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******** 017. Tag: Montag 95-09-04 ********

17.1 Verhör

Aufwachen um 8 Uhr, aber keine normale Tagesroutine: Als wir gerade eben das Frühstück hinter uns haben, betritt Chechmon das Masthaus. Leider ist sie nicht alleine, die Kommandantin Cherkrochj kommt gleich hinter ihr.

Cherkrochj macht den Eindruck, als ob sie gerade eben aufgestanden ist. Sie hat nur ihren Lederstreifenrock an und das obligate Schwert umgegürtet. Ob sie aus Nachlässigkeit, oder wegen der Hitze, oder um die Gefangenen, denen das offenbar peinlich ist, zu beeindrucken, so barbusig herumläuft, kann ich nicht herausfinden. Vielleicht hat sie sich auch überhaupt nichts dabei gedacht. Ich denke mir jetzt auch nichts dabei, denn sie ist bestimmt nicht gekommen, um über Kleiderordnung zu diskutieren.

Sie deutet an, daß wir uns in der Mitte des Masthauses auf dem Boden gegenübersetzen. Drei Plätze bleiben frei. Also kommt noch jemand. Es dauert eine Zeit, in der niemand spricht. Dann betritt Chrwerjat den Raum, gefolgt von Charmion, dann Chrechat, die bei der Jagdgruppe war, die uns gefangengenommen hat. Als endlich alle Platz genommen haben, eröffnet Cherkrochj das Gespräch:

"Wie kommt ihr mit der Sprache voran?" Sie sieht Irene an.

Irene sagt nichts. Während sie noch an der Antwort herumformuliert, springe ich ein:

"Die Sprache ist schwer. Aber es geht."

Pause. Cherkrochj verbirgt ihr Mißfallen nicht. Auch die nächste Frage richtet sie an Irene:

"Wie lange dauert es?"

Irene antwortet nicht, und ich auch nicht, weil mir jetzt einfällt, daß wir kein Wort für 'Jahr' haben. Hier unten gibt es kein Jahr.

"Fünf mal fünf mal fünf Tage." sage ich nach einer Weile. Bei der intensiven Lernmethode ist das wohl ungefähr richtig. Jetzt, erst nach einigen wenigen Tagen schon gute Kenntnisse zu erwarten ist natürlich naiv, auch wenn, ob absichtlich oder nicht, die Methode von Chrwerjat und Chechmon schon recht brauchbar ist: Wir lernen ja all die neuen Begriffe gleichzeitig mit dem Vertrautwerden mit dieser neuen Umwelt.

"Nicht gut." sagt Cherkrochj. Sie denkt nach und spielt dabei mit ihrer eigenen Brustwarze. Sie läßt einen Finger ein paarmal um dieselbe kreisen, und als sie sich aufgerichtet hat, drückt sie sie wieder wie einen Klingelknopf in den Busen hinein. Ein paarmal wiederholt sie das Spiel. Niemand scheint das besonders zu interessieren, und wir hüten uns, uns irgendein Erstaunen anmerken zu lassen. Hatte Chrwerjat nicht erst vor zwei oder drei Tagen während des Unterrichtes ebenso gedankenverloren angefangen, sich zu mastubieren, damit aber sofort aufgehört, als sie unsere erstaunten Blicke bemerkte?

"Nicht gut." wiederholt Cherkrochj. Sie ist wohl intelligent genug, zu wissen, daß es manche Vorgänge gibt, die man nicht beliebig beschleunigen kann. Damit weiß sie immerhin mehr als so mancher Manager in gewissen Industriebetrieben bei uns da oben.

"Woher kommen?"

Sie erwartet wohl schon, daß ich antworte. Soll ich mir irgend etwas ausdenken? Ich weiß schon, wenn ich mir irgendeine Phantasiegeschichte ausdenke, dann bin ich lange daran gebunden, und es könnte sehr schwierig werden, die Geschichte in sich konsistent zu halten. Besser, man erzählt die Wahrheit, wenn nicht unbedingt etwas anderes erforderlich ist. Die Wahrheit ist automatisch in sich konsistent. Der Spruch 'Lügen haben kurze Beine' ist nämlich gar kein moralischer Imperativ. Er ist eine Aussage, die ein Informatiker sich ausgedacht haben könnte: Es ist schwer, sich große, formale Systeme so auf Anhieb widerspruchsfrei auszudenken. Große, formale Systeme meint in diesem Zusammenhang eine ausgedachte Geschichte. Deshalb habe ich mich auch nie in meiner Freizeit-Schriftstellerei an Romane gewagt, nur an Kurzgeschichten - es wäre zu peinlich, wenn man gewisse wesentliche Fakten während des Schreibens eines Romanes vergißt, wenn zum Beispiel Personen wieder auftreten, die bereits ums Leben gekommen sind.

Irene kennt diese Vorsicht und diese Überlegungen nicht. Manchmal kriege ich von ihr sehr elaborierte Anweisungen, wer von unserer Verwandschaft was aus unserem Privatbereich wissen darf. Wenn dieses Netz solcher Anweisungen zu kompliziert wird, dann passieren mir natürlich Fehler, und dann gibt es natürlich Ehekrach. Und dann hilft mir einer meiner philosphischen Grundhaltungen gar nichts mehr: Es ist dem Menschen nicht bestimmt, seine Zeit mit Ehekrach zu vertun. Das liegt vielleicht daran, daß sich Philosophie und Ehe sowieso nicht so besonders gut vertragen.

Okay - da ich im Moment hauptsächlich antworte, wird sie nicht anfangen können, Cherkrochj irgendwelche ausgedachten Dinge aufzutischen. Wir bleiben bei der Wahrheit.

"Wir kommen von der Welt ganz oben." sage ich.

Cherkrochj versteht das nicht:

"Wo oben?"

"Hoch oben, über diesen Höhlen, über den höchsten Säulen, über der Höhlendecke!"

"Das ist unmöglich."

"Wieso? Wir kommen von da. Es ist möglich!"

"Da ist nur Stein. Wie könntet ihr in Gestein leben?"

"Nein. Da ist Luft und Wasser und Berge, wie hier!"

"Andere Höhlen?"

"Nein, da ist ..." wie soll man ihr das erklären? "... da ist eine Höhle ohne Begrenzung, ohne Decke."

"Nein. Das gibt es nicht." Cherkrochj ist sich ziemlich sicher.

"Das gibt es doch." sage ich bestimmt, "Die Welt ist da oben nicht zu Ende. Unsere Welt ist groß und weit."

"Größer als diese Welt?"

"Natürlich. Viel größer."

"Unsinn." Cherkrochj ist verärgert. "Jeder weiß das: Die Welt ist nur stabil, weil sie in alle Richtungen aus Stein besteht - der Stein der Schöpfung. Es gibt nur diese Höhlen. Noch größere Höhlen würden einstürzen. Jeder weiß das. Auch mehrere solche Höhlen nebeneinander würden einstürzen. Deshalb ist dieses die Welthöhle, weil sie die einzige Höhle ist, die existiert. Alles andere wäre eine Beleidigung des ewigen Weltgesteins. Diese Welthöhle ist die einzige, und sie ist ewig."

So oder so ähnlich drückt sie es aus. Der alte Gegensatz zwischen einem zu engen Weltbild, das der Wirklichkeit nicht entspricht, und der Wirklichkeit.

"Ewig ist nichts," wage ich mich vor, "auch nicht bei uns da oben."

"Ihr kommt von den Gebieten hinter der Welt. Oder ihr kommt von den Toten Städten." stellt Cherkrochj fest, "Eine andere Möglichkeit gibt es nicht."

Wieder die Toten Städte, die wir auch schon so bezeichnet haben. Mal sehen, ob wir da weiter kommen:

"Wir haben eine Tote Stadt gesehen," erkläre ich, "als wir in diese Welt abstiegen. Sie sind in der Tat tot, aber wir haben nichts damit zu tun. Unsere Welt liegt weit über diesen Toten Städten."

Cherkrochj blickt mich böse an. Wer weiß, was ihr als nächstes einfällt.

"Wir haben einen Weg in Eure Welt gefunden - einen verlorenen Weg. Es ging durch dunkle Höhlengänge in die Tiefe, dann kam das Licht, und dann mußten wir über Seilbrücken, die so hoch über den Wolken waren wie wir jetzt darunter sind!"

Fahre ich fort. Hoffentlich war die Grammatik richtig genug. Cherkrochj holt Luft, um etwas zu erwidern, aber Chrwerjat fällt ihr in das Wort:

"Das stimmt, Kommandantin. Es gibt Überlieferungen über geheime Wege, auf denen man weit über die Toten Städte hinaus gelangen kann - bei einigen Städten, nicht bei allen. Wohin diese Wege führen ist nicht bekannt. Diese hier können von diesen Wegen nichts wissen - ich habe es ihnen nicht erzählt. Sie müssen selbst dort gewesen sein!"

Wieder Schweigen. Dann:

"Wie sind sie genau heruntergekommen?"

Chrechat antwortet kurz für uns. Wahrscheinlich beschreibt sie den Ort, wo wir gefangen genommen wurden, und den Weg zum Schiff. Komisch, daß sie das nicht ganz am Anfang getan hat, als wir auf das Schiff gebracht wurden. Oder sie frischt diese Information in Cherkrochj's Gedächtnis wieder auf.

Danach komme ich dran. Den Weg von der toten Stadt zum Ort unserer Festnahme kann ich recht gut wiedergeben, und Cherkrochj scheint ungefähr zu wissen, wovon die Rede ist. Die Hängende Straße ist ihr bekannt, entweder aus eigener Anschauung oder von Hörensagen. Auch den Hinrichtungsplatz mit den Kreuzen kennt sie. Aber jenseits der Abzweigung des Fahrweges zur Toten Stadt weiß sie nichts mehr - den Weg, den wir gekommen sind, kennt sie nicht, obwohl es sich ja noch, bis weit in die Säulenwand hinein, um einen gut ausgebauten Fahrweg gehandelt hat. Erst hoch oben in der Säule begann der Klettersteig, oder er endete dort, je nachdem auf welche Marschrichtung man sich bezieht. Eigentlich komisch, denn es waren ja nirgends, meiner Erinnerung nach, Vorkehrungen getroffen worden, um den Weg selbst oder eine seiner Abzweigungen irgendwie zu verbergen.

Ich habe den Eindruck, daß diese Gebiete, die über den Wolken liegen, für die Granitbeißer tabu sind, warum auch immer. Cherkrochj gibt mir darüber keine Auskunft: Sie ist es, die fragt, nicht wir.

Ich muß noch Einzelheiten der Klettersteige und der Seilbrücken beschreiben. Besonders das Material der Seilbrücke, diese Stahlseile, verwundert sie: Aus Eisen macht man Schwerter und keine Seile. Wie sollte das denn gehen? Und warum rosten diese Seile nicht, wie unbenutzte Schwerter?

Bei der Beschreibung der noch höher gelegenen Teile unseres Herweges fällt mir auf, daß sie nicht danach fragt, wie wir uns trotz der Dunkelheit orientiert haben. Wahrscheinlich hat sie es nicht begriffen, denn wer in diesem ständig gleichbleibenden Dämmerlicht lebt, dem ist der Begriff der Dunkelheit, jedenfalls im Freien, vielleicht völlig fremd.

Es geht Cherkrochj nicht gleich auf, daß man im Dunkeln ein Orientierungsproblem haben könnte. Aber Charmion ist fixer. Sie fragt nach. Ich packe meine Dynamolampe aus und führe sie vor.

Damit erwecke ich endlich echtes Erstaunen. Das Licht ist zwar schwach, aber das einzige künstliche Licht, das man hier kennt, ist Feuer. Deshalb erstaunt es alle Anwesenden, daß man sich nicht verbrennt, wenn man vorne auf den Reflektor der Lampe faßt.

Jeder will es ausprobieren. Cherkrochj äußert sich zwar einmal abfällig über die geringe Lichtstärke, aber sie ist dennoch beeindruckt. Und als sie die Lampe pumpt, wie ich es ihr zeige, habe ich ein ungutes Gefühl: Hoffentlich wendet sie nicht zuviel Kraft an. Dann ist die Lampe hin, und unsere Möglichkeiten, nach hause zu kommen, wären noch weiter eingeschränkt.

"Gibt es solche Geräte in eurer Welt, Kommandantin?" frage ich.

"Nein."

"Glaubst du dann, daß wir aus einer anderen Welt kommen?"

Sie zuckt mit den Schultern. Immerhin, sie geniert sich nicht, ihr Erstaunen einzugestehen.

"Dieses ist nur eine schwache Lampe. Wir haben da oben bessere. Manche sind so hell, daß sie die Augen ausbrennen, wenn man hineinsieht, so hell, daß sie alles weitaus heller machen als das Licht hier!"

"Das glaube ich nicht." stellt Cherkrochj fest, aber es klingt nicht überzeugt.

"Welchen Grund hätten wir, dich zu belügen, Kommandantin?" frage ich.

Das weiß sie auch nicht. Sie bricht das Gespräch ab. Vielleicht will sie noch abwarten, bis unsere Kenntnisse dieser Sprache noch besser geworden ist. Sonst kommt es zu leicht zu Mißverständnissen.

Die Dynamolampe händigt sie mir wieder aus. Ob sie mir meine Erleichterung ansieht? Ein anderes Szenario, das mir auch noch eingefallen ist, ist dieses: Sie behält die Lampe. Aber vielleicht hat sie Angst vor Feuer, oder vor Dingen, die sie nicht versteht, und deshalb möchte sie, daß der Originalbesitzer weiter auf diesen seltsamen Gegenstand aufpaßt.

Als Cherkrochj, Charmion und Chrechat gegangen sind, fahren Chechmon und Chrwerjat gemeinsam mit dem Sprachunterricht fort. Wir erfahren recht schnell, daß es noch weitere Interviews oder Verhöre oder wie immer man es nennen will, geben wird. Deshalb werden wir jetzt, in Rahmen des Sprachunterrichtes, auch unsere eigene Welt beschreiben müssen, damit dann genügend Worte zur Verfügung stehen.

Es stellt sich aber schon sehr bald heraus, daß es für viele Dinge in unserer Zivilisation in der Xonchen-Sprache gar keine Wörter gibt. Chrwerjat läßt sich zum Beispiel noch einmal die Dynamolampe zeigen, um sich erklären zu lassen, wie sie funktioniert. Das geht völlig schief. Wie hätte man einen Menschen des Mittelalters solche Konzepte wie Spannung, Strom, Widerstand und elektromagnetische Induktion erklären sollen? Gehen doch die meisten Zeitgenossen in unserer Welt da oben mit solchen Dingen nur vermöge Gewöhnung so unbefangen um, nicht vermöge eines weitergehenden Verständnisses für technische oder naturwissenschaftliche Zusammenhänge. Gewöhnung an elektrisches Licht kann man mit einer Dynamolampe aber nicht erzeugen.

Auch andere Dinge greifen sie wieder auf. Beide geben sich Mühe. Aber das Konzept einer unbegrenzt weiten Höhle ist zu schwer für sie. Sie erzählen uns, daß kleine Kinder, bevor sie lernen, daß hinter den ewigen, leuchtenden Wolken eine dunkle Höhlendecke ist, manchmal Vorstellungen von einem unendlich weit ausgedehnten Raum entwickeln. Aber das gibt sich natürlich, wenn sie erst älter werden und in der Welt Bescheid wissen.

Wenn ihre Phantasie gekappt worden ist, denke ich mir. Schade. Wird bei den Kindern in dieser Welt die Phantasie auch als so unerwünscht und nutzlos angesehen wie bei uns?

In aller Bescheidenheit unterlasse ich es dann, zu versuchen, Astronomie und Gravitationsgesetz zu erläutern. Gerade noch, daß ich glaubhaft machen kann, daß bei uns die Hälfte der Zeit ein grelles Licht am Himmel steht. Das glauben sie wahrscheinlich nur deshalb, weil in einigen ihrer Sagen, die sie uns erzählt haben, solche Hinweise vorkommen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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