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******** 015. Tag: Samstag 95-09-02 ********
15.1 Zahlensysteme
2 Uhr morgens. Die alltägliche Routine. Ein kurzes Bad, seitlich am Schiff, daß immer noch mit geringer Geschwindigkeit vorwärtsgetrieben wird, dann holen wir uns in der Küche etwas zu essen.
Während der Schlafperiode haben wir vielleicht ein Dutzend Kilometer zurückgelegt, und wir wissen nicht mehr, ob das Schiff vielleicht einen Seitenarm hineingefahren ist oder sonstige Umwege gemacht hat. Jedenfalls sind keine der Landmarken von gestern wiederzuerkennen. Sicher, die großen Säulen sind über viele Dutzend Kilometer weit zu sehen, aber bei den sich ständig verändernden Blickwinkeln und der Vielzahl der Säulen, Berge, Buchten und Windungen des Sees habe ich die Übersicht verloren. Die Richtung ist laut Kompaß Nordnordost. Ob wir während der Schlafperiode andere Fahrtrichtungen hatten, weiß ich nicht. Unser Standort relativ zum Höhleneingang auf dem Höllentalplatt wird immer unsicherer.
Chechmon ist wieder dran. Chechmon und Chrwerjat wechseln sich also nicht jeden Tag ab. Kann mir auch egal sein, wie sie das unter sich regeln. Oder wie es ihnen vorgeschrieben wird.
Bald, nachdem wir angefangen haben, kommt heraus, daß Chechmon die Hinrichtung gestern gesehen hat. Ich frage, was der Grund war.
"Cherkrochj wollte es so." sagt sie. Ihr Mund verzieht sich, als ob sie Mißmut über diese Frage ausdrücken will. Als sie das aber ein paarmal häufiger macht, glaube ich eher daran, daß sie sich mit der Zunge Speisereste zwischen den Zähnen herauszutzelt.
"Aber warum?"
"Was?"
"Aber warum? Was hat der Mann getan?"
"Was soll er getan haben?"
"Ist er nicht für irgend etwas ..." ich suche das Wort für 'Strafe' und finde es nicht, "Ist er nicht für irgend etwas getötet worden, was er falsch gemacht hat?"
"Das weiß ich nicht. Ich glaube, nicht." sagt Chechmon, "Cherkrochj wollte das. Das ist alles."
Ich bin nicht zufrieden:
"Aber der Mann konnte doch arbeiten! Warum tötet man jemanden, den man vielleicht noch braucht?"
Was Chechmon darauf antwortet, kann ich wieder nur zum Teil verstehen. Es scheint darauf hinauszulaufen, daß jetzt nur noch das Saurierfleisch irgendwohin gebracht wird. Dabei sind nicht mehr alle Besatzungsmitglieder nötig. Oder die männlichen Besatzungsmitglieder sind als Proviant jetzt nützlicher als als Arbeitskräfte.
"Ich glaube," sage ich zu Irene in deutsch, "die haben hier kein Rentenproblem!"
"Was?" fragt Chechmon auf Xonchen.
"Ich glaube, in eurem Volk wird niemand alt!" formuliere ich in derselben Sprache.
"Doch. Manche." Dann wechselt sie das Thema. Heute ist wieder Geographie dran. Das ist wenigstens interessant und lenkt von anderen Gedanken ab.
Längenmaße hatten wir ja schon. Deshalb können wir die Erklärungen über die Entfernungen einiger Orte voneinander durchaus verstehen. Wenn ich nicht ganz das Rechnen verlernt habe, dann ist da oft von Größenordnungen in den hunderten oder sogar tausenden von Kilometern die Rede! Solche großen Entfernungen kommen insbesondere auch zustande, wenn man sich auf den Weg entlang bestimmter Täler oder Seen bezieht. Den Begriff 'Enfernung nach Luftlinie' verwendet man hier nicht. Na klar: Nicht einmal ein Vogel kann hier auf geradem Wege von einem Ort zum anderen gelangen. Berge, Säulen, oder die Abgrenzungen der Höhlen stehen dem entgegen.
Nun heißt das nicht, daß wir uns in einem Gebiet befinden, dessen Abmessungen man sich als eine Fläche vorzustellen hat, die in allen horizontalen Dimensionen einige tausend Kilometer mißt. Es ist eher so, daß diese Höhlen langgestreckte Systeme bilden, vielfach verzweigt, vom Grunde bis zur Höhlendecke fünf bis neun Kilometer, und in der Breite im Allgemeinen zwanzig bis sechzig Kilometer. Manchmal kommt man dann in Benennungsschwierigkeiten. Ein sechzig Kilometer breiten Abschnitt der Höhle kann man ohne weiteres dann auch als 'Abzweigung' bezeichnen.
Chechmon versucht, uns eine Karte aufzuzeichnen. Es sieht aus wie eine Demonstration fraktaler Geometrie. Während wir gewohnt sind, in die Umrisse von Kontinenten immer irgendwelche vereinfachenden Formen hineinzuabstrahieren, will mir das bei diesem Höhlenverhau nicht gelingen.
Die Säulen zum Beispiel. Während viele Säulen, die wir von hier aus sehen, als zwei bis drei Kilometer dicke und fast zehn Kilometer hohe Steingiganten beschrieben werden können, die die Höhlendecke der Welt der Granitbeißer tragen, gibt es nahe den Begrenzungen der Höhlen gedrungene Säulen mit wesentlich größerem Durchmesser. Dann wird es schwierig, zu entscheiden, ob man noch von einer Säule oder schon von einer kilometerweiten Höhlenschlinge sprechen will.
Dann gibt es auch schlankere Säulen. Ab und zu sehen wir solche vom Schiff aus. Da kommt es dann vor, daß sie ihre tragende Funktion verloren haben und - vielleicht vor Millionen von Jahren - abgebrochen sind. Es ist dann ein in etwa zylindrischer Berg übriggeblieben, der unter Umständen noch acht Kilometer hoch sein kann, ein Berg, der über der leuchtenden Wolkendecke eine dunkle, unzugängliche Insel bildet, die in die noch dunklere Welt der hängenden Schluchten der Höhlendecke hineinragt.
Immerhin wird damit jetzt eines deutlich: Auch wenn diese Höhlen extrem weitläufig sind, so ist unter einem zufällig unter der Oberfläche der Erde herausgesuchtem Punkt mit größerer Wahrscheinlichkeit keine Höhle. Sollte es so sein, daß alles, was zum Beispiel Bergbau interessant macht, wie Eisenerze oder Kohlenflöze, nur da vorkommen, wo keine Höhle ist? Wie da ein geologischer Zusammenhang sein soll ist mir allerdings völlig unklar.
Es wäre jetzt günstig, wenn ich auch Geologie studiert hätte - obwohl ich den Verdacht habe, daß mir auch dann durchaus nicht auf alle Fragen eine plausible Antwort einfallen würde.
Der See, auf dem wir fahren, ist Teil eines immensen Seesystems, auf dem man offenbar überall hinkommt. Es gibt in vereinzelten Abzweigungen auch kleinere, isolierte und höher gelegene Seen, aber das ist die Ausnahme. Dieser vielverzweigte Ozean ist umfassend. Die Flüsse, die manche Höhlen durchfließen, haben ebenfalls erstaunliche Abmessungen. Der Fluß, auf dem das Schiff den Saurier geschlachtet hat, ist durchaus nicht der größte.
Die Welt der Granitbeißer ist noch nicht vollständig von diesen selbst erforscht. In allen Richtungen setzen sich Höhlensysteme fort, die Chechmon nicht nur deshalb nicht mehr zeichnet, weil das Pergament zu Ende ist, sondern weil sie darüber nichts weiß. Gibt es dort keine Menschen mehr? Oder sind dort andere Stämme? Sollte der ganze Planet untertunnelt sein? Oder nur alle Kontinentalschelfe? Ich kann es nicht herausfinden. Der Umriß des Gebietes, das sie gezeichnet hat, entspricht keiner bekannten Form, und wahrscheinlich ist diese grobe Karte auch nicht maßstäblich gezeichnet. Das jedenfalls scheint sicher, denn manche Entfernungsangaben von Chechmon widersprechen sich einfach, und manchmal operiert sie auch mit solchen Begriffen wie 'Tagesreisen'. Noch unexakter geht es nicht. Tagesreisen womit? Zu Fuß? Zu Schiff? Mit wieviel Wind? Ich frage Chechmon, aber ich fürchte, es gelingt mir nicht, die logischen Feinheiten der eigentlich notwendigen Präzisierungen deutlich zu machen. Manchmal sieht sie mich an, als ob ich bekloppt wäre.
Und sie zutzelt immer noch. Wenn mein Xonchen schon besser wäre, würde ich versuchen, ihr zu erlären, was ein Zahnstocher ist.
Chechmon erzählt etwas über Geysire und Vulkanismus. Aha. Das gibt es also auch. Es scheint aber eine seltene Erscheinung zu sein. Warum nicht, in Bayern findet man auch nicht an jeder Straßenecke einen Vulkan.
Sie erwähnt Städte. Oder sind es nur Dörfer? Oder Burgen? Ich frage, wieviele Menschen dort leben. Es sind in jeder dieser Orte höchstens einige tausend. Chechmon ist sich aber auch nicht sicher, außerdem scheinen sie ein seltsames Zahlensystem zu haben, das gar nicht geeignet ist, große Zahlen auszudrücken. Es ist unwichtig, zu wissen, wieviel Menschen in einer Stadt wohnen, weil es immer gleich viele sind. Was kann man schon mit diesem Wissen anfangen? - Eine Stadt hat eine gewisse wirtschaftliche oder politische Bedeutung, die man kennt, weil man es schon als Kind so gelernt hat, und so bleibt es ja auch. Es gibt kaum Veränderungen.
Einige der Städte zeichnet sie sehr unexakt in die Karte ein. Danach müßten diese Städte im Wasser des Sees liegen. Ich sage aber nichts.
Auch Zahlen kommen heute dran. Das ist in jedem Sprachunterricht wichtig, und wir greifen das Thema wohl deshalb auf, weil Chechmon Schwierigkeiten hatte, uns die Anzahl der Einwohner in jenen Städten anzudeuten.
Es wird mir sehr rasch klar, daß die Chechmon-Menschen noch kein Stellensystem kennen, daß sie aber dicht davor sind, ein auf der Fünf basierendes Zahlensystem zu entwickeln. Es gibt Zahlworte für Eins, Zwei, Drei, Vier und Fünf. Das sind also Mengenangaben, die man mit einem Blick erfassen und die man mit den Fingern einer Hand andeuten kann. Schon 'Sechs' hat kein eigenes Wort mehr, man sagt 'Fünf plus Eins', manchmal auch 'Zwei mal Drei'. Die Kombinationsmöglichkeiten 'Zwei plus Vier' und 'Drei plus Drei' werden zwar auch verstanden, sind aber unüblich. Nach Möglichkeit werden Zahlen aus reinen Additionsausdrücken oder reinen Multiplikationsausdrücken zusammengesetzt, vorzugsweise das, was am kürzesten ist, und dann am liebsten, wenn alle Zahlen gleich groß sind. Die Granitbeißer, oder wenigstens Chechmon, haben aber eine Abneigung gegen zu komplizierte Ausdrücke.
'125' Ist zum Beispiel eine gebräuchliche Zahl, weil es 5 * 5 * 5 ist, ebenso '625', dann '3125' und so weiter. Potenzen von fünf sind also die Meilensteine ihrer Arithmetik. Aber schon über '124' zu sprechen oder '126', das macht ihnen Mühe. '100' geht noch, weil es als 4 * 5 * 5 darstellbar ist. Das gilt für die Granitbeißer aber schon als krumme Zahl.
Chechmon verläßt das Thema wieder. Es macht ihr Mühe. Das verstehe ich. Bei der Methodik würde mir die numerische Mathematik auch Mühe machen.
Es ist 14 Uhr, als Chechmon von Charmion, die ohne sich irgendwie anzumelden einfach so das Masthaus betritt, gerufen wird. Danach sind wir plötzlich alleine.
"Endlich." sagt Irene.
"Gehen wir runter, um die Gegend anzusehen?" frage ich.
"Sieht doch immer gleich aus - na gut."
15.2 Charmion's Saurier
Als wir zum Haupdeck hinuntersteigen, sehen wir überraschend viel Betrieb. Die Harpuniergeräte werden wieder aufgebaut. Die Stimme der Kommandantin Cherkrochj ist nicht zu überhören. Etliche der männlichen Besatzungsmitglieder steigen in die Takelage auf.
Der See ist enger geworden. Beide Ufer sind noch jeweils fünfhundert Meter entfernt. Als wir in Fahrtrichtung schauen, sehen wir, daß die Ufer noch weiter aufeinander zurücken, außerdem steigen die Berge beiderseits stärker an und die direkt in das Wasser abfallenden Berghänge werden immer steiler. Der undurchdringliche Dschungel verhindert, daß man Felsen sieht, aber weiter oben ragen vereinzelte Felsnasen aus dem Urwald heraus. Diese Uferhänge zu erklettern würde schon Schwierigkeiten machen, für uns jedenfalls.
Außerdem wird das Wetter schlechter. Es ist dunkler geworden, und der Grund ist eine tiefhängende Wolkendecke. Nebelfetzen liegen auf dem Wasser, und obwohl das Ufer langsam näher kommt, verschwindet es gelegentlich hinter weißgrauen Schleiern.
Die Stimmen des Urwaldes, die uns auch näherkommen, klingen hohl und dünn, irgendwie unheilvoll. Das ist natürlich nur eine Einbildung. Das macht sicher die Dunkelheit.
Jetzt fällt es mir stärker als sonst auf, wie ich das klare Sonnenlicht vermisse. Immer nur der gleichmäßig bedeckte, trübe Himmel, die Wolkendecke, hinter der keine Sonne leuchtet sondern drohende Felsen vom Himmel hängen, gnädig hinter den Wolken verborgen. Genauso vermisse ich die Nacht. Immer das ewig gleiche trübe Tageslicht. Wie lange braucht man, sich daran zu gewöhnen? - Ich überlege, ob ich jemals etwas von ernsthaften psychologischen Wirkungen ständigen Tageslichtes gehört habe, wie man es oben auf der Erdoberfläche etwa jenseits der Polarkreise haben kann. Ich kann mich aber nicht erinnern. Einziges Resultat ist, daß bei dem bloßen Gedanken an Polargebiete mir diese Welt gleich noch einmal so schwül vorkommt.
Der See, der allmählich flußähnlich eng wird, windet sich, und bald schon kann man weder in Fahrtrichtung noch nach dort, wo wir herkommen, weiter als einige hundert Meter sehen. Nun fallen schon nackte Felsen aus großen Höhen senkrecht bis an die Wasserlinie ab, dazwischen ist immer noch ein reichlicher Bewuchs, der sich an den steilen Hängen festkrallt, jede Felsritze und jede noch so kleine nichtsenkrechte Fläche ausnutzend. Die schluchtartige Verengung des Tales sorgt zusätzlich dafür, daß es noch dunkler wird als es ohnehin schon ist.
Die Segel an den unteren Rahen werden eingeholt. Warum? Sind sie eine unerwünschte Sichtbehinderung, oder will man die Geschwindigkeit absichtlich drosseln?
Als das Ufer sich an beiden Seiten auf weniger als hundert Meter genähert hat, überfällt mich die unangenehme Vorstellung, daß, wenn diese Schlucht noch enger wird, wir möglichen Angriffen aus dem Uferurwald schutzlos ausgeliefert sein könnten. Man kann aus großer Höhe Steine auf das Schiff werfen, und bald schon wird man sich an Lianen vom Ufer auf das Schiff herauf schwingen könne.
Irene würde mich schon wieder als professionellen Schwarzseher oder Katastrophen-Heini bezeichnen, wenn ich solche Überlegungen laut aussprechen würde. Das verstehe ich nun wieder nicht. Ich erkenne solche strategisch ungünstigen Situationen, und ich bilde mir ein, daß alle anderen das auch tun. Bin ich da voreingenommen? Aber das Verhalten unserer Gastgeber läßt doch darauf schließen, daß nicht nur ich Befürchtungen habe, oder?
Haben unsere Gastgeber denn wirklich ähnliche Befürchtungen? Warum sonst wohl die Harpunengeräte? Sie zielen alle auf den Uferurwald. Und als ich merke, daß auch die Männer wieder Schwerter tragen, schlage ich Irene vor, wieder in das Masthaus zu hinaufzusteigen. Jetzt kann man von dort auch mehr sehen, weil weniger Segel die Sicht versperren.
Jedenfalls sind die Schwierigkeiten, die man erwartet, wohl weniger seemännischer Natur. Wo sollten diese Schwierigkeiten auch herkommen? Der Wind ist lau, und es gibt kein Hinweis auf eine Strömung, trotz der starken Verengung des Tales.
Eine unheimliche, gespannte Stille legt sich auf das Schiff. Chechmon hätte uns ruhig etwas verraten können, wenn eine unangenehme Situation bevorsteht, und welche. Jetzt steht sie unten neben einem der Harpuniergeräte: Keine Sprachlehrerin mehr, sondern eine kampfbereite Amazone. Wie alle hier: ich sehe, daß sie auch alle anders gehen: gespannt und wachsam wie ein Leopard auf der Jagd. Es ist einer der seltenen Momente, wo ich die meisten weiblichen Mitglieder der Besatzung tatsächlich schön finde. Es ist aber keine weibliche Schönheit, sondern die bedrohliche, funktionelle Schönheit der Raubtiere. Vielleicht ist das ein Klischee - genausogut könnte man von der funktionellen Effizienz der erfahrenen berufsmäßigen Killer reden.
15 Uhr. Die verbleibende Wasserstraße hat einen Durchmesser von nur noch achtzig Metern. Dreimal die Breite des Schiffes. Rechts und links noch zehn Meter zwischen den äußersten Enden der Rahen und den Felsen. Man muß verdammt genau steuern. Immer noch wechseln steile Felsen mit Rudimenten von Bewuchs ab, aber man kann nicht mehr von einem durchgehenden Urwald sprechen. Nach oben scheinen diese Felswände mindestens tausend Meter hoch anzusteigen, vielleicht auch viel mehr - man kann es aus dieser Perspektive nicht erkennen. Wahrscheinlich ist das Wasser hier ähnlich tief. Dann ist es klar, daß eine starke Strömung an dieser Stelle unwahrscheinlich ist.
Weitere Segel werden eingeholt. Das Steuern muß sehr schwierig sein. Zwei Männer der Besatzung sind jeweils auf die Enden der breitesten Rahen geklettert. Sie rufen gelegentlich leise der Frau am Steuer etwas zu. Ob die überhaupt noch eine Ruderwirkung hat? Bei dieser geringen Geschwindigkeit? - Immer, wenn auf der Brücke das Ruder gewirbelt wird, versuche ich, genau aufzupassen, ob ich eine deutliche resultierende Bewegungsänderung des Schiffes wahrnehmen kann. Das gelingt mir aber nicht.
Wie Felsen stehen die Mitglieder der Besatzung da unten neben ihren Harpuniergeräten, Frauen wie Männer gleichermaßen. Überflüssige Bewegungen werden vermieden. Es sind alle an Deck. Sogar der Koch hat nicht in seiner Küche zu tun.
16 Uhr. Wir durchfahren eine Stelle der Schlucht, auf die der dunkle Schatten eine gewaltigen Felsnase fällt, die weit über uns irgendwann abgebrochen ist und sich dann in fünfhundert Metern Höhe zwischen den Schluchtwänden verkeilt hat. Ich erinnere mich an ähnliche Steine, die die Partnachklamm überbrückten - oder war es die Klamm bei Obersdorf, oder die Höllentalklamm? Hier handelt es sich aber um einen Felsen, der, nach kurzer Überschlagsrechnung, zwei Millionen Tonnen schwer sein könnte. Es gibt keinen Anhaltspunkt, um herauszufinden, wie lange der Felsen da oben schon eingeklemmt ist. Jedenfalls scheint niemand der Besatzung besonders beunruhigt zu sein - sie erwarten eine Gefahr aus ganz anderer Richtung.
Dabei ist eine Klamm kein sicherer Aufenthaltsort. Ist es nicht erst fünf Jahre her, daß ein großer Erdrutsch die Partnachklamm versperrt hat, mitten im Sommer? - Ich wollte es mir immer noch einmal ansehen. Ob ich jemals noch dazu komme? Hätten wir es doch am 19. August getan! Die Partnachklamm besuchen heißt die Höllentalklamm nicht besuchen, und das heißt, nicht die Zugspitze über das Höllental besteigen, und das heißt, nicht den Einstieg in diese Welt gefunden haben!
Bald darauf fahren wir an gewaltigen Löchern in den Felswänden vorbei - Grotten und Höhlen. Weit über uns scheinen sich die Schluchtwände gelegentlich zu berühren, und es ist sehr dämmerig. Trotzdem sehen wir auf einem Vorsprung am Eingang einer der Höhlen große Knochen- und Wirbelreste. Ein Schädel mit schwer durchschaubarer Anatomie, groß wie ein kleiner LKW, glotzt uns aus leeren Augenhöhlen an.
"Wie der wohl hierherkam?" frage ich Irene. Sie sagt nichts. Ich suche die Felswände nach Anzeichen von Nistgelegen von Vögeln ab, finde aber nichts definitives. Nichts, was ein Laie wie ich eindeutig als Nest erkennen würde. Ein Felsenloch mit einem Nest, vielleicht mit Jungen darin, das sähe doch gleich viel harmloser aus. Aber dieses ist wohl keine beliebte Nistgegend, und so scheint in jedem uneinsehbaren Winkel eine Bedrohung zu lauern.
Es ist seltsam, daß in diesem Momenten der gemeinsamen Gefahr Sympathiegefühle unseren Gastgebern gegenüber entstehen. Da sie im Moment auf der Hut sind, sich und das Schiff vor einer Gefahr zu schützen, schützen sie natürlich auch uns.
Einmal gibt es eine kurze Aufregung auf dem Schiff, als links querab, dicht unter der Felswand, das Wasser sich schwallartig aufbäumt und die entstehende Welle wenige Sekunden später das Schiff erreicht. Sogar wir hier oben spüren das Schwanken des Schiffes. Sonst passiert aber nichts.
"Da war was." sagt Irene. Gut beobachtet. Wenn wir nun nur noch wüßten, was es war, dann wäre uns wohler. Oder vielleicht auch unwohler.
Weitere Minuten verstreichen in völliger Ereignislosigkeit. Es fängt an, zu regnen. Niemand da unten nimmt sichtbar davon Kenntnis. Niemand verläßt seinen Posten.
So um 17 Uhr gibt es plötzlich ein schnarrendes Geräusch vom Vorderdeck. Wir springen an die vorderen Fenster, denn wir haben uns mehr auf die beiden Ufer konzentriert.
Eine Harpune ist nach vorne abgeschossen worden. Wir sehen die keilförmig auseinanderlaufenden Wellen - schon kurz vor dem Schiff ist die Harpune in das Wasser eingetaucht. Hastig aber konzentriert legen die Harpuniererinnen ein neues Geschoß ein und spannen das Gerät wieder.
Auf was die Harpuniere geschossen haben, haben wir natürlich nicht mitgekriegt. Ein paar leise Kommandos von unten, geflüsterte Meldungen. Lautlos gleitet das Schiff auf den Bereich des Wassers zu, der eben noch von der Harpune geteilt wurde.
Da entsteht etwa hundertfünzig Meter vor dem Schiff auf dem Wasser ein dunkler Fleck. Er breitet sich aus, während wir langsam darauf zugleiten.
Da unten ist eine schnelle Bewegung. Es ist Charmion. Sie rennt nach vorne und beginnt, mit atemberaubender Gelenkigkeit, den Bugspriet zu besteigen. Es dauert nur Sekunden, scheint es, und sie hockt auf der Spitze des Bugsprietes, turmhoch über dem Wasser, mehr als doppelt so hoch wie wir in unserem Masthaus.
Und der dunkle Fleck driftet immer näher.
Eine zweite Harpune verläßt das Gerät, diesmal in noch steilerem Eintauchwinkel. Ich habe keine Ahnung, was die da bei dieser Dunkelheit noch erkennen können. Vielleicht haben die Granitbeißer wegen der geringeren Lichtmenge in dieser Welt von der Evolution bessere und empfindlichere Augen bekommen? - Ich nehme mir vor, irgendwann einmal auf ihre Pupillengrößen zu achten.
Bald müßte der dunkle Fleck sich unter der Spitze des Bugsprietes befinden. Was Charmion wohl vorhat? Ich kann gerade eben erkennen, daß sie bis zu den Zähnen bewaffnet ist. Ein Schwert hat sie in der Hand, ein zweites hat sie noch umgegurtet, dazu verschiedene Messer in ihren Gürteln.
Zunächst passiert nichts Spektakuläres. Als der Fleck unter ihr ist, springt Charmion. Lange drei Sekunden dauert der Fall, dann schlägt sie auf das Wasser auf und ist im Augenblick verschwunden. Mit über hundert Kilometern pro Stunde hat sie die Wasseroberfläche durchschlagen, rechne ich nach.
Die Fontäne, die sie hinterlassen hat, fällt in sich zusammen. Kreisförmige Wellen laufen auseinander, flachen immer weiter ab, verlieren sich. Das Schiff schiebt sich weiter vorwärts. Es ist so still, daß niemand auf dem Schiff unbemerkt furzen könnte.
Dann erreichen wir den dunklen Fleck, der schon fünfzehn Meter Durchmesser hat, mit dem Bug. Es passiert nichts, als das gefärbte Wasser beidseits vom Schiff vorbeizieht.
Wo Charmion wohl bleibt?
Plötzlich: Blasen, rechts und links von Schiff. Mehr Blasen. Und ein Schlag, der uns in die Knie schickt. Als ob eine riesige Faust von unten in das Schiff geboxt hat.
Es bricht rechts durch die Wasseroberfläche. Aus irgendeinem Grunde hatten wir es links erwartet. Rechts ist die Felswand etwas näher, und weil die Überhangigkeit der rechten Schluchtseite im Moment größer ist, ist es da auch dunkler. So können wir kaum Einzelheiten erkennen.
Es brüllt markerschütternd, mit einer Stimme, die eigentlich nicht zum Brüllen geschaffen ist. Das Echo hallt zwischen den Felswänden hin und her, es muß Dutzende von Kilometern weit zu hören sein. Im Augenblick begreife ich: Es ist groß und stark, aber es ist nicht gefährlich. Nicht von sich aus. Es hat diesen Kampf nicht gesucht. Es ist vom Schiff aufgespürt worden.
Bei dem Aufbäumen über das Wasser hätte es fast wieder die Takelage an der rechten Schiffsseite ruiniert. Haarscharf hat es mit seinem Hals und seinem Kopf die weitausladenden Rahen verfehlt. Hals und Kopf schlagen wieder auf dem Wasser auf - es gibt einen Knall wie Geschützdonner. Kaum, daß man das Schnarren der Harpunengeschütze vom Hauptdeck herauf hört.
Aber diese tun ihre Arbeit. Und nicht nur die. An dem Ende, was ich für den Kopf halte, blitzt etwas. Ein schwingendes Schwert. Charmion sitzt dort, hat irgendwie Halt gewonnen, mitten an diesem Kopf, den sie wohl unter Wasser gefunden haben muß. Wie sie das wohl geschafft hat? Eine Lösung ist: Sie hat sich in die Augen hineingeschnitten und hat nun einen festen Stand in einer der ungewöhnlich großen Augenhöhlen. Während man vom Schiff versucht, das Tier mit den Harpunen zu erledigen, ist sie immer noch dabei, lebenswichtige Organe am Kopf zu zerstören.
Ich glaube, ich kann ihren Gedankengängen folgen: Wenn sie in einer Augenhöhle Fuß gefaßt hat, dann schneidet sie sich von der Orbita aus weiter bis in das Gehirn vor. Scheußlich und grausam. Aber mutig. Alle Achtung. Für so eine Tat erschien sie mir aus irgendeinem Grunde doch zu naiv. Wie oft werden wir hier noch Menschen falsch einschätzen?
Der Kopf schlägt noch mehrere Male auf das Wasser. Glatter Zufall, daß das Schiff nicht getroffen wurde. Aber wie will Charmion dabei unverletzt bleiben? Die Schläge sind stark genug, um einiges kaputt zu machen, auf dem Schiff und bei demjenigen, der sich irgendwie am Kopf des Tieres festklammert. Sie muß phantastische Reflexe haben.
Der Kampf ist schnell vorüber. Vielleicht war meine Vorstellung von dem, was Charmion da macht, richtig. Der ganze Aufruhr dauert keine Minute. Das Schreien des Tieres trifft einem im tiefsten Inneren. Diese Kreatur hat Angst und furchtbare Schmerzen. Es wird es leiser, röchelt erschöpft, läßt den Kopf mit der blutenden Augenhöhle ins Wasser sinken. Letzte Flossenbewegungen in dem Element, daß ihm Heimat und Geborgenheit war, vielleicht ein letzter Blick mit dem gesunden Auge. Dann liegt das Tier längsseits und ist mausetot. Charmion zieht sich aus dem Wasser heraus und schwingt sich über die Balkenreeling auf das Schiff. Sie atmet noch heftig, und einen Moment sehen ihre blutigen Brüste so aus, als ob dort aus einer scheußlichen Verletzung innere Organe nach außen drängen. Grauenhafter Gedanke.
Sofort beginnt, wie vor einigen Tagen im breiten Fluß, das Zerlegen. Wir gehen runter auf Deck, um soviel wie möglich zu sehen. Da der größte Teil des Tieres unter Wasser liegt, können wir seinen Körperbau nicht erkennen, und die Mannschaft sorgt dafür, daß auch bald gar nichts mehr zu erkennen sein wird. Schon werden große, noch dampfende Fleischstreifen an Bord geschleppt. Wieder werden die Decksbalken von Blut getränkt. Es muß sich um eine Art Fischsaurier handeln, aber dieses wird wohl eine Vermutung bleiben.
Charmion steht blutüberströmt da und spricht ganz ruhig mit Cherkrochj. Das Wasser hat nicht alles Blut abgewaschen, oder sie ist tatsächlich selber verletzt. Die Anstrengung ist ihr nicht mehr anzusehen, und sie sieht auch eigentlich nicht so aus, als ob sie Schmerzen hat.
"Sag ihr mal etwas nettes, wie mutig sie war!" sage ich zu Irene, weil ich wissen will, ob sie auf solche Bemerkungen anders reagiert, wenn eine Frau sie macht, auch, wenn es sich um eine Gefangene handelt.
"Das tue ich nicht!" zischt Irene zurück, "das kannst du selber machen!"
"Also gut, dann nicht." Es ist nicht rauszukriegen, ob Irene unter einer Spur von Eifersucht leidet, oder ob sie Mitleid mit dem Fischsaurier hat.
Weil wir doch überall im Wege stehen, und weil es wieder ordentlich zu stinken beginnt, ziehen wir uns wieder in das Masthaus zurück. Da sehen wir genug, insbesondere auch deshalb, weil die Schlucht sich über uns wieder weiter öffnet und mehr Licht herunterläßt.
Sprachunterricht wird es heute wohl nicht mehr geben. Aber die drei Stunden bis zur Beginn der Schlafperiode wird uns nicht mehr langweilig, weil wir ungestört die Schluchtlandschaft betrachten und die Arbeit unten auf Deck verfolgen können.
Tatsächlich gelingt es der Mannschaft, den größten Teil des Fleisches bis 20 Uhr abzubauen. Die Harpuniergeräte bleiben derweil aufgebaut, aber die Wachsamkeit läßt nach. Das bestätigt meinen Verdacht: Man hatte nicht davor Angst, daß es zu der Begegnung mit einem Fischsaurier kommen wird.
Man hatte Angst, daß diese Begegnung nicht zustande kommen könnte.
Es ist jetzt soviel Fleisch an Bord, daß sogar auf dem Deck mannshohe Stapel geschichtet wurden, notdürftig von Planen verdeckt, die rasch mit Blut durchtränkt sind, welches dann allmählich gerinnt. Im Deckshaus ist kein Platz mehr, auch sind Teile des Gemeinschaftsraumes ebenfalls zu Lagerhallen umfunktioniert worden.
Als der Rest des Kadavers freigegeben wird und hinter dem Schiff versinkt, können wir uns endlich hinlegen, weil nun zu erwarten ist, daß es endlich auf dem Schiff still genug werden wird.
Trotzdem liege ich noch eine ganze Weile wach. Die Schmerzensschreie des Fischsauriers hallen immer noch in meinen Ohren nach.
Der Tyrannosaurus war mir egal: das war eine Kampfmaschine. Der war ja nicht ganz unschuldig, was das Suchen einer Konfrontation betrifft. An ihm hat die Evolution die fleischgewordene Aggression ausprobiert.
Dieser hier aber hat nicht sterben und nicht töten wollen. Es war eine friedliche Kreatur. So, wie auch der Brontosaurus, den wir ganz am Anfang gesehen haben, nur eine dumme und gutmütige Kreatur war.
Ein Angriff auf ein Wesen wird nicht nur deshalb eine Heldentat, denke ich, weil es bloß vermöge seiner Größe gefährlich ist. Aber dann wieder: was weiß ich, wie dringend die Granitbeißer das Fleisch brauchen? Und jedes zusätzliche Kilo Saurierfleisch, das sie essen, bedeutet ein Kilo weniger an Menschenfleisch, da sie dann nicht mehr essen müssen.
Ich bin zu müde, weiter ethische Fragen in Kopf herumzuwälzen. Dann fällt mir aber noch, im Einschlafen, ein, daß wir den Höhleneingang auf dem Höllentalplatt jetzt vor genau zwei Wochen entdeckt haben. Erst? Schon? Diese Welt da oben ist jetzt so weit weg. Herwig, hättest du je geglaubt, daß du einmal einen getöteten Saurier bedauerst?
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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