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******** 018. Tag: Dienstag 95-09-05 ********
18.1 Küchengespräche
Nach unserer Zeit um Mitternacht ist der Sprachunterricht wieder zu Ende, für heute. Zwei Stunden vor Beginn der Schlafperiode können wir wieder an Deck gehen.
Das Bild ist immer noch ähnlich dem, wie wir es vor siebenundzwanzig Stunden gesehen haben. Der See ist immer noch groß, obwohl wir im Verlaufe des letzten Tages zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Kilometer zurückgelegt haben müssen, vielleicht sogar noch mehr. Der Wind war wechselnd, zwischen schwach und sehr schwach. Genaues kann man also nicht sagen.
Eine Säule, die wir in einigen Kilometern Entfernung dwars backbord sehen, ist irgendwann in grauer Vorzeit in der Mitte abgebrochen. Sie reicht bis dicht unter die Wolkendecke. Das abgebrochene Stück liegt einige Kilometer entfernt im See, ein vier Kilometer langer und zwei Kilometer durchmessender Zylinder, der etwa zur Hälfte unter Wasser liegt. Seine Rundung ist dicht mit Urwald bewachsen, und nur die Stirnflächen weisen steilste, zerrissene und überhängende Felsen auf. Aber auch das noch stehende Teilstück ist oben, viereinhalb bis fünf Kilometer über dem See, dicht mit Urwald bewachsen. Die Unregelmässigkeiten der Bruchstelle bilden da oben ein kleines, unzugängliches Miniaturgebirge, eine kleine, abgeschlossene und unzugängliche Welt von drei Quadratkilometern.
Steuerbord vorraus gibt es eine gedrungene Säule, die mindestens dreieinhalb Kilometer dick sein muß. Schon unter der permanenten Wolkendecke weitet sich diese Säule auf sechs Kilometer aus, bevor sie in der weißgrauen Schicht verschwindet. Ist das schon die richtige Höhlendecke, die an der Stelle dort eben sehr niedrig ist? Oder gibt es dort geologische Strukturen auf halber Höhe, so wie dort, wo wir abgestiegen sind?
Diese dicke Säule fällt fast ohne Vorgebirge in das Wasser ab. Aus dieser Entfernung kann man nur einen dünnen, mehrfach unterbrochenen Streifen Vegetation rund um diese Säule sehen - ein kleines Biotop für sich.
Allmählich denke ich, daß es in dieser Höhle, der 'Welthöhle', wie die Granitbeißer sagen, viele solcher abgeschiedenen Enklaven gibt, wo niemand hinkommt, solange die Welt so dünn besiedelt ist wie jetzt.
Als Irene und ich zum Vorschiff gehen, um die Landschaft genau in Fahrtrichtung zu betrachten, finden wir dort Charmion, ganz alleine. Sie sitzt auf einer Kiste und blickt starr auf die See vor uns. Sie hat uns wohl bemerkt, aber sie sieht sich nicht um. Von Gefangenen kann ja keine Gefahr ausgehen, selbst, wenn sie ihr im Rücken stehen. Oder wer weiß, vielleicht vertraut sie ihren Reflexen so, daß sie es für unmöglich hält, jemand, oder wenigstens wir, könnten sie von hinten plötzlich angreifen oder ihr sonstwie gefährlich werden?
Irene ist sofort negativ eingestimmt, aber ich würde ganz gerne versuchen, ein Gespräch anzufangen. Vielleicht bekommt man etwas heraus. Aber Irene ist sauer. Charmion hat ihr zuviel Sexappeal.
"Ein Vorschlag zur Güte," sage ich, "du sprichst mit ihr, und ich gehe in die Küche und rede ein bißchen mit dem Koch. Ich muß uns sowieso noch etwas zu essen holen. Einverstanden?"
Irene ist einverstanden, und ich trolle mich.
Der Koch ist mit den üblichen Vorbereitungen beschäftigt. Er hat alle Hände voll zu tun, und ich biete an, ihm beim Umdrehen des Fleisches auf dem Ofen zu helfen, so, wie ich es schon getan habe. Ich weiß natürlich, daß es sich bei dem Fleisch wenigstens zum Teil um Menschenfleisch handelt, aber jetzt ist nicht die Zeit für Pietät.
Ich probiere ein paar einfache Sätzchen aus. Wir wechseln ein paar Worte über das Wetter, und ich erfahre, daß wesentlich stärkere Winde sehr selten sind, jedenfalls hier. Allerdings gibt der Koch zu, daß der Wind im Moment sogar außergewöhnlich schwach ist.
Ich versuche, herauszukriegen, ob es auf diesen Meeren so etwas wie Stürme gibt, dieser Versuch scheitert aber ganz kläglich wegen meinem beschränkten Wortschatz: Der Koch hat nicht die Spur einer Idee, wovon ich rede.
"Was bekommt man dafür, als Koch auf diesem Schiff zu fahren?" frage ich dann.
Baßes Erstaunen. Das Konzept einer materiellen Entlohnung hat er aus meiner Frage heraus zwar schon begriffen, und das auch überraschend schnell, aber daß er selbst dafür etwas kriegen könnte, das scheint ihm sehr weit hergeholt.
Er erzählt, daß er als Koch mitfahren darf, obwohl er eigentlich für die Seefahrt schon zu alt ist. Früher hat er als Matrose vor dem Mast gearbeitet, schon als er ein kleiner Junge war. Es ist der Beruf, den er gelernt hat und den er liebt. Und als Koch zu fahren ist immer noch besser als an Land arbeiten zu müssen, als Holzfäller oder als Schlachter oder auch als Koch in einem der Paläste von Grom, oder gar als Bettler auf der Straße zu vegetieren.
"Grom?" frage ich.
"Die Stadt Grom."
"Ich denke, wir fahren nach ... ich weiß nicht, aber ich glaube, mir wurde ein anderer Name genannt." überlege ich, während ich das Fleisch drehe. Der Koch ist über die Gelegenheit zu einem Schwätzchen sichtlich erfreut, im Moment steht er mit verschränkten Unterarmen da, während nur ich arbeite. Daß ihm jemand freiwillig hilft, und sei es auch nur für einen kurzen Moment, das hat er noch nie erlebt, glaube ich.
"Grom hat viele Namen. Ich kennen nicht alle. Sie heißt auch 'Stadt der Funken', und sie hat fast fünf mal fünf mal fünf mal fünf mal fünf Einwohner. Die größte Stadt der Welt."
So, denke ich, fünf hoch fünf. Das sind 3125. Da ist Aying bei München größer.
"Wieso 'Stadt der Funken'?" frage ich.
"Grom liegt teilweise auf einem Berg, der aus Kristallen aufgebaut ist. Wenn man von See her ein starkes Licht erzeugt, etwa mit einem großen Feuer, dann sieht der Felsen, auf dem Grom liegt, wie eine Kaskade von Funken aus, besonders, wenn es wegen schlechten Wetters dunkel ist."
Ich hoffe, ich habe das richtig verstanden. Worte für 'Kristall' und 'Kaskade' haben wir im Sprachunterricht noch nicht gehabt.
"Weißt du, was mit uns in Grom geschieht?" frage ich.
"Nein. Warum sollte mir jemand das mitteilen?"
"Seid ihr denn nicht neugierig, wenn Fremde an Bord kommen?"
"Doch, schon. Aber wenn wir dumme Fragen stellen, dann bestrafen uns die Herrinnen furchtbar."
"Mit 'uns' meinst du alle Männer an Bord?"
"Ja, natürlich!"
"Und warum laßt ihr euch das gefallen?"
Das versteht er nun überhaupt nicht. Über so schwierige Fragen will er wohl nicht reden. Plötzlich hat er es sehr eilig, anzufangen, die Mahlzeiten zuzubereiten, und ich ziehe mit meiner Portion Grünzeug in Richtung vorderes Masthaus ab.
"Was hast du herausgefunden?" frage ich Irene, als wir uns im Masthaus treffen.
"Nicht viel. Wir sind Gefangene. Das hat diese Charmion mir deutlicher gesagt als ich das jemals vorher hier gehört habe. Und wo wir hingebracht werden, will sie mir nicht sagen."
"Wir werden nach Grom gebracht!" werde ich meine Neuigkeiten los, "Der Koch war gesprächiger!"
"Aha. Und was ist Grom?"
Ich erzähle ihr alles, was ich weiß. Ist ja nicht viel. Und wie lange es noch dauert, bis wir dort sind, weiß ich auch nicht.
"Und warum werden wir nach Grom gebracht?"
"So gesprächig war der Koch nun nicht. - Was hat das Mädchen noch gesagt?" frage ich.
"Nichts. Sich mit einer Gefangenen zu unterhalten war wohl unter ihrer Würde! Sie hat sich dann sofort verzogen."
"Naja. Jedenfalls geben sie sich mit uns Mühe," fasse ich zusammen, "mit dem Sprachenlernen und so. Da werden wir sobald wohl nicht in ihren Kochtöpfen landen."
"Aber wir werden jetzt in der Falle landen." bestimmt Irene, "Herwig, du bist jetzt müd."
Aha. Da kann man nichts machen.
18.2 Fjorde, Wracks und Landschaften, Namensregeln und Medizin
Etwa um 11 Uhr an demselben Tag stehen wir wieder auf. Der See ist wieder zu einer nur noch einige Kilometer breiten Wasserfläche geworden, die an beiden Seiten von Bergen umrandet ist. Wie groß der ausgedehnte 'Säulenwaldsee', wie ich ihn für mich getauft habe, nun wirklich gewesen ist, das kann ich nur höchst ungenau erraten. Die Karte, die Chechmon im Sprachunterricht gezeichnet hat, ist da auch nicht von Nutzen - darauf ist dieser See gar nicht zu identifizieren!
So gegen 12 Uhr nimmt die Steilheit und Höhe der Berge an beiden Seiten wieder zu, während der Durchmesser des Sees auf einige hundert Meter abnimmt. Die Umgebung sieht jetzt norwegischen Fjorden sehr ähnlich, insbesondere auch deshalb, weil die Felswände rundherum an vielen Stellen unseres Fahrtweges den Blick auf die Säulen völlig verstellen. Dann kann man sich wirklich im Geiranger-Fjord bei bedecktem Himmel glauben. Allerdings sind diese Felswände hier um einiges höher.
Ich habe den Eindruck, daß wir durch ein Gebiet fahren, das aus einer Hochebene besteht, die etwa zweieinhalb Kilometer über dem Wasserspiegel liegt und die durch diesen Fjord und seine Abzweigungen geteilt ist. 'Hochebene' ist natürlich ein relativer Ausdruck, es handelt sich, von der Welt da oben aus gesehen, um einen acht Kilometer tief liegenden Höhlengrund. Aber unser Standpunkt ist jetzt hier unten, und damit heißt es 'Hochebene', basta.
Die Wände des Fjordes sind natürlich nicht geometrisch vollkommen, wie man sich das als Kind im Schulunterricht manchmal naiverweise vorstellt, wenn der Lehrer von dem U-förmigen Profil eines Norwegen-Fjordes erzählt. Da sind viele Kanten, Vorsprünge und Abzweigungen, die Breite der Wasserstraße schwankt dauernd zwischen einigen hundert Metern und auch mehreren Kilometern. Die Abzweigenden Fjorde sehen genauso aus, alle steil und wild und unzugänglich, und nach welchen Gesichtspunkten das Schiff in welche Abzweigung gesteuert wird, bleibt uns verborgen.
Da gibt es entlegene Hänge auf halber Höhe der Felswand, die an ihrem unteren Ende direkt in einen senkrechten Steilabfall übergehen, und die weit oben, schwer zu erkennen, sich in irgendwelchen nebeldurchwogten Spalten verlieren, die klettertechnisch genauso abenteuerlich sind wie eine senkrechte Wand. Diese Hänge zu erreichen würde solche Kletteranlagen erfordern, wie wir sie erlebt haben - so häufig sind diese Kletteranlagen nun aber auch nicht. Und die bloße Vorstellung, irgendwie in diesen Hochhang verschlagen worden zu sein und dann überlegen zu müssen, wie man da wieder rauskommt, gibt diesen angenehmen Kitzel in der Magengrube, der Vorbote des Höhenschwindels, der noch nicht direkt die eigene Person bedroht. So ähnlich wie auf der Mastspitze, vor einigen Tagen.
Solche abenteuerlichen Plätze sehen wir dauernd, immer wieder in neuen Kombinationen, in immer wieder neuen Variationen der Unzugänglichkeit. Das Auge wird müde und wendet sich innerlich ab von dem Übermaß dieser Landschaft. Es ist zu viel. Zu viel auf einmal. Wenn man in einem Büro in München sitzt und dort seine Arbeit tut, dann mag man sich nach wilden Bergtälern sehnen, hier ist man dankbar, wenn man irgendwo eine Formation sieht, auf der man stehen kann, eine wenn auch noch so kleine waagerechte Fläche!
Das erste Mal habe ich diesen Landschafts-Übersättigungseffekt auf einer Radtour erfahren, die ich kurz nach meinem Studium von Deutschland aus in das schottische Hochland unternommen habe. Die ganze Zeit, vom Seehafen Harwich aus bis zum Erreichen Schottlands, etwa bei Gretna Green, habe ich die vielbefahrenen 'Trunk-Roads' zum Teufel gewünscht, vierzehn Tage lang habe ich die schottischen Berge herbeigesehnt. Und dann kam ich in die Southern Uplands, und mit einem Male hatte ich meine Berge. Alle paar hundert Meter ein neuer Blickwinkel, Steigungen und Gefälle, die einen Radfahrer sehr viel intensiver mit einer Landschaft verbinden als einen PKW-Fahrer, Wildbäche und Flußniederungen und Berge und natürlich immer wieder neue Regenschauer - wer im August noch nach Schottland fährt, darf nicht wasserlöslich sein. Und der August 1979 soll in Schottland nicht einmal besonders regnerisch gewesen sein.
Nach ein paar Tagen hatte ich jedenfalls auf eine merkwürdige Art die Nase voll. Nicht vom Regen - die zwei Wochen davor war ich in Südengland ja auch schon gegen das Wetter immunisiert worden. Es waren die kahlen Berge selbst, die mir seltsam zuwider waren, wie sehr ich mich auch vorher angestrengt hatte, sie zu erreichen. Jetzt ist es hier dasselbe. Landschaften in verschiedensten Variationen hatten wir in den letzten zwei Wochen satt. Aber es geht immer weiter, und immer noch fällt der Natur ein neues Gemälde ein, daß wir so zuvor noch nicht gesehen haben, und immer umfangreicher wird die Menge der neuen Landschaften, die man memorieren könnte - und auch memorieren müßte, wenn wir je alleine zurückfinden wollten - und die, der bloßen Menge der angebotenen Bilder wegen nicht mehr memorierbar ist. Sicher, die ersten Blicke auf diese Welt, die Blicke von der Seilbrücke aus und vielleicht die vom Abstieg auf dem Klettersteig aus, die werden uns im Gedächtnis bleiben, solange wir leben. Wir hatten auch genügend Angst, und Angst treibt Erinnerungen in den Schädel. Jeder Neurologe kann erklären, warum das so ist.
Aber dann blieben wir in der fremden Welt, und wie aus unserer eigenen Welt bleibt uns nicht alles im Gedächtnis, was man je gesehen und erlebt hat. Wenn das so wäre, welche abendfüllenden Filme könnten wir jederzeit im Geiste aufrufen!
Aber es ist gut, daß es so ist, und daß wir nicht in unseren Erinnerungen ertrinken können. Die meiste neuronale Arbeit beim Wahrnehmen dient nur dazu, Informationen wegzuschmeißen und nur das relevante zu behalten - ein unermeßlich kleiner Ausschnitt der Welt. Die Gemälde bleiben nicht. Es sei denn, das Spiel der Gene hätte einen gerade dazu mit besonderer Begabung versehen. Der Künstler, oder auch der Eidetiker, beide an entgegengesetzten Enden des Methodikspektrums der Wahrnehmung von Umwelt. Beide müssen für ihre Begabung - vielleicht - mit anderen Beschränkungen des Geistes bezahlen.
Vielleicht sind wir dummen, untalentierten Durchschnittsmenschen, die sich nicht einmal eine Reihe schöner Bilder merken können, eben deshalb in der Lage, die Übersicht darüber zu behalten, wo wir sind und was wir sind. Die Kunst der Abstraktion ist keine Gabe, sondern eine Behinderung. Wir müssen abstrahieren, ich muß es jedenfalls, um überhaupt etwas in meinen Kopf hineinzukriegen. Manchmal gelingt das, meistens nicht.
Und mit dieser supertouristikreifen Vorführung gelingt es überhaupt nicht mehr. Ich fürchte, ich muß den Augenblick leben und erleben. Denn es wird nichts bleiben.
Nicht das erste Mal, daß ich daran denke, daß es mich vielleicht nur deshalb in die Naturwissenschaften verschlagen hat, weil ich mit der Gabe oder der Behinderung durch gutes Abstraktionsvermögen geschlagen worden bin: Außer Mathematik und Physik mit ihrem großen formalen Kontext und ihrem kleinen Faktenbestand geht keine Wissenschaft in meinen Kopf hinein. Schon gar keine humanistische.
Der Kompaß belegt, daß wir unsere Richtung jetzt sehr häufig ändern. Die Winde in diesem Tal sind unregelmäßig, aber die Kommandantin weiß, wo sie am ehesten in die gewünschte Richtung wehen. Die Rahen werden häufig bewegt, und es stehen immer zwei Frauen im Ruderhaus auf dem Deckshaus. Meistens ist Cherkrochj eine davon.
Chrwerjat ist sehr spät zum Sprachunterricht erschienen, und sie scheint auch wenig Lust zu haben. Ich bringe es fertig, ihr vorzuschlagen, daß wir unsere Studien auf dem Vorschiff, auf der Seite auf dem Reelingsbalken sitzend, weiterführen. Dann können wir gleichzeitig die Gegend sehen und stehen doch niemandem im Wege.
Chrwerjat läßt sich überzeugen. So vergehen die nächsten Stunden auf eine Weise, die ich mir schon viel eher gefallen lasse. Unangenehm nur, daß man dauernd den Blick der Kommandantin im Nacken spürt.
Namen sind heute dran, Namen in der Gesellschaft der Granitbeißer. Man soll ja nicht glauben, daß das eine einfache Sache ist. Schon im Englischen sind Namen eine Wissenschaft für sich. Alle sonst gültigen Regeln für die Aussprache gelten für englische Eigennamen höchstens zufällig.
Im Xonchen-Dialekt ist es schlimmer. Wo sonst kommt es vor, daß sich Namen mit der Tageszeit ändern? Das ist, als würden wir dieselbe Person mit 'Guten Morgen Günther' und acht Stunden später mit 'Guten Abend, Klaus' begrüßen! Ein Konzept, das wirklich gewöhnungsbedürftig ist.
Naja, vielleicht nicht ganz. Daß wir in unserem Lande ganz genau denselben Tatbestand auch mit sehr unterschiedlichen Begriffen belegen, ganz besonders in der Politik, das ist uns ja auch schon in Fleisch und Blut übergegangen. Aber in der Xonchensprache ist die tagesperiodische Veränderbarkeit von Namen eine Eigenschaft der Sprache.
Zum Glück gilt das nicht für alle Namen. Und es gibt wenigstens ein paar Regeln, die man sich merken kann.
Die Namen von Frauen fangen allermeistens mit 'Ch ...' an. Danach kommt oft eine für uns ungewohnte Menge an weiteren Konsonanten, bis endlich mal ein Vokal das Ganze in den Bereich der Aussprechbarkeit bringt. 'Charmion' und 'Chbesmoi' sind da schon Ausnahmen, weil in beiden Namen sogar zwei Vokale hintereinander vorkommen.
Ich frage nach den Namensregeln für die Namen der Männer. Chrwerjat sieht mich überrascht an: Männer haben keine Namen, erfahre ich! Behauptet sie jedenfalls. Oder sie weiß es nicht besser.
Ich stelle sofort klar, daß ich einen Namen habe, und daß ich wünsche, daß der auch gebraucht wird, wenn es notwendig ist. Das scheint für Chrwerjat sehr fremdartig zu sein. Ein Mann, der auf etwas besteht, was wir als 'bürgerliches Recht' bezeichnen würden. Dazu noch ein Mann, der im Moment den Status eines Gefangenen hat, und der deshalb in der Schiffshierarchie eigentlich ganz zum Schluß kommen sollte.
Wir erzählen einiges über die Namen in unserer Welt. Damit ernten wir aber auch nur Erstaunen. Daß bei einer Eheschließung ein Partner den Nachnamen des anderen übernehmen kann, wenn er will, versteht sie schon deshalb nicht, weil ihr der Begriff 'Ehe' völlig fremd ist. Das hat bei den Granitbeißern keine Entsprechung, jedenfalls eine Ehe zwischen Mann und Frau. Das hieße ja, zwei völlig unterschiedliche Wesen gleichberechtigt und irgendwie gleichartig zu einem Ganzen zu machen - nein, das will ihr nicht in den Kopf. Vielleicht glaubt sie uns auch nicht.
Ich sehe schon, es sind nicht nur Dinge aus Technik und Naturwissenschaft, über die wir hier kaum etwas erzählen können.
Irene ist die erste, die das Wrack sieht. Es ist ungefähr 16 Uhr, und wir sind nach wie vor in dem Fjordsystem. Der Fjord ist zur Zeit achthundert Meter breit, und er wird in der Mitte von einem steilen Felsen geteilt, der sich wie eine riesige Rückenflosse aus dem Wasser hebt. Etwa fünfhundert Meter lang und zweihundert Meter hoch, dafür aber nur sechzig bis achtzig Meter breit. Die steilen Hänge sind dicht bewachsen, aber es dürfte trotzdem nicht ganz einfach sein, da herumzuklettern.
Vorne, auf der uns zugewandten Kante dieses Felsgrates, sitzt auf der aus dem Wasser steigenden Felskante ein Schiff auf, daß der Größe und der Bauart nach dem unseren sehr ähnlich ist. Beim Näherkommen zeigen sich jedoch die Unterschiede.
Das Schiff ist alt, sehr alt. Alles ist von Moosen und Farnen und Schlingpflanzen bewachsen, der massive Floßboden, der über den Felsgrat geknickt erscheint, ist überhaupt nicht zu sehen. Bei genaueren Hinsehen merkt man dann aber, daß der Felsgrat den Boden des Schiffes an einigen Stellen regelrecht durchspießt.
Das Mastwerk ist beschädigt, einige Rahen gebrochen, von allen hängen nur noch Fetzen der Segel herunter, und die meisten Seile des stehenden und laufenden Gutes sind verschwunden. Die Aufbauten machen eher den Eindruck eines buschbewachsenen Hügels denn den eines Gebäudes.
Chrwerjat weiß etwas über das Schiff. Es war auch ein Saurierjagdschiff, das im Einsatz zerstört wurde. Man hatte ein sehr großes Tier, also wahrscheinlich eine Art Fischsaurier, mit angeleinten Harpunen mehrfach angeschossen, aber die Verletzungen waren nicht schwer genug und es handelte sich wohl auch um ein sehr starkes Tier. Es hat mit dem Schiff übel mitgespielt, erst durch kilometerlange Schleifjagden, während denen es nicht gelang, die Seile zu kappen, und dann durch Aufsetzen des Schiffen auf diesen Felsengrat. Dann erst gelang es, genügend Harpunenseile zu kappen, so daß die letzten zwei Harpunen aus dem Fleische des Tieres ausrissen und es freikam.
Wahrscheinlich hat es überlebt. Das Schiff nicht. Mit einem Blick war festzustellen, daß es nie wieder mit vernünftigem Aufwand flottzumachen war, schon gar nicht unter diesen Umständen und mit sovielen Verletzten an Bord. So wartete man ein zweites Schiff derselben Gruppe ab, um sich an Bord nehmen zu lassen.
Ich frage nach, wie lange das her ist, aber wie immer sind solche Angaben bemerkenswert ungenau. Schade, daß hier das Jahr als Zeiteinheit unbekannt ist.
Unser Schiff kommt dem Wrack im Vorbeifahren auf fünfzig Meter nahe. Aus der Nähe scheint es noch mehr von dem intensiven Bewuchs in eine Art natürliche Insel verwandelt worden zu sein als aus größerem Abstand, wo man wenigstens noch die Schiffsumrisse als Ganzes erfassen kann. Ich überlege, ob ich mir die Position des Schiffes einprägen sollte, um eventuell einmal um eine Notunterkunft zu wissen. Aber den Gedanken lasse ich schnell wieder fallen. Eine Unterkunft ist in dieser tropischen Welt nicht das dringendste, was man braucht, und warum sollten wir bei der Größe dieser Welt ausgerechnet hier auf dieses Wrack angewiesen sein? Außerdem dürfte das Innere der Restaufbauten des Schiffes eine ungemütliche feuchte Höhle sein, und so wie ich die Granitbeißer einschätze, haben sie ihre Toten und Verletzten einfach da dringelassen. Nene, hier haben wir nichts zu suchen, denke ich, als das Wrack allmählich hinter unserem Schiff zurückfällt. Eine Weile noch treiben wir an der 'Flosseninsel' entlang vorbei, und dann hat der Fjord wieder seinen vorherigen Durchmesser.
Aber nicht mehr lange. So ab 18 Uhr bemerken wir eine der himmelhohen Säulen, die sehr dicht hinter den Steilwänden des Fjordes aufragt. Nach einigen Windungen haben wir sie plötzlich direkt vor uns. Die Säule grenzt tatsächlich ohne jedes Vorgebirge direkt an den Fjord. Es ist 19 Uhr, als das Schiff nur zweihundert Meter von ihrer senkrechten Wand entfernt entlangfährt, und wir müssen den Kopf weit in den Nacken legen, um die fünftausend Höhenmeter der Säulenwand zu überblicken.
Wie schon an allen vorhergehenden Felswänden gibt es keinen Hinweis auf menschliche Tätigkeit - keinen Klettersteig, keinen ausgehauenen Weg, nichts. Das Schiff befindet sich in einem bevölkerungsmäßigen Niemandsland.
Ich frage Chrwerjat danach, aber sie meint, daß sie uns das schon erklärt hat. Sie hat uns auf der Karte die größten Städte gezeigt, dann gibt es noch einige kleinere Ansiedlungen, aber das Land dazwischen ist unbewohnt. Wenn ich mir so etwas wie Gebiete, die landwirtschaftlich genutzt werden, vorgestellt habe, dann ist das jedenfalls insofern falsch, daß solche Nutzungen nicht auf landschaftsbildend großen Flächen gemacht werden. Die Fruchtbarkeit der Umwelt ermöglicht, alles, was man an pflanzlicher Nahrung braucht, im Urwald zu sammeln, und die Hauptnahrungsquelle ist eben Fleisch, und das wird eben mit Schiffen wie diesem hier gefangen.
Dann versuche ich, Chrwerjat klarzumachen, daß wir dann doch etwas viel Fleisch für eine Stadt von bloß dreitausend Menschen transportieren - so groß sollte Grom doch sein, wenn ich mich richtig erinnere?
Chrwerjat ist sich nicht sicher. Für das Fleisch gibt es weitere Abnehmer, außerdem wird es nicht nur als Lebensmittel verwendet. Aber wozu noch, das sagt sie nicht. Vielleicht weiß sie es nicht, oder der Lehrstoff ist einfach noch nicht dran.
So um 22 Uhr entfernt der Fjord sich wieder von der Säule. Drei Stunden lang sind wir dem Unfang der Säule gefolgt, wenn auch mit unserer geringen Geschwindigkeit, und trotzdem haben wir nur einen kleinen Teil ihres Umfanges umfahren - vielleicht ein Drittel. Auch aus dieser Nähe ist es mir nicht gelungen, irgendeinen Hinweis auf das geologische Entstehen der Formation 'Säule' zu erhalten. Es wird mir auch weiterhin schwerfallen, denn jede Erklärung dieser Struktur müßte auch erklären, warum solche Formationen auf der Erdoberfläche unbekannt sind, und warum diese Welthöhle überhaupt existiert.
Eigentlich erwarte ich schon die ganze Zeit, daß Cherkrochj sich mal wieder die Zeit zu einem Verhör nimmt. Vielleicht hat sie aber, solange der Fjord sich noch so windet, zuviel mit der Steuerung des Schiffes zu tun. Eigentlich sollte man so etwas delegieren können, denke ich mir. Oder verdaut sie noch die letzten Informationen, die wir ihr gegeben haben? Oder noch wahrscheinlicher: Nach einem Tag Sprachunterricht erstatten Chechmon und Chrwerjat am abend Bericht. Das wäre das einfachste. Beim Sprachunterricht reden wir ja über alles mögliche.
Irgendwann teile ich Irene diesen meinen Verdacht mit, aber sie sagt, das wäre ihr auch schon eingefallen. Wenn ich jetzt auf die Idee käme, sie zu fragen, warum sie mir ihren Verdacht nicht mitgeteilt hat, dann hätten wir sogleich wieder einen wunderschönen Krach, wahrscheinlich zur königlichen Belustigung von Chrwerjat.
Aber Irene ist unkonzentriert, ich sehe es ihr an. Da ich mich mit der Xonchen-Sprache leichter tue, gerät sie bei dem Unterrichtsgespräch automatisch ins Hintertreffen, wodurch ich wieder mehr Gelegenheit zu Reden habe und so weiter. Ein Teufelskreis. Ganz einschlafen kann sie nicht, denn dazu nimmt Chrwerjat sie zu oft dran.
Ich versuche, etwas über die medizinischen Fähigkeiten der Granitbeißer zu erfahren. Ich stelle sehr schnell fest: Das sieht ja ganz finster aus.
Das sie es mit der Hygiene nicht besonders haben, das sieht - und riecht - man ja dauernd. Allerdings hatten sie offenbar auch das Glück, noch nicht von Epidemien heimgesucht zu werden. Das wird schlicht und einfach an der geringen Bevölkerungsdichte liegen.
Aber es gibt ja noch andere Wege in die Krankheit. Es scheint, daß man sich im Allgemeinen auf die Selbstheilungsfähigkeit des menschlichen Körpers verläßt, wobei es wenigstens bekannt ist, daß Ruhe und Entlastung etwa gebrochener Gliedmaßen schon sinnvoll ist. Sie wissen um das Legen von Verbänden - um Blutungen zu stillen, nicht etwa wegen der Asepsis, und sie kennen das Trainingsprinzip, was mich bei der körperlichen Tüchtigkeit, die ich hier auf dem Schiff vorfinde, nicht wundert. Da gibt es aber einen interessanten Irrtum: Chrwerjat erklärt uns, daß das Trainingsprinzip, also die körperliche Ertüchtigung durch Sport und andere körperliche Belastung, bei Männern nicht oder nur sehr schlecht funktioniert. Sie glaubt offenbar fest daran.
Wenn bei den Granitbeißern nicht ganz andere genetische Verhältnisse vorliegen als bei uns, dann ist das ein kultureller Irrtum. Was Wunder, im Ansatz, nur mit vertauschten Rollen der Geschlechter, glaubt man bei uns oben ja das gleiche.
Ich bleibe weiter beim thematischen Kontext und frage noch nach der Versorgung der alten Menschen. Das scheint Chrwerjat wieder nicht zu verstehen. Jeder sorgt für sich, bis er oder sie umfällt, na und? Das Konzept langen Siechtums kennen sie nicht. Wer nicht für sich sorgen kann, der verhungert eben, oder er geht betteln, was in der Welt der Granitbeißer aber wohl nicht sehr vielversprechend ist. Man muß sich eben irgendwie durchschlagen. Man kann den Gesunden und Jungen doch nicht zumuten, die Alten auch noch durchzufüttern. Allerdings, so Chrwerjat, gibt es Leute, die genügend Mittel angesammelt haben, um auch eine ganze Zeit des körperlichen Siechtums überleben zu können, und manchmal werden solche Leute ja auch wieder gesund.
Die Vorstellung, im Alter anderen zur Last zu fallen, findet sie beschämend.
Krankenhäuser? Gibt es wohl nicht, denn sonst hätte ich mehr Erfolg, ihr diesen Begriff klarzumachen.
Welche Krankheiten und Krankheitsbilder die Granitbeißer kennen? Die Frage ist auch sehr wenig ergiebig. Entweder, ein Granitbeißer wird durch eine Verletzung krank. Daran denkt jeder Granitbeißer zuerst, wenn sie oder er das Wort, das dem Begriff 'Krankheit' entspricht, hört. Oder es handelt sich um etwas anderes. Dann unterscheidet man 'Unwohlsein' oder 'krank'. Das hängt davon ab, ob man es ohne Hilfe, die es hier nicht gibt, überlebt.
Ich seh schon: Medizinische Tricks werden wir den Granitbeißern nicht verraten können. Höchstens Hygiene gegen Seuchen. Aber so etwas kennen sie hier nicht. Hoffentlich, denke ich, haben wir selbst nichts dergleichen mitgebracht.
Dann bringe ich das Gespräch auf die Fortpflanzungsmedizin. Gynäkologie. Diese Art von Krankheiten, die Geburt von Kindern nämlich, werden die Granitbeißer ja kaum vermeiden können. Ich versuche, rauszukriegen, was sie darüber wissen.
Tabus, darüber zu reden, scheint es keine zu geben, oder sie sind so subtil, daß sie mir entgehen. Daß zwischen Geschlechtsverkehr und dem Entstehen von Schwangerschaft ein kausaler Zusammenhang ist, wissen sie. Das ist nicht selbstverständlich, denn es gibt primitive Völker, die das nicht wissen.
Verhütungsmethoden sind jedoch unbekannt, und Chrwerjat sieht auch nicht ein, wozu das gut sein soll. Allerdings scheint es Abtreibungsmethoden zu geben, die auch häufig und unproblematisch zu praktizieren sind, wenn eine Schwangerschaft einmal ganz ungelegen sein sollte. Wie sie es machen, erzählt Chrwerjat nicht, weil sie es entweder nicht weiß, oder weil sie annimmt, daß jeder weiß, wie man das macht.
Bei dem Thema kommt auch heraus, daß es doch eine soziale Einrichtung gibt: die Allgemeinheit kümmert sich um schwangere Frauen, solange diese das nicht selbst können. Wie das institutionalisiert worden ist, finde ich nicht heraus, weil mir dazu zu viele Worte fehlen. Jedenfalls sind auf dem Schiff nicht deshalb keine Schwangeren vorhanden, weil das etwas sehr seltenes ist. Es ist, im Gegenteil, sehr häufig, was eigentlich auch nicht weiter verwunderlich ist. Außerdem wird weder Schwangerschaft noch Wochenbett als Krankheitsbild angesehen, ja, nach den Beschreibungen von Chrwerjat scheint es ein Wochenbett in dem Sinne nicht zu geben. Die Granitbeißer-Frauen tun sich mit dem Gebären offenbar viel leichter. Aha. Doch ein evolutionierter genetischer Unterschied?
Wahrscheinlich ja. Denn auch die Menstruation sieht etwas anders aus als bei uns da oben. Die Periode ist auch 28 Tage lang, allerdings handelt es sich um die hiesigen Tage von 27 Stunden. Das sind nach unserer Rechnung also etwa 31 Tage. Die üblichen Menstruationsbeschwerden sind wesentlich weniger ausgeprägt als bei uns und werden nicht einmal unter dem Begriff 'Unwohlsein' geführt. Das einzige äußere Kennzeichen sind gelegentlich schwache Blutungen und ganz leichte Schwankungen in der Leistungsfähigkeit der betroffenen Frau. Wenn die Menstruation sich mit sowenig Symptomen zeigt, dann ist es mir unklar, woher die Granitbeißer überhaupt die Periodenlänge so genau wissen. Naja, man kann an sich selber ja auch ein ganz leichtes Unwohlsein noch feststellen.
Daß die Empfängnisbereitschaft je nach Phasenlage zum Menstruationszyklus schwankt ist Chrwerjat unbekannt. Sie glaubt es auch nicht, als ich es ihr zu erklären versuche. Das würde einen hauptberuflichen Gynäkologen, der in der Forschung tätig ist, sicher brennend interessieren. Besonders die nächste Mitteilung, die Chrwerjat mir noch zu verkaufen sucht: Während der ersten Schwangerschaftsmonate sollen auch noch Monatsblutungen vorkommen, die dann erst gegen Ende der Schwangerschaft vollkommen verschwinden.
Jetzt wünschte ich, ich hätte meinen Harrison hier: 'Principles of Internal Medicine'. Meine medizinischen Kenntnisse reichen nicht aus, solche Mitteilungen in Bausch und Bogen einfach unglaubwürdig zu finden. Andererseits gibt es für Chrwerjat keinen Grund, uns da etwas vorzumachen. Keinen Grund, den ich mir im Moment vorstellen kann. Ich habe unklare Vorstellungen: Ein Eierstock, der noch arbeiten kann, wenn schon ein Fötus da ist, ich weiß nicht - vielleicht eine Abkapselung durch eine stabile Fruchtblase. Was für medizinische Komplikationen gibt es, wenn im vierten Monat noch eine weitere Zeugung stattfindet? - Wahrscheinlich habe ich irgend etwas falsch verstanden.
Die in einigen primitiven Völkern beobachtbare Abstufung der Frau als 'unrein' ist hier natürlich wegen der geringen Symptomatik der Menstruation völlig unbekannt.
Eine Vaterbindung des Kindes, ja, den Begriff 'Vater' gibt es nicht, was bei den Sexualgewohnheiten der Granitbeißer auch nicht weiter verwundert. Ich finde heraus, daß auch über Vererbung fast nichts bekannt ist, ebenso ist die eigentliche biologische Funktion des Geschlechtsverkehrs als Zeugungsakt in Details unbekannt. Das Allgemeinwissen sagt, auf rein empirischer Basis: Wenn eine Frau Geschlechtsverkehr mit einem Mann hat, dann kann sie eben Kinder bekommen. Weitere bekannte funktionelle Zusammenhänge gibt es nicht.
Freimütig gibt Chrwerjat zu, daß viele Kinder nach der Geburt wegen Abnormitäten beseitigt werden. Nur bei den besten und stärksten und gesündesten macht man sich überhaupt die Mühe, dieselben durchzubringen. Das paßt zu euch, denke ich mir, enthalte mich aber jeder wertenden Bemerkung.
Ich versuche noch, herauszukriegen, ob die Höherstellung der weiblichen Form der Species Mensch etwas mit der Fähigkeit der Frau zum Gebären zu tun hat - eine Einstellung, die es ja auch bei einigen primitiven Völkern bei uns noch gibt. Die Antworten sind nicht klar. Es ist herauszuinterpretieren 'Frauen können gebären, weil sie die höherwertige Form des Menschen sind', und 'Frauen sind die höherwertige Form des Menschen, weil sie, unter anderem, auch gebären können', und 'Frauen sind sowieso die höherwertige Form des Menschen'. Die letzte Auffassung scheint bei den Granitbeißern Allgemeingut zu sein. Aber niemand macht sich darüber besonders viele Gedanken. Es ist eben selbstverständlich.
Jetzt hätte ich noch gerne etwas über das Aufwachsen von Kindern gewußt, und über eventuelle Schuleinrichtungen, aber Chrwerjat beendet den Unterricht für heute, kurz, nachdem meine Uhr Mitternacht in Bayern angezeigt hat. Wir haben jetzt, bis zu Beginn der Schlafperiode um 5 Uhr, ungewöhnlich viel Zeit.
Ich habe den Verdacht, daß Chrwerjat unmittelbar zu Cherkrochj rennt, um ihr alles das, was wir an Informationen während des Unterrichtsgespräches über uns herausgelassen haben, zu berichten. Wer weiß, was sie richtig verstanden hat und was nicht. Wer weiß, was uns schadet oder nützt.
Wenigstens habe ich den Eindruck, daß uns diese intensive Form des Sprachunterrichtes schon in den wenigen Tagen etwas gebracht hat.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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