Angst habe, daß die Metallbügel aus dem Fels rutschen könnten, wenn ich sie nicht dauernd ansehe. Außerdem sieht der Fels vertrauenerweckend normal aus, wenn man ihn aus wenigen Dezimetern Entfernung ansieht. So sieht nämlich auch ein Fels dicht über dem Erdboden aus. Dem Fels ist es genaugenommen völlig egal, ob er 1600 oder 1700 Meter über dem Wasser schwebt, oder nur fünfzig Zentimeter.

Charmion turnt näher. Dann ist sie, von der Felswand aus gesehen, über mir, also eigentlich mehr unter mir. Ich habe die entsetzliche Vorstellung, daß sie mir die Arme aus den Metallbügeln heraushebeln und mich so zum Weitergehen bewegen will.

Aber sie muß wohl begriffen haben, daß da etwas anderes bei mir vorliegt als reine Schwäche. Bei einem Schwächeanfall hätte ich ja einfach losgelassen und wäre schon runtergefallen. Höhenschwindel ist den Granitbeißern unbekannt, deshalb kann sie überhaupt nicht wissen, was mit mir los ist.

Sie überlegt eine Weile. Die drei Frauen unter uns warten ab. Dann hat sie einen Entschluß gefaßt.

"Nehmt ihm den Beutel und das Schwert ab!" ruft sie Chechmirch zu, die genau hinter oder unter mir ist. Ich kooperiere wenig, als Chechmirch mir den Beutel entwindet. Sie muß dazu den Tragegurt aufknoten, weil ich nirgends loslasse. Mit dem Schwert macht sie es genauso. Dann steigt Charmion wieder tiefer.

"Stütz dich auf meinem Bauch ab und dreh dich um!" schägt sie vor.

"WAS! MICH UMDREHEN? BIST DU WAHNSINNIG?"

"Es kann dir nichts passieren! Ich halte dich!"

Ich glaube es nicht. Zwar hat sie ihre Füße irgendwie rechts und links unter mir so mit den Steigbügel verkeilt, daß sie mit ihrem Körper unter mir eine Art Hängebrücke bildet. Aber sie kann unmöglich mein Gewicht auch noch aushalten.

"Du mußt dich auf meinen Bauch setzen!" stellt sie fest.

"Nein!"

"Warum nicht? Es ist die einzige Möglichkeit!" sagt sie eindringlich, "Du mußt rittlings so auf meinem Bauch sitzen, daß dein Kopf neben meinem ist und deine Arme und Beine seitlich herunterhängen, damit sie mir beim Klettern nicht im Wege sind!"

Es ist unmöglich, was sie vorschlägt. Sie kann so nicht klettern, und ich kann nicht loslassen. Wir sitzen fest. Solange, bis mir sogar zum Festhalten die Kräfte ausgehen.

"Du könntest dich natürlich auch auf meinen Rücken setzen, aber du hältst dich ja doch nicht fest!" sagt Charmion. Mir schießen unzusammenhängende Gedanken durch den Kopf, Zeichen beginnender Desorientierung. Ich spüre ihre Hitze an meinem Rücken, denke: Wenn sie mich hier rausholt, dann kann sie von mir alles haben, dann würde ich mich sogar von Irene trennen wenn sie das will, nein, das kann sie nicht verlangen aber ich will nicht sterben bloß weg aus dieser Wand aber wie will sie das denn machen ich lasse dieses Eisen nie los da kann sie sagen was sie will!

"Wenn du nicht losläßt," droht Charmion, "dann hebele ich deine Hände ab!"

Sie wartet nicht ab sondern tut es. Alle Instinkte in mir sträuben sich, das Eisen loszulassen, aber ihr Griff ist stärker, und er tut weh. Irgendwann wird der Schmerz dann größer sein als die Angst vor dem Absturz, und mein erschöpfter Griff bietet ihren Bemühungen sowieso nicht viel Widerstand.

"Wenn du nicht losläßt, dann breche ich dir beide Arme!" droht sie und setzt auch schon an, es zu tun. Dabei kann sie nur eine Hand brauchen, weil sie sich mit der anderen ja festhalten muß. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich diese Stärke bewundert.

"Halt dich doch an mir fest, was hindert dich daran!" ruft sie, fast ärgerlich.

Sie schafft es, mir nicht nur die Hände von den Bügeln des Klettersteiges zu reißen, sondern mir dann den gesamten Oberkörper so zu verdrehen, daß ich mich auch mit den Beinen aus den Bügeln herauswinden muß, wenn ich nicht riskieren will, daß sie mir das Rückgrat bricht. Sowie ich den Halt am Klettersteig verloren habe, rutsche ich an ihrem Körper entlang, sitze auf ihrem Oberschenkel auf, kippe zu einer Seite ab. Ich bin völlig orientierungslos.

Sie hält mich mit einer Hand.

"Siehst du, es geht doch!" lacht sie.

Das finde ich gar nicht. Ich klammere mich an ihren Oberschenkel, aber ein harter Griff zwingt mich wieder höher. Sekunden später liege ich auf ihr, die Griffe des Klettersteiges unerreichbar hinter meinem Rücken.

"Halt dich gefälligst fest, hinten rum an meinen Schultern." befiehlt sie. Das geht, und es ist wahrscheinlich ein völlig sicherer und sogar bequemer Platz, wenn man davon ausgehen kann, daß sie selbst sich beliebig lange am Klettersteig festhalten kann. Da meine Arme unter ihren Achselhöhlen durchgreifen, um an ihre Schultern zu gelangen, kann sie problemlos über sich greifen und ist dort durch mich nicht behindert. Allerdings muß sie einen größeren Abstand zwischen ihrem Körper und den Bügeln des Klettersteiges halten, weil mein Körper dazwischen ist. An ihrem Kopf vorbei kann ich in die Tiefe sehen, das Wasser, die Insel des Schärenringes.

"In Ordnung!" ruft sie nach unten, "Ich habe ihn. Wir können weiter!"

21.7 Charmion's Bauch und der nasse Schwamm

Und das macht sie sofort. Es ist eine wüste Schaukelei. Und mir ist elend. Nicht nur wegen dem Schwindel und der wahrscheinlich unnötigen Furcht, daß Charmion anstürzen könnte. Nein, das passiert ihr nicht, bei ihrer Kraft und Geschicklichkeit, auf die ich mich jetzt voll und ganz verlassen muß. Aber daß der Herwig sich einen Berg rauftragen läßt wie ein nasser Schwamm!

Wir sind nicht viel langsamer als vorher. Charmion's Bewegungen sind kraftvoll und routiniert. Das macht es für mich schlimmer, denn es gibt keinen Teil ihres Körpers, der sich nicht bewegt, keine festen Bezugspunkt. Kein Schiff im Sturm bewegt sich so heftig. Das bin ich nicht gewöhnt.

Ich spüre das Spiel ihrer Bauchmuskeln an meinem Bauch, unter meinen Händen arbeiten ihre Schultermuskeln, immer wieder schiebt sie mich mit dem Oberschenkel des Beines, das sie gerade einen Steigbügel weiter nach oben setzt, an ihrem Körper entlang weiter nach oben, um meine Neigung, wieder nach unten zu rutschen, zu kompensieren. Ich versuche, mich so gut wie möglich an ihren Schultern hochzuziehen, um möglichst wenig Anlaß zu Kritik zu liefern.

Wieder einmal liegt mein Leben völlig in ihrer Hand, bin ich völlig abhängig von den Fähigkeiten und dem guten Willen eines anderen Menschen. Die unangenehmste Situation. Habe ich nicht mein ganzes Leben daran gearbeitet, daß diese Art von Situationen nicht so eintreten kann? Ausbildung, Beruf, ökonomische Selbstständigkeit - alles diente doch nur dem einen Ziel: Zu verhindern, daß man sich in direkte Abhängigkeit zu anderen Menschen begibt. Mein ganzes Leben ist eine Manifestation dieses Prinzips und dieser Strategie. Schon die Wahl des Interessengebietes. Physik, die Technik, Informatik. Maschinen, deren prinzipiell erreichbare maximale Zuverlässigkeit, die Naturgesetze selber, der Eichbegriff der Zuverlässigkeit, die Inkarnation der Zuverlässigkeit. Niemals hätte ich in meiner Lebensplanung auf das Wohlwollen eines anderen Menschen gesetzt, nicht einmal temporär. Dieser Baustein ist nicht vorgesehen.

Jetzt aber muß ich auf das Wohlwollen eines anderen Menschen setzen, ob ich will oder nicht. Wenn es Charmion gefällt, kann sie ihre Scherze mit mir treiben. 'Hätte ich dich nicht gehalten, wärst du runtergefallen!' Das alte Spiel vom Schulhof. Hier ist es Ernst. Was immer ihr einfällt, es droht ihr keine Vergeltung, von niemandem. Von mir schon gar nicht. Es braucht nicht einmal böser Wille zu sein - was ist, wenn ich ihr zu schwer werde?

Der Wind, der vorhin aufgesprungen ist, umflattert uns immer noch unruhig. Vielleicht irgendwelche lokalen Wirbelerscheinungen an diesem Pilzberg, vielleicht aber auch Vorboten eines Wetterumschwunges. Ist Charmion beunruhigt?

Nein, sie klettert ruhig weiter, tief, aber gleichmäßig atmend. Die Wand neigt sich weiter über, und damit unser Kletterwinkel. Es muß für sie immer schwerer werden, die Füße auf den Steigbügeln zu halten. Wie sie es wohl macht? Streckt sie den Fuß, so daß die Fußsohle waagerecht steht oder sogar noch weiter geneigt ist? Ich vermeide es, hinzusehen. Ich will sie nicht durch eine unvorhergesehene Kopfbewegung irritieren.

Ein paar Wolkenfetzen ziehen unter uns vorbei, vielleicht siebenhundert bis tausend Meter über dem Meer. Einige der Schäreninseln verschwinden kurzzeitig, tauchen dann wieder auf. Größere Wolken treiben vorbei, fast kleine Berge. Einmal tauchen wir kurz in Nebel ein - ich überlege, ob das gut oder schlecht ist, aber ich komme zu keinem Ergebnis. Dann sind die Wolken wieder unter uns, immer noch vielfach durch Lücken das Meer zeigend. Die Säulen am Horizont scheinen zwischen Wolkenschichten zu schwimmen: Die permanent leuchtende Wolkenschicht oben, und die Wolkenschicht, die gerade dabei ist, sich zu bilden, etwa dreitausend Meter darunter.

Wir müssen schon über zweitausend Meter hoch sein. Brave Charmion - wie müht sie sich ab mit einem untüchtigen Sack wie mich! Ich wage allerdings nicht, etwas zu sagen, damit sie nicht auf die Idee kommt, ich könne wieder selbst klettern.

Ihr Körper windet sich in meiner haltenden Umarmung, nicht unähnlich den Bewegungen beim Liebesspiel. Aber erotische Gedanken kommen mir jetzt nicht in den Sinn. Ihr hoffentlich auch nicht. Die Stellung wäre eine der ungewöhnlichsten, die man je beim Geschlechtsverkehr ausprobiert hätte, fällt mir ein. Aber ist etwas, was für mich ungewöhnlich ist, für sie genauso ungewöhnlich? - Jedenfalls sind, da meine Beine sich über ihren Beinen um ihre Hüfte schlingen oder dieses jedenfalls sollen, unsere Geschlechtsorgane hinreichend weit voneinander entfernt. Ich hoffe deshalb, daß sie nicht schon wieder auf dumme Gedanken kommt.

Das bringt mich auf andere Gedanken, und ich brauche andere Gedanken, weil ich mich ganz weit wegdenken möchte. Ich möchte mir ebenen, festen Boden vorstellen. Vielleicht merke ich dann gar nicht mehr, wo ich bin. Wollte ich nicht einmal an die Playboy-Redaktion schreiben, um fachkundigen Rat darüber einzuholen, auf welchen Fahrzeugen und Verkehrsmitteln schon nachweislich Geschlechtsverkehr getrieben wurde und auf welchen sicher nicht? Ich habe es dann nicht getan, weil ich glaubte, mir die Antwort eigentlich schon selbst geben zu können: Auf Raumschiffen - wahrscheinlich ja. Auf fahrenden Fahrrädern - wahrscheinlich nein. Zu kompliziert. Komplizierter als das, was wir jetzt machen? Geschlechtsverkehr auf einem, oder besser unter einem hängenden Klettersteig?

Vielleicht würde Charmion meine Gedankensprünge auch als abwegig betrachten, oder höchstens belustigt sein. Jetzt ist die Zeit des Kletterns und des Am-Leben-Bleibens. Genau das zeigt sie mir gerade: Wie man am Leben bleibt. Die Zeit des Spiels der Körper kommt schon noch. Ein andermal.

Kein Wort wird gesprochen. Jetzt nicht. Vielleicht später? Wenn ich nicht in Hörweite bin? Die Legende von dem Mann, den die Höhe krank machte und der sich den Berg raufschleppen ließ? Lege ich gerade die Grundlage für eine neue, mehr lustigere Überlieferung in der Welt der Granitbeißer? Ist schon entschieden, daß man hier noch in Generationen über mich lachen wird?

Jetzt ist die Wolkendecke unter uns dicht, und es gibt nur noch diese endlose, überhängende Felswand, und Wolken, wohin man blickt. Nein, einige Säulen sind da ja noch zu sehen, in der Ferne, am Horizont. Aber die Orientierung, das Auseinanderhalten von oben und unten ist schwer. Nur die Schwerkraft ist noch ein sicherer Anzeiger.

21.8 Das Hufeisen

Als ich kurz aufblicke, sehe ich in einiger Entfernung, daß wir auf etwas zuklettern. Zunächst sieht es aus wie ein Hufeisen, das überkopf in der Wand hängt, ein viele Meter großes Hufeisen. Zunächst bin ich noch geneigt, an einen merkwürdigen Felsvorsprung zu glauben. Nur langsam kommen wir näher.

Was es ist, sehe ich erst, als wir es erreichen. Es ist eine hängende Plattform, die tatsächlich die Form eines Hufeisens hat. Das Hufeisen öffnet sich zur Felswand, und durch diese Öffnung laufen zwei Klettersteige ein, der, den wir gekommen sind, und ein zweiter, den ich erst im letzten Moment, bevor wir das Niveau des Hufeisens erreichen, sehe. Überraschenderweise erreichen beide Klettersteige dieses Hufeisen von unten.

Die Breite dieses Loches innerhalb des Hufeisens ist etwa drei Meter, der Außendurchmesser fünf Meter. Es handelt sich also um einen einen Meter breiten, stark gekrümmten Steg. Dieser ist aus massiven Planken gezimmert und durch viele Seile, die an seiner Außenkante befestigt sind, mit der schrägen Felswand verbunden. Diese Seile, besonders die, die weiter von der Felswand entfernt sind, sind teilweise recht lang - bis zu zwanzig Meter - bis sie in Eisenbügeln enden. Wie bei der Hängenden Straße, die wir kurz vor unserer Festnahme beschritten haben, führen die Trageseile nicht senkrecht nach oben, sondern sie sind um einen Winkel von etwa 25 Grad nach außen geneigt, einige mehr, einige weniger. Dadurch wird Schwankungen der Plattform vorgebeugt.

Noch wichtiger ist für mich: Dieser Steg bildet eine waagerechte Oberfläche. So gut ich das bei meinem geschädigten Orientierungsvermögen erkennen kann.

Als Charmion die Ebene des Plattform überstiegen hat, bedeutet sie mir, nach rechts von ihrem Körper herrunter zu rutschen. Da ist der Steg. Genau unter ihr ist aber für 500 Meter nichts, dann die Wolkenschicht, dann sind es noch etwa 2000 Meter bis zum Meer darunter. Eine recht wackelige Angelegenheit, denn so lagestabil ist die Plattform auch nicht.

Das mit etwas Schwung zu tun ist auch problematisch, denn an der anderen Seite des Steges, also der Außenseite des Hufeisens, gibt es nur die Halteseile, zwischen denen man ohne weiteres durchtorkeln kann.

Eigentlich hätte der Klettersteig hier die Montage spezieller seitlicher Eisenbügel benötigt, damit man gefahrlos von ihm heruntersteigen kann. Das ist aber nicht geschehen. Und so muß ich zunächst das rechte Bein weit vorstrecken, um es auf dem Steg aufzusetzen. Dabei weicht der Steg zwar trotz seiner stabilisierenden Aufhängung unwesentlich, aber fühlbar aus, während ich Charmion gleichzeitig in die Gegenrichtung drücke. Die Vision, daß ich zwischen ihr und dem Steg durchfallen könnte ist wieder überdeutlich gegenwärtig.

"Du kannst nicht herunterfallen - ich paß schon auf!" sagt sie. Das erste, was jemand nach langer Zeit spricht.

"Sehr beruhigend." ächze ich und verlagere, vielleicht mit übertriebener Vorsicht, einen immer größeren Teil meines Gewichtes auf mein Bein. Dann schiebe ich mich von ihrem Körper herunter.

Auf dem Steg angekommen lasse ich mich sofort auf die Knie nieder. Er ist mir zu schmal. Verglichen mit dem Klettersteig und verglichen mit dem Ritt auf Charmion's Bauch bietet ein einen Meter breiter Steg zwar immens viel Platz. Aber mir ist nur zu bewußt, daß dies nur eine Zwischenstation sein kann. Die Schwindeltour wird über kurz oder lang weitergehen.

Es ist 6 Uhr. Wir waren mehr als zwei Stunden auf diesem Klettersteig. Mir kommt es kürzer und länger zugleich vor. Mein Zeitgefühl ist auch etwas aus den Fugen geraten.

Charmion springt wesentlich eleganter als ich auf den Steg, danach die drei anderen Frauen. Alle setzen sich, Charmion dicht neben mich. Sie sieht mir in die Augen, irgendwie verwundert.

"Besser?" fragt sie.

"Ja. Etwas."

"Was war denn los?"

Ich kenne das Xonchen-Wort für 'Schwindel' nicht. "Die Höhe." sage ich.

"Na und?"

"Große Höhe macht uns Schwierigkeiten. Wir haben Angst davor."

"Wer ist 'wir'?"

"Die meisten Leute aus der Welt, wo wir herkommen."

Charmion schüttelt verwundert den Kopf.

"Das muß eine merkwürdige Welt sein!" sagt sie, "Alles, was ihr darüber erzählt, klingt so unlaubhaft. Ihr habt Angst vor der Höhe. Ihr habt Angst vor dem Tod. Ihr verbergt euch beim Scheißen und beim Spielen. Männer haben mindestens die gleiche Stellung wie Frauen oder im allgemeinen noch eine höhere. Ihr seid enorm viele, nachdem, was ihr erzählt habt. Und doch seid ihr schwach. Ihr eßt kein Fleisch."

"Kein Menschenfleisch!" korrigiere ich, "Fleisch schon."

"Hattet ihr nicht gesagt ..."

"Ich persönlich vermeide es, Fleisch überhaupt zu essen, außer wenn es sein muß, um nicht zu verhungern. Aber Menschenfleisch - nein."

"Auf dem Schiff hast du aber Menschenfleisch gegessen!" stellt sie fest.

"Ja. Zuerst versehentlich. Ich habe nicht gewußt, was es war."

"Und? Hat es geschadet?"

"Nein."

"Wird es noch schaden? Ist es für euch Gift?"

"Nein."

"Warum also?"

Ich möchte wissen, warum sie ausgerechnet jetzt mit Grundsatzdiskussionen über den Kannibalismus anfängt. Sie gibt sich so ruhig, als wäre sie in einem Hörsaal einer philosophischen Fakultät und nicht auf einem schwankenden Steg hoch über den Wolken über einem unterirdischen Meer. Allerdings, korrigiere ich mich selber, in einer philosophishen Fakultät kann ich mir Charmion auch nicht vorstellen.

Wie mache ich ihr meine Einwände gegen das Essen von Menschenfleisch klar?

"Es ist respektlos." versuche ich, "Menschen sind etwas besonderes. Das Erstaunlichste, was das Leben auf der Erde hervorgebracht hat."

"So?"

"Ja. Kein anderes Tier kann, was der Mensch kann, weil er einen Verstand hat, eine Seele." Hoffentlich habe ich die richtigen Xonchen-Worte getroffen.

"Und was hat das mit seinem Körper zu tun?" fragt Charmion, "Der ist so gebaut wie der Körper von anderen Tieren auch. Es gibt dieselben Organe. Nur die Formen sind unterschiedlich. Was ist also an Menschenfleisch besonderes?"

"Aber ihr tötet doch Menschen zum Zwecke der Nahrungsbeschaffung!"

"Nein!" entgegnet sie, "Wir töten unsere Feinde, und wir töten zur Strafe, und wir töten Menschen, die nutzlos sind oder gar anderen zur Last fallen oder ihnen schaden. Warum soll man den Körper solcher Menschen nicht nutzen? Was würde denn passieren mit Menschen, die tot sind und die man nicht ißt? Das Fleisch würde schlecht. Es würde stinken und zerfallen. Ist das nicht viel übler als es rechtzeitig zu essen? Was macht ihr denn in eurer Welt mit den Toten?"

"Wir graben sie ein." sage ich.

"Ihr macht was?" Unglauben zeichnet sich auf ihrem Gesicht.

"Wir graben sie ein. Manchmal werden sie auch verbrannt."

"Warum das denn?" fragt sie ganz entgeistert.

"Damit niemand ihre Ruhe stört!"

"Aber sie sind doch tot! Die stört doch sowieso nichts mehr!"

"Trotzdem. Wir sehen das so. Wir graben unsere Toten ein, damit noch etwas übrig bleibt. Ein Ort wo man hingehen kann."

"Wo wer hingehen kann?"

"Die Angehörigen der Toten!"

"Und was machen die da? Graben sie ihn wieder aus?"

"Nein, natürlich nicht. Man nennt das ein Grab. Es ist eine Stätte der Erinnerung. Der Tote bleibt da. Die Lebenden gehen dahin, um sich zu erinnern."

"Aber warum? Was macht der Tote da, in dem Grab?"

"Nun - er zerfällt. Im Laufe der Zeit."

Charmion schüttelt den Kopf. "Ich verstehe das nicht. Du wirfst uns vor, daß wir Fleisch von Menschen essen. Und ihr laßt eure Toten nutzlos in der Erde verfaulen. Ein ganzes Menschenleben laßt ihr zum Schluß verfaulen!"

"Aber ein Menschenleben ist doch nicht nur der Körper, der übrigbleibt!" engegne ich, "Die Erinnerungen ..."

"Was soll das heißen? Können sich die Lebenden nicht an die Toten erinnern, ohne daß sie ein Grab, oder wie ihr das nent, zu Hilfe nehmen müssen? Ist die Erinnerung nicht im Kopf? Sind eure Köpfe so schlecht?"

"Nein, das ist es nicht."

Mehr fällt mir nicht mehr ein. Charmion sitzt neben mir, sie sieht aus wie ein ungewaschenes Schulkind mit dem Körper einer Frau, ihre Anstrengung, mich den Klettersteig entlang zu tragen, sieht man ihr nicht mehr an, und sie will etwas über mich und über unsere Welt da oben wissen, in einem bis jetzt ungewohnten Anfall von Neugier oder Interesse. Und alles, was ich ihr sage, muß ihr wie Wahnsinn erscheinen. Ihre Logik gegen unsere. Ach was, mit Logik hat das ganze ja sowieso nichts zu tun.

"Wir glauben, daß der Körper eines Menschen nach seinem Tode wieder in den Kreislauf der Natur zurückgegeben werden sollte," versuche ich ein letztes Mal, "er wird begraben, und Pflanzen können sich von ihm ernähren."

"Wieso nur Pflanzen? Was ist daran so anders, wenn andere Tiere oder andere Menschen von diesem Körper profitieren? Wieso dürfen Pflanzen, was Tiere oder Menschen nicht dürfen?"

Zwecklos. Dagegen komme ich nicht an. Charmion sieht, daß ich mich geschlagen gebe. Sie scheint aber noch nicht fertig zu sein:

"Was macht ihr denn mit Menschen, die ihr töten müßt?"

"Wir müssen niemanden töten!"

"Niemanden?"

"Niemanden. Ausgenommen solche Fälle, wo sich jemand gegen einen Verbrecher zur Wehr setzen muß. Wenn es dann nicht anders möglich ist, dann darf man auch töten. Das nennt man bei uns 'Notwehr'. Aber es wird danach sehr genau untersucht, ob diese Tötung gerechtfertigt war. Der normale Weg ist, daß ein Verbrecher eingesperrt wird."

"Nicht getötet?"

"Nein, nicht getötet. Eingesperrt."

"Für welche Verbrechen?"

"Für alle. Die Länge des Eingesperrtseins hängt vom Verbrechen ab."

"Und wenn das Verbrechen im Töten von Menschen bestand?"

"Das nennen wir, je nach Schwere der Tat und nach der Absicht, die dahinter stand, Totschlag oder Mord. Im schlimmsten Falle heißt das, daß der Täter lebenslänglich eingesperrt wird."

"Aha. Wo hinein eingesperrt?"

"In ein festes Haus. Wir nennen das Gefängnis."

"Und da verhungert er?"

"Nein. Warum sollte er? Er wird ernährt bis an das Ende seiner Tage!"

"Von wem?"

"Von der Allgemeinheit."

"Das heißt, eure Verbrecher werden mit einer Art lebenslangem Unterhalt belohnt?"

Charmion findet auch immer wieder die Interpretation, gegen die am schwersten zu argumentieren ist. Ich muß zugeben, daß sie intelligenter ist als ich zunächst dachte. Oder ist das die direkte Fragemethode, die aus grenzenloser Naivität herrührt?

"Nein, das ist keine Belohnung," entgegne ich, "denn der Verbrecher ist nicht mehr frei. Er kann nicht mehr am Leben der Menschen teilnehmen. Er sitzt in einer Zelle."

"Und wenn er zufällig ein Mensch ist, dem diese Freiheit nichts bedeutet, dann ist er überhaupt nicht bestraft worden!" stellt Charmion fest.

"Das kann in Einzelfällen passieren. In seltenen Einzelfällen. Aber wir gehen davon aus, daß jeder Mensch frei sein möchte. Außerdem ist das Einsperren eine ziemlich gute Versicherung dagegen, daß der Verbrecher seine oder eine ähnliche Tat wiederholt."

"Das kann man mit dem Töten eines Verbrechers aber auch erreichen! Sogar noch viel besser!"

"Und," fahre ich fort, "einsperren ist nicht endgültig. Wenn sich später herausstellt, daß jemand anderes die Tat begangen hat, dann kann man den Verbrecher, der gar keiner ist und nie einer gewesen ist, wieder freilassen. Er bekommt dann sogar eine Entschädigung. Das wäre nicht möglich, wenn wir unsere Verbrecher hinrichteten!"

Charmion ist immer noch nicht überzeugt. Wie kann es überhaupt sein, daß jemand für ein Verbrechen haftbar gemacht wird, das er gar nicht begangen hat? Ich muß ihr etwas über die kriminalistische Beweisführung erläutern, und über den Begriff 'Indizienbeweis', und die Möglichkeit falscher Geständnisse. Und immer wieder Unglauben. Immer wieder der Hinweis auf die viel direkteren Methoden der Granitbeißer. Das Entfernen von unerwünschten Personen durch Tötung scheint für sie die Ultima Ratio der Sozialverträglichkeit zu sein.

Dann wechselt sie das Thema. Sie fragt nach Stammeskonflikten. Wenigstens fangen wir jetzt an, nebenbei etwas aus unserer Marschverpflegung zu essen, und ich übe, mit vollem Mund in der Xonchen-Sprache zu reden. Das ist gar nicht so einfach, bei dieser Häufung von Konsonanten.

Ich erläutere ihr, daß wir in unserer Welt nicht in Stämme, sondern in wesentlich größeren Kollektive eingeteilt sind, die man 'Nation' nennt. Natürlich kommen wir dann ganz zwangsläufig zum Thema 'Krieg'.

"Warum werden Kriege geführt?" will sie wissen.

Berechtigte Frage. Ich erzähle einige Beispiele aus der Geschichte. Dabei versuche ich, die Analogien mit ihren Stammeskonflikten herauszustellen. Das Dritte Reich und Hitler und die Judenverfolgung erwähne ich allerdings nicht. Ich fürchte, es wäre zu kompliziert. Zuviel Stoff auf einmal. Verstehen doch auch viele Menschen in unserer Welt nicht die psychologischen und psychiatrischen Grundlagen einer Ideologie wie die des Nationalsozialismus.

"Also werden in Kriegen wesentlich mehr Menschen absichtlich getötet als sonst?" stellt sie fest.

"Genau so ist es."

"Und im Krieg ist das Töten also erlaubt?"

"Das Töten des Feindes, ja. Es ist sogar unbedingt befohlen. Wer sich dieser Pflicht entzieht, kann eingesperrt werden. - Im Nachherein bestimmt natürlich die Siegernation, was recht war und was nicht."

Das scheint ihr wieder plausibel vorzukommen. Nur die Anzahl der Menschen ist eine deutlich unterschiedliche Größe. Charmion hat Schwierigkeiten, als ich versuche, in ihrem Zahlensystem ihr die Anzahl der Menschen in einer typischen Nation zu verdeutlichen. Ich weiß nicht, ob sie mir das glaubt. Sie weiß schon, daß in unserer Welt viel mehr Menschen leben als in der Welt der Granitbeißer, aber wieviel mehr, das entzieht sich ihrem Begriffsvermögen. Sie geht nicht weiter darauf ein, und ich auch nicht.

Eine ganze Weile essen wir schweigend weiter. Die Fladen, die uns in der Küche des Saurierfängers eingepackt worden sind, scheinen eine Mischung zwischen Brot und Wurst zu sein. Ich habe keine Möglichkeit, festzustellen, ob bei der Herstellung dieser Wurst Menschenfleisch verwendet wurde. Es ist das beste, ich denke nicht darüber nach.

Auch Charmion schweigt. Sie läßt sich einiges durch den Kopf gehen. Ebenso Chrwerjat, die sich an unserem Gespräch nur passiv beteiligt hat, bis auf die Stellen, wo ich sprachliche Hilfe brauchte.

Chechmirch und Chmerm finden Gefallen aneinander, stelle ich nebenbei fest. Ich sehe es an ihren Blicken. Sie sind noch nicht in dem Stadium, Hand aneinander zu legen, aber es kann nicht mehr lange dauern. Letztlich ist es mir auch egal. Seit wir in der Gesellschaft der Granitbeißer sind, befinden wir uns in einer Kulisse ständiger mehr oder wenig beiläufiger homo- oder heterosexueller Handlungen. Solange man nicht beteiligt oder zwangsbeteiligt ist, nimmt man es schon gar nicht mehr zur Kenntnis, sieht darüber hinweg, so, als ob man Zeuge einer Kopulation von Tieren wird.

Nein, korrigiere ich mich, bei Tieren haben wir das schon interessierter verfolgt. Das war auf dem Lanzarote-Urlaub vor fünf Jahren, auf der belebtesten Kreuzung des Ortes Puerto-del-Carmen. Mitten auf dieser Kreuzung waren zwei Hündchen, die mehr Leidenschaft als Auswahl bewiesen, beim Rammeln. Das Männchen schaute derweil, von seiner aufgerichteten Position, interessiert und hoheitsvoll den Verkehr an, während es unten das Weibchen unermüdlich weiter bearbeitete. Der Verkehr, also die Fahrer der PKWs rundherum, schauten interessiert zurück, denn die Kreuzung war natürlich vollständig blockiert. Das wiederum gab den beiden Hündchen die Gelegenheit, mit ihrem Tun fortzufahren.

Da wurde so manchens Seitenfenster runtergekurbelt und so manche Verbalinjurie verschiedener Stärke flog den Hunden um die Ohren. Andere amüsierten sich königlich, trotz der Zwangspause im Verkehrsfluß. Und die beiden Hunde sonnten sich im Lichte dieser ungewohnten Aufmerksamkeit, die ihnen von allen Seiten zuteil wurde. Vielleicht fühlten sie sich gerade deshalb ermutigt, ihre Semi-Akrobatik immer weiter zu treiben. Bis sie mit ihren kurzen, unwillkürlichen Trippelschritten den Gehsteig erreichten und plötzlich feststellen mußten, daß sich niemand mehr für sie interessierte.

"Wann wollen wir weitergehen?" frage ich. Eigentlich sollte ich das entscheiden, als formaler Leiter dieser Excursion. Aber diese Rolle habe ich mir schon längst abgeschminkt. Oder besser, Charmion hat sie mir abgeschminkt.

Es ist schon bald 8 Uhr, und zwei Stunden Pause sind genug. Ich möchte richtigen, festen Boden unter den Füßen haben, wenn die Schlafperiode kommt. Hier zu schlafen stelle ich mir unangenehm vor - bis zu einem gewissen Level des Halbschlafes kann man immer noch auf die eigene Lage aufpassen. Aber so müde wie ich bin werde ich in recht tiefen Schlaf versinken, und dann ist es möglich, daß man durch heftigere Bewegungen sich selbst von diesem Steg herunterschiebt.

"Wann wir wollen," antwortet Charmion, "von mir aus, sofort."

"Wo geht's überhaupt weiter?" frage ich, "Der andere Klettersteig dort geht wieder nach unten. Wir müssen doch rauf!"

"Dieses ist eine Verteidigungsstelle, die besetzt werden kann, wenn die Gefahr besteht, daß Gefangene ausbrechen sollten. Sie müßten dann ja hier vorbeikommen. Von diesem Steg aus kann sogar eine Einzelne jedes Hinüberwechseln von einem Klettersteig zum anderen verhindern, selbst, wenn hunderte im Anmarsch sind. Man schlägt ihnen einfach der Reihe nach die Hände ab, so, wie sie den Klettersteig hoch kommen. Dann fallen sie runter. Ganz einfach."

"Ganz einfach." stimme ich zu. Ich versetze mich in die Lage eines Gefangenen, der diesen zweiten Klettersteig hoch kommt, vielleicht schon verunsichert, weil er meint, der Abstieg vom Pilzberg müßte die ganze Zeit nach unten führen. Und dann steht hier jemand, der ihn partout nicht vorbeilassen wird. Ewig lang kann er auch nicht im Klettersteig hängen - das habe ich ja erst vor kurzer Zeit anschaulich erlebt. Eine unangenehme Situation.

Nein, hier möchte ich kein Gefangener sein. Diesen Berg kann man auf diesem Wege, gegen den Widerstand einer entschlossenen Gruppe von Bewachern, nicht verlassen. Es sei denn, man könne fliegen.

"Dieser andere Klettersteig geht nicht allzuweit runter. Gleich hinter jener Felswölbung, da hört er auf. Dann kommt wieder ein kurzes Tunnelstück, und dann wieder ein Klettersteig nach oben. Der geht dann durch bis zum Hängenden Ringweg." erläutert Charmion weiter.

"Nicht schon wieder!" murmele ich. Charmion sieht mich amüsiert an:

"Es ist nur noch dieses Stück abwärts, Cherwig. Der Klettersteig rauf ist anders konstruiert. Soll ich dich wieder tragen?"

Stolz und Vorahnung des kommenden Schwindels kämpfen in mir. Runter klettern ist noch schwieriger. Ich stelle mir meinen tastenden Fuß vor, der den tieferen Steigbügel sucht und ihn nicht findet, dann rutscht der andere Fuß runter ohne daß ich das mindeste dagegen tun kann, dann der Ruck in den Armen, die das ganze Gewicht tragen müssen, das verzweifelte Pendeln, um mit den Füßen wieder einen Steigbügel zu erreichen, die panischen Blicke auf die Wolkendecke unter uns.

"Was ist los mit dir? Du zitterst ja!" ruft Charmion. Auch die drei anderen Frauen sehen mich sehr interessiert an.

"Es tut mir leid," verteidige ich mich, "aber ich kann nichts dafür. Die Höhe macht mich eben krank!"

"Gut," entscheidet Charmion, "machen wir es gleich richtig. Ich trage dich."

Sie steht auf und geht den Steg entlang, bis sie neben dem zweiten Klettersteig steht. Ein kurzer Sprung in die Öffnung des Hufeisens hinein - ich halte den Atem an - und schon hängt sie völlig sicher an den Bügeln des zweiten Klettersteiges. Sie dreht sich um:

"Ihr nehmt wieder seinen Beutel und sein Schwert, ja!" ruft sie den anderen Frauen zu, "Komm her zu mir, Cherwig!"

21.9 Tritt ins Leere

Es wird ernst. Mir ist unwohl, als ich auf dem Steg neben sie trete. Zwischen ihrem Bauch, auf den ich mich wieder wie ein Faultier setzen soll, und dem Steg sind etliche Dezimeter Platz - genau wie auf dem anderen Schenkel des Hufeisens bei dem anderen Klettersteig.

"Also, rechtes Bein!" kommandiert Charmion, "Komm schon! Genauso wie vorhin! Nur in der umgekehrten Reihenfolge!"

Es ist schwierig, aber es geht. Mit einem weiten Spreizschritt kann ich meinen rechten Fuß über ihren Bauch schieben, wobei Charmion mir ihren rechten Arm zum Festhalten hinhält, weil ich ja mit dem Rücken zur Wand stehe und mich nirgends selbst festhalten kann. Gerade in diesem Moment werde ich mir besonders des ständigen, unregelmäßig flatternden Windes bewußt, und natürlich drücke ich auch den Steg wieder ein nur gerade eben fühlbares Stück von Charmion weg.

"Jetzt Gewicht verlagern!" sagt Charmion seelenruhig. Ich wäre nicht so ruhig, wenn ich, so wie sie jetzt, nur an einer Hand im Klettersteig hinge.

Ihr Bauch ist rutschig-klebrig. Wir haben alle geschwitzt. Aber eigentlich kann ich ja nicht abrutschen, da, weiter abwärts an ihrem Körper entlang ihre Beine in einem der Bügel verkeilt sind. Damit könnte sie sich vielleicht schon alleine festhalten.

Ich muß etwas Schwung nehmen, um symmetrisch auf ihrem Bauch aufsitzen zu können. Dabei könnte ich mir einen der Steigbügel in den Rücken rammen, stelle ich fest, denn zwischen ihrem Bauch und diesen Eisenbügeln ist sehr wenig Platz, eben weil sie ihre Unterschenkel hinter einem der tieferen Bügel verkeilt hat. Das ist wohl der Grund, daß mein Sprung zu verhalten ausfällt. Ich rutsche mit meinem rechten Bein von ihrem Bauch wieder herunter, während mein linkes Bein nutzlos zwischen Steg und Klettersteig zappelt.

Ich muß wohl schreien, aber alles geht zu schnell, und ich weiß nicht, was eigentlich passiert. Mein einziger Halt ist mein Griff mit meiner rechten Hand um ihren rechten Unterarm, und dieser Griff ist zu schwach. Außerdem spüre ich noch, wie sie mir mit Gewalt ihren Unterarm entwindet. Ich kann nichts dagegen tun, und als ich auf die Idee komme, etwas dagegen zu tun, ist es zu spät. Der Fall hat schon begonnen.

Ich weiß nicht, was und ob ich in diesen wenigen Millisekunden denke. Charmion rutscht aus meinem Blickfeld, und ich kann schwören, daß ich den Hufeisenförmigen Steg bereits aus einem flachen Blickwinkel von unten sehe. Die Wolkenschicht 500 Meter unter uns dränge ich aus meinem Bewußtsein, da sind keine Überlegungen, wann ich sie durchstoßen und wann ich die See darunter erreichen werde. Keine Planung. Sogar die Panik erstarrt. In dieser Sekunde hält die Welt an.

Aber die Welt meldet sich wieder, mit Macht. Ein Schmerz schießt mir aus meinem rechten Unterarm entgegen, und es ist, als wolle mir jemand denselben jetzt noch aus dem Körper reißen. Fast gleichzeitig schlage ich, herumgerissen durch die Kraft auf meinen Unterarm, auf die Felswand zwischen den beiden nach unten sich voneinander entfernenden Klettersteigen auf, schmerzhaft und böse, aus purem Zufall der dynamischen Anfangsbedingungen den Gesetzen der Mechanik folgend die harten Eisenbügel vermeidend. Als mein linker Arm nach oben schleudert, was er tut, da er in kurzen Millisekunden in sehr viele Richtungen schleudert, wird auch dieser schmerzhaft ergriffen. Dann werde ich wieder nach oben gerissen, mit solcher Wucht, daß ich das Niveau des Steges wieder übersteige. Im nächsten Moment lande ich auf Charmion's Bauch, diesmal quer, und wie ein Blitz schießt eine ihrer Hände über meinen Rücken hin, um ihr selbst wieder Halt zu geben. Ich begreife: Sie hat ihren Halt mit den Händen kurzzeitig aufgegeben und sich nach hinten, das heißt also nach unten, gebeugt, um mich im Fall noch zu ergreifen. Das Manöver wäre ihr nicht möglich gewesen, wenn sie ihre Füße nur auf die Steigbügel aufgesetzt hätte. Dann hätte sie mindestens den Halt einer Hand gebraucht, und sie hätte mich fallen lassen müssen.

Mir tut alles am Körper weh, von dem Aufprall auf dem Fels eben gerade. Auch ist meine jetzige Lage sehr unbequem, sowohl für mich als auch für sie. Sie muß mich mit einer Hand im Gleichgewicht halten, und so kann sie natürlich nicht klettern. Deshalb zwingt sie mich mit energischem Griff wieder in dieselbe Position zwischen ihrem Körper und dem Klettersteig, so daß ich mich an ihr in einer Pseudo-Kopulationshaltung festhalten kann. Damit kann ich ihr wieder in die Augen sehen.

Ihr Gesicht ist verzerrt von Anspannung. Es muß knapp gewesen sein. Begannen ihre Unterschenkel, schon aus dem Halt in den Eisenbügeln herauszurutschen? Ist sie verletzt? Einem normalen Menschen könnte bei diesem Manöver eine Bandscheibe herausgedrillt werden. Ist sie eventuell in dieser halben Sekunde ein Wrack geworden, das nur zufällig noch am Klettersteig hängt?

"Kannst du dich nicht festhalten? Lernt man in eurer Welt nicht das Gehen?" brüllt sie mich mit heiserem, gepressten Atem an, "Hast du denn überhaupt nichts gelernt?"

Und zu den anderen: "Wir gehen sofort." Dann wieder zu mir, in hartem, bellenden Tonfall: "Halt dich bloß fest. Sonst werfe ich dich ab!"

Ihr Abstieg ist hastig, ihre Bewegungen sind ansatzweise unkoordiniert. Ich habe Angst. Dabei ist dazu kein Grund: Für ein paar Sekundenbruchteile war der Tod mir sicher. Jetzt ist er nur noch wahrscheinlich. Das ist eine ungeheure Verbesserung.

Der Klettersteig führt schräg nach unten rechts, was die Kletterei nicht gerade einfacher macht. Der Klettersteig, auf dem wir gekommen sind, ist schon bald nicht mehr zu sehen, und dann verschwindet auch das Hufeisen hinter einer Wölbung der Felswand. Es sind nur zweihundert Meter, bis wir eine Tunnelöffnung erreichen, die ganz derjenigen gleicht, aus der wir vor unendlicher langer Zeit auf diese Kletteranlage hinausgetreten sind. Charmion windet sich hinein, wirft mich ab und schmeißt sich zu Boden. Sie atmet immer noch schwer.

21.10 Charmion's Schmerzen

Nach wenigen Sekunden betreten auch die drei anderen Frauen den Stollen. Sie machen sich sofort daran, Charmion zu untersuchen.

Chrwerjat wirft mir einen Blick zu, den ich nicht vergessen werde. Kritik und Abneigung und Verachtung und Schuldzuweisung in einem. Es könnte einem fast die eigenen Schmerzen vergessen machen. Aber nur fast.

Während die drei sich mit Charmion beschäftigen, stelle ich fest, daß mir außer einigen subkutanen Blutergüssen nichts passiert ist. Keine Sehne gerissen, kein Muskel wesentlich gequetscht, kein Gelenk disloziert, kein Knochenbruch, alle inneren Organe heil und keine Schäden an irgendwelchen Sinnesorganen. Eigentlich war bei einem Sturz über wenige Meter, der von einem anderen Menschen abgefangen wurde, auch nichts Schlimmeres zu erwarten, und ich kann mich unter diesen Umständen eigentlich glücklich schätzen.

Was mit Charmion ist, weiß ich nicht. Chrwerjat ist mit ihrer Untersuchung fertig. Sie dreht sich zu mir um.

"Es fehlt ihr nichts," sagt sie mit neutraler Stimme, "aber ich glaube, daß sie nah dran war. Nahe dran, abzustürzen. Das hat sie noch nicht erlebt."

Ich rutsche auf den Knien näher und beuge mich über Charmion, sehe ihr in die Augen. Sie liegt bewegungslos und sieht mich an. Was soll ich sagen? 'Also habt ihr doch auch Angst vor dem Tod!'? Nein. Sowas sagt man nicht seinem Lebensretter. Was sagt man denn dann, passenderweise? Ich denke schon an ein semi-heldenhaftes 'das nächste Mal laß mich bitte fallen!' Das geht aber auch nicht. Das würde ihre Bemühung um mein Leben entwerten. 'Könntest du mir das nicht vorher mitteilen?' wäre ihr logisch berechtigter Einwand.

"Wir rasten hier!" entscheide ich. Es liegt nahe, das zu tun, und niemand widerspricht. Ich nehme meinen Beutel, suche nach einem der Tücher, in dem die halben Brotfladen eingewickelt sind, und nach meinem Trinkwassergefäß. Dann fange ich an, Charmion's Gesicht von Schweiß und Dreck zu säubern, danach ihren Körper. Daß ich mich so fühle als habe ich mich mit einer Lokomotive geprügelt versuche ich zu ignorieren.

Während ich mich so um Charmion bemühe, sieht sie mich unverwandt an, ohne etwas zu sagen. Was mag hinter dieser Stirn jetzt vorgehen?

Ich ziehe sie völlig aus, um überall hinzukommen. Die anderen Frauen verfolgen, was ich tue, aber sie greifen nicht mehr ein. Als ich mit meinen Säuberungsarbeiten an ihren Beinen angekommen bin, sehe ich die Druckstellen, die die Eisenbügel ihr beigebracht haben.

Ich hatte gedacht, daß sie die Eisenbügel in ihren Kniekehlen hatte. Aber die Druckstellen sind viel tiefer, und tiefblau. Der Sturz muß passiert sein, als sie gerade dabei war, ihre Beine umzupositionieren. Der Hebelarm war extrem ungünstig. Daß sie das geschafft hat, das Gewicht von zwei Menschen auf diese Weise zu halten!

Als ich wieder ihr Gesicht ansehe, ist sie eingeschlafen. Ungewöhnlich, so früh. Die Schlafperiode sollte heute erst etwa um 11 Uhr beginnen.

"Gut. Schlafen wir jetzt. Oder könnte uns hier jemand stören?"

Keine der anderen Frauen hat Einwände, und so verteilen wir uns, so gut es geht, in dem engen Stollen. Ich lege mich neben Charmion. Irene möge mir verzeihen. Wie sieht es aus, mit den 'Rechten' auf persönliche Nähe, zwischen einer Lebensretterin und einer Ehefrau? Ich weiß es nicht. Ich will jetzt auch nicht darüber nachdenken. Nur schlafen und nicht von endlosen Stürzen träumen.

21.11 Tod und Zufall

Der Schlaf will jedoch nicht kommen. Ich bin zu aufgewühlt, und Charmion ist es auch. Kaum, daß sie einige Minuten mit geschlossenen Augen dagelegen hat, wird ihr Schlaf unruhig, und sie beginnt, sich hin und herzuwerfen. Ich weiß zwar nicht, wie sie normalerweise zu schlafen pflegt, weil ich bis jetzt ja kaum Gelegenheit hatte, sie dabei zu beobachten. Aber ich stelle mir vor, daß sie normalerweise so ruhig schläft wie sie sich im Wachen gibt.

Es ist so, daß sie soeben in eine vielleicht für sie völlig neue Situation geraten ist. Die Situation, dem Tod durch bloßen Zufall entgangen zu sein, und der Situation, daß sie die für sie gefährliche Situation selbst heraufbeschworen hat, indem sie, fast reflexartig, mir geholfen hat, obwohl sie dazu durch nichts gezwungen wurde.

Für sie ist bei dieser Excursion keine wirkliche Gefahr zu erwarten gewesen. Mit ihren Reflexen, mit ihrer Sicherheit der Bewegung in ausgesetztem Terrain, mit ihrer Ausdauer und ihrer Vertrautheit mit der Umwelt dieser Welthöhle ist diese Excursion für sie ein besserer Spaziergang. Und in der Tradition ist sie schon aufgewachsen: Immer war sie bei den Wettkämpfen ihrer Jugend die beste, bis zum heutigen Tage, nie ist ihr etwas mißlungen, was man mit körperlicher Kraft und Gewandtheit erreichen kann.

Auch ob ich die Excursion überlebe oder nicht ändert ihre Stellung und Lebenserwartung in dieser Welt wenig, ja genaugenommen wäre es für sie ja eine Genugtuung, wenn sie von dieser Excursion zurückkehren und erzählen kann, daß der Fremde verunglückt ist, weil er sich nicht einmal richtig hat festhalten können. Implizit ist das auch eine gelungene Kritik an Cherkrochj, die mich mit der Leitung dieser Excursion beauftragt hat, und nicht sie.

Und dann greift sie einmal daneben und muß erkennen, daß es für sie ein bloßer Zufall gewesen ist, daß sie gerade noch davon gekommen ist.

Gewiß, auch für sie lauert der Tod überall. Jederzeit kann ein Teil der Welthöhle einbrechen. Jederzeit kann sie in eine Konfrontation mit unbezwingbarer Übermacht auf der anderen Seite geraten. Jederzeit kann sie in einen Kampf mit einem der wilden Urweltungeheuer verwickelt werden, ohne vorher die Möglichkeit zu haben, sich den Kampfplatz sorgfältig aussuchen zu können. Diesen negativen Randbedingungen des Schicksals, wenn dasselbe denn solche für einen bereithält, kann man nicht entweichen. Aber aus einer für sie völlig sicheren Situation heraus, aus eigener Veranlassung und ohne einen Grund, den sie bei klarer Überlegung als ausreichend betrachten würde, sich in Lebensgefahr zu bringen, das muß für sie so sein wie für unsereinen, mit geschlossenen Augen bei Rot über eine Straßenkreuzung zu rennen, um auf der anderen Straßenseite ein unwichtiges Plakat zu lesen.

Vielleicht ist sie jetzt erst erwachsen geworden. Ein Stück wenigstens. Das wird man eben, wenn man etwas Überaschendes über sich selber lernt. Ihre Jugend war bis jetzt zu leicht. Sie war immer Sieger, immer auf ihrer Kräfte vetrauend, nie auf einen Zufall hoffend. Jetzt lebt sie noch von Gnaden eines Zufalls. Eine sekundenlange Unüberlegtheit, und plötzlich hat man von sich selbst ein ganz anderes Bild.

Ich selbst sollte die Situation kennen. Sind wir nicht hier, weil wir irgendwann auf unserem Abstieg in diese Welt einmal nicht genau genug überlegt und den Moment verpaßt haben, wo wir noch zurückkonnten? Ich denke an die steile Stufe vor dem allerersten Klettersteig, wo wir gleich danach feststellen mußten, daß wir nicht mehr umkehren konnten. Danach war für uns nur noch der Weg nach unten offen, aufgrund dieser einen Unüberlegtheit, sich etwas zu weit vorzuwagen. Das ist zweifellos eine richtige Aussage, auch wenn die prinzipielle Möglichkeit besteht, daß das Wetter auf dem Höllentalplatt so schlecht geworden wäre, so daß wir nicht die geringste Chance hatten, den Berg lebend wieder zu verlassen. Dann war natürlich die Entscheidung, in die Höhle einzusteigen, im Nachherein richtig gewesen. Dann hat es aber auch vorher irgendwann einen Zeitpunkt gegeben, an dem wir spätestens unbedingt hätten umkehren müssen. Vielleicht, damit kann ich mich etwas trösten, war zu diesem Zeitpunkt nicht der geringste Hinweis auf das kommende Unheil zu sehen. Die Gelegenheit zur Unüberlegtheit fand nicht statt, das Durchschreiten des 'Tors ohne Wiederkehr' war ein unbemerkter Vorgang. Wie oft im Leben mag man solche Tore durchschreiten, ohne es zu merken.

Charmion's Gesicht ist von Schweiß bedeckt. Es hat immer noch keine Linien, keine Falten, die einem menschlichen Gesicht Charakter und Geschichte geben. Mit zweiundzwanzig Jahren nimmt die Haut diese Spuren noch sehr unwillig an. Sie werden aber kommen - Chrwerjat kann mit ganz ordentlichen Krähenfüßen aufwarten, Cherkrochj hat ein Gesicht wie aus Leder, und die Alte mit dem unaussprechlichen Namen, die wir da unten auf dem Schiff des Forts umbringen mußten, sah ja nun wirklich aus wie ein Schrumpfkopf in Originalgröße.

Wenigstens ein sympathischer Zug in dieser Welt: Niemand versteckt seine Falten. Niemand versteckt das äußere Bild seines Ich's. Ich habe über den Kosmetik-Firlefanz, den die Frauen in unserer Welt treiben, hier noch nichts erzählt, und Irene wohl auch nicht. Ich denke, ich würde damit auch Überraschung und Unglauben auslösen. Wie kann man nur meinen, etwas von der eigenen Person durch Bemalen verstecken oder verändern zu wollen! Und doch ist das genau einer der beherrschenden Charakterzüge in unserer Welt: Vor dem eigenen Ich eine Fassade aufzubauen. Mit Kosmetik, mit Titeln, mit Pseudowissenschaft, mit unechtem Gehabe.

Ich wische Charmion's Gesicht trocken. Dabei wacht sie auf, unvermittelt, von einem Moment zum anderen. Sie sieht mich an. Sie scheint vollkommen klar zu sein, nicht der paar Sekunden zu bedürfen, die unsereiner braucht, um sich nach dem Aufwachen wieder in der Welt zurechtzufinden.

"Du schläfst unruhig." sage ich leise, um die anderen nicht zu wecken.

Sie sagt nichts. Sie kann die Fragen noch nicht ausdenken geschweige denn formulieren, die sie stellen wollte, an mich oder an irgend eine Instanz, die zur Antwort authorisiert ist.

"Du glaubst, du hast etwas falsch gemacht." stelle ich fest.

"Was weißt denn du!" erwidert sie, mit starrem Blick.

"Du glaubst es." wiederhole ich.

Der Wind fängt sich in der Stollenöffnung nach draußen, die nur wenige Meter von uns entfernt ist, wie immer ein warmer, schwüler Wind, der wenig Erfrischung bringt. Durch das helle Loch sehe ich in der Ferne einige Säulen die Wolkenschichten verbinden. Sogar die Schicht der leuchtenden Wolken ist wogenartig gewellt.

"Ich habe nichts falsch gemacht." sagt sie langsam.

"Du wärst besser dran, wenn wir nicht hier wären, wir aus der Außenwelt." vermute ich.

"Du verstehst nichts." sagt sie und schweigt dann wieder.

Die blauen Druckstellen an ihren Unterschenkeln werden noch eine Zeit bleiben, denke ich mir. Da sie sich immer noch nichts angezogen hat, kann ich weiter begutachten, ob und wo noch mehr Verletzungen sind.

Aber da sind keine. Auch liegt sie nicht in einer irgendwie verkrampften Haltung da, die auf gerissene Sehnen, beschädigtes Bindegewebe, gequetschte innere Organe und gesplitterte Knochen schließen lassen. Körperliche Schmerzen sind es jedenfalls nicht, die ihr im Moment zu schaffen machen.

'Du verstehst nichts.' hat sie gesagt. Meint sie, erraten zu können, was ich glaube, über ihre Gedanken verstanden zu haben? Das alte Spiel über allzuviele Indirektionen: Ich denke, was du denkst, daß ich es denke, oder noch besser, ich denke, was du denkst, daß ich es denke, was du denkst. Und so weiter. Um so viele Ecken herum irrt man sich leicht. Weder die deutsche Sprache noch die Xonchen-Sprache noch unser Denken überhaupt sind für die Verfolgung solcher Winkelschlüsse geeignet.

"Habt ihr vielleicht doch Angst vor dem Tod?" frage ich, und schon tut es mir leid, so direkt diese plumpe Frage zu stellen.

"Wenn er zu früh kommt, ja." sagt sie. Sie liegt da wie ein Mehlsack. Manchmal denke ich mir, daß es unmöglich wird, unsere Erlebnisse zu verfilmen. Eine aufregend schöne Frau, die nackt ist, liegt nicht da wie ein Mehlsack. Aber in dieser Welt tun sie es. In dieser Welt gibt es keine Erotik.

"Aber er wäre nicht zu früh gekommen." fährt sie fort.

"Finde ich doch. Ich will noch nicht sterben." bremse ich.

"Ich rede von mir."

"Und warum wäre er nicht zu früh gekommen?"

"Er wäre nicht umsonst gekommen."

"Das verstehe ich nicht." stelle ich fest.

"Das habe ich schon gesagt."

Sie schweigt. Sieht immer noch nicht aus, als ob sie mir erklären wollte, was ich nicht verstehe.

Sie dreht sich auf die Seite, den Rücken zu mir.

"Ich will schlafen." sagt sie, "deck mich zu!"

Ich greife nach ihren Klamotten, schon überlegend, wie man mit sowenig jemanden 'zudecken' soll, als sie das über ihre Schuler hinweg sieht:

"Nein, das nicht. Du. Komm her!"

Als ich nicht gleich reagiere, flüstert sie fast:

"Halt mich fest!"

Mir kommt ein schrecklicher Verdacht. Als ich, wie geheißen, mich an ihren Rücken lege, sie umarmend und die Wärme meiner körperlichen Berührung gewährend, die in dieser Welt wirklich niemand braucht, begreife ich. Ich begreife, daß ich jetzt erst in Gefahr laufe, die Irene wirklich zu betrügen.

Diese Welt ist ohne Erotik, das ja. Überall wird allgegenwärtig gefummelt, gerammelt, sich befriedigt, sich gegenseitig mißbraucht. Deshalb habe ich geschlossen, daß die sogenannten 'romantischen Gefühle' hier nicht bekannt sind.

Aber das ist nicht richtig. Weiß ich es nicht aus meiner früheren Jugend? Verliebtsein ist zwar mit Sexualität korreliert und deutlich durch sie gesteuert. Aber das ist es nicht nur. Wenn man es zum ersten Male erlebt, und das tut man eigentlich nur einmal, dann wird die ganze Welt eingefärbt. Eine Welle von Bedeutungen fließt durch alle Dinge, und alle Dinge stehen in neuen Relationen. Später können Worte nicht einmal einen müden Abklatsch davon erwecken, und es gibt auch keine Gelegenheit zur Wiederholung.

Die Welt schwingt in einer anderen Bedeutung, und es gibt einen Ausgangspunkt und einen Fokus dieser neuen Sicht, um den oder um die sich alles dreht. Ein 'du', dem man sich meistens noch nicht einmal zu nähern wagt. Sexualität liegt da noch ganz ferne. Wie ferne muß sie in dieser Welt erst liegen, in der gleichen Situation? Doch daraus zu schließen, daß es die Situation des Verliebtseins nicht gibt, das ist wohl falsch.

Charmion, denke ich, bloß nicht! Wie kann ich das stoppen? Ich bin verheiratet. Ich liebe dich nicht. Du hast mich zweimal vergewaltigt. Du bist zwanzig Jahre jünger als ich, eher mehr. Du bist stärker. Du kennst nur diese Welt, und ich nur unsere. Du bist eine Menschenfresserin.

Was wir gemeinsam haben ist wenig. Den aufrechten Gang vielleicht. Was noch? Gibt es denn in eurer Welt keine jungen, ansehnlichen Männer, oder wenn es denn sein muß, so wie die Männer hier behandelt werden, eine andere attraktive Frau? Bist du in einen bei euch sehr unüblichen Zustand geraten? Ist Verliebtheit ein Atavismus bei euch? Und warum dann gerade ich?

Ich denke das nur, ich sage es nicht. Ich liege unbequem, denn der Felsboden ist hart und uneben, Charmion's Körpertemperatur ist hoch, und für mich ist es in dieser Welt sowieso immer zu heiß. Eigentlich bräuchte ich meine ganze Körperoberfläche, um Schweiß zu verdampfen. Statt dessen muß ich Charmion 'nahe sein'. Wie soll ich Irene das erklären?

Naja, vielleicht ist es ja ganz nützlich. Schließlich wollen wir wieder nach Hause. Vielleicht kann Charmion da etwas für uns tun.

Sie schläft jetzt ruhiger, aber ich nicht. Langsam löse ich mich wieder von ihr. Wie man das macht, ohne daß der Partner aufwacht, lernt man ja in vielen Ehejahren.

Als ich mich umdrehe, sehe ich, daß Chrwerjat aufgewacht ist. Sie lehnt, halb aufgerichtet, mit dem Rücken an der Stollenwand und gräbt sich mit den Fingern rhythmisch zwischen die Beine. Hat sie uns beobachtet und ist dabei so erregt geworden, daß sie sich befriedigen muß? Schön, mal wieder unromatische und handfeste Handarbeit zu sehen zu bekommen!

Sie läßt sich nicht dadurch stören, daß ich ihr dabei zusehe.

"Macht Spaß, ja?!" frage ich in Xonchen, während ich mich zum Schlafen zwischen den Felshöckern umpositioniere.

"Ja." sagt sie ungerührt. Und macht weiter.

Ich schlafe ein, bevor sie fertig ist.

21.12 Das unsichtbare Tor

Es ist 20 Uhr, als ich von Bewegungen in dem Stolleneingang geweckt werde. Das entspräche der normalen Weckzeit. Also haben wir ordentlich lange geschlafen. Geistig erfrischt, aber mit einigen neuen Druckstellen, zusätzlich zu den gestern am Hufeisen erworbenen, setze ich mich auf.

Schweigend erledigen wir die Morgentoilette. Essensreste und Scheiße fliegt mit einigen Tritten aus dem Stolleneingang ins Freie. Dann ziehen wir uns vollständig an, gürten unsere Schwerter und unsere Tragebeutel um und brechen auf.

Charmion ist wieder ganz die alte. Arrogant und bissig. Als ich so sehe, wie sie die Klinge ihres Schwertes kost, während sie es in die Scheide gleiten läßt, würde ich ihr jede Fähigkeit zum Empfinden irgendwelcher romantischen Gefühle absprechen. Wahrscheinlich habe ich mich gestern mit meinen sowieso unkonkreten Vermutungen verrannt.

Den Stollen müssen wir wieder ohne Licht entlanggehen. Als wir losmarschieren, erklärt Charmion, was uns erwartet.

Zunächst macht der Stollen, etwa hundert Meter weit im Berg drinnen, eine Rechtsbiegung. Danach ist der letzte Rest des Tageslichtes verschwunden, aber da der Stollen immer einen konstanten Querschnitt hat, können wir uns gut orientieren, indem wir wie schon früher die Finger über die Felswände gleiten lassen. Charmion sagt, das bleibt auch den größten Teil des Weges so.

Trotzdem sind wir bereits, so sagt sie, in den ersten Absperreinrichtungen. Die Decke dieses Stollens besteht streckenweise in Wirklichkeit aus Felsquadern, Dutzende bis Hunderte von Tonnen schwer, die gerade eben durch Verkeilungen gehalten werden. Wie man diese auslöst ist bekannt, wenn auch nicht ihr persönlich, aber es ist noch nie geschehen, weil dann der Stollen für immer unbrauchbar wird, und man müßte den Aufwand treiben, entweder einen neuen Stollen zu bauen oder draußen, an der Felswand, eine weitere Steiganlage, etwa ein Segment einer Hängenden Straße.

Natürlich, sagt Charmion, sind diese Felsblockierungen von woanders so geschickt auslösbar, daß lange Stollenabschnitte beidseitig für immer abgesperrt werden können und auf diese Weise fliehende Gefangene im gewachsenen Fels eingesperrt werden können. Diesen Spaß, sagt Charmion, kann man sich nur einmal gönnen.

Das sind genau die Worte, die sie braucht: 'diesen Spaß'. Spaß heißt bei den Granitbeißern offenbar immer, daß jemand zu Schaden kommt.

Dann kommen wir an massive Tore, die im Fels verankert sind. Alle stehen offen. Sonst bräuchten wir Licht, um sie zu öffnen. Es handelt sich um Holz und sogar um Eisentore, die nur aus unserer Richtung kommend geöffnet werden können.

Das einzige, was wir von den Toren mitkriegen, sind Stellen, an denen unsere Hände nicht bis zur Felswand reichen, und ein paar Mal stoßen wir gegen Balken und Eisenteile - Angeln oder Stützen oder dergleichen. Dann durchzuckt mich immer ein Schreck, weil ich daran denke, daß wir irgendeine Falle auslösen könnten. Aber nichts passiert - das Tor ist und bleibt im wesentlichen unsichtbar und es tut uns nichts.

Danach ist der Stollen wieder normal. Nach ein paar hundert Metern hallt das Echo unserer Schritte von weit oben zurück, als ob sich eine große Öffnung über unseren Köpfen befände. Ich frage Charmion, aber sie weiß nichts darüber.

Dann ist endlich ein grauer Schimmer voraus, und der Gang macht eine Rechtsbiegung. Innerhalb einer weiteren Minute stehe wir wieder an einer Stollenöffnung. Der Ausblick gleicht immer noch dem schon bekannten Ausblick auf die Schäreninsel, die man durch gelegentliche Wolkenlücken sieht, und auf die nahen und fernen treibenden Wolken. Wir sind auch immer noch in einer Höhe von etwa 2300 Meter über dem Meeresspiegel und wahrscheinlich haben wir schon einen deutlichen Teil des Umfanges des Pilzberges in dieser Höhe zurückgelegt.

Die untere Kante des Stollenloches ist wesentlich dichter vor unseren Füßen als die seitlichen oder gar die obere Kante, Zeichen der starken Überhangneigung des Berges. Es müßten 45 Winkelgrade sein. So ungefähr.

"Ist dieser Steig dir recht, Cherwig?" fragt Charmion. Da ist wieder der alte Unterton des Spottes in ihrer Stimme, und sie bemüht sich nicht einmal, meinen Namen richtig auszusprechen.

Der Steig, auf den sie deutet, ist so abenteuerlich wie all die anderen. Er besteht wieder aus Metallbügeln, die aber wesentlich weiter sind als die Bügel der Klettersteige, die ich bis jetzt gesehen habe. Es handelt sich etwa um Quadrate von 60 Zentimetern Kantenlänge, die aus dem gebogenen Eisen mit dem quadratischen Querschnitt von etwa 3 Zentimetern bestehen. Die Bügel haben den üblichen Abstand von 30 Zentimeter voneinander.

"Hier kann man innerhalb der Bügel klettern." erklärt Charmion.

"Bleibt das auch so?" frage ich.

"Ja."

Der erste Bügel ist direkt über der unteren Kante des Stollenloches, vielleicht einige Zentimeter dahinter, dann geht es Bügel für Bügel über die Tiefe hinaus. Nach einigen wenigen Bügeln verschwindet der Steig aus unserem Blickfeld, indem er sich um die obere Kante des Stollenloches windet.

"Muß ich dich wieder tragen?" fragt Charmion.

"Nein," entgegne ich, vielleicht etwas zu heftig, "ich habe mich an die Höhe schon etwas gewöhnt!"

"Ach ja? Hast du das?" Etwas in ihrer Stimme warnt mich. Aber es ist schon zu spät.

21.13 Charmion's Launen

Charmion greift mich an den Schultern. Ehe ich es mich versehe, sitze ich knapp auf dem unteren Rand des Stollenloches, mit dem Rücken nach draußen. Charmion zwingt meine Beine lang auf den Boden, in Richtung auf das Stolleninnere. Ich muß mich mit den Händen auf der Stollenkante, wo der Boden des Stollens abbricht, abstützen. Ich spüre die Abwärtsrundung der Stollenkante im Hintern, und mein Gleichgewicht ist sehr marginal. Keinesfalls darf ich mich weiter nach hinten hinaus lehnen.

Charmion steht über mir, Füße auch auf der Stollenkante. Mit den Händen stützt sie sich am ersten Bügel der Steiganlage ab. Um meine Hilflosigkeit perfekt zu machen, steigt sie mir mit ihren Füßen auf die Hände. Mit ihren bloßen Füßen richtet sie damit zwar keine Verletzungen an, aber meine Hände sind eingeklemmt, und zwar so, daß ich mit den Händen keinerlei Halt gegen das Drehmoment nach hinten habe. Wenn ich nach hinten kippe, dann komme ich aus dem Gleichgewicht, ohne daß ich das mindeste dagegen tun kann. Meine Beine würden zwar, wenn ich sie im Knie nicht abwinkele, gegen ihren Hintern schlagen, dann hätte ich aber schon so eine Schräglage nach hinten unten, daß ich abrutschen würde. Jedenfalls, wenn sie dann von meinen Händen heruntersteigt.

Weiter nach vorne kann ich mit dem Oberkörper aber auch nicht, denn da ist Charmion's Hüfte meinem Kopfe im Wege.

Mit einem flinken Griff entledigt sie sich einhändig ihres Rockes und ihres Schwertes. Beides fliegt nach hinten.

"Nun komm schon," sagt sie, "leck mich sauber. Ich brauche das." Und ihre Hüfte bewegt sich nach vorne. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, muß ich mein Gesicht in das dunkle Gebüsch ihrer Schamhaare versenken. Lippen berühren Lippen.

"Muß das sein?" frage ich, so gut es eben geht.

"Gestern habe ich etwas für dich getan," stellt sie fest, "nun tust du etwas für mich. Das kannst du doch, oder? Wenigstens das kannst du doch?"

Ich habe wenig Wahlmöglichkeiten, das, was ich jetzt kann und was nicht, zu erläutern, und Charmion macht mir das in den nächsten Minuten genauestens klar. Die drei anderen Frauen stehen nur wenige Meter entfernt, und ich bin nicht einmal in der Lage, festzustellen, ob sie interessiert zuschauen oder gelangweilt von einem Fuß auf den anderen treten.

Nach einigen Minuten, als Charmion naß und erregt ist, reißt sie mich einige Meter mit sich in den Stollen hinein. Damit haben wir eine köstliche Entfernung zwischen uns und diesen Abgrund gebracht. Dafür bin ich ihr fast dankbar. Sie schmeißt mich jedoch einfach mit dem Rücken auf den Boden und setzt sich auf mich drauf. Dann müht sie sich ab, bei mir das zustande zu bringen, was das Bewußtsein der Tiefe hinter meinem Rücken bis jetzt verhindert hat.

Endlich wächst ihr ihr Spielzeug entgegen und sie stopft es in sich hinein.

"Die einzige Gefahr ist, daß vielleicht einige Bügel lose sind und rausrutschen könnten!" erklärt sie, während sie auf- und niedergleitet. Dabei paßt sie sehr genau auf, daß ihr nichts rausrutscht. Ihre Brüste schwabbeln filmreif auf und ab.

"Warum bewegst du dich so wenig?" herrscht sie mich an.

"Du bewegst dich doch!" entgegne ich trotzig. Das erscheint mir eine ausreichende Erklärung. Der Grad der Trotzigkeit, den ich mir erlaube, ist aber nicht sehr groß, da ich nicht schon wieder an die Stollenkante will.

"Ach was." Sie kommt richtig in Fahrt, "Wir müssen schnell machen. Wir müssen weiter. Mach endlich!"

Ich mache aber nicht. Das Bild von den rausrutschenden Eisenbügeln steht zu deutlich vor meinem inneren Auge.

Charmion hopst noch ein paarmal auf- und ab, dann steht sie urplötzlich auf.

"Ich mag nicht mehr," sagt sie, und zu Chrwerjat, auf mich deutend: "Mach weiter!"

Das klang wie ein Befehl, und das war auch ein Befehl. Chrwerjat kommt rüber, zieht im Gehen Rock und Schwert aus und setzt sich ohne Umstände auf mich drauf. Sie ist noch trocken, aber ich bin es nicht - Charmion's Sekrete ermöglichen ein rasches Eindringen.

Charmion setzt sich und lehnt sich gegen die Stollenwand. Sie sieht gar nicht her.

"Er läßt los und läßt sich fallen. Was seid ihr für Leute! Und spielen kann er auch nicht. Schlafft ab. Einfach so."

Chrwerjat, die so überraschend zu unerwarteten sexuellen Freuden gekommen ist, nutzt die Gelegenheit. Sie ist weniger wild als Charmion. Eher die stille Genießerin. Sie zieht mich rein und schiebt mich raus, wohl wissend, daß Charmion von einer Sekunde zur anderen den Abmarsch befehlen könnte. - Was ich befehlen könnte zählt ja nicht.

"Ihr seid jedenfalls nicht die Nachfahren der Menschen aus den Toten Städten." stellt Charmion fest. Das hatte ich sowieso noch nie angenommen, aber ich will Charmion nicht bei ihren historischen Erwägungen stören.

"Die konnten steigen. Wahrlich, das konnten sie. Die waren aus einem anderen Holz geschnitzt. Ob du jemals die schwebenden Städte von Ganch betreten kannst?"

Diesen Ortsnamen habe ich noch nie gehört. Chrwerjat vielleicht auch nicht, aber ich kann sie nicht fragen, weil sie im Moment so mit sich selbst beschäftigt ist. Oder mit mir, wie man es eben sehen will.

"Wir können es ausprobieren!" schlage ich vor.

"Nee." wehrt Charmion ab, sagt aber nicht, warum. Ein Schauer läuft durch den drahtigen Körper von Chrwerjat, dann noch einer.

"Seid ihr bald fertig?" fragt Charmion.

"Sind wir bald fertig?" frage ich Chrwerjat. Sie knautscht sich inzwischen selbst ihre knabenhaften Brüste, vielleicht, weil ich keine Anstalten mache, das zu tun. Antworten tut sie nicht.

"Sie denkt darüber nach." sage ich zu Charmion. Ich habe das Gefühl, daß sie meine Feststellung ernst genommen hat. Sie wartet.

Ich auch. Chrwerjat bekommt die Zeit, die sie haben will.

Es geht eine ziemlich lange Zeit, aber schließlich geht es bei mir nicht mehr. Zuviel davon in letzter Zeit. Chrwerjat sieht das irgendwann ein und steigt mit einer Miene des Bedauerns von mir herunter.

"Tut mir leid, sie hat mich leer gemacht!" sage ich ihr und zeige auf Charmion. Chrwerjat zuckt mit den Schultern. Es ist unwichtig. Hier sind solche Dinge unwichtig. Was heute nicht funktioniert, funktioniert morgen. Oder es wird weggeworfen. So ist das.

Ohne weitere Diskussionen ziehen wir uns vollständig an, nehmen unsere Sachen und machen uns wieder abmarschbereit.

Dabei sehe ich auf meiner Armbanduhr, daß gerade Mitternacht vorbei ist.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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