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******** 016. Tag: Sonntag 95-09-03 ********

16.1 Jagdtechniken

Aufwachen um 5 Uhr, normale Tagesroutine. Während wir geschlafen haben, hat das Schiff die Schlucht wieder verlassen, und der See ist jetzt wieder so breit, wie er vorher war.

So um 6 Uhr läßt Chrwerjat sich blicken, die es nicht übertrieben eilig hat, mit dem Sprachunterricht zu beginnen. So ist es ziemlich leicht, das Thema auf den Saurier von gestern zu bringen.

Chrwerjat fand den Vorfall nicht besonders aufregend. Das machen sie immer, wenn sie von der Saurierjagd zurückkommen und diese Schlucht durchfahren, sagt sie. Da bis zum Zielhafen keine schwierigen Manöver mehr zu erwarten sind, kann man ohne weiteres noch mehr Fleisch an Bord nehmen, wenn das Schiff nicht ausgelastet ist. Da diese Fischsaurier - sie verwendet deren Namen, aber ich kann ihn mir nicht merken - sehr scheu sind und sich vor einem Schiff in Sicherheit bringen, muß man sie gezielt aufstöbern und zwingen, an die Oberfläche zu kommen, damit man sie bekämpfen kann.

Woran hat man gemerkt, daß an genau der Stelle ein Fischsaurier unter der Wasseroberfläche trieb? Ragten Teile seines Körpers aus dem Wasser heraus? Wir hatten ja nichts dergleichen gesehen.

Nein, antwortet Chrwerjat, das Tier ist schon gescheit genug, in große Tiefe abzusinken und dort das Vorbeiziehen dieses Schiffes abzuwarten. Es ist nämlich sehr scheu.

Aber ein Tier dieser Größe hat einen ganz ordentlichen Grundumsatz, auch wenn der Grundumsatz pro Kilogramm Körpergewicht bei allen Tieren in der Welt der Granitbeißer wesentlich geringer ist als an der Erdoberfläche, und Saurier ohnehin keinen übertrieben heiß brennenden Metabolismus haben. Aber ein paar Kilowatt kommen da schon zusammen. Nicht daß Chrwerjat den Begriff 'Kilowatt' verwendet, aber sie vergleicht die Erzeugung von Körperwärme des Sauriers mit der Erzeugung von Körperwärme bei Menschen. Da kann ich es ungefähr ausrechnen.

Diese Wärme erzeugt einen Aufwärtsstrom im Wasser, der sich an der Oberfläche teilt und nach allen Seiten auseinander driftet. An kleinen, treibenden Gegenständen auf der Wasseroberfläche - Blattstücke, Blasen - kann man es erkennen, wenn man das lange genug geübt hat.

Außerdem hat sich das Tier noch einige Zeit vorher, als das Schiff noch nicht in Sicht war, bewegt, und die Reste der verwirbelten Strömungen kann eine geschulte Beobachterin auch erkennen.

Deshalb sahen mehrere Menschen an Bord relativ genau, wo das Tier sein mußte. Lediglich die Tiefe war sehr unsicher. Aber da gab es Erfahrungswerte. Und so war es möglich, schon mit dem ersten Schuß das Tier zu verletzen.

Dann bestand aber noch die Gefahr, daß das Tier sich unter Wasser davonmachen würde. Es ist also notwendig, dem Saurier sehr schwere Verletzungen beizubringen, und das gelingt mit der wiederholten Harpunierung auch nicht immer. Und da kommt Charmion in das Spiel. Sie ist unter Wasser sehr gewandt, schon seit frühester Jugend. Sogar unter den Granitbeißern sind ihre Fähigkeiten ungewöhnlich. Jeder andere hätte sich schon bei dem Sprung aus vierzig Metern Höhe verletzt, ganz besonders, wenn man dann auch noch Waffen mit sich führt. Aber danach noch in einige Dutzend Meter vorzustoßen, den Saurier zu finden, sein Kopfende zu finden und dann dort, unter Wasser und kaum etwas sehend, die ersten tiefen Schnitte in das Gesicht zu setzen, das kann nicht jeder!

Wir erfahren jetzt auch, daß Charmion dieses Abenteuer praktisch unverletzt hinter sich gebracht hat. Daß sie bis auf ein Messer dabei alle Waffen verloren hat, spielt keine Rolle - das Saurierfleisch ist mehr wert. Einen Moment habe ich den Gedanken an diese Schwerter und Messer, die jetzt in der Schlucht irgendwo auf dem tiefsten Grunde liegen - viel weiter von jeder möglichen archäologischen Entdeckung entfernt als es Gegenstände aus den Kulturen auf der Erdoberfläche jemals sein können. Nicht weit davon entfernt wird jetzt der Kadaver des Sauriers liegen, wenn nicht das Restfleisch an den Knochen, eine Zeitlang aufgetrieben durch Verwesungsgase, den Kadaver noch einige Zeit am Schwimmen halten. Nein, was da passiert ist, wird durch archäologisches Vorgehen niemals ermittelt werden können. In unserem Kopf ist die einzige Spur dieser Ereignisse. Wir müssen diese Erzählung nach Hause bringen. Ob wir es jemals schaffen werden?

Wir hören Chrwerjat weiter zu. Das Thema schwenkt auf Jagdstrategien. Nicht uninteressant, aber daß wir jemals an Saurierjagden teilnehmen werden ist unwahrscheinlich. Immerhin, es gibt eine ganze Menge Methoden, mit denen man mit wenig Aufwand diese großen und wenigstens zum Teil gefährlichen Tiere zur Strecke bringen kann. Das Attraktive an der Jagd von Sauriern ist, daß man erstens damit auf einen Schlag eine große Menge von Lebensmitteln erhält, und daß zweitens das Fleisch von Sauriern sich auch ohne weitere Behandlung sehr lange hält. Daß es sehr strenge schmeckt, das stört die Granitbeißer nicht besonders.

Das wäre ein interessanter Hinweis an unsere Paläobiologen: Der geringe Grundumsatz pro Kilogramm Körpergewicht bei diesen Tieren bewirkt ja auch, daß so alle interzellularen Vorgänge langsamer ablaufen, unter anderem auch die immunologischen Vorgänge, die beim lebenden Organismus den Angriff der Mikroorganismen abwenden. Also muß die Zusammensetzung der intrazellularen Flüssigkeit schon von sich aus so beschaffen sein, daß Mikroorganismen dort wenig Chancen haben.

Was das nun wirklich ist, was im Blute von Sauriern kreist und was sie davor beschützt, bei lebendigem Leibe zu verfaulen, das weiß ich nicht. Ich weiß ja nicht einmal, wie es sich damit bei den Reptilien, die wir auf der Erdoberfläche kennen, verhält, denn die haben ja auch einen geringeren Grundumsatz als die Warmblüter.

Es ist immer dasselbe. Immer wieder stößt man an die Grenzen seines eigenen Wissens. Immer wieder gibt es Grund, zu bedauern, daß man nicht öfter über den Zaun der Wissenschaft geschaut hat, die man zufällig studiert hat. Und immer wieder begegnet man Menschen, in unserer Welt da oben, meine ich, die es tatsächlich für ausreichend halten, in seinem ganzen Leben nur in einem Fach eine gewisse Expertise zu erreichen. Dabei sind die wesentlichen Kenntnisse einer Wissenschaft, jedenfalls bei den Naturwissenschaften, häufig überraschend wenig umfangreich, jedenfalls da, wo sie grundlegend und gut verstanden sind.

Niemand würde ernsthaft verlangen, daß der durchschnittliche Nicht-Biologe jedes Blütenblatt klassifizieren kann. Aber die Prinzipien der Molekuarbiologie, die Rolle der DNS, und den Bergiff der Evolution, das muß man einfach kennen! Niemand würde ernsthaft von dem Nicht-Mediziner verlangen, alle anatomischen Einzelheiten des Menschen zu kennen. Aber daß Grundkenntnisse des menschlichen Stoffwechsels, der Funktion des Verdauungstraktes und des Kreislaufes notwendig sind, halte ich fast für selbstverständlich. Und doch begegnet man immer wieder Menschen, die unter dem Begriff 'Erkältung' eine wohldefinierte Krankheit vermuten, ohne auch nur rudimentär Einzelheiten über Infektionswege und Virengruppen zu wissen. Ja, der normale Mitbürger geht mit seinem Körper so um wie ein Autobesitzer, der seinen Wagen mit Salzwasser wäscht und gelegentlich der Tankfüllung Honig zusetzt.

Es ist ja noch spaßiger. Gerade über medizinische Zusammenhänge reden die am allerausdauernsten, die am allerwenigsten davon verstehen. Das scheint eine allgemeine Erscheinung zu sein: Auch das Wetter ist ein beliebtes Allerweltsthema, obwohl nur eine verschwindend geringe Minderheit der Bevölkerung eine Ahnung vom Funktionieren einer Zyklone hat oder die elementaren Vorgänge in einem Gewitter beschreiben kann. Und genauso symptomatisch ist es, daß sich wesentlich mehr Menschen für Astrologie interessieren als für Astronomie - wo doch die Astronomie als Wissenschaft einen ganz wesentlichen Vorteil hat: Der Gegenstand dieser Wissenschaft Astronomie existiert wirklich!

Also, ich brauche mich jedenfalls nicht zu schämen, wenn ich die Einzelheiten des Stoffwechsels eines Reptils nicht kenne. Außerdem bleibt abzuwarten, ob hier, bei den Granitbeißern, die Allgemeinbildung, die jeder von ihnen im Prinzip haben könnte, auch vorhanden ist. Dazu muß ich allerdings erst einmal die Grenzen des Wissens dieser Menschen herausfinden. Hier im Sprachunterricht erfahren wir ja schon viel. Aber wenn ich daran denke, wie unsicher Chechmon mit dem Rechnen war - da muß es Leute geben, die das besser können. Denn wie baut man ohne einige ingenieurmäßige Kenntnisse ein solches Schiff, oder eine Harpuniereinrichtung?

Chrwerjat ist heute mißmutig und überhaupt nicht in Form. Irene flüstert mir irgendwann einmal zu, daß das daran liegen könnte, daß sie heute ihre Tage hat. Woher sie das wissen will weiß ich nicht. Vielleicht haben Frauen einen Riecher für den Zustand anderer Frauen. Einen Riecher im übertragenen Sinne, versteht sich. Denn etwas gezielt zu riechen ist bei dem Gestankskonzert an Bord für unsereinen nicht möglich.

Die Segel sind wieder vollständig gesetzt, und so können wir unsere weitere Fahrt vom Masthaus aus nicht verfolgen. Nichts, was den Sprachunterricht stören würde. Deshalb machen wir ununterbrochen weiter bis um 21 Uhr. Dann haben wir alle keine Lust mehr.

16.2 Die Säulenwaldsee

Als wir nach dem Abendessen, das wir wieder nicht mit den anderen zusammen, sondern alleine im Masthaus eingenommen haben, noch etwas unten auf Deck stehen, sehen wir, daß sich die Landschaft wieder verändert hat: Der See ist jetzt immens breit. In allen Richtungen sind wir weiter als fünfzehn Kilometer von den endgültigen Begrenzungen des Sees entfernt. Natürlich sind überall, im Abstand von einigen Kilometern untereinander, gebirgige Inseln, die sich um eine Säule gebildet haben. Die Höhlendecke ist also nicht über mehr als dreißig Kilometer freitragend, sondern wie bisher höchstens über Spannweiten von um die acht bis zehn Kilometer.

Der ganze See macht den Eindruck eines gigantischen Waldes, in dem die Baumstämme, die Säulen, in einer Nebelschicht in geringer Höhe verschwinden, bevor sie sich in Ästen verzweigen. das Auge versucht immer, bekannte Interpretationen zu finden. Aber die Ausmaße dieser Höhle sind unverkennbar. Das Schiff bewegt sich inzwischen mit vielleicht zwei Kilometern pro Stunde, weil der Wind etwas zugenommen hat. Und trotzdem muß man sehr genau hinsehen, wenn man erkennen will, wie sich ferne Berge und Säulen langsam vor dem Hintergrund verschieben.

Die Lethargie an Bord hat zugenommen. Wir haben von Chrwerjat gehört, daß sich ein Mann während des letzten Kampfes mit dem Fischsaurier schwer verletzt haben soll. Sie hat aber nicht gesagt, wie schwer, und wir sehen auch niemanden, der Anzeichen einer solchen Verletzung hat. Ich nehme fast mit Sicherheit an, daß dieser Mann die Standard-Behandlung für schwerverletzte Männer erhalten hat: Er liegt bestimmt schon in der Speisekammer. Wer weiß, vielleicht machen sie es mit allen so: Auf dem ganzen Schiff gibt es nur gesunde Menschen. Keine Behinderungen, keine Schwäche durch hohes Alter oder chronische Krankheiten. Allerdings will ich da keine voreiligen Schlüsse ziehen. Schließlich, wenn eine außerirdische Expedition ausgerechnet im Gebiet einer Bundeswehrkaserne landet, werden sie auch nicht gleich auf die Idee kommen, festzustellen, daß alle Menschen, die älter als zwanzig sind, fast ausnahmslos irgendwie beseitigt werden.

Um 23 Uhr gehen wir schlafen. Der Wind frischt weiter auf, und das Knarren in der Takelage erinnert an romatische Seefahrerabenteuer, die man nie selbst erlebt hat.

Erlebt man so etwas selbst, wie wir es jetzt tun, dann ist es nicht romantisch.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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