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******** 019. Tag: Mittwoch 95-09-06 ********

19.1 Charmion's Beleidigung

Weil wir nichts besseres zu tun haben, gehen wir auf dem Schiff spazieren. Niemand hindert uns daran. Die Fjordlandschaft zieht unverändert an uns vorbei, und wieder und immer wieder nimmt das Schiff eine neue Abzweigung. Es gibt keine Möglichkeit, darüber noch die Übersicht zu behalten.

Ein warmer Nieselregen hat eingesetzt, der wegen seiner Wärme nicht im mindesten stört. Es ist, durch eine tiefliegende Wolkenschicht, unwesentlich dunkler geworden. Auch geringe Helligkeitsschwankungen fallen uns jetzt auf, weil es große Helligkeitsschwankungen nicht gibt. Ich habe auch den Eindruck, daß das Leben und Treiben an Bord sofort einen etwas langsameren Rhythmus einschlägt. Vielleicht ein ähnlicher Effekt wie die Affinität der meisten Menschen bei uns oben zu sogenannten schönen Wetter, was seltsamerweise immer mit Sonnenschein gleichgesetzt wird.

Dieser Begriff des 'Schönen Wetters' tauchte bis jetzt im Sprachunterricht nicht auf. Vielleicht ist er auch völlig unbekannt, da bei den vorherrschenden Temperaturen Lebensvorgänge und tägliche Aktivitäten durch Regen nicht beeinflußt werden, es sein denn, es geht um die Fernsicht.

In diesem Punkte denke ich ähnlich wie die Granitbeißer. Wenn sie tatsächlich so denken, denn ob sie den Begriff 'Schönheit einer Landschaft' kennen weiß ich auch nicht. Wasser, in jeder Erscheinungsform, macht für mich eine Landschaft erst interessant. Als fließendes oder stehendes Gewässer sowieso, aber auch in Form von Regen, Nebel und Bewölkung. Dieselbe Landschaft kann die verschiedensten Gesichter annehmen, während der blaue Himmel der Postkartenindustrie eigentlich immer gleich aussieht. Das ist einer der Gründe, warum es mich früher in den Ferien immer nach Schottland gezogen hat. Auch diese Welthöhle tät mich als Landschaft an sich schon reizen. Allerdings wäre eine touristische Infrastruktur nicht schlecht. So etwas gibt es hier aber nicht. Keine klimatisierten Kreuzfahrtschiffe.

Eine Bucht zieht am Ufer vorbei, eine langgezogene, wenige zehntausend Quadratmeter große, bewaldete Fläche am Fuße senkrechter Felswände. Diese Fläche ist nur über das Wasser mit einem Boot zu erreichen. Sie muß irgendwann einmal jemandem eine Heimat geboten haben, denn mitten aus dem grünen Gebüsch, schon etwas höher am Hang, wo er anfängt, in die steilen Felswände überzugehen, sehe ich etwas, das einer Mauer ähnelt. Sogar Fensterhöhlen glaube ich zu erkennen, allerdings von beiden Seiten durchwachsen, und da ist auch ein aufgeschütteter Sockel vor diesen Mauerresten. Ein weiterer Einfluß von Menschen auf den Boden und die Pflanzenwelt dieser entlegenen Parzelle ist jedenfalls mit einem Blick nicht festzustellen.

Ich zeige es Irene, aber sie ist nicht unbedingt überzeugt, daß da etwas ist. Es ist auch niemand in der Nähe, den man fragen könnte. Mit dem weiteren Forttreiben des Schiffes verdecken wieder Bäume das, was wir glauben, gesehen zu haben. Oder was ich glaube, gesehen zu haben.

Sind wir Zeugen einer vor langer Zeit gescheiterten Existenz gewesen? Oder, es muß sich ja nicht um eine gescheiterte Existenz gehandelt haben, jemand kann dort sein ganzes Leben verbracht haben, praktisch abgeschnitten von dem Rest der Welt der Granitbeißer. Eine dünn besiedelte und über weite Strecken unbesiedelte Welt bietet Platz für viele ganz persönliche Lebensläufe. Eine private Hölle oder ein privater Himmel - vielleicht kann man ihn hier finden. Sollte man danach suchen?

Was ist, wenn man alt und krank wird, dann eingesperrt und abgesondert vom Treiben der ganzen restlichen Welt? Ist es besser, den Lebensabend, vielleicht in Schmerzen, isoliert in der Wildniss zu verbringen, an die man durch den Verfall der eigenen Kräfte sowieso schon unwiederruflich gebunden ist? Oder ist es besser, in unseren Altenheimen und Krankenhäusern auf den Tod zu warten? Ist es besser, durch Weltabgeschiedenheit von all den Menschen, die man jemals gekannt und geliebt oder auch nicht geliebt hat, für immer getrennt zu sein, oder ist es besser, diese im Alter noch gelegentlich zu sehen, auch wenn die Unterschiedlichkeit der Lebensumstände bereits bewirken, daß man eigentlich doch in verschiedenen Welten lebt, auch wenn man noch dieselben Räume betreten kann? Ist die Trennung durch geographische Entlegenheit eine Gnade oder ein Fluch? Und wie kann man herausfinden, ob es eine Gnade oder ein Fluch ist, solange man noch die Wahl zwischen diesen Alternativen hat?

Ich weiß es nicht. Ich versuche mir gelegentlich vorzustellen, welche unangenehmen Umstände einem im Alter das Leben zur Hölle machen könnten, und was man jetzt dagegen unternehmen könnte. Jetzt, wo es uns in die Welt der Granitbeißer verschlagen hat, gibt es auch dafür neue Perspektiven, und alte verschwinden dafür. Wenn es uns bestimmt ist, hier zu bleiben, werden wir sicher nicht als letztes im Leben den Schriftzug 'SIEMENS' auf einer Apparatur in der Intensivstation sehen. Aber vielleicht sehen wir, wie jemand anderes unserem Todeskampf interessiert zusieht oder ihn noch beschleunigt und uns auf den Weg hilft, weil es sonst doch gar so langsam geht, und wir den jungen Leuten im Wege sind. - Oder gar niemand ist Zeuge unserer letzten Stunden. Kommt drauf an - ob und wie wir hierbleiben. Kann ich das, soll ich das, will ich das?

Irene stößt mich an. Der Anblick der mutmaßlichen Mauerreste hat mich in schwermütige Gedanken gestoßen - dann nehme ich manchmal nichts mehr um mich herum wahr. Dabei habe ich früher in Schottland und in Irland häufig Hausruinen gesehen, und schon damals dachte ich immer an die Schicksale von Menschen, die mit diesen Ruinen verflochten waren. Schicksale, so viele Schicksale: Hundert Milliarden, seit es Menschen gibt, haben die Erde bevölkert, und alle davon bis auf die sieben Milliarden, die noch am Leben sind, haben es schon hinter sich. Hundert Milliarden persönliche Interpretationen des Lebens. Hundert Milliarden mal die Summe von Lebenserfahrungen. Muß das nicht ein immenser Schatz sein? Oder sind die ähnlichen Erfahrungen, die jeder Mensch mit seinen persönlichen Variationen durchmacht, redundant? Wem nützt, wer sammelt diese Leben? Was bleibt von ihnen übrig? Was wird davon weitergegeben? Kann ein einzelner daran überhaupt teilhaben? Wenn all diese hundert Milliarden zu mir reden könnten, zu mir, der das Privileg des Noch-Am-Leben-Seins noch genießt, was wäre die Quintessenz ihres Redens? Müßten sie sehr lange reden, um diese Quintessenz weiterzugeben, oder wäre in ein paar Sätzen schon alles gesagt?

Ich weiß es nicht. Es muß keine Quintessenz der persönlichen Wahrheiten geben. Und wenn doch, dann ist es vielleicht die: Mach dir und den anderen Lebewesen im Universum, die deinen Weg kreuzen, eine schöne Zeit. Wenn deine Zeit dann gekommen ist, dann sage Lebewohl. Du mußt nichts hinterlassen. Was du hinterlassen könntest, die, die nach dir kommen, werden es schon selbst herausfinden. Das ist der natürliche Gang der Dinge. Du bist, wie jeder andere, ein Wesen des Übergangs, ein Faden der Evolution. Du hast gelebt, und das war schon deine ganze wesentliche Pflicht.

Vielleicht. Okay. Nehmen wir mal an, daß das das einfache ist, was ich zu tun habe: Mir und den anderen eine schöne Zeit zu machen. Da wäre Irene als erste unter meiner Obhut. Sie ist mir, von allen hier Anwesenden, bisher noch am meisten 'über den Weg gelaufen'. Meine Mittel, ihr jetzt und hier eine schöne Zeit zu machen, sind natürlich beschränkt. Aber ich kann sie wenigstens jetzt in den Arm nehmen und ihr die flüchtige Illusion einer Sicherheit vermitteln, die ich selbst nicht habe. Genau das tue ich, während wir vom Schiffsrand auf die jetzt wieder weglosen Steilwände am Ufer sehen. Irene schmiegt sich automatisch an mich.

Hinter uns ein mißbilligendes Zischen oder Zungenschnalzen. Ich drehe mich um.

Charmion geht gerade vorbei, sieht mich und Irene so nahe zusammen. Sie war die Urheberin dieses Geräusches. Spöttisch, fast grinsend, sieht sie mich an.

Manchmal könnte ich ihr eine klempnern, so mitten in die Fresse. Aber das wäre für mich ungesund, denn Charmion hat ein Schwert und ich habe keins.

"Das ist meine Frau!" sage ich zu ihr im Xonchen-Dialekt, wobei ich jedes Wort betone. Auch die Interpretierbarkeit von 'meine' als Possesivpronomen, die ich normalerweise in diesem Kontext nicht schätze, lasse ich mit allen Facetten der Ausschließlichkeit durchblicken.

Ein Anflug von Zorn ist im Gesicht Charmion's zu sehen, aber sie beherrscht sich. Sekunden später ist sie im Deckshaus verschwunden. Jedenfalls hat sie begriffen.

Habe ich jetzt eine Kriegserklärung losgelassen?

19.2 Dienstvergehen

Die wenigen Stunden bis 5 Uhr morgens, die Zeit zum Schlafengehen, verbringen wir dann nicht mehr in Freien, weil aus dem schwachen Nieselregen ein schwerer Landregen wird. Außerdem scheint die Temperatur noch zu steigen, so daß man auch noch schwitzt, wenn man völlig durchnäßt ist. Man glaubt, daß die Luft zu dick zum Atmen ist, auch wenn der Verstand einem sagt, daß bei dem hohen Partialdruck des Sauerstoffes hier das Gegenteil der Fall sein müßte.

Die Dunkelheit nimmt zu, soweit, daß die Ufersicht schlecht wird. Zusätzlich behindern die Regenschleier und Nebelschwaden die Sicht. Ich habe nicht den Eindruck, daß das die beiden Frauen im mittleren Masthaus besonders aufregt. Aber natürlich kann ich ihre Gesichtszüge nicht mehr deutlich erkennen. Und so stehen wir in unserem vorderen Masthaus, auf die Fensterkanten gelehnt, und schauen in den Regen hinaus. Die Geräusche des Regens löschen alle anderen Geräusche an Bord aus.

Das Trommeln auf dem Dach veranlaßt mich, nach undichten Stellen zu suchen. Aber vergeblich - wasserdichte Dächer können die Granitbeißer bauen, und das aus keinen anderen Baustoffen als Holz und Seilen.

Es ist kurz vor 5 Uhr morgens, als plötzlich Charmion sich auf dem Deck unter uns zeigt. Sie ist vollständig nackt bis auf ihren Schwertgürtel. Mit kraftvollen und entschlossenen Griffen steigt sie die Wanten zu unserem Masthaus hinauf. Wenige Sekunden später steht sie in unserem Raum.

Sie zeigt auf mich.

"Mitkommen." sagt sie.

"Warum?" frage ich. Statt einer Antwort zeigt sie nur auf ihre Muschi. Außerdem zieht sie ihr Schwert, hält es aber gesenkt.

Irene steht wie vom Blitz gerührt. Ich kann es ihr nicht zumuten, jetzt mit Charmion mitzugehen, Schwert oder nicht. Jedenfalls weiß ich, wie ich uns das eingebrockt habe.

"Weiß Cherkrochj davon?" frage ich.

"Nein. Mitkommen." Aha. Solche Dinge müssen wohl nicht durch die Hierarchie abgesegnet werden.

"Cherkrochj hat es verboten." sage ich. Jedenfalls kann ich diese Behauptung einmal versuchen.

Wenn Charmion unsicher ist, dann läßt die es sich nicht anmerken.

"Mitkommen!" wiederholt sie, etwas lauter.

"Gut." sage ich und gehe zur Tür. Ich muß Irene so nicht in die Augen sehen.

An der Tür spiele ich den Kavalier, obwohl die Granitbeißerinnen diesen Begriff nicht kennen. Ich halte Charmion die Tür auf. Wie selbstverstänglich geht sie durch. Dabei nehme ich ihr das Schwert aus der Hand. Es geht entsetzlich einfach und fast automatisch. Ein Reflex. Mit einem Sprung bin ich wieder im Inneren des Masthauses.

Endlich ist in dem zwar hübschen aber meistens recht ausdruckslosen Gesicht von Charmion etwas zu sehen: pure Überraschung. Auch sie ist im Augenblick wieder mitten im Raum. Die Tür fällt zu.

"Gib das her!" sagt sie in einem befehlsgewohnten Ton.

Ich hole mit dem Schwert aus. Es liegt gut in der Hand.

"Nein." sage ich, und: "Setzen. Sofort!"

Ich muß daran denken, daß diese Frau praktisch im Einzelkampf einen Saurier mit dem Schwert getötet hat, und das unter schwersten Bedingungen, unter Wasser, und praktisch ohne etwas zu sehen. Ich muß damit rechnen, daß sie jetzt noch gefährlich ist, jetzt, wo ich das Schwert habe und sie nicht.

"Setzen!" wiederhole ich. Sie gehorcht. Ich schiele zum Fenster raus, auf das mittlere Masthaus. Von dort könnte man zwar durch die Fenster unseres Masthauses hier hereinsehen, aber wegen der Dunkelheit und wegen des Nebels hat man da noch nichts gemerkt. Vielleicht habe ich Glück.

Ich kniee mich hin, so, daß ich vom mittleren Masthaus nicht gesehen werden kann, auch, wenn die Sichtbedingungen plötzlich besser werden sollten. Aber das Schwert halte ich immer noch zum Zuschlagen bereit.

Irene steht fassungslos daneben. Ich kann es ihr nicht verdenken. Wenn mir die Situation jetzt entgleitet, dann kann sich das für uns in Sekunden zur Katastrophe entwickeln. Unsere Erfahrungen im Austausch von Gewalt Mann gegen Mann, oder besser, Mann gegen Frau sind beschränkt.

Ich habe eine Idee:

"Wieso hast du mir dieses Schwert gegeben?"

Charmion sagt nichts.

"Wieso hast du mir dieses Schwert gegeben?" wiederhole ich, "Was wird Cherkrochj dazu sagen? Wieso gibst du Gefangenen Waffen? Weißt du, was mit dir geschieht, wenn das herauskommt?"

Allmählich begreift Charmion, daß sie sich selbst dadurch, daß sie sich von mir ihr Schwert hat entwenden lassen, in eine unangenehme Situation gebracht hat. Ich weiß natürlich nicht, ob das Überlassen von Waffen an Gefangene hier ein ähnlich schlimmes 'Dienstvergehen' bedeutet wie es etwa bei den Armeen bei uns der Fall ist. Aber ich halte es für wahrscheinlich. Auf diese Karte muß ich alles setzen.

Charmion's Körper glänzt, entweder immer noch vom Regen draußen, oder jetzt auch von Schweiß, der neu hinzugekommen ist. Überall an ihr rinnen Tropfen herunter oder fallen ab, wie an ihren Busen oder unter ihrem Kinn.

"Umdrehen," sage ich, "nein, nicht aufstehen. Nur umdrehen, andere Richtung gucken."

Sie gehorcht. Ich halte das Schwert weiter schlagbereit.

"Du hast dich von einem Mann überrumpeln lassen. Was macht man bei euch mit solchen Leuten?" frage ich.

Sie schweigt.

"Antworte!" sage ich, etwas lauter, Irene würde, während eines Ehekraches, diesen Tonfall schon mit 'Schreien' bezeichnen.

"Man - tötet sie." gibt Charmion nach einer Weile zu.

"Aha. Man tötet sie. - Nicht bewegen! Und warum tötet man sie?"

"Weil sie den Befehl nicht befolgt haben."

"Den Befehl von Cherkrochj?"

"Ja."

"Den Befehl, auf uns aufzupassen?"

"Ja."

"Und du wolltest, bloß zum persönlichen Spaß, mit mir schlafen, obwohl du wissen mußtest, daß dadurch diese Wachsamkeit deutlich beeinträchtigt ist?"

Das hat mich jetzt einiges an Phantasie bezüglich der Xonchen-Sprache gekostet.

"Ja." sagt Charmion nur.

"So. Höre zu." fahre ich fort, "In unserer Welt ist so etwas nicht üblich. In unserer Welt bezeichnet man das, was du eben vorhattest, mit Vergewaltigung, Nötigung, Wachvergehen, Nachlässigkeit im Dienst. Habe ich etwas vergessen?"

Sie schweigt.

"Dann höre jetzt noch genauer zu. Es ist in unserer Welt nicht üblich, gleich jedes derartiges Vergehen mit dem Schwert abzuurteilen. Wir sperren solche Leute wie dich lediglich ein. Hast du das verstanden?"

"Ja."

"Aber ich will euch nicht unsere Methoden der sozialen Ethikerzwingung nahelegen - ihr würdet es doch nur lustig finden. Paß auf. Es bleibt unter uns. Ich verrate Cherkrochj nicht, daß du so versagt hast, und du gehst sofort wieder hier weg. Du läßt dir nichts anmerken. Hast du das verstanden?"

"Ja."

"Dann steh auf und dreh dich um."

Sie tut es. Dabei erinnert sie mich an ein kleines Mädchen, daß im Schulunterricht eine Zeitlang in der Eselsecke gestanden hat und sich nun wieder zu den anderen setzen darf.

"Hier. Nimm dein Schwert. Und geh."

Ich drehe das Schwert um, fasse es an der Klinge an und reiche es ihr, mit dem Griff zuerst. Zögernd nimmt sie es. Nun sind die Karten wieder schlechter für uns gemischt, wenn sie nicht einsieht, daß das Schwert ihr nichts nützt. Sie müßte uns beide umbringen, um die Information ihres Versagens geheimzuhalten. Dann hätte sie aber die völlig unnötige Tötung der zwei Gefangenen zu erklären, von denen Cherkrochj ja noch einiges in Erfahrung bringen wollte.

"Geh jetzt," wiederhole ich, "und wenn du noch einmal kommst, zieh dir etwas an."

Das ist natürlich völlig unnötig und hier unüblich - wer nackt rumrennen will, der wird nicht daran gehindert. Aber eben deshalb ist diese Anweisung noch ein Schlag auf ihr Selbstbewußtsein.

Charmion steckt das Schwert in die Scheide, langsam, so, als ob sie immer noch dabei ist, zu überlegen, ob sie nicht vielleicht doch besser damit auf uns eindreschen sollte.

"Mach es dir selbst, wenn du es so nötig hast!" empfehle ich, mit einer deutlichen Geste, damit sie auch ja mitkriegt, was ich meine.

Sie geht nicht darauf ein sondern dreht sich um und trollt sich, wie ein geschlagener Hund.

Als ich, nachdem Charmion verschwunden ist, Irene ansehe, ist sie sichtbar in Schweiß gebadet.

"Du bist wahnsinnig," sagt sie, "die hätte uns umbringen können!"

"Das hätte sie." stelle ich fest. "Du hast schon gemerkt, daß sie mich sexuell mißbrauchen wollte?"

"Und warum bist du nicht mitgegangen?"

"Weil ich ein treuer Ehemann bin!" Und weil ich es nicht mag, so herumgeschubst zu werden, denke ich mir, aber ich sage es nicht.

"Außerdem," fahre ich fort, "wenn wir erst einmal anfangen, JEDEM Wunsch unserer Gastgeber nachzugeben, dann gibt es bald überhaupt nichts mehr, wovor man sicher ist."

"Aber wenn es die Chefin selbst gewesen wäre," sagt Irene, "dann hättest du dich nicht wehren können!"

"Vielleicht, vielleicht auch nicht," sage ich zweifelnd, "aber bei der würde ich bestimmt keinen hochkriegen. Und das Risiko, daß sich jemand ihr versagt, das wird sie nicht eingehen wollen. Du weißt ja, wie sie hier mit Versagern umgehen."

"Und bei Charmion hättest du ..." forscht Irene weiter, aber ich sehe ein, daß es Zeit ist, das Thema zu stoppen:

"Ja, vielleicht. Aber jetzt werde ich erstmal bei meiner Frau!"

Und so geschieht es. Zeit wird es, unser Schicksal mal durch kleine Spieleinlagen aufzuhellen. Ein absolut aussichtsloses Abenteuer ist ja nun überhaupt kein Grund, das eheliche Liebesleben völlig einzustellen. Das passiert schon durch den beruflichen Alltag genug.

Daß dabei der Irene oder mir diese oder jene, sagen wir mal, grammatikalisch exakt, eindeutig interpretierbare Interjektion entschlüpft, stört mich dabei durchaus nicht. Vielleicht hört man es draußen. Vielleicht hört auch Charmion es.

Das wäre ein weiterer Schlag auf das Selbstbewußtsein meines Mädchens vom Mast.

Allerdings, und das sage ich Irene nicht, habe ich, während wir uns da in dem Regendurchrauschten Halbdunkel des Masthauses lieben, durchaus erotische Vorstellungen, die Charmion betreffen. Ich kann überhaupt nichts dagegen machen. Die neuronale Aktivierung der Sexualität verlangt nach Abwechslung. Der neue Sexualpartner, der andere Sexualpartner, der wird aus denselben Gründen gesucht - und häufig gefunden - aus dem wir auch nicht immer über demselben Witz lachen können. Der Cortex braucht diese Erkennungsarbeit, die kleine neuronale Explosion des Verstehens der Pointe eines Witzes oder des Erkennens eines neuen Sexualpartners. Wir sind eben so gemacht, und so drängen diese Vorstellungen sich eben auf, völlig ohne unser Dazutun. Man weiß, daß das bei beiden Geschlechtern der Fall ist. Kein Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben.

Aber auch kein Grund, bei anderen ein schlechtes Gewissen zu erzeugen.

19.3 Casabones

14 Uhr. Wecken, Wasch-Schwimmen, Frühstück in der Küche abholen, dann kommt auch schon Chechmon.

Das Wetter ist immer noch so wie gestern, immer noch Dauerregen, wenn auch schwächer, immer noch etwas dunkler als normal. Wir bleiben also bei dem Sprachunterricht im Masthaus.

Von dem Vorfall mit Charmion ist offenbar nichts bemerkt worden. Das ist gut so, denn sonst müßten wir befürchten, daß weitere Machtproben dieser Art versucht würden - vielleicht von Cherkrochj selbst.

Diese scheint sich aber nur indirekt für unser Schicksal zu interessieren. Wie interessiert sie zuhört, wenn Chechmon oder Chrwerjat von den Dingen, die wir während des Sprachunterrichtes erzählen, das wissen wir ja nicht.

Heute erfahren wir wieder etwas über Sozialstrukturen. Diesmal geht es um die Hierarchien an Bord.

Es ist so, wie ich es erwartet habe: Die Frauen haben die Aufgaben der Seeoffiziere, die Männer die der Mannschaft. Ganz einfach. Kein Mann wird Kommandant oder Kapitän, und keine Frau wird jemals das Deck scheuern. Manuelle Arbeiten werden von Frauen nur gemacht, wenn sie anspruchsvoll sind.

Bevor wir bei diesem Thema weiter nachfragen können, ruckt das Schiff so, daß es uns von den Beinen gerissen hätte, wenn wir nicht schon gesessen hätten. Wir springen ans Fenster.

Unten sehen verschiedene Mitglieder der Besatzung rund um das Schiff herum in das Wasser. Es ist aber nichts zu sehen. Auch sind die Harpunengeschütze nicht aufgebaut, es hat also niemand eine Begegnung mit etwa einem Fischsaurier erwartet.

Chechmon sagt, daß es höchstwahrscheinlich ein Fischsaurier war. Im Allgemeinen stoßen die nicht versehentlich ein Schiff an. Aber die kurzzeitige Verwechselung mit einem Artgenossen kommt immer mal wieder vor. Es sei nichts ernstes. Die großen Seeschlangen, von denen man weiß, daß sie sich sogar Menschen von einem Schiff herunterschnappen, und die gelegentlich auch ein Schiff zerschlagen, um an den Inhalt heranzukommen, die hätten auch schon längst angegriffen.

"Warum sind die Harpuniergeräte nicht aufgebaut, wenn so etwas zu befürchten ist?" frage ich.

"Weil es regnet. Die Stahlspitzen würden rosten." ist Chechmon's Antwort.

"Und was passiert, wenn so ein Tier angreift?"

Das kommt drauf an, sagt Chechmon. Viele Tote, schwere Beschädigungen am Schiff. Die beste Strategie in solchen Fällen ist es, einige der auf dem Deck aufgeschichteten Stapel von Saurierfleisch in das Wasser zu schieben. Dann kann so ein Tier unter Umständen abgelenkt werden, und man kann den Rest der Ladung nach Hause bringen.

Welche Spezies sich hinter der Bezeichnung 'Seeschlange' nun wirklich verbirgt, das finden wir nicht heraus. Irgendeine agressivere Art von Fischsaurier, wahrscheinlich.

Wegen dieses Vorfalles sehen wir häufiger zum Fenster hinaus. Das Wetter wird noch etwas besser, und die Ufer flachen sich zusehends ab. Die Fjordregion scheint vorbei zu sein. Der See weitet sich wieder. Bald sind die Ufer wieder einige Kilometer weit entfernt, und die Entfernung nimmt zu. Der Wind hat etwas aufgefrischt, und ich schätze, daß wir glatte zwei Stundenkilometer machen.

Chechmon klärt uns darüber auf, daß wir in etwa elf Stunden Casabones erreichen werden.

"Casabones?" frage ich.

Wir erfahren, daß es sich um eine Gefängnisinsel für Sklaven handelt. Diese Insel sei absolut ausbruchssicher. Dann verlassen wir das Thema wieder, obwohl ich neugierig geworden bin: Casabones - das klingt bedrohlich. Dabei ist es ein unechter Effekt. Casabones, das ist 'Casa', spanisch, für 'Haus', und 'Bones', englisch, für Knochen. Wahrlich ein passender Name für eine Gefängnisinsel! Aber die Xonchen-Sprache hat keinerlei linguistische Verwandtschaft zu Spanisch oder Englisch. Die Ähnlichkeit ist rein zufällig, die Assoziationen mit dem Graf von Monte Christo und anderen Geschichten existieren nur in meinem Kopf.

Außerdem ist nicht ganz klar geworden, ob nun die ganze Insel Casabones heißt, oder ob das nur der Name für eine Art Fort zur Bewachung, das dort sein soll, ist. Wir werden es später genauer erfahren, denke ich.

Chechmon wiederholt die unregelmäßigen Verben - die meisten Verben in den Xonchensprache sind unregelmäßig - und wiederholt kauen wir die Wörter durch, deren Aussprache uns zu schaffen macht - das sind auch die meisten.

Auch wenn wir schon leidlich einiges in der Xonchensprache verstehen, bis wir sie akzentfrei sprechen können, da dürften noch viele Jahre ins Land gehen.

Bis meine Uhr Mitternacht anzeigt, hetzt uns Chechmon unbarmherzig durch langweiligste grammatische Einzelheiten. Keinen Moment können wir uns entspannen, dauernd müssen wir selbst Beispiele formulieren.

Dann endlich ruft draußen jemand, und Chechmon bricht den Unterricht ab. Sie sagt, das Casabones in Sicht ist, und daß wir in vier Stunden dort anlegen werden.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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