Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



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******** 020. Tag: Donnerstag 95-09-07 ********

Wir gehen auf das Deck hinunter. Dort ist noch keine größere Hektik wegen der bevorstehenden Landung auf Casabones ausgebrochen, so daß mir unklar ist, warum Chechmon den Unterricht so schnell hat abbrechen müssen.

Am Fuße der Wanten, die vom vorderen Masthaus herunterführen, und die wir jetzt heruntersteigen, steht Charmion mit einige Frauen der Mannschaft. Sie reden irgend etwas miteinander. Als Charmion uns kommen sieht, sagt sie zu den anderen etwas, und die ganze Gruppe begibt sich ohne Hast in das Deckshaus.

Wahrscheinlich ist es Charmion unangenehm, uns zu sehen und von uns gesehen zu werden. Vielleicht sinnt sie auch auf Vergeltung. Ich fürchte, ich muß in der nächsten Zeit wachsam sein. Wahrscheinlich wäre es kein Weltuntergang, von dem stinkenden Mädchen vergewaltigt zu werden, aber es besteht ja die Gefahr, daß sie sich zur Sanierung ihres Selbstbewußtseins etwas Schlimmeres ausdenkt.

Es hat zu regnen aufgehört, und die Sicht ist wieder weit geworden. Wir sind wieder auf einem so großen See, wie wir ihn schon mal durchfahren haben. Damals habe ich ihn 'Säulenwaldsee' getauft, da muß ich mir, trotz mancher Ähnlichkeiten, diesmal einen neuen Namen einfallen lassen.

Bevor wir das Masthaus verlassen haben, habe ich noch kurz einen Blick auf den Kompaß geworfen und mich davon überzeugt, daß wir immer noch in Richtung Nordnordost fahren. Jede andere Richtung hätte ich auch geglaubt, und ich muß auch jede andere Richtung prinzipiell für möglich halten - immerhin könnten ja Erzlager das Erdmagnetfeld hier so verformen, daß kaum noch eine Relation zur Richtung der Magnetnadel an der Oberfläche der Erde vorhanden ist.

Westlich von uns ist ein dunkles Gebiet. Dort ist die Decke der Welthöhle so niedrig, daß sich darunter nicht die leuchtenden Wolkenschicht ausbilden kann. Dieses Gebiet fängt in vielleicht zwölf Kilometern Entfernung an, wieweit es sich hinter dieser Dunkelheit fortsetzt, weiß ich nicht. Die Säulen, die dort die Höhlendecke tragen, haben vom Wasserspiegel aus gerechnet nur eine Höhe von vier oder fünf Kilometern.

Im Osten setzt der See sich, soweit man sehen kann, unverändert fort. Erst in zwanzig Kilometern Entfernung sind Gebirgshänge zu sehen, die dort ununterbrochenes Land vermuten lassen.

"Wo Casabones wohl ist?" fragt Irene.

"Da wir dorthin fahren, müßte es im Norden sein. Gehen wir auf das Vorschiff, vielleicht können wir es von dort aus sehen." schlage ich vor.

Wir können es in der Tat sehen, weil uns vom Vorschiff keine Segel mehr die Sicht versperren. Es gibt keinen Zweifel, daß das, was wie ein mächtiger Pilz in vier Kilometern Entfernung drohend vor uns aufragt, Casabones sein muß.

Es ist eine Säule. Eine gigantische, abgebrochene Säule. Unten, an der Basis, muß sie einen Durchmesser von etwa drei Kilometern haben. Ohne jedes Vorgebirge ragt sie aus dem Wasser auf.

Etwa einen Kilometer über der Wasseroberfläche beginnt der Durchmesser der Säule zuzunehmen und erreicht in zwei Kilometern Höhe vielleicht vier Kilometer. In drei Kilometern Höhe sind es fünf, in vier Kilometern Höhe sind es sieben, und in knapp fünf Kilometern Höhe etwa zehn Kilometer Durchmesser.

Dort oben ist, deutlich sichtbar, die Säule rundherum abgebrochen. Dort ist einfach eine Kante, die gelegentlich in der leuchtenden Wolkendecke, und an einigen Stellen darunter ist. Hinter und über dieser Kante ist Land. Wie es aussieht, ob es bergig oder flach ist, können wir aus dieser Perspektive nicht erkennen. Ebenso ist es nicht möglich, zu sehen, ob es dort noch eine Restsäule bis zur Höhlendecke gibt. Wenn nicht, dann ist dieser über 45 Grad überhängende Überhang in der Tat ein absolutes Fluchthindernis.

Rund um die Säule herum, in etwa vier Kilometern Entfernung von ihrer Wasserlinie, gibt es bergige und felsige Inseln, die an norwegische Schären erinnern. Einige zeigen Berge, die bis zu 500 Meter hoch sein mögen, andere sind bloße Riffe. Nur wenige sind stellenweise von Urwald bewachsen. Sie alle umgeben den großen, pilzförmigen Berg in einem Ring, der etwa zehn bis vierzehn Kilometer Durchmesser hat. Es handelt sich wahrscheinlich um Reste des Abbruches der Säule. Oben, vom Rande des Pilzes, würde man diese felsigen Inseln gerade unter sich sehen.

Von der Wasserlinie dieses Pilzes sind wir noch acht Kilometer entfernt, und von dem Felseninselring noch drei bis vier Kilometer. Noch sehen wir nicht, welchen Weg das Schiff durch die Felseninseln einschlagen wird.

Aber die Eignung dieses Pilzberges als absolutes Gefängnis ist evident. Ohne technische Hilfsmittel sind diese kilometerweiten Überhänge völlig unbezwingbar. Wie man da wohl hinaufkommt? Stollen im Inneren, oder Kletteranlagen, oder wieder Hängende Straßen? Irgendwie muß es ja möglich sein.

"Da kommt niemand runter!" spricht Irene meine Gedanken aus.

"Außer mit Fallschirmen." stelle ich fest.

"Die haben sie nicht." sagt Irene.

"Noch nicht." sage ich cryptisch. Wenn ich an die Segeltechnik denke, die sie hier haben, und an die höhere Luftdichte, dann ist ja die Idee eines Fallschirmes gar nicht soweit hergeholt. Theoretisch wenigstens.

Irene sieht mich fragend an. Aber ich kann nicht weiter reden, weil Chrwerjat zu uns kommt.

Wir beginnen sofort mit ihr ein Gespräch. Das ist unverfänglich, weil es sich um die logische Fortsetzung von Sprachuntericht handelt. Auf diese Weise erfahren wir weiteres von Casabones.

Ein Teil unserer Ladung ist für Casabones bestimmt, und zwar hauptsächlich für das Bewachungspersonal. Die Gefangenen können sich von dem, was das Land auf dem Pilz hergibt, weitgehend selbst versorgen.

Das Bewachungspersonal ist nicht sehr zahlreich. Es handelt sich um einige Dutzend, während die Anzahl der Gefangenen da oben auf dem Pilz einige tausend sein muß. Genau weiß Chrwerjat es auch nicht.

Was das für Gefangene sind? Hauptsächlich Männer, viele von fremden Völkern. Von diesen sind auch Frauen dort interniert - wahrscheinlich. Sicher ist es nicht. Strafgefangene weniger, da die Granitbeißer ja die Neigung haben, Straftaten sofort mit dem Schwert zu ahnden. Deshalb ist der Begriff des Strafgefangenen an sich unbekannt. Ich habe den Eindruck, daß es sich um ein Reservoir von Arbeitskräften handelt, also Sklaven, vielleicht auch solche Gefangenen, für die man eine Art Lösegeld erpressen kann, und solche Menschen, für die in der Welt der Granitbeißer einfach kein Platz ist.

Wie kommt man da hoch, will ich wissen. Chrwerjat erzählt, daß wir zunächst in einer Bucht einer Insel des Schärenringes anlegen werden. Dort ist ein Fort, wo sich das Bewachungspersonal aufhält.

Dort gibt es auch einige kleinere Segelflöße, mit denen man die Wasserlinie des Pilzberges Casabones selbst erreichen kann. Da gibt es nur an einer einzigen Stelle einen Klettersteig. Nach der Beschreibung scheint es so ein Klettersteig zu sein, wie wir ihn zum Schluß benutzt haben, als wir auf das Niveau der Toten Stadt abstiegen. Aber die Beschreibung ist ungenau - ich habe den Eindruck, daß Chrwerjat noch nicht selbst dort war und sich auf andere Quellen verläßt.

Auf diesem Klettersteig kann man dreitausend Höhenmeter an der Wand des Pilzes überwinden. Zum Schluß ist das, wegen der überhängenden Neigung der Felswand, ganz schön schwierig - jedenfalls stelle ich mir das so vor. Ob es irgendwelche Möglichkeiten gibt, sich zwischendurch auszuruhen, erfahre ich nicht. Chrwerjat weiß nichts davon. Was sie noch weiß ist, daß in dreitausend Metern Höhe eine schmale Hängende Straße um den ganzen Berg herumführt - mehr ein hängender Weg. Dieser Weg hat eine Länge von 15 Kilometern, weil der Pilz dort schon einen Durchmesser von 5 Kilometern hat. Er dient dazu, alle überhängenden Flächen des Pilzes zu inspizieren, ob nicht irgendwo heimlich ein weiterer Hängender Weg durch Gefangene gebaut wird. Allerdings sind die Gefangenen noch nie auf die Idee gekommen, ein solch aufwendiges Unternehmen zu ihrer Flucht in die Wege zu leiten. Jedenfalls ist nichts dergleichen bekannt geworden.

Der weitere Weg nach oben, auf die Oberfläche des Pilzes, ist ein Stollen, der mit vielerlei Sperreinrichtungen gesichert ist. Einzelheiten weiß Chrwerjat nicht, auch nichts von Aussehen und Größe des Forts an der Stelle, wo dieser Stollen die Oberfläche des Pilzes erreicht.

Jedenfalls sei eine Flucht von diesem Berg völlig unmöglich, belehrt sie mich. Ein Sprung von der Kante würde nach fünf Kilometern Fall auf das Wasser oder auf die Felsen absolut tödlich sein. Ein Seil von der nötigen Länge und Haltbarkeit könnten sich die Gefangenen mit ihren Mitteln nicht herstellen. Und außerdem werde der Berg ja ständig ganz genau beobachtet.

Ich beobachte den Berg jetzt auch ganz genau, weil ich den Hängenden Weg rund um den Pilz herum sehen will. Aber es scheint sich um eine sehr sparsame Einrichtung zu handeln. Ich kann nichts finden. Vielleicht, wenn wir näher dran sind.

Ein unangenehmer Gedanke beschleicht mich: Sollen wir da auch hin? Schließlich sind wir Gefangene. Logisch wäre es. Andererseits hatte ich den Eindruck, daß die Kommandantin uns nach Grom bringen will.

Wir werden es abwarten müssen.

20.1 Anschiß

Während wir mit Chrwerjat sprechen, taucht Charmion auf dem Vorschiff auf. Sie ist, zur Abwechslung, vollständig angezogen, und sie trägt nicht nur ein Schwert, sondern auf völlig überflüssigerweise einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen. Ich sehe ihr die schlechte Laune deutlich an. Sie möchte uns irgendwie ärgern, weiß aber noch nicht, wie. Vielleicht sollte man ihr zuvor kommen. Aber wie?

Da Charmion sich nicht direkt an uns herantraut, sucht sie sich ein anderes Opfer. Sie entdeckt es auch sogleich - nicht weit von uns entfernt ist ein Mann der Besatzung dabei, einige Rollen Tauwerk auseinander zu sortieren und als saubere Rollen aufzustapeln. Diese Taue haben sich bei irgendwelchen Decksarbeiten gründlich verheddert, und der Mann hat Mühe, diese Seile zu entflechten. Plötzlich steckt zwischen seinen Händen ein Pfeil in dem ungeordneten Seilhaufen.

Charmion schultert den Bogen wieder und tritt vor den Mann, der in Bewegungslosigkeit verfallen ist.

"Was ist denn das für ein Dreckhaufen?" fragt sie.

Der Mann setzt mit Erklärungen an, wieso die Taue sich verheddert haben, aber Charmion läßt ihn nicht ausreden. Ich trete näher heran, um mir das anzuhören, und Irene und Chrwerjat folgen mir.

Charmion nimmt eine der sauber aufgerollten Rollen auf und rollt sie mit einem Schwung quer über das Deck.

Die Rolle kommt nicht weit, bevor sie sich völlig zerlegt. Aber weit genug: Cherkrochj hat soeben, vom seitlichen Niedergang des oberen Geschoßes des Deckshauses komment, das Deck betreten. Die Reste der Taurolle zerlegt sich genau vor ihren Füßen. Sie fällt deshalb zwar nicht hin, aber sie ist gezwungen, still zu stehen. Stirnrunzelnd sieht sie in die Richtung, aus der die Rolle gekommen ist. Dort hat Charmion inzwischen gemerkt, daß sie fast der Kommandantin etwas auf den Fuß geworfen hat.

Cherkrochj tritt näher:

"Was soll das?" fragt sie.

"Dieser Mann," erklärt Charmion, "verknotet Seile bis zur Unbrauchbarkeit."

"Dann soll er es aufräumen." entscheidet Cherkrochj kurz und will sich abwenden. Charmion zieht den Pfeil aus dem Kuddelmuddel aus verknoteten Tauen und zieht dem Manne einen Schlag über den Rücken:

"Los. Aufräumen!" befiehlt sie.

Jetzt reicht es mir. Mal sehen, ob wir die Hierarchen dieses Schiffes noch etwas gegeneinander aufbringen können.

"Kommandantin," sage ich laut und vernehmlich im Xonchen-Dialekt, "diese Frau ist dabei, diesen Mann an seiner Arbeit zu hindern. Muß das sein?"

Eisiges Schweigen. Jeder in Hörweite hat aufgehört zu arbeiten. Etwas ungeheuerliches ist passiert. Ein Mann hat eine Frau kritisiert. Was wird jetzt geschehen? Wird der Kritiker sofort erschlagen? Ich bin mir ziemlich sicher, daß mir das Schicksal erspart bleibt.

"Kommandantin," fahre ich fort, "die Dienstauffassung der Charmion ist überhaupt etwas merkwürdig. Charmion, gibt es da nicht etwas, was Sie erzählen wollen?"

Es gibt in der Xonchen-Sprach nicht die Anrede 'Sie'. Förmlichkeit ist eine Sache des Tonfalls. Denn habe ich wohl deutlich genug hingekriegt.

Das Schwert der Charmion ist blitzschnell draußen. Ein schwirrender, glänzender Bogen in der Luft, dann ein funkenziehendes Klirren nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Charmion's Schwert zerspringt, die Bruchstücke schwirren gefährlich durch die Luft, aber keiner von uns wird getroffen.

Cherkrochj hat den Hieb von Charmion, der mich in zwei Teile zerteilen sollte, gerade noch gestoppt. Viel hat aber nicht mehr gefehlt. Mir wird schlecht, als mir das klar wird.

"Bist du denn wahnsinnig?" höre ich Irene's atemlos flüsternde Stimme. Sie wird sofort von dem schneidenden Ton der Stimme Cherkrochj's unterbrochen:

"Wenn jemand die Gefangenen tötet, dann bin ich es. Verstanden?"

Charmion hat verstanden. Sie läßt den nutzlos gewordenen Schwertgriff fallen.

Cherkrochj wendet sich an mich: "Was ist passiert?"

Trotz meiner weichen Knie schildere ich in möglichst entschlossenen Worten den Vorfall von gestern abend. Ich mache die Tölpelhaftigkeit, mit der sich Charmion das Schwert hat abnehmen lassen, besonders deutlich. Charmion steht dabei und sagt kein Wort.

"Habe ich irgend etwas vergessen, ungenau oder verfälscht gesagt?" frage ich zum Schluß, mich direkt an Charmion wendend. Sie schüttelt den Kopf. Sie denkt vielleicht daran, zu leugnen. Aber da ist noch Irene, die Zeuge des ganzen Vorfalles war. Und Irene ist auch eine Frau und damit glaubwürdig. Es stände ungünstig für sie.

Cherkrochj überlegt. Eine schwierige Situation. Man kann nicht einfach einen Offizier vor allen Mannschaftsdienstgraden heruntermachen, ohne die Disziplin zu gefährden. Aber die Sache mit dem entwendeten Schwert kann man auch nicht so einfach auf sich beruhen lassen.

"Was ist mit diesen Seilen?" fragt sie. Ich erkläre kurz, was ich beobachtet habe.

"Es stimmt, was er sagt." pflichtet Chrwerjat bei. Auch Irene nickt. Der Mann ist rehabilitiert, Charmion steht doppelt überführt da.

"Räum die Seile auf!" befiehlt Cherkrochj dem Mann, und zu Charmion: "Du kommst mit."

Dann gehen sie. Was wird das jetzt? Anschiß unter vier Augen?

Wir gehen wieder weiter nach vorne auf das Vorschiff, auch um den Mann von unserer Gegenwart zu befreien.

"Was passiert mit ihr?" frage ich Chrwerjat.

Sie weiß es nicht. Solche Vorfälle wie diese eben sind noch nicht vorgekommen. Außerdem wird eine Maßregelung und die daraus resultierenden Folgen nicht unbedingt jedem mitgeteilt. Deshalb bleiben uns nur fruchtlose Mutmaßungen.

20.2 Schärennavigation

Um 2 Uhr morgens sind wir im Schärengebiet. Ich muß Cherkrochj bewundern, wie sie die engen Durchfahrten mit diesem schwer zu manövrierenden Schiff schafft. Eine Strandung wäre bei dem schwachen Wind zwar nicht unbedingt gefährlich, aber unter ungünstigen Umständen könnte es aufwendig werden, das Schiff wieder flott zu kriegen.

Wir bleiben auf dem Vorschiff, auch Chrwerjat, die, wenn auch jetzt nicht mehr sehr konzentriert, den Sprachunterricht fortsetzt. Es ist mehr eine Art Smalltalk. Das erfüllt natürlich auch den Zweck. Und unserer weiterer Aufenthalt auf dem Vorschiff sollte uns allen viel Ärger ersparen.

Während wir nämlich müßig die vorbeiziehenden Inseln betrachten, fällt mir, auf der relativ breiten Durchfahrt, die wir im Moment befahren, ein Doppelwirbel auf, vielleicht dreihundert Meter vor dem Schiff. Und wir fahren genau drauf zu! Cherkrochj sieht es nicht, da stehen ihr Segel im Wege, und der Ausguck sitzt im Moment wohl auch auf den Augen, denn er oder sie meldet nichts, obwohl es aus dem Krähennest doch noch viel deutlicher zu sehen sein muß. Irre ich mich?

Ich springe zur Seite, so, daß Cherkrochj mich vom mittleren Masthaus aus sieht. Mit wilden Gebärden versuche ich ihr, klarzumachen, daß sie nicht weiter geradeaus fahren darf.

"Links, links!" rufe ich im Xonchen-Dialekt. Da ist noch genug Platz zwischen der Untiefe und dem Ufer der nächsten Insel. Rechts wäre auch noch Platz, aber das Xonchen-Wort für 'rechts' ist wesentlich schwerer auszusprechen, außerdem kann ich Wörter, die nur noch aus Konsonanten bestehen, nicht laut schreien. Wer das nicht glaubt, sollte das Alphabet nehmen, alle Vokale herausstreichen, die restlichen Konsonanten gut durchmischen und über das Thema vor dreitausend Leuten eine Rede halten.

Cherkrochj hat verstanden und folgt mir: Das Schiff schwenkt träge herum. Wenig später zieht die Untiefe an unserer rechten Seite vorbei, deutlich zu erkennen. Auch Cherkrochj muß jetzt sehen, daß ich recht hatte.

Der Ausguck wird hörbar herunterbefohlen, und jemand anderes steigt hinauf.

"Sieh mal!" sage ich zu Irene, "wer ist denn das?!" Rhetorische Frage. Es war Charmion, die als Ausguck kurzfristig eingeteilt worden war und die die Untiefe nicht gemeldet hat.

"Jetzt muß sie sich warm anziehen." sagt Irene befriedigt.

"Ja. Jetzt ist sie reif. Zuviel in zu kurzer Zeit." denke ich laut nach, "Aber ich will nicht, daß sie getötet wird!"

"Warum denn nicht?" fragt Irene verwundert, "Sie gefällt dir wohl?"

"Mag sein, daß mein Unterbewußtsein auf ihr bloßes Aussehen fliegt. Aber sie ist eine völlig unerotische Erscheinung, wenn man sie näher kennt." stelle ich achselzuckend fest, "Aber auf was ich hinaus will ist etwas anderes. Die macht Fehler. Die wird noch mehr Fehler machen. Zu impulsiv. Zuviele Entscheidungen aus einer augenblicklichen Laune heraus. Wir brauchen sie deshalb als Kontrastprogramm zu uns selbst. Das ist für uns ein Glücksfall. Deshalb darf sie nicht sterben."

Irene zweifelt daran, aber ich mache mich auf den Weg ins mittlere Masthaus. Ich muß die Kommandantin sprechen.

20.3 Beförderung

Cherkrochj scheint zuerst ungehalten, als ich zu ihr ins Masthaus trete. Meine Bitte, Charmion nicht zu bestrafen, versetzt sie jedoch in baßes Erstaunen.

Während sie dennoch konzentriert den Weg durch die Inseln weitersteuert, schickt sie die Frau an ihrer Seite - sie heißt, glaube ich, Chibargch und ist mir noch nicht besonders aufgefallen - weg, um Charmion zu holen. Eine Weile sagen wir nichts, uns ich versuche, die teilweise abgedeckte Mechanik der Übertragung für die Ruderwirkung zu verstehen. Es scheint sich um einen Seilzug zu handeln, was eigentlich naheliegend ist. Ich muß irgendwann einmal nachsehen, wo dieser Seilzug zwischen diesem Ruderhaus und dem Ruder verläuft.

"In Ihrer Welt sind Männer anders." stellt Cherkrochj fest. Es war mehr eine Frage.

"Ja." sage ich, "Es gibt kaum gesellschaftliche Unterschiede zwischen Mann und Frau. Früher wurden Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt, aber das hat sich im Laufe der Zeit gegeben."

Das ist eine grobe Vereinfachung, was ich ihr damit erzähle, aber wir wollen jetzt keine Erbsen zählen. Außerdem ist jetzt nicht der Platz für ausgedehnte gesellschaftspolitische Eräuterungen.

"Tatsächlich?" fragt Cherkrochj. Sie läßt nicht erkennen, ob sie mir glaubt oder nicht. Sie schweigt wieder eine Weile.

"Sie wissen, daß wir immer noch nicht überzeugt sind, daß es Ihre Welt wirklich gibt, so, wie Sie es erzählen. Andererseits - alles, was sie darüber erzählen, ist so vollständig in sich schlüssig. Sie können es sich nicht alles ausgedacht haben!"

"Doch, das kann ich schon!" entgegne ich, und krame dann weiter alle meine Xonchen-Kenntnisse zusammen: "Wir haben professionelle Geschichtenerzähler. Man nennt sie Schriftsteller, weil sie ihre Geschichten aufschreiben. Dabei müssen diese Geschichten in sich stimmig sein, damit man nicht sofort merkt, daß es sich um eine Geschichte handelt. Und mit so einer Geschichte denkt sich ein Schriftsteller ja immer eine Welt aus. Die muß stimmen. Die muß möglich sein. Also, wenn ich es darauf anlegte, dann könnte ich mir schon eine Welt ausdenken."

"Sie sind Schriftsteller?"

"Nein, wieso?"

"Weil Sie von sich selbst behaupten, daß sie sich eine Welt ausdenken können, wenn sie es nur versuchten."

"Ich habe mal Geschichten geschrieben, das ist richtig. Aber ich verdiene meinen Lebensunterhalt nicht mit der Schriftstellerei."

"Aha."

Ob es das Konzept 'den Lebensunterhalt verdienen' bei den Granitbeißern so überhaupt gibt, und ob ich es in der Xonchen-Sprache überhaupt richtig ausgedrückt habe, erfahre ich nicht. Es ist immer wieder dieselbe Beobachtung: Zwischen sehr unterschiedlichen Kulturen kann man auch bei guter Kenntnis aller beteiligten Sprachen kaum Konzepte vermitteln, ohne daß sie bei dem bloßen Versuch eine Änderung erfahren. Zu sehr reflektiert eine Sprache Kultur und Mentalität der Menschen, die sie benutzen. Sogar zwischen Deutsch und Englisch gibt es solche feinen Unterschiede, die einem aber erst nach langern Jahren auffallen. Man merkt es immer dann, wenn man versucht, eine komplexe Argumentationskette, die man in der einen Sprache schon oft dargestellt hat, auch in der anderen Sprache zu machen. Plötzlich geht es nicht mehr. Es hakt. Nicht, weil einem die Worte fehlen, sondern weil die der Sprache eigenen semantischen Grundmuster nicht mehr mitmachen. Und die semantischen Unterschiede zwischen Deutsch und Xonchen sind viel größer als die zwischen Deutsch und Englisch.

Chibargch betritt wieder das mittlere Masthaus. Charmion folgt ihr. Sie steht mit gesenktem aber trotzigem Blick da. Bissig. Unterdrückte Angriffslust. Ich spüre die aggressive Vitalität dieser Frau.

"Charmion," sagt Cherkrochj, "dieser Mann hat sich für dich eingesetzt. Verstehst du das?"

Charmion sagt nichts.

"Möchten Sie sie haben?" fragt Cherkrochj mich schließlich.

"Als was?"

"Als Gespielin?"

Ich ahne, was Cherkrochj meint. Charmion weiß es. Sie wird rot vor Scham. Einem Mann als subordinierte Gespielin angedient zu werden ist für eine Frau in dieser Welt offenbar eine schlimme Schmach. Der Begriff 'Gespielin' ist an sich stigmatisiert. Ein Mann kann 'Gespiel' sein, aber nicht eine Frau. Eine Frau entscheidet, wann und mit wem 'gespielt' wird, nicht der Mann. Das ist die kulturelle Gepflogenheit.

"Nein. Ich will sie nicht. Ich habe meine Frau!" Die Musik in meinen Lenden sagt jetzt zwar etwas anderes, aber das spielt keine Rolle. Sexuelles Verlangen flackert immer und überall planlos auf. Das beweist überhaupt nichts.

"Ich habe auch nicht angenommen, daß es das ist." stellt Cherkrochj fest. Sie überlegt eine Weile, während sie immer noch konzentriert am Steuerrad dreht. Dann:

"Ich habe folgendes beschlossen. Dieser Mann, Herwig - so heißen Sie doch? - tritt in die Pflichten und Stellung von Charmion an Bord ein. Charmion wird ihm als persönlicher Berater zugeordnet. Sie werden vorne und achtern mit Cherwig angeredet - das ist für unsere Zungen leichter. Chibargch, machen Sie das auf dem Schiff bekannt!"

Sie nickt mir zu: "Zufrieden?"

"Aber ich verstehe nichts von den Dingen an Bord, weil ich ..."

"Charmion wird es ihnen beibringen. Sie gehorcht Ihnen ab jetzt. Ach ja, Charmion: Bringen Sie ihm ein Schwert aus der Zeugkammer. Sein Schwert!"

Charmion tritt ab, und ich habe auch das Gefühl, daß ich entlassen bin. Ich nicke Cherkrochj kurz zu, bevor ich gehe, aber sie sieht gar nicht in meine Richtung. Wenn sie eine Unterredung beendet, dann ist das der Förmlichkeit genug.

"Wie war es denn?" fragt Irene, als ich wieder auf dem Vorschiff bei ihr bin.

20.4 Schwertübergabe

"Du wirst es nicht glauben!" sage ich.

"Was?"

"Schau mal dahin!" Ich zeige auf Charmion, die auf uns zukommt. Sie selbst trägt nur einen Schwertgurt mit leerer Scheide, weil ihr Schwert zerschlagen ist. Aber in beiden Händen trägt sie ein glänzendes, neues Schwert. Sie stellt sich vor mich hin und überreicht es mir. Dabei hat sie einen Gesichtsausdruck, der zwischen Trotz und Ausdruckslosigkeit und Eingeschnapptsein schwankt.

"Ich bin befördert. Das ist der Punkt." sage ich zu Irene.

"Zu was?"

"Zu dem, was Charmion vorher war."

"Und was ist das genau?"

"Das herauszufinden wird jetzt meine erste Aufgabe sein. Ich glaube, so eine Art untergeordneter Seeoffizier, verantwortlich für einige technische Dinge an Bord, und vielleicht Mädchen für alles. Gefangene vorführen und so."

"Und wie willst du das schaffen?"

"Mit Hilfe meines besonderen, persönlichen Beraters!" stelle ich fest.

"Also ich glaube nicht, daß ich dir da viel helfen kann."

"Du bist sowieso mein persönlicher Berater!" sage ich zu Irene, "Aber ich habe jetzt noch einen bekommen." Dabei deute ich auf Charmion, die abwartend vor uns steht.

"Ach du gute Güte."

"Nicht 'gute Güte'. 'Cherwig' genügt. Ich darf jetzt einen Namen tragen. Ganz offiziell. Cherkrochj hat ihn ein bißchen ins unaussprechliche verwandelt, damit sie ihn hier aussprechen können!"

Ich habe jetzt Gelegenheit, mir das Schwert genauer anzusehen. Bisher ist mir, auch wenn ich kein Fachmann für Schwerter bin, schon aufgefallen, daß es verschiedene Schwerttypen gibt. Ich habe leicht gebogene Schwerter gesehen, die vielleicht dem entsprechen, was man sich unter einem 'Samurai-Schwert' oder einem 'Takana-Schwert' vorstellt. Diese Art von Schwertern hat an ihrer Klinge nur eine geschliffene Schneide.

Dieses aber ist ein Schwert mit gerader, breiterer, zweischneidiger Klinge. Die Schneiden scheinen von gleicher Qualität zu sein. Griff, Handschutz und Klinge sind, so wie es aussieht, aus einem Stück, so daß die Form des Schwertes an ein Kreuz erinnert, wenn man die Klinge senkrecht nach unten hält. Es gibt an Griff und Handschutz keinerlei Verzierungen und Schnörkel. Es handelt sich um ein rein 'nützlichen', schmucklosen Gegenstand. Die Enden des Handschutzes und das Ende des Griffes sind knaufartig verdickt. Damit läßt sich das Schwert sicher fassen, und der Handschutz kann wohl das Abgleiten einer gegnerischen Klinge auf den eigenen Körper zu verhindern.

Daß es verschiedene Bauformen von Schwertern gibt kommt mir seltsam vor. Soweit ich weiß, hat sich in allen Kulturen auf der Erdoberfläche jeweils immer nur eine Form durchgesetzt. Vielleicht fußt die Schwertschmiedekunst in dieser Welt auf verschiedenen Vorbildern?

Die Klinge ist so scharf, daß man sofort weiß, daß es sich nicht um ein Spielzeug handelt. Ich muß zugestehen, daß mich ein merkwürdiges Gefühl der Kraft durchströmt, als ich das Schwert in der Hand wiege.

Aber wohin damit? Etwas hilflos hantiere ich mit dem Schwert herum. Ich bräuchte so einen Schwertgürtel mit Scheide, wie Charmion ihn trägt.

"Wo kriegt man das?" frage ich Charmion in Xonchen.

Sie gürtet sich wortlos ihren eigenen Schwertgürtel ab und legt ihn mir an. Bei ihrer Berührung durchschauert es mich. Daran ändert auch ihr Geruch nichts, der mich zwingt, nur auszuatmen, solange sie mir näher als einen Meter ist. Das Schwert ist schwer in die Scheide einzuführen. Ich habe den Verdacht, daß beides nicht zusammengehört, und daß diese Scheide für schmalere Schwerter gemacht wurde.

Aber Charmion knotet noch verschiedene Schnüre an der Schwertscheide um. Dieses Futeral scheint für verschiedene Schwerttypen verstellbar zu sein, vermute ich. Nach nur wenigen Sekunden Arbeit prüft sie es, indem sie das Schwert noch einmal halb herauszieht. Und siehe da: das Schwert gleitet wie geölt heraus und hinein.

Nun hängt das Schwert sicher an meiner Seite, als wärs ein Teil von mir. Und Charmion steht vor mir. Ohne ihre Waffen wirkt sie fast nackt, so sehr haben wir uns daran gewöhnt, daß die Frauen hier Tag und Nacht bewaffnet rumlaufen.

Ich deute auf die Reelingbalken:

"Charmion, ich möchte, daß du mir erzählst, was du von morgens bis abends machst. Okay?"

Sie nickt und folgt uns. Aber ihr Gang ist anders als früher. Sie wirkt irgendwie gebrochen. Daß sie einem Mann gehorchen muß, das muß für sie eine fürchterliche Strafe sein.

Irgendwie bin ich skeptisch, daß sie diesen Zustand lange dulden wird.

"Sind wir denn jetzt noch Gefangene?" fragt Irene auf Xonchen interessiert. Es ist nicht klar, ob sie mich, Charmion, oder Chrwerjat anspricht.

"Ich fürchte, ja. Nur die Aufgabenverteilung hat sich geändert." antworte ich. Und zu Chrwerjat:

"Wir brauchen wahrscheinlich noch deine Unterstützung, wenn Charmion mich jetzt in ihr Arbeitsgebiet einführt. Ist das in Ordnung?"

Es ist in Ordnung. Auch Chrwerjat ist von der plötzlichen Wendung der Dinge überrascht. Wahrscheinlich sind alle hier von Cherkrochj plötzliche Einfälle gewöhnt. Ich erinnere mich noch genau an den Mann, den sie erst vor wenigen Tagen für nichts und wieder nichts hingerichtet hat. Daß ich mich jetzt in ihrem Wohlwollen sonnen darf, das hat überhaupt nichts zu sagen. Das kann morgen schon ganz anders sein. Heute schon, vielleicht.

Das Schiff hat die Wasserfläche zwischen dem Schärenring und der Wasserlinie des Pilzberges erreicht. Der Überhang des gigantischen Felsens reicht jetzt weit über unseren Standpunkt hinaus. Während wir mit Charmion reden, treibt das Schiff an den Inseln des Schärenringes entlang, wobei es nahezu quer zum Wind fahren muß. Das ist natürlich bei seiner Bauweise unmöglich. Es kann, bei dieser Rumpfform, keine Höhe am Wind gewinnen. Wenn es in eine Bucht hineinmanövrieren muß, dann werden wir wahrscheinlich rudern müssen.

Jedenfalls wird noch einige Zeit vergehen, bis wir die Insel mit dem Fort im Schärenring erreichen.

Charmion ist in der Tat nur ein kleines, wenn auch kompetentes Licht an Bord, erfahren wir. Sie ist eine der jüngsten an Bord und hat eine einflußreiche Mutter in Grom. Das allerdings hilft ihr hier wenig, solange sie bei Cherkrochj in Ungnade gefallen ist.

Ihre technischen Aufgaben an Bord beziehen sich auf die Aufsicht über Arbeiten an der Takelage und der Besegelung. Eigentlich ist sie für alles nautische Gerät an Bord verantwortlich, aber der Floßrumpf erfordert nicht viel Aufmerksamkeit und Wartung.

Charmion ist früher einmal in bestimmten, soweit ich verstehe sportlichen Wettkämpfen besonders hervorgetreten. Dabei hat sie sich eine Reputation als Schwertkämpferin und Kampfschwimmerin erworben. Dann verstehe ich natürlich gut, wie entsetzlich blamabel es für sie war, sich von mir das Schwert abnehmen zu lassen. Und wie gefährlich der Vorfall für mich war: Wenn sie etwas aufmerksamer gewesen wäre, dann wäre mir das Kunststück nicht gelungen. Wieder einmal die alte Lektion: Niemals einen Gegner unterschätzen. Ich bin sicher, diese Überrumpelung wird ihr auch nie wieder passieren.

Dieses Angreifen des Sauriers unter Wasser vor einigen Tagen in der Schlucht, so erklärt sie, war für sie völlig ungefährlich. Man muß nur aufpassen, daß man nicht zwischen den Körper des Sauriers und das Schiff gerät, oder zwischen Saurier und Felswand. Letzteres war bei der Breite und Tiefe der Schlucht sowieso unwahrscheinlich, und für ersteres muß man eben aufpassen, daß man unter Wasser nicht die Orientierung verliert. Sowie man in der Augenhöhle des Tieres einen festen Halt gefunden hat, muß man schnell arbeiten, weil der Saurier in seinen Todeskrämpfen ohne weiteres noch den eigenen Kopf zerschlagen kann, und natürlich alles, was da dran hängt. Aber ganz ohne Risiko, sagt Charmion, kann man nicht einmal eine Eidechse fangen. Jedenfalls sah sie die ganze Angelegenheit mehr als einen Sport an, wenn auch einen sehr nützlichen Sport, denn auf diese Weise hatte man ja einen zweiten Saurier erlegt.

Ich sehe ihr an, daß sie zwischen dem Wunsch, mir manche Dinge zu verschweigen und dem strikten Befehl, mir alles zu sagen, schwankt. In ihrem Alter - es müssen etwa 22 Jahre sein, finde ich heraus - sieht man manche Dinge noch so strikt, hat noch so sichere Aussagen über die Welt, über das, was recht ist und was nicht. Daß sie jetzt einen Gefangenen männlichen Geschlechtes als Vorgesetzten bekommen hat, ist ihr gar nicht recht. Aber ich frage weiter.

Nautische Dinge. Navigation. Segeltechnik. Manövriertechnik. Ich frage sie, wie man mit einem Segelschiff Höhe am Wind gewinnt.

Sie sieht mich an, als ob ich bekloppt wäre. Höhe am Wind? Das Konzept habe ich ihr schon klar gemacht. Höhe am Wind gewinnen heißt, ein Schiff gegen den Wind zu steuern. Das geht nicht. Man wartet ab, bis der Wind in die gewünschte Richtung weht, und bloß, weil das in den letzten Tagen meistens der Fall war, sollten wir nicht denken, daß das die Regel ist. Ein großer Teil der Segelkunst sei doch der, zu entscheiden, wann und wie lange man vor Anker liegen muß, um auf günstigen Wind zu warten, und das Wetter zu beobachten, um herauszufinden, wann das so weit sein wird. In anderen Gebieten hingegen gibt es vorherrschende Winde, die sich sehr selten ändern, und die man eben kennen muß. Wenn man einige solche 'Windstraßen' kennt, dann kann man diese auch sehr gut in eine feste Kursplanung mit einbeziehen.

Ich bin kein Segler. Aber so ein paar rudimentäre physikalische Tatsachen über das Segeln habe ich schon begriffen. Mal sehen, ob ich es ihr begreiflich machen kann.

Zunächst frage ich sie über die unterschiedliche Steuerbarkeit eines Segelfloßes wie diesem in Abhängigkeit von der Ladung aus. Chrwerjat und Irene beschränken sich auf das Zuhören.

Charmion weiß, wie jeder, zu dessen regelmäßigen Pflichten die Ruderwache gehört, daß ein tiefliegendes Schiff bei gleichem Wind und gleicher Besegelung langsamer ist als ein leeres. Aber sie weiß auch, daß der Winkelbereich der möglichen Kurse etwas größer ist.

Ich frage sie, ob sie wohl eine Idee hat, woher das kommen könnte.

Ihre Erläuterungen sind unklar, aber es geht wenigstens daraus hervor, daß sie die Ursache in der verschieden tief eintauchenden Bordwand vermutet.

Damit liegt sie ja gar nicht so falsch. Ich frage Chrwerjat, ob sie mir das Papier holen kann, das wir beim Sprachunterricht benutzen.

"Irene," sage ich zu meiner Frau in Deutsch, "das ist der nächste Schritt am Aufbau unserer Reputation. Du bist nicht vertraut mit der Segelei, nicht wahr?"

Irene verneint es, und in wenigen Worten erkläre ich ihr, was ich vorhabe.

Es ist schön, wenn man gelegentlich sogar die bewundernden Blicke der eigenen Ehefrau auf sich ruhen fühlt. Meistens wird man ja innerehelich nur kritisiert, wie jeder Ehemann bestätigen kann.

Chrwerjat kommt zurück und gibt mir das Zeichenzeug. Sie ist auch neugierig, das sehe ich ihr an.

Ich komme gleich zur Sache. Strömungsdiagramme um einen Körper, um erst einmal das Konzept meiner zeichnerischen Darstellung zu erläutern. Charmion und Chrwerjat begreifen das ohne weiteres. Solche Darstellungen einer Strömung mit einem Feld von Pfeilen haben sie zwar noch nie so gesehen, aber jemandem mit technischen Verständnis sind solche Graphiken sehr schnell eingängig. Ich vermute sogar, daß sie schneller begreifen als Irene. Warum auch nicht, die Konstruktion und Funktionsweise von Segelschiffen hat nie zu Irene's beruflichen Aufgaben oder privaten Interessen gehört.

Nun stelle ich Segel dar. Gerade Anströmung, schräge Anströmung, resultierende Kraftvektoren. Die beiden Granitbeißer-Frauen nicken. Kein Problem.

Ein Schiff drunter, quer zum Wind, die Rahsegel werden fast tangential angeströmt. Kraftvektor nach vorne. Gut? Gut. Das Schiff bewegt sich fast senkrecht zum Wind. Aber nur fast, denn Masten und Aufbauten haben auch noch einen Windwiderstand. Es gelingt nicht, einen resultierenden Kraftvektor zu erzeugen, der mit der Windrichtung einen Winkel von neunzig oder mehr Grad bildet, selbst, wenn das Schiff nur noch aus Segelfläche bestände.

Nun setze ich meinen Kiel unter das Schiff. Ich beschreibe ihn einfach als eine Art 'hartes Segel' unter Wasser. Geht natürlich nur in tiefem Wasser.

Was passiert? Das Schiff könnte nur unter großem Kraftaufwand in seitlicher Richtung getrieben werden. Wenn man jetzt den Bug des Schiffes noch einige Dutzend Grad in den Wind dreht, und wenn man die Rahen so dreht, daß der Kraftvektor mit der Schiffsachse einen Winkel bildet, der kleiner als neunzig Grad sein muß, dann erhält man eine Bewegung in Richtung der Schiffsachse. Die Kraft auf den Kiel und die Kraft auf die Segel summieren sich zu einem Kraftvektor, der mit der Windrichtung einen Winkel von mehr als neunzig Grad bildet. - Die Windkraft allein kann es nicht. Aber zusammen mit der durch den Kiel erzeugten Kraft geht es.

Ich sehe es den beiden Frauen an. Es dämmert. Sie beginnen zu begreifen.

Der Rest ist Manöver. Auf dem letzten Blatt zeichne ich Kurse ein. Wie kreuzt man gegen den Wind? Natürlich kann man mit der Methode nicht genau gegen den Wind fahren. Aber man will ja von einem Ort zum anderen kommen, und ob man dies in einer Zickzack-Linie tut, oder auf geradem Wege, ist relativ gleichgültig, solange man überhaupt dahin kommt wo man hinkommen will.

Es hagelt Einwände. So ein Kiel, fragt Chrwerjat, der wäre doch in flachem Gewässer sehr störend? Dieses Schiff muß häufig flache Gewässer befahren.

Natürlich, erkläre ich ihr. Ein Schiff wie dieses bräuchte einen Kiel, den man entfernen kann. Ich demonstriere es mit meinem Schwert. Raufziehen - Kiel ist weg - runterlassen - Kiel ist wieder da. Wie es der Zufall will nennt man solche Kiele in der Segelei auch 'Schwerter', und ich führe bei der Gelegenheit dieses neue Fachwort für diesen Zweck ein.

Für einige Minuten hat Charmion vergessen, daß sie gedemütigt worden ist und noch immer gedemütigt wird. Sie diskutiert mit Chrwerjat die Implikationen dieses Konzeptes, und bei der Gelegenheit erfahre ich, wie schnell man in der Xonchen-Sprache sprechen kann. Sie fragen mich alle möglichen Dinge, Fragen, die man unter den hiesigen Bedingungen erst experimentell ermitteln müßte: Aus welchem Material baut man so ein Schwert? Wie groß muß es sein? Mit welcher Mechanik kann man es herauf- und herunterlassen? Geht das bei einem Segelschiff jeder Größe? Was ist, wenn in einer engen Wasserstraße zu wenig Platz zum Kreuzen ist?

Plötzlich ertönt ein Kommandoton vom mittleren Masthaus. Cherkrochj hat die Erregung der kleinen Gruppe auf dem Vorschiff bemerkt. Sie muß mal wieder beweisen, wer die Chefin ist. Es ist, wie ich dachte: Das Licht ihres Wohlwollens kann sich jede Sekunde verdunkeln.

Wir sind in der Nähe des Forts angekommen. Aber wie zur Demonstration der Gegenwind-Problematik kann das Schiff nicht in die Bucht des Fort einfahren, weil es dazu nach Süden fahren müßte. Wir müssen also sehr weit draußen vor der Insel, auf der das Fort ist, ankern. Dazu müssen auch die Segel eingeholt werden. Das ist die Pflicht des Segelwartes.

Und das bin ich.

"Charmion!" sage ich, leise und dringend zu ihr, "Was muß ich jetzt tun?"

In der Euphorie über die neuen Möglichkeiten hat sie fast vergessen, daß sie mir gram ist. Sie sagt mir vor. Ich rufe auf Xonchen das Äquivalent "Alle Mann an Deck!", und dann schicke ich sie alle nach oben. Es geht problemlos - die Männer verstehen ihre Arbeit. Aber es dauert natürlich eine ganze Weile, bis diese große Menge Segeltuch eingerollt worden ist.

Niemand nimmt daran Anstoß, daß ich die Kommandos erteile. Die Nachricht von meiner Beförderung muß längst überall an Bord umgelaufen sein. Ich kann aber nicht erkennen, wie diese Nachricht allgemein aufgenommen worden ist.

Derweil haben wir Gelegenheit, die Insel des Schärenringes, auf der das Fort sein soll, genau anzusehen. Wir sind vielleicht achthundert Meter von ihrem Ufer entfernt, und es sind kaum Einzelheiten zu erkennen. Zwei Steintürme ragen hinter einem niedrigen Felsrücken hervor, und rechts und links von diesen Türmen sieht man einige Baumspitzen. Die Steintürme haben dunkle Fenster - oder Schießscharten? - und ein Holzdach. Niemand ist zu sehen. Das ist nicht genug, die Größe und Bauform dieses Bauwerkes abschätzen zu können.

Hinter einer Landzunge der Insel ist Mastwerk zu sehen. Da ankern Schiffe, die dem unserem ähnlich sind, wenn auch kleiner.

Das alles, und wir selber, werden überragt von dem gewaltigen Schirm der Gefängnisinsel. Die Beleuchtung fällt hier jetzt diffus schräg ein, denn von den Felswänden der Gefängnisinsel und ihren Überhängen über uns geht natürlich kein Licht aus.

"Was passiert jetzt?" frage ich Chrwerjat.

"Sie werden mit einem der Schiffe kommen und Fleisch an Bord nehmen."

"Ach so."

Chrwerjat hat noch einen Hinweis:

"Diese Ladegeschäfte werden vom Decksoffizier überwacht und geleitet."

"Und wer ist das?"

Chrwerjat und Charmion sehen mich seltsam an. Und da weiß ich, wer es ist.

20.5 Defloration

Ich lasse mich von Charmion instruieren, was da zu tun ist. Es sieht so aus, als ob das Fleisch einfach von einem Schiff auf das andere rübergetragen wird. Der Ladeoffizier hüben muß darauf achten, daß durch die Entladung keine Asymmetrie in der Lastverteilung entsteht, und drüben, auf dem anderen Schiff, wird jemand genauso aufpassen, daß es symmetrisch beladen wird.

Das ist zwar einfach, sagt Charmion, aber verantwortungsvoll. Man kann ohne weiteres dieses Schiff zum Kentern bringen, indem man nur die Ladung an einer Seite abräumt. Aber Cherkrochj, so belehrt sie mich, legt natürlich nicht nur Wert darauf, daß das Schiff nicht kentert. Nein, die Masten sollen bis zum Schluß und die ganze Zeit des Ladegeschäftes über kerzengrade stehen. Ein kränkendes Schiff, wie sieht denn das aus? Das ist keine Empfehlung für die Kommandantin.

Wir haben noch einige Zeit, bis das andere Schiff ankommen wird. Ich gehe mit Charmion ins Deckshaus, in die Lagerräume. Im Wehgehen sehe ich, daß Irene und Chrwerjat miteinander reden. Irgendwie fällt mir das Wort 'Klatsch' ein. Reichen Irene's Sprachkenntnisse dazu schon? Na wenn schon, auch das erfüllt ja für das Sprachenlernen seinen Zweck.

Die Diskussion über die Kunst, mit einem Segelschiff Höhe am Wind zu gewinnen, ist jetzt schon wieder vergessen. Das Fleischverladen ist dringender.

Ein immenser Gestank empfängt mich im ersten Lagerraum, der durch eine der seitliche Türen im Deckshaus, durch die ich noch nie geschaut habe, erreichbar ist. Er ist bis zur Decke mit den Fleischfladen der beiden Saurier gefüllt. Nur in der Mitte lassen die Stapelhalden einen schmalen Gang frei, kaum fünfzig Zentimeter im Durchmesser. Ich glaube, nicht mehr atmen zu können, aber Charmion macht der Geruch offenbar nichts aus. Sie geht vor mir in diesen schmalen Gang hinein und ich folge ihr. Wir müssen vorher unsere Schwerter zur Seite legen, weil der Gang so eng ist. Hinter uns fällt die Tür wieder zu - als ob die frische Luft sich absichtlich von diesem Raum fernhielte! Es ist dämmrig, weil kaum Licht durch die Tür und die Ritzen in der Wand hereinkommt.

"Können sich die Träger hier überhaupt noch bewegen?" frage ich. Wahrscheinlich ist das das Problem der Träger, die wir einteilen werden. Aber wenn die sich gegenseitig auf die Füße treten, dann wird das Ladegeschäft dadurch auch nicht schneller.

Charmion dreht sich plötzlich um, tritt einen Schritt zurück und drängt sich mit einer flinken Bewegung zwischen mich und die Wand aus Fleisch hinter ihr. Wir sind eingeklemmt, jeder mit dem Rücken zur einer Wand, wir Brust an Brust und Bauch an Bauch und Schenkel an Schenkel.

"Was soll d..." frage ich und blicke Charmion aus nächster Nähe in die Augen. Ich spüre die Hitze ihres Körpers überall, die hohe Körpertemperatur der Granitbeißer, die einem natürlich nur bei direktem Körperkontakt wie jetzt auffällt.

Sie ist kaum wiederzuerkennen. Das ist Gier, würde ich sagen, oder Verlangen. Sie will und sie weiß, daß sie will, und sie weiß, daß sie wird. Sie ist überall naßgeschwitzt, ihre Haare sehen ungewaschen und verfilzt aus, aus dieser Nähe noch mehr, aber der Gestank in diesem Raum überdeckt jede ihrer eigenen Ausdünstungen.

Ihre Lederjacke ist weit geöffnet, hat aber bei der Enge nicht die Möglichkeit, ihr vollständig von den Schultern zu rutschen. Ihr Busen mit den vollständig erigierten Warzen wölbt sich gegen mich, nimmt mir fast den Atem, wenn der Gestank das nicht sowieso schon täte. Sie biegt die Lederstreifen ihres Rockes nach oben und presst ihr nacktes, naßes und heißes Geschlecht an meines, nachdem sie mit überraschender Fingerfertigkeit herausgefunden hat, wie sich der Reißverschluß meiner Jeans öffnen läßt.

"Ich kann dir alles zeigen, ja? Willst du hier hineinfließen?"

Ich weiß nicht, ob sie meine neuen Pflichten als Ladeoffizier meint oder ihren Körper, den sie mir zeigen will. Letzteres ist eher unwahrscheinlich, denn gesehen habe ich an ihr schon alles. Vielleicht heißt zeigen 'fühlen lassen'? Plötzlich nehme ich, trotz des Gestanks in diesem Raum, den Duft ihrer Bereitschaft wahr.

Es geht zu schnell, ich habe nicht die Spur der Möglichkeit einer Gegenwehr. Das muß dir passieren, denke ich noch, aber es passiert schneller, als ich es denken kann. Ihre geschickten Finger fummeln mich in sie hinein, kaum, daß ich die notwendige Erregung zustandegebracht habe, und ich bekomme einen Eindruck von ihrer hohen Körperkerntemperatur. Es ist kaum zum Aushalten. Sie reißt die Schenkel hoch und wird, wie ein Kaminkletterer, nur von mir und der Wand hinter ihr gehalten. Naja, eine etwas merkwürdige Art von Kaminkletterei. Sie teilt sich, immer weiter, und sie umgibt mich, sie zieht mich tief in sich hinein, so, als wolle sie mir den Mittelpunkt der Welt zeigen, den heißen Mittelpunkt der Welt, der da irgendwo in ihrem Körper und sonst nirgendwo ist. Ich wehre mich immer noch gegen die Vorstellung, daß er da tatsächlich sein könnte. Aber jetzt ist er tatsächlich dort, denn was ich mir vorstelle und was jetzt geschieht, das entscheide ich nicht mehr rational.

"Es wird gut. Ich mache alles. Du sagst, was du willst, und ich mache alles, ja?"

Wieder diese Doppelbedeutung. Sie reitet wild auf und ab, hält sich aber geschickt in der richtigen Position. Als ob sie viel Übung darinnen hat, sich in dieser Stellung, hier, in den Fleischlagerräumen, so nehmen zu lassen. Der Rhythmus ist wie der Rhythmus der Welt, der Wellen und der Urwaldtrommeln, und diese Trommeln hallen überall in uns wieder und ich bin dem wirklichen Mittelpunkt der Welt jetzt und hier in dem schönen Körper dieser Menschenfresserin so ganz nahe.

Sie bekommt ihren Orgasmus. Und dann noch einen. Und noch einen. Oder ist es ein einziger, der nur solange dauert? Ich weiß es nicht. Ich brauche wenig dazu zu tun, obwohl ich natürlich nicht ganz unbeteiligt bin. Aber die notwendige Mechanik geht von ihr aus. Ich spüre, wie ich in ihr irgendwo anstoße, und wie es sich darinnen bewegt, pulsiert und saugt, wie der heiße Erdkern fünftausend Kilometer unter uns es auch tut, und ich bin wie ein Pflug, der ihr Fleisch aufwühlt, nicht, daß ihre Organe Schaden daran nähmen, denn dieser Pflug muß diese Furche kneten und kneten.

Irgendwann komme ich dann auch, obwohl ich mich, im Vergleich zu ihrem Einsatz, fast noch als Unbeteiligten bezeichnen würde. Nein, das ist nicht richtig - das Stadium der Nichtbeteiligung habe ich schon lange hinter mir gelassen. Ich will in sie hinein, und die Welt explodiert in diesem einen Willen. Einen Moment ist der Gestank rundherum vergessen. Und dann kommt sie noch einmal, und nocheinmal, und nocheinmal. Es gurgelt in meinem Hoden, wie es dort noch nie gegurgelt hat, und dann tut es mir weh, und es ist Freude und die Freude fließt von mir zu ihr und von ihr zu mir und immer fort und hin und her.

Endlich ist sie fertig. Mit flinken Fingern bringt sie unsere Klamotten in Ordnung. Gute Logistik. Nach wenigen weiteren Sekunden ist, als ob nichts gewesen wäre. Die Welt kann wieder in senkrecht und waagerecht eingeteilt werden, und es gibt wieder festen Boden, um darauf zu schreiten.

Sie beginnt übergangslos, weitere Erläuterungen zum bevorstehenden Ladegeschäft abzugeben. Ihre Stimme ist fester und selbstbewußter als noch vor wenigen Minuten. Sie hat ihren Sieg gehabt.

Ich kann mich nicht auf das konzentrieren, was sie sagt. Ich habe das erste mal meine Frau betrogen. Und es hat mir Spaß gemacht. Zwecklos, das zu leugnen - ich pflege meine Beweggründe sowieso immer zu analysieren. Mich selbst kann ich kaum belügen. Andere können das - ich nicht. - Ich habe meinen Spaß gehabt, und das war Teil ihres Sieges.

Daß ich dieser Situation kaum entkommen konnte, entschuldigt das etwas? Und ist es überhaupt wahr? Was hätte sie denn machen können, wenn ich mich entschieden genug gewehrt hätte? Einen Offizier des Schiffes, auf dem zur Zeit das Wohlwollen der Kommandantin liegt, hätte sie kaum umbringen können.

Aber sie ist stärker als ich. Sie hätte mich auf jeden Fall zwingen können. Irgendwann hätte ich schon mitgemacht, das hat die Natur schon so eingerichtet. Und welche Möglichkeiten habe ich jetzt? Zur Kommandantin rennen und mich über eine Vergewaltigung beschweren?

Unmöglich. Ausheulen ist nicht, bei niemandem. Und Charmion hat das vorher gewußt.

Ich begreife, daß die Karten im Machtspiel auf dem Schiff recht unübersichtlich gemischt sind. Irene hatte von dem Moment an keine Chance mehr, nicht betrogen zu werden, als ich Charmion das Schwert wegnahm. Ja, vorher noch, die Würfel waren schon vorher gefallen: Als Charmion sich entschloß, ins Masthaus zu uns zu kommen und mich zu zwingen, mit ihr mitzukommen und mit ihr zu schlafen.

Nein, korrigiere ich mich, noch früher: Als ich Irene auf dem Floßrand in die Arme genommen hatte und der vorbeikommenden Charmion sagte 'Das ist meine Frau.' Von da an war es entschieden. Da wurde der Pfeil abgeschossen, der unsere Ehe zerstören sollte. Von mir.

Aber noch ist unsere Ehe nicht zerstört. Noch weiß Irene nichts. Und Charmion wird nichts sagen. Wenn ich auch nichts sage, dann ist es, als wäre nichts geschehen. Irene gegenüber das humanste. Eigentlich.

Allerdings setze ich mit meinem Schweigen gewissermaßen meine Unterschrift unter den Seitensprung. Dadurch sanktioniere ich ihn und spreche Charmion frei.

Und Herwig, sage ich mir, gib dich da keiner Täuschung hin: Du weißt, daß Charmion das wieder machen wird, sowie ihr der Sinn danach steht. Es hat ihr gefallen, es hat dir gefallen. Die Illusion, die du dir machen wolltest, daß du nicht daran schuld bist, hätte fast funktioniert. Aber nur fast. Ein Dümmerer als du hätte sich selbst problemlos hinter das Licht führen können.

Ich sehe Charmion an, während sie weiterdoziert. Sie redet geschäftsmäßig. Nichts mehr von dem gefräßigen, kleinen Mädchen, das eben noch unbedingt etwas in ihre Vagina stecken wollte, koste es, was es wolle. Sie weiß, daß sie mich in der Hand hat. Sie kann es immer wieder tun, solange niemand zusieht.

Ihre Brustwarzen stehen immer noch in der Stellung 'unternehmungslustig'. So können wir den Lagerraum noch nicht verlassen. Irene würde es sehen. Sie sieht sowas: Früher hat sie auf einigen Wanderungen immer behauptet, von jeder Frau, die uns zufällig entgegenkam, sofort zu wissen, vor wie langer Zeit diese das letzte Mal gebumst hatte. Ob das stimmte, weiß ich nicht - man kann es sehr schwer nachprüfen. Aber bei Charmion sähe auch ein Laie wie ich deutlich genug, was Sache ist oder vor kurzem Sache war.

Und doch, abgesehen von dieser 'lokal imponierenden peripheren Durchblutungssteigerung', wie die Mediziner das ungefähr auszudrücken pflegen, wirkt sie wieder unerotisch. Das fettig verlockte Haar fällt mir wieder auf, der durchgehende Schweißfilm, der ihren Körper und jetzt auch Teile von meinem bedeckt. Der Mundgeruch, der nur hier drinnen von dem Fleischgestank überdeckt wird. Die katzenhafte Gewandheit, die Bewegungen, die nicht Erotik ausdrücken, sondern die gefährliche Geschmeidigkeit einer Raubkatze, wie das Klischee so schön sagt. Es ist nirgends richtiger als hier. Dieser Körper, erinnere ich nur zu deutlich, ist nur der äußeren Form nach Playmate-verdächtig. Sie ißt Menschenfleisch, sie bekämpft Saurier im Einzelkampf, sie turnt gelegentlich völlig schwindelfrei im Mastwerk herum, und gelegentlich vergewaltigt sie eben auch. Das ist eine Sache von vielen. Vielleicht für sie nicht einmal die wichtigste.

Wenigstens, denke ich mir, ist sie im Moment nicht darauf aus, mich physisch zu vernichten. Solche Launen kommen bei den Granitbeißern ja vor. Bei allen.

Später am Tag erfahren wir, daß das Schiff heute noch nicht kommen wird, sondern erst nach der nächsten Schlafperiode. Solange wird das Schiff hier vor Anker liegenbleiben. Deshalb ziehen Irene und ich uns um 8 Uhr zum Schlafen in unser Masthaus zurück.

Irene erzählt vor dem Einschlafen noch eine ganze Weile einige Belanglosigkeiten aus dem Schiffsklatsch. Mein Eindruck vorhin war also gar nicht so unrichtig, aber ich höre nicht hin. Ich denke an Charmion. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich den Schweiß zwischen ihren Busen herunterlaufen, bis zu ihrem Nabel und immer weiter. Es ist unerotisch, eigentlich abstoßend, aber die Erregung steigt doch wieder auf. Irene merkt zum Glück nichts davon. Sie hat die Privatangelegenheiten von Chrwerjat noch nicht restlos durchkommentiert.

Ihr gefällt der soziale Aufstieg. Vielleicht, denkt sie laut nach, ergeben sich doch irgendwann für uns Chancen, wieder nach Hause, wieder in die Oberwelt zu kommen.

Vielleicht.

20.6 Marschbefehl

Um 17 Uhr wachen wir wie geplant auf. Abgesehen davon, daß das Schiff vor Anker liegt, beginnt der Tag mit seiner üblichen Routine. Sogar Chrwerjat kommt kurz nach 18 Uhr, um mit dem Sprachunterricht fortzufahren.

Während des morgendlichen Waschens sehe ich Charmion untätig an Deck herumstehen. Alle Niedergeschlagenheit ist von ihr gewichen. Wenn man sie ansieht, dann käme man nicht auf die Idee, daß sie gestern degraduiert worden ist. Was solls, mir sieht man meine 'Degraduierung' auch nicht an.

Soweit ich weiß, habe ich jetzt keine dringenden Pflichten in meiner neuen Stellung und kann deshalb auch an dem Sprachunterricht teilnehmen. Ich befrage Chrwerjat darüber, aber sie weiß auch nichts Gegenteiliges. Solange das andere Schiff nicht kommt, gibt es nichts zu tun.

Mit dem Sprachunterricht kommen wir nicht weit. Charmion betritt ganz unvermutet das Masthaus. Sie trägt wieder ein Schwert, was immer das bedeuten mag.

Cherkrochj hat neue Pläne, und diese werden uns mitgeteilt. Weil es auf der Fahrt einige Opfer gegeben hat - einige davon schon, bevor wir festgenommen wurden, denn die Saurierjagd ist schließlich nie ungefährlich - ist Cherkrochj auf die Idee gekommen, einige Gefangene von der Gefängnisinsel Casabones als Besatzung mitzunehmen. Sie hat diesen Wunsch der Fortbesatzung hinübersignalisieren lassen, und von dort ist die Genehmigung eingetroffen. Allerdings müssen wir uns die Leute selbst holen. Zu diesem Zweck hat sie eine Gruppe zusammengestellt: Ich, Charmion, Chrwerjat, Chechmirch und Chmerm.

Ich habe die Führung, Charmion ist angeblich ortskundig, Chrwerjat geht mit wegen eventueller Sprachprobleme und weil sie auch eine ganz ordentliche Schwertkämpferin ist, Chechmirch hat Haare auf den Zähnen und Verhandlungsgeschick, was bei den Granitbeißern vielleicht das gleiche ist, und Chmerm ist bis jetzt ganz unauffällig gewesen. Ein paarmal habe ich sie Ruderwache gehen sehen, und sie ist fast so jung wie Charmion, ein Mädchen mit einer knabenhaften Figur und kaum angeborener Agressivität. Warum sie mitgeht, weiß ich nicht, aber es sollen wohl insgesamt fünfe sein.

Charmion ist ungewöhnlich gut gelaunt. Eigentlich das erste Mal, daß man ihr unter Zeugen die gute Laune ansieht. Vielleicht aber ist das Unternehmen auch nur nach ihrem Geschmack.

Wir sollen zehn Männer besorgen, sonst nichts. Ganz so viele werden nicht gebraucht, aber ich weiß, warum wir ein paar mehr mitbringen sollen: Einige werden wahrscheinlich zur Einschüchterung der anderen wegen irgendwelcher Kleinigkeiten in den ersten Tagen auf dem Schiff ganz fürchterlich bestraft werden und dabei möglicherweise ihr Leben verlieren. Allmählich kenne ich die Gedankengänge der Granitbeißer.

Eines der Schiffe vom Fort ist zu uns unterwegs, aber es wird, nachdem Fleisch übernommen worden ist, nicht zum Fort zurückfahren, sondern mit uns an Bord zum Einstieg der Gefängnisinsel segeln.

Ich frage, ob Irene mitkommen soll, aber Charmion sagt, wenn Cherkrochj das beschlossen hätte, dann hätte sie es gesagt.

Ich sehe Chrwerjat an, daß ihr die neue Entwicklung der Dinge auch nicht paßt, aber sie fügt sich. Irene ist erschrocken. Bisher waren wir noch nicht ernsthaft getrennt worden.

"Ich bringe das in Ordnung!" sage ich zu ihr. Ich hatte bei meiner letzten Unteredung mit Cherkrochj ja den Eindruck, daß sie Argumenten durchaus zugänglich ist. Sofort stehe ich auf und verlasse mit Charmion das Masthaus.

Während ich die Wanten herunterklettere, sehe ich vor der Insel mit dem Fort bereits das Schiff, das seinen Ankerplatz in der Bucht verlassen hat und jetzt vollständig sichtbar ist. Es hat nur wenige Segel gesetzt, aber die sechshundert Meter, die es noch von uns entfernt ist, wird es schnell schaffen.

Ich finde Cherkrochj im großen Gemeinschaftssaal. Sie steht mit zwei weiteren Frauen über Papiere gebeugt. Als sie mich kommen sieht, leistet sie sich eine Spur eines Lächelns.

"Das ist schön, Cherwig, daß Sie so schnell kommen. Manche Schiffsoffiziere lassen sich wesentlich länger bitten!"

Ich sehe nicht zur Seite, aber ich denke, daß dieser Hieb Charmion galt.

"Ja, natürlich komme ich. Ich wollte fragen, ob meine Frau uns auf diesem Unternehmen begleiten kann!"

"Warum?"

"Weil wir zusammengehören. Wir sind zusammen ein besseres Team!"

"Aber Ihre - Frau - ist hier an Bord bestens untergebracht!"

"Sie will aber bei mir sein!"

"Wieso? Der Weg da hinauf ist anstrengend. Sie kann die Zeit weiter zum Erlernen unserer Sprache nutzen. Sie hat es nötig."

"Ja, ich weiß, aber ..."

"Außerdem ist sie zu fett."

"Wie bitte?" Ich glaube, mich verhört zu haben. Ich vergesse immer wieder, wie wenig diplomatisch diese Menschen sind.

"Zu fett. Zu schwer. Sie schafft den Weg hinauf nicht!"

"Meine Frau," sage ich mit scharfer Stimme, "ist nicht zu fett. Vielleicht ein bißchen übergewichtig, aber nicht fett. Und den Weg hier hinunter in diese Welt hat sie auch geschafft, also wird sie auch da hinauf gehen können!"

"Sie bleibt hier!" sagt Cherkrochj mit kalter Stimme.

"Der Weg hier herrunter war weiter als alles, was jemand von eurem Volk jemals vollbracht hat!"

"Sie bleibt hier!"

"Aber sie kann doch ..." Ich breche ab, weil ich sehe, wie Cherkrochj ihre Hand an den Griff ihres Schwertes legt. Sie sagt nichts, und ich halte auch meinen Mund. Hilflos sehe ich zur Seite. Charmion steht neben mir, mit einem maskenhaft ausdruckslosen Gesicht.

Flüchtig denke ich daran, daß ich auch ganz beiläufig mein Schwert greifen könnte. Aber ich fürchte, daß das, was mir einmal bei Charmion mit einem Überraschungseffekt so glänzend gelungen ist, sich kaum wiederholen läßt. Hier sind alle flinker mit der Waffe als ich. Da sollte ich mich in gar keine Illusionen versteigen.

20.7 Einkleidung und Trennung

"Und nun, Cherwig," fährt Cherkrochj nach einer Weile fort, "reden wir über die Einzelheiten."

In wenigen Minuten erzählt sie mir alles, was ich über das Unternehmen und den Weg auf den Pilzberg hinauf wissen muß. Charmion hört stumm zu, aber ich bin sicher, sie merkt sich ebenfalls alle Anweisungen. Ich erfahre, daß sie den Weg auch schon kennt, deshalb besprechen wir den Weg auch nicht in Einzelheiten. Was soll es, eigentlich ist es ja wirklich ein einfaches Unternehmen: Wir gehen rauf, ins Oberfort, auf der Oberfläche des Pilzberges, und die Fortbesatzung wird uns eine Kollektion von zehn Männern ausliefern. Die bringen wir wieder runter. Cherkrochj schlägt vor, elf oder zwölf mitzunehmen und gleich zu Anfang die überzähligen hinzurichten. Das macht auf die anderen Eindruck, und wir werden sie ohne Schwierigkeiten runterbringen können. Das kleine Schiff wird solange am Anlegeplatz zum Einstieg warten, und jemand aus der Fortbesatzung wird sich derweil um die Entladung des Fleisches kümmern, entweder gleich oder später. Auch um den Transport des Fleisches auf den Pilzberg brauchen wir uns nicht zu kümmern - es reicht aus, der Besatzung im Oberfort mitzuteilen, daß an der Anlegestellen Fleisch zum Abholen bereitliegt. Jemand wird es holen.

Die Methode, die Gefangenen zum leichteren Transport einzuschüchtern gefällt mir nicht. Aber sie scheint so selbstverständlich zu sein, daß jede Gegenargumentation wahrscheinlich auf Unverständnis stößt. Man könnte mal probieren, ob man Menschenleben schützen könnte, indem man diese Methode der Einschüchterungshinrichtungen ad absurdum führt. Ein einfaches Rechenbeispiel. Wenn man in einem Monat 10 Prozent der Gefangenen hinrichten muß, um den Gehorsam der anderen sicherzustellen, dann läßt sich die Rechnung leicht fortführen. Nach einem Monat bleiben 90 Prozent übrig, nach zwei Monaten 81 Prozent, nach dreien etwa 73 Prozent, nach vieren sind es nur noch 66 Prozent. Nach einem Jahr müßten es um die 28 Prozent sein, nach zwei Jahren ist von anfänglich 12 Gefangenen nur noch einer am Leben, nach vier Jahren von anfänglich 157 Gefangenen nur noch einer. Keine sehr effiziente Methode der Gefangenenbewachung.

Aber Cherkrochj gibt mir nicht die Zeit, noch weitere Erläuterungen meinerseits vorzubringen. Wir sind schon fertig, und sie wendet sich wieder ihren Karten zu.

Ich hätte gerne mit Irene gesprochen, aber das andere Schiff hat schon längsseits beigedreht, und man ist dabei, beide Schiffe mit Planken und Seilen zu verbinden. Zumindest pro Forma muß ich das Ladegeschäft beaufsichtigen.

Glücklicherweise zeigt es sich, daß die Männer - natürlich sind es nur Männer, die zu den schmutzigen Arbeiten eingeteilt sind - das nicht zum ersten Male machen. Ich beobachte die Masten, um Anzeichen einer beginnenden Neigung zu sehen und dann mit Weisungen in den Entladevorgang einzugreifen. Aber die Männer holen die Fleischfladen aus allen Lagerstätten gleichzeitig, und das Schiff bleibt automatisch ausgetrimmt. Schnell stelle ich fest, daß es ausreicht, 'hoheitsvoll' auf Deck auf- und abzugehen und dem Ladegeschäft interessiert zuzusehen.

Charmion ist bei mir und geht auch hoheitsvoll auf und ab. Mir kommt die Idee, daß sie vermeiden will, daß es für jemanden, der noch nicht Bescheid weiß, so aussehen könnte, als sei sie tatsächlich degradiert.

Soll sie. Mir ist egal, was die Männer denken. Aber ich muß Irene sprechen, schnell. Solange die Gefahr besteht, daß Cherkrochj aus irgendeiner unvermuteten Richtung dem Ladegeschäft zuschaut - und die Gefahr besteht immer - kann ich hier nicht weg.

"Kannst du mal Irene holen?" frage ich Charmion. Sie guckt verständnislos.

"Bitte!" setze ich hinzu. Ein Wort, das ich erst sehr spät in der Xonchen-Sprache gefunden habe. Es wird nicht sehr häufig gebraucht.

Charmion geht. Es ist 20 Uhr. Erst? Es ist schon wieder soviel passiert, seit dem Aufwachen. Sie bringt Irene. Und Irene bringt meinen Rucksack. Charmion verschwindet wieder. Warum, weiß ich nicht, aber es ist mir recht.

"Warum das denn?" frage ich sie.

"Ich habe ihn dir gepackt, weil sie gesagt hat, daß ihr unmittelbar nach dem Verladen wegfahrt!"

"Aber ich komme doch wieder, der Rucksack kann doch hier bleiben!" entgegne ich.

"Hat sich hier schon mal etwas nach unseren Plänen gerichtet? Wir haben doch unser Schicksal schon längst nicht mehr in der Hand!" sagt sie.

"Aber Cherkrochj hat gesagt, wir sollen da raufgehen, die Gefangenen holen, und dann gleich wieder runterkommen!"

"Ja, das sagt sie heute! Und was sagt sie morgen?"

Darauf weiß ich auch nichts zu sagen. Charmion kommt wieder. Sie war in der Zeugkammer. Den Stapel, den sie in den Armen trägt, erkenne ich erst mit dem zweiten Blick.

"Ich soll das doch wohl nicht anziehen!" protestiere ich auf Xonchen.

"Cherkrochj will es so." stellt Charmion ganz trocken fest. Hilflos sehe ich mich um. Niemand nimmt von uns Notiz.

"Sofort." sagt Charmion, und nach einer Pause " ... sagt Cherkrochj."

"Vielleicht ist es besser so." überlegt Irene. Deine Hose hat schon mehrere Löcher. Das Schwert scheuert da links alles auf, und dreckig und durchgeschwitzt ist sie auch. Dieses Lederzeug ist stabiler."

"Und was soll ich mit meinen Sachen machen?"

"Die gibst du mir. Ich bleibe ja hier."

So beginne ich, mich auf der Stelle auszuziehen. Niemand nimmt davon Notiz, aber Charmion ist unruhig. Das Ladegeschäft ist bald fertig. Vielleicht haben wir nicht mehr viel Zeit vor dem Abfahren.

Als ich den Lederstreifenrock anlegen will, schüttelt Charmion energisch den Kopf.

"Die Unterhose auch." vermutet Irene.

"Aber dann scheuere ich mir an dem Zeug doch die Eier ab!"

"Die anderen halten es auch aus." sagt Irene. Charmion würde sich drastischer ausdrücken oder schallend lachen. Aber noch können wir privat reden, solange wir die deutsche Sprache benutzen.

Charmion sagt die ganze Zeit nichts. Auch wenn sie dem Gespräch nicht folgen kann, so übersetzt unsere Mimik ihr vieles. Jetzt ist sie es, die ganz alleine hoheitsvoll überwacht, wie ich mich aller Kleidungsreste unserer Zivilisation entledige und diesen seltsamen Rock und den albernen Wams anlege.

Ich gebe Irene Hose und T-Shirt: "Paß auf die Brieftasche auf, die ist hinten in der Gesäßtasche!"

Irene will mir den Rucksack geben, aber Charmion schüttelt wieder den Kopf.

"Ich glaube, du mußt alle meine Sachen hier behalten!" vermute ich.

Ich trete einen Schritt zurück und sehe an mir herunter. Das Lederzeug ist hart und reibt auf der bloßen Haut. Hoffentlich ändert sich das noch.

"Wie einer von denen!" stellt Irene fest, "Aber echt!"

Ich sehe mich um. Die meisten Männer sind verschwunden oder inzwischen mit anderen Arbeiten beschäftigt. Das Verladen ist beendet, der Mast steht immer noch senkrecht. Viel dazu getan habe ich nicht. Chmerm ist schon drüben auf dem anderen Schiff, Chrwerjat redet in einiger Entfernung mit Cherkrochj, wo Chechmirch ist weiß ich nicht, und Charmion steht wartend da. Vom Masthaus des anderen Schiffes sehen zwei Frauen neugierig herüber. Die Planken, auf denen die Träger hin und her marschiert sind, werden schon weggetragen, und die Seile losgemacht.

"Sie warten!" sage ich.

"Ja, sie warten." sagt Irene.

"Ist ja nur für einige Tage," sage ich, "es wird schon alles nach Plan gehen."

"Und wenn nicht?"

"Dann - wir werden hier bekannt sein. Wir finden uns schon wieder. Und dir als Frau tun sie sowieso nichts." Ich überlege. "Wenn wir ganz getrennt werden sollten, dann gehen wir nach Grom, alle beide, irgendwie. Alleine kommen wir aus dieser Welt nie wieder raus. Denk daran! Wir gehen nach Grom, und dann wissen wir schon mehr. Dann planen wir unsere Flucht!"

Cherkrochj ruft irgend etwas ungeduldiges, und ich drücke meine Frau an mich. Charmion sieht interessiert zu.

"Wir gehen nach Grom!" flüstert sie mir ins Ohr, "Und dann gehen wir nach Hause. Irgendwann. Wir schaffen es schon. Wie du sagst. Herwig! Wir sind doch die allergrößten! Wir schaffen es schon! Lass dich nicht unterkriegen. Auch nicht von dieser Charmion. Paß auf dich auf! Wir gehen nach Hause."

Jemand haut mir auf die Schulter. Es ist Charmion. Sie deutet auf das andere Schiff. Da ist bereits ein halber Meter Wasser zwischen den beiden Bordwänden. Ich reiße mich von Irene los. Gerade noch. Mit einem Sprung sind wir rüber, Charmion und ich, und Chechmirch muß auch im letzten Moment aufgetaucht und rübergesprungen sein.

"Das solltest du auch mitnehmen!" sagt Charmion und drückt mir einen Beutel mit einigen Riemen in die Hand, "Ich trage nicht zwei davon!"

"Was ist das?"

"Marschverpflegung."

So stehe ich nun da: Ein Tragegurt für ein Schwert und das Schwert selbst an meiner Seite, ein komischer Lederstreifenrock und so eine Art Lederbolero. Dazu ein Beutel, der sich vom ergonomischen Standpunkt wesentlich schlechter tragen läßt als mein Rucksack. Das ist alles, was ich jetzt noch an materiellen Gütern habe. Nach außen ein Bewohner dieser Welt. Nur in meinem Kopf ist noch ein Echo der Welt da oben, der Welt, die mich 45 Jahre alt gemacht und solange geformt hat. Dieses Echo eines bis jetzt 45-jährigen Lebens wird stark genug sein, mich für den Rest meines Lebens, wie lange das hier auch noch dauern mag, zu einem Fremden in der Welt der Granitbeißer zu machen, egal, wie ich gerade aussehe.

Da ist allerdings noch meine digitale Armbanduhr, die mich hier als Fremdling auszeichnet. Allerdings nur für jemanden, der weiß, was das ist. Da einige der Granitbeißerinnen auch metallene Ringe tragen, hält man das für eine Art Schmuck. Es hat sich, bisher jedenfalls, kaum jemand genau für die Uhr interessiert. Sie zeigt gerade 20:15 Uhr an, und ich hoffe, daß ich mir diese Zeit nicht für den Rest meines Lebens merken muß, weil ich jetzt Irene das letzte Mal sehe.

Sie steht drüben, hinter der Balkenreeling, auf dem anderen Schiff. Sie hält meinen Rucksack, meine Klamotten liegen vor ihr auf dem Boden. Wie ein Kind, dem etwas weggenommen worden ist, das sie über alles in der Welt behalten wollte. Sieben Meter zwischen uns, zehn Meter, zwanzig Meter. Die Segel sind schon gesetzt worden.

"Irene, zeig's Ihnen! Erfinde das Geld, mach in Grom eine Bank auf!" rufe ich. Notstrategie, oder Lebensinhalt für den Rest ihres Lebens, falls wir uns nicht wiedersehen sollten?

Vierzig Meter. Noch kann ich sie als Irene erkennen, als meine Frau. Herwig, reiß dich zusammen. Das wird nur eine kurze Zeit der Abwesenheit. Deine Katastrophenphantasie, würde sie sagen.

Sechzig Meter, achteraus. Sie sieht mir immer noch nach. Ich kann ihre Gesichtszüge immer schlechter sehen. Wenn jetzt einer von uns weint, dann könnte der andere das überhaupt nicht mehr erkennen. Ob sie weint? Tapfere Frau.

Hundert Meter. Bis daß der Tod euch scheidet, hat es geheißen. Von den Granitbeißern war bei der Zeremonie damals nicht die Rede, obwohl sie nur elf Kilometer von uns entfernt waren - direkt unter unseren Füßen

"Irene! Wir sind die allergrößten! Wir sehen uns wieder, das verspreche ich dir!" schreie ich noch. Sie hört mich wohl nicht mehr.

Und nun dreht sich das Schiff, und das andere Schiff, auf dem wir die letzten Tage noch zusammen verbracht haben, verschwindet hinter den Heckaufbauten.

20.8 Schiffshexe

Als ich mich umdrehe, steht Charmion wieder da und beobachtet mich aus nächster Nähe.

"Verpfeiff dich, du blödes Arschloch!" brülle ich sie an. Die Wörter habe ich auch schon gelernt. Endlich kann man sie mal anwenden.

Immerhin sieht Charmion jetzt einmal so aus, als ob sie sich wundert.

Als ich auf die andere Seite dieses Schiffes gehe, kann ich Irene nicht mehr sehen. Sie muß auf dem anderen Schiff wieder in das Masthaus zurückgekehrt sein. Eine ganze Weile sehe ich das andere Schiff, von dem wir uns immer weiter entfernen, an. Nun ist niemand mehr an Deck zu erkennen.

"Cherwig?" höre ich hinter meinem Rücken. Ich drehe mich um.

Vor mir steht eine alte Frau. Sie muß etwa sechzig sein, aber sie ist drahtig und zäh. Ihr Gesicht ist von Narben übersät, Spuren unzähliger Kämpfe, und der klinisch ungeübte Blick würde sie häßlich nennen. Ich aber sehe die Narben und das Alter. Wie sie mal ausgesehen haben mag, als sie jung war, kann ich so schnell nicht herausabstrahieren.

Charmion steht nehen ihr. Wahrscheinlich hat sie die Alte zu mir geführt.

"Ich bin Herwig," sage ich, "nicht Cherwig. Herwig." Wir wollen doch mal sehen, ob ich die korrekte Aussprache meines Namens wieder einführen kann. Vielleicht muß man nur häufig genug darauf bestehen.

Es ist der Alten unangenehm, einem Mann gegenüberzutreten, der eine für einen Mann in dieser Welt absolut unübliche Form der sozialen Stellung erreicht hat. Die Situation kennt sie noch nicht. Andererseits hat sie offenbar ihre Anweisungen, die sie zwingen, mit mir Kontakt aufzunehmen. Sie nimmt sich zusammen.

"Ich bin Chchyhchrxoichrsk."

Großer Gott, denke ich mir, der Name paßt zu ihr. Ob das schon die höchste Kunst der Unaussprechlichkeit ist?

"Das freut mich."

"Warum?"

Hat sie ja recht. Es freut mich überhaupt nicht. Es ist nur eine sinnlose Redewendung, die ich jetzt mal in der Xonchen-Sprache ausprobiert habe. Das kann ich jetzt natürlich nicht so sagen.

"Das sagt man in unserer Welt so, wenn man sich das erste Mal begegnet."

Ihr Wissensstand bezüglich meiner Herkunft scheint ihr von Charmion noch nicht restlos erläutert worden zu sein. Deshalb wechselt sie das Thema:

"Wir bringen ihre Gruppe zum Gefängnishafen."

"Ja. Das war von der Kommandantin so geplant worden."

"Von der Kommandantin Ihres Schiffes?"

"Ja."

"Was ihre Kommandantin plant ist völlig gleichgültig. In erster Linie entscheidet die Festungskommandantin Chroc, was in und um die Gefängnisinsel herum geschieht."

"Aha." Kompetenzstreitigkeiten also. So fremd, wie diese Welt ist, das klingt vertraut. Wie ich überhaupt annehme, daß, wenn die Menschen einmal mit schnellsten Raumschiffen das fernste Ende des Universums erreichen sollten, dann werden sie zwei vertraute Dinge dort antreffen: dieselben Naturgesetze wie hier, und, wenn sie auf intelligentes Leben stoßen sollten, auf Bürokratie.

Ich warte darauf, daß die Alte fortfährt. Da ich nichts sage, tut sie das dann auch.

"Da wir knapp an Leuten sind, schlage ich vor, daß Sie uns beim Entladen des Schiffes helfen. Dann können sie nach oben gehen und ihre Gefangenen holen!"

Die Änderung auf den Gesichtszügen von Charmion, als sie das hört, ist sehenswert. Als ob ihr jemand Scheiße zum Essen angeboten hätte. Dieser Vorschlag ist eine Beleidigung. Zum Entladen des Schiffes verwendet man Männer, das war bis jetzt das unausgesprochene Gesetz in dieser Welt. Das war ja auch das erste, was wir begriffen hatten. Will diese Alte jetzt ihre Macht beweisen? Eine kleine, lokale Provinzfürstin? Der Sport in dieser Welt? Sich gegenseitig bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu erniedrigen? Und da keine Männer zugegen sind, da greift man sich eben eine Gruppe von dem Schiff, das Saurierfleisch vorbeibringt.

Ich sehe, daß wir von verschiedenen Stellen des Schiffes beobachtet werden. Vielleicht ist die normale Entgegnung auf diese Aufforderung das Ziehen des Schwertes. Ich bin sicher, ich und Charmion würden daraufhin sofort von Pfeilen durchbohrt werden, ehe wir der Alten ein Haar krümmen könnten, und den drei anderen, die irgendwo auf dem Schiff sind, würde ähnliches passieren.

Schnelle, gewaltsame Reaktion hilft hier gar nichts. Vielleicht ist es ganz gut, daß ich nicht jede Beleidigung sofort als solche erkenne und instinktiv oder reflektorisch reagiere.

"Gute Idee," sage ich, "aber damit warten wir natürlich, bis wir mit den Männern wieder im Gefängnishafen sind!"

"Nein. Das machen wir gleich nach dem Anlegen!" bestimmt Chchyhchrxoichrsk.

Charmion sieht hilflos zwischen mir und der Alten hin und her. Wir sind auf diesem Schiff in der Minderzahl. Wenn die uns triezen wollen, dann können wir sie kaum daran hindern. Und wenn wir das zulassen, dann bekommen wir vielleicht nicht einmal unsere Gefangenen.

"Okay," sage ich, "sie haben ja recht. Die Leute auf Ihrem Schiff wissen ja auch gar nicht, wo das schlechte Fleisch geladen wurde."

"Das schlechte Fleisch?"

"Ja, sicher! Wir erlegten einen kranken Saurier. Um unsere Kapazität auszulasten, nahmen wir auch davon Fleisch an Bord, obwohl es wahrscheinlich nicht genießbar ist. Aber dann dachten wir an die Gefangenen auf dieser Insel, und daß man ihnen eventuell etwas davon mitbringen könnte. Sie verstehen: Es führt zu üblen Krämpfen!"

"Ach ja?" wundert sich Chchyhchrxoichrsk, "Seit wann wird denn den Gefangenen Fleisch mitgebracht?"

"Seit das in Grom so entschieden wurde." stelle ich fest.

"Vom Rat der Siegelbewahrerinnen selber?" fragt die Alte.

"Ja, natürlich!" Und nach einer Weile, während sich die Alte noch wundert, setze ich zum Wohle des ganzen hinzu: "Das ist doch mit hoher Dringlichkeit so beraten und beschlossen worden! Die Einführung neuer Folterungs- und Hinrichtungsmethoden! Wissen Sie das denn nicht?"

"Doch, doch, das weiß ich." Die Alte ist jetzt in der Defensive. Sie hat nicht die geringste Ahnung, wovon ich spreche. Ich nebenbei auch nicht.

"Jedenfalls," fahre ich fort, "dürfen ihre Leute das Fleisch sowieso nicht anfassen. Wenn das gute mit dem schlechten Fleisch durcheinanderkommt, dann kann man alles wegwerfen oder gleich den Gefangenen vorwerfen. Am besten ist es, ich zeige ihnen, wie wir das Fleisch geordnet haben, einverstanden?"

"Ja." sagt Chchyhchrxoichrsk.

Nun müssen wir schnell handeln, bevor die Alte hinter den Bluff kommt. Das kann nicht sehr lange dauern, trotz ihres Respektes vor dem Rat der Siegelbewahrerinnen, welche Institution sich auch immer hinter dieser Bezeichnung verbergen mag.

Dieses Schiff ist kleiner als unser vorheriges Fahrzeug, und es verfügt kaum über Decksaufbauten. Deshalb wurde das Fleisch einfach so auf dem Floßboden gestapelt, in teilweise drei Meter hohen Türmen aus flachen Fleischfladen. Dazwischen sind schmale Gänge gelassen worden, in denen man sich hervoragend vor den neugierigen Blicken der übrigen Schiffsbesatzung verbergen kann. Und in denen man auch andere Dinge treiben kann, fällt mir jetzt wieder ein.

Ich werfe Charmion ein Blick zu. Ich hoffe, sie versteht. Wir beide gehen voran, die alte Kommandantin hinterher.

"Ist dein Schwert scharf?" murmele ich so laut, daß nur Charmion es hören kann. Sie läßt sich nichts anmerken.

Als wir zwischen den Stapeln stehen - der Geruch drückt mir schon wieder die Nase zu, obwohl das kein geschlossener Raum ist - frage ich:

"Sehen sie hier die rotbraune Verfärbung in diesem Stapel und die kleinen glitzernden Punkte?"

"Nein." sagt Chchyhchrxoichrsk. Kein Wunder. Ich sehe da auch nichts besonderes.

"Man kann es nur aus allernächster Nähe sehen!" ermutige ich sie und zeige auf eine Stelle auf dem Fleisch in Brusthöhe. Die Alte beugt sich näher. Wie um ihr Platz zu machen geht Charmion um sie herum, wobei sie sich etwas mühsam verrenkt, wegen der räumlichen Enge.

"Wenn man es genau ansieht, dann merkt man, daß die Punkte sich bewegen. Am besten, man drückt das Fleisch an einer Stelle ein. So. Sehen Sie?" zeige ich. Dabei nicke ich Charmion nach einem kurzen Rundblick zu.

Lautlos gleitet das Schwert von Charmion aus der Scheide. Mit einer fließenden Bewegung liegt es im Augenblick vor der Kehle der alten Frau.

"Ein Ton, und sie schneidet Ihnen den Kopf ab!" sage ich leise, schnell und hart.

Man würde normalerweise erwarten, daß man mit einer scharfen Schneide vor der Kehle eine gewisse Bereitschaft zeigt, zu gehorchen. Diese Alte nicht. Ich nehme es kaum wahr, aber Charmion's Reflexe sind schnell. Sie hat das rasche Lufteinziehen der Alten schon richtig interpretiert.

Wie ein Geigenbogen führt sie ihr Schwert an der Kehle der Alten entlang, wobei sich die Klinge bis zum Nackenwirbel durchgräbt. Sogar die Halswirbelknochen werden sauber durchtrennt. Durch die damit erfolgte Durchtrennung aller Nerven zum Körper ist sichergestellt, daß keine überflüssigen Krämpfe und Röcheleien nach außen verraten, was hier eben geschehen ist. Lautlos sackt der kopflose Rumpf zusammen, wobei aus dem Hals ein roter, pulsierender Springbrunnen hervorkommt, der nach wenigen Pulsschlägen allmählich in sich zusammensinkt. Aber ich kann nicht verhindern, daß meine Unterschenkel und meine Füße mit dem Blut beschmiert werden.

"Sie hätte geschriehen!" flüstert sie.

"Weiß ich," erwidere ich, "was machen wir jetzt? Die Schiffsbesatzung ist in der Überzahl! Sie merken das über kurz oder lang!"

"Hol den ersten Offizier hierher. Sie heißt Chwromch. Irgendeinen Vorwand!" schlägt Charmion vor.

"Besser du," entgegne ich, "ich kann nicht einmal den Namen dieser alten Hexe gescheit aussprechen! - Außerdem - sieh her!" Ich deute auf das Blut auf meinen Beinen.

"Gut." flüstert sie und ist schon weg. Sie bewegt sich, als ob sie alle Tage in solche Situationen gerät. Die ganze Zeit über schien sie mir kaum erregt. Solche Dinge kann man mit Charmion wohl gut zusammen machen, denke ich: Ich hätte das alleine nicht in die Wege geleitet.

Da stehe ich nun da, in dem beengten Raum zwischen dem stinkenden Saurierfleisch und die geköpfte Leiche der Schiffskommandantin zu meinen Füßen. Meine Beine sind so schmutzig, als ob ich in knietiefem Blut gewatet hätte. Jeden Moment könnte, im Prinzip, eine oder einer von der Besatzung hier herumstrolchen und mich finden.

Ich sehe nach oben, in die Takelage. Glück gehabt, da ist niemand. Auch gegen die felsigen Überhänge von Casabones kann man das noch gut erkennen. Auf dieser kurzen Routinefahrt ist nicht einmal ein Ausguck notwendig. Der hätte nur seinen Blick senken müssen, und schon hätte er oder sie alles genau mit angesehen.

Als ich mir die nun unscheinbare Leiche ansehe, denke ich daran, daß man in einem Roman diese Frau sicher auf ebensolche Weise hätte schnell umkommen lassen müssen, weil dieser komplizierte Name für einen normalen Schriftsteller einfach eine zu große Belastung ist als daß man diese Person durch große Strecken der Handlung mit durchschleppen könnte. Aber das Leben ist kein Roman, und wenn wir diese Situation nicht irgendwie meistern, dann könnte das übel für uns ausgehen. Der Name der Alten spielte keine Rolle. Ob wir da rauskommen, das spielt eine Rolle.

Wie gut, daß Irene nichts davon weiß. Sicher denkt sie, daß die Überfahrt, die paar Kilometer zum Gefängnishafen, problemlos und routinemäßig abläuft und daß ich noch vollkommen sicher bin.

Nebenbei denke ich daran, daß ich an dieser Tötung nicht so unschuldig bin, auch wenn diese alte Frau mit den Feindseligkeiten angefangen hat, und auch wenn Charmion den Schnitt geführt hat und nicht ich. Ich habe doch, in dem Moment, als ich begriffen hatte, daß wir uns in einer neuen Konfrontationssituation befinden, mich schon damit abgefunden und mich auch innerlich darauf vorbereitet, daß der Ausweg aus dieser Situation über irgendeine Form der Gewalt führen wird. Als wir mit der alten Kommandantin zwischen diese Fleischstapel traten, da war doch eigentlich schon klar, daß irgendwie Blut fließen wird, und zwar reichlich. Darüber habe ich mir doch gar keine Gedanken gemacht. Was wichtig war, war doch nur, daß wir ohne Schaden aus der Situation herauskommen. Der Preis von anderen Menschenleben schien und scheint mir auch jetzt dazu nicht zu hoch.

Vielleicht sollte man alles aufschreiben, denke ich. Falls wir jemals die Welt der Granitbeißer wieder verlassen sollten, dann sollte ich mich auf den Arsch setzen und ein Buch schreiben, einen Reisebericht. Die Welt muß doch wissen, was hier vorgeht. Die Welt muß doch wissen, welche Spielarten der menschlichen Gesellschaft möglich sind.

Wir haben ja schon ein reichhaltiges Repertoire von möglichen menschlichen Gesellschaften, wie jeder weiß, der ein bißchen Geschichte studiert hat. Und doch sind diese Fallbeispiele nicht erschöpfend. Die Möglichkeiten der menschlichen Rasse gehen weiter, im Guten wie im Bösen.

Falls wir hier rauskommen. Wenn nicht, auch gut. Schließlich hat die Geschichte schon so viel verschluckt. Habe ich nicht irgendwo einmal gelesen, daß die Geschichte Afrikas vor der Ankunft des weißen Mannes mindestens ebenso reichhaltig ist wie die europäische Geschichte? Ähnlich viele politische Strukturen in ähnlicher Vielfalt, ähnlich viele Kriege, ähnliche Reichhaltigkeit der Kultur. Der Zusammenstoß mit der europäischen Kultur war für die afrikanische Kultur von Nachteil. Deshalb ist so vieles nicht überliefert.

Wenn also keine Kunde aus der Welt der Granitbeißer nach oben kommt, dann ist das nichts besonderes. Dann bleibt diese Kultur im Vergessen, wie so viele andere auch.

Außerdem, ist es nicht nur ein gradueller Unterschied? Wenn eine Kultur von einer anderen weiß, dann bleibt das Wissen von dieser anderen Kultur nur etwas länger in der Welt. Für die Ewigkeit bleibt nichts. Die Entropie holt sich, über kurz oder lang, jede handfeste Information, und was bleibt ist nur der Wandel, der Gang der Evolution, solange der Wärmetod dieses Universum noch nicht vollständig geschluckt hat.

Jedenfalls nehme ich mir jetzt mal provisorisch vor, ein Buch über unsere Erlebnisse zu schreiben. Vielleicht bin ich, wenn ich die Gelegenheit habe, dann aber doch zu faul dazu.

"Also was sind das für Tierchen?" sagt eine mir unbekannte Frau, die sich gewandt zwischen die Fleischstapel schiebt. Sie will noch etwas sagen, aber dann fällt ihr Blick auf die Leiche zu meinen Füßen. Gleichzeitig zieht Charmion, die sich direkt hinter ihr zwischen die Fleischstapel gedrängt hat, wieder ihr Schwert, das in Bruchteilen einer Sekunde die bewährte Position vor der Kehle dieser Frau einnimmt.

Dieser Frau hat einen größeren Wunsch, zu leben. Sie erstarrt.

"Chwromch?" frage ich kurz. Sie nickt. Ich mache mir nicht die Mühe, mein Schwert zu ziehen. Den mechanischen Teil der Überzeugungsarbeit kann ich getrost Charmion überlassen.

"Chwromch, Sie sehen, was von ihrer Chefin übriggeblieben ist. Sie können jetzt mit uns zusammenarbeiten, oder sie können es sein lassen. Im wesentlichen wird es genau davon abhängen, ob sie jetzt einige sehr unangenehme Minuten erleben werden oder nicht. Diese Minuten könnten ihre letzten sein. Ich sage das nur der Vollständigkeit halber, denn Sie können es sich sicher denken. Ich möchte nur, daß wir uns restlos klar verstehen. Verstehen wir uns?"

Chwromch nickt. Charmion, die ihr Schwert immer noch unbeweglich unter ihre Kehle hält, strahlt über das ganze Gesicht. Vielleicht gefällt ihr meine Rhetorik, trotz meines Akzentes. Wahrscheinlich sogar, denn ihre Sache ist das Reden nicht.

"Wieviele Menschen sind an Bord?"

"Sieben. Nein, sechs ohne Chchyhchrxoichrsk."

"Und wieviel Männer?"

"Acht."

"Bloß sechs Frauen und acht Männer? Und dann wagt diese Frau, uns offen zu beleidigen? Uns zu körperlicher Arbeit aufzufordern? Was soll das?"

Es ist wirklich unüberlegt, bei einem Kräfteverhältnis von fast eins zu eins. Die Männer werden bei so einem Kräftevergleich ja nicht mitgezählt.

"Sie dachte wahrscheinlich, daß, wenn schon ein Mann der Anführer einer Gruppe ..."

"Aha. Sieht so aus, als gäbe es Vorurteile. Pflegen sie auch so viel zu denken, Chwromch?"

Sie schweigt. Dann fahre ich eben fort:

"Ich möchte, daß wir unser Vorhaben so abwickeln, wie es von Anfang an geplant war. Ich nehme an, daß das, was ihre alte Chefin vorgeschlagen hat, von ihr selbst ausgedacht und nicht von Ihnen mitgetragen wurde?"

Sie betritt die goldenen Brücke, die ich ihr gebaut habe:

"Jaja, ganz von ihr alleine, bestimmt. Ich weiß von nichts."

Ich sehe Chwromch in die Augen, ganz lange. Mal sehen, ob eine ertappte Lügnerin die Augen niederschlägt. Aber ich stelle fest, daß es diesen Reflex in dieser Welt nicht gibt. Augenniederschlagen paßt auch nicht zu einer Granitbeißerin.

"Dann gehen sie jetzt heraus und verkünden dem Rest Ihrer Mannschaft, wie es weitergeht, verstanden?"

"Ja."

"Worauf warten Sie dann noch, Chwromch? Gib sie frei, Charmion!"

Charmion läßt ihr Schwert sinken. Geflissentlich eilt Chwromch von dannen. Wenig später ertönt ihr Kommandoton. So ungefähr kriegen wir mit, daß sie sich selbst als Kommandantin des Schiffes deklariert, weil Chchyhchrxoichrsk ein Unfall ereilt hat.

Wir treten zwischen den Fleischstapel hervor. Kurz darauf werden die Reste der einstigen Kommandantin von zwei Männern zwischen den Fleischstapeln hervorgeholt.

"Ins Wasser!" befehle ich. Die beiden zögern. Was hat der Fremde hier zu melden?

"Ins Wasser!" sagt Charmion und streichelt den Griff ihres Schwertes. In hohem Bogen fliegt erst der Kopf und dann der Körper der ehemaligen Kommandantin über Bord.

Das war wieder etwas für mein Selbstbewußtsein. Aber auch für das von Chwromch, die das beobachtet hat. Nicht sie, sondern wir haben über den Körper der alten Kommandantin verfügt. Sie läßt sich aber nichts anmerken.

Die Felswand der Gefängnisinsel ist schon recht nahe, und wir fahren parallel zu ihr. Wir müßten bald am Ziel sein. Hoffentlich hält die Disziplin, bis wir von diesem Schiff wieder runter sind. Die Stammbesatzung tut ihre Arbeit, gelegentlich werden unsichere Blicke in unsere Richtung geworfen. Derweil informieren wir Chrwerjat, Chechmirch und Chmerm, die nicht alles mitgekriegt haben.

"Aufpassen," sage ich, "ich glaube zwar nicht, aber vielleicht versuchen sie doch noch einmal so etwas Dummes. Vielleicht langweilen die sich in diesem Fort, und dann kommen sie auf solche Ideen."

Es ist 21 Uhr, und bei der geringen Geschwindigkeit wird es wohl doch noch mindestens zwei Stunden dauern, bis wir den Gefängnishafen erreichen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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