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******** 014. Tag: Freitag 95-09-01 ********
14.1 Das Leben der Granitbeißerinnen
Bald nach dem Aufstehen um 23 Uhr fängt der September an. Jedenfalls sagt das meine Uhr. Das hat jetzt für uns natürlich überhaupt keine Bedeutung, aber es führt uns wieder klar vor Augen, wie lange wir schon hier unten sind. Wir haben aber nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, weil gleich nach dem Frühstück, heute im Gemeinschaftsraum im oberen Deckshaus, der Sprachunterricht wieder anfängt. Gerade noch, daß wir ein paar Blicke auf die immer noch schlaffen Segel werfen können. Das Schiff schwimmt auch noch ungefähr da, wo es vor der Schlafperiode war. Vielleicht, daß es sich in den letzten paar Stunden ein paarmal um seine senkrechte Achse gedreht hat oder ein paar hundert Meter hierhin oder dorthin gedriftet ist. Auch die Harpuniergeräte sind immer noch aufgebaut, aber keiner kümmert sich um sie.
Dieser ganze Tag verläuft ereignislos. Fatalistisch wartet man auf das Aufkommen von Wind aus der richtigen Richtung. Fatalistisch läßt man den Gestank auf sich einwirken, der immer deutlicher aus dem Deckshaus dringt. Ich hatte angenommen, die vielen Dutzend oder fast hundert Tonnen Saurierfleisch wären irgendwie haltbar gemacht worden - ich dachte an das Steinsalz, das sie auch in den Menschenleichen verwenden. Ich befrage Chechmon, die heute wieder dran ist, Sprachunterricht zu geben, darüber. Sie meint, Saurierfleisch wird nicht so schnell schlecht wie Menschenfleisch, und man kann es dann immer noch essen.
Unsere Beschwerden bezüglich dieses Geruches kann sie nicht teilen. Naja, denke ich, ohne es auszusprechen, bei dem hier üblichen Hygiene-Standard kein Wunder. Jeder und jede unser Gastgeber hat da eine eigene strenge Geruchsaura. Vielleicht verhindert es Pilzinfektionen, wenn man die selbstausgeschwitzte Milchsäure auf der Haut zergären oder antrocknen läßt. Aber dieser vielkomponentige Gestank ist bei dieser Windstille unerträglich, und wir baden an diesem Tag wenigstens zweimal, immer in der Nähe des Schiffes.
Die Sexspiele, die ständig auf Deck ablaufen, werden allmählich lästig. Wir haben ja im Laufe unseres Aufenthaltes gelernt, daß es erstens nicht anstößig ist, bei sowas interessiert zuzusehen, und daß es allmählich ziemlich langweilig wird, wenn dauernd irgendwo in der Nähe gebumst und geleckt und gefummelt und gelutscht wird. Man nimmt es schließlich gar nicht mehr zur Kenntnis. Lediglich die Geräuschskulisse, die dabei erzeugt wird, ist manchmal störend. Und das ist jetzt sehr häufig der Fall, denn auch die erzwungene Untätigkeit liegt wie ein impliziter Tagesbefehl auf dem Schiff. Es ist alles repariert, nur wenige Leute sind notwendig, den Betrieb logistisch aufrechtzuerhalten, die anderen sind einfach nur da und langweilen sich.
Ich habe längst gemerkt, daß sie es hier nicht mit der Monogamie haben. Das war eigentlich auch nicht zu erwarten. Der Sex spielt eine ganz andere gesellschaftliche Rolle als bei uns. So, wie es bei uns üblich ist, in Gesellschaft zerkleinertes organisches Material in ein kleines Loch im Gesicht zu stopfen, in einer schleimigen Höhle mit harten Auswüchsen weiter zu zerkleinern und schließlich herunterzuschlucken, so ist hier die gemeinsame Lusterzeugung in allen denkbaren Variationen üblich. Das ist wirklich, objektiv betrachtet, beides eine biologische Routine-Funktion. Lediglich unsere Erziehung diktiert, welche dieser Funktionen öffentlich sein darf und welche nicht. Lediglich die evolutionären Zufälle der geschichtlichen gesellschaftlichen Entwicklung haben das eine Verhaltensmuster für uns und das andere für die hier ausgewählt.
Ich habe unglaubliche Szenen gesehen. Da war zum Beispiel eine Frau, die im Vorschiff genußvoll auf einem flach mit dem Rücken am Boden liegenden Manne ritt - es war übrigens vom Koch, dessen Pflichten sich damit also nachweislich nicht nur auf seine Küche erstrecken. Das erstaunliche war, daß sie gleichzeitig dabei war, zwei Seeleute, die etwas an einem der Harpuniergeräte richteten, in einem gekonnten Kasernenhofton anzubrüllen. Das Gespräch war zu schnell, so daß ich nichts verstanden habe. Die Frau wurde immer wütender, hörte aber keinen Moment auf, auf dem Penis des Koches auf und abzugleiten. Das schien allen Beteiligten völlig normal und alltäglich vorzukommen. Höchstens der Anschiß erweckte bei den Umstehenden ein gewisses Interesse - nicht die Kopulation. Mir blieb der Vorfall nur deshalb in Erinnerung, weil die Frau plötzlich aufsprang und gemeinsam mit den beiden Männern an dem Harpunenwurfgerät zu arbeiten begann, ohne das Keifen einzustellen. Der Koch war vergessen. Er lag mit seinem erigierten Prügel da und sah einen Moment verdutzt drein. Das Bild war bemerkenswert albern - einen Moment dachte ich an ein gestrandetes U-Boot mit einem verbogenen Periskop, oder an des Kaisers entlassene Sonnenuhr. Dann zuckte er mit den Achseln, stand auf, richtete seinen Lederrock und trollte sich in seine Küche.
Ich hoffe, daß seine Erektion abgenommen hat, bis er seinen heißen Ofen nahe genug gekommen war.
Als ich wenige Sekunden später das Masthaus wieder betreten habe, habe ich den Vorfall schon wieder vergessen.
Später am Tag stelle ich einmal fest, daß es jemand hoch oben in der Takelage treibt. Ich kann es nicht erkennen, aber Charmion scheint dabei zu sein. Die Sache wäre vielleicht unter artistischen oder akrobatischen Gesichtspunkten sehenswert, aber dazu müßte ich auch hinaufsteigen, und dazu besteht kein Anlaß. Außerdem möchte ich Charmion nicht beim Bumsen zusehen - obwohl es natürlich überhaupt keine Rolle spielt, was ich sehe und was nicht.
Jedenfalls habe ich bei diesem sexuellen Durcheinander ständig die latente Befürchtung, daß Irene oder ich zwangspartizipiert werden könnten. Das ist allerdings noch nicht vorgekommen. Nicht einmal Annäherungsversuche, sofern man hier solche Nuancen kennt, hat es bis jetzt gegeben. Ich weiß nicht, warum.
Entweder, wir sind als Fremde tabu, oder es gibt einen entsprechenden Befehl der Kommandantin, oder unser Körpergeruch ist einfach nicht attraktiv genug. Wenn es das letztere ist, dann brauchen wir nur zu vermeiden, uns das Waschen abzugewöhnen. - Ich halte die Fehlender-Körpergeruch-Theorie fast für am plausibelsten, denn daß das Limbische System Geruchsinformationen leicht und direkt als emotionelle Färbungen in das Bewußtsein einprägen kann, das ist aus der Neurologie bekannt. Dann sind die hauptsächlichen sexuellen Signale in dieser Welt tatsächlich Gerüche, so, wie es bei vielen Tieren und beim Menschen in der Vorzeit auch der Fall war. Das würde auch erklären, warum optische sexuelle Reize praktisch nicht vorhanden sind und auch nicht absichtlich erzeugt werden, und da, wo sie für meinen Geschmack doch vorhanden sind, wie etwa der aufregende Körperbau von Charmion, von den anderen einfach nicht wahrgenommen werden.
Dann kennen unsere Gastgeber möglicherweise nicht einmal den Begriff der menschlichen Schönheit, oder der optischen sexuellen Attraktivität, jedenfalls nicht so wie wir. Vielleicht ist 'Schönheit' für sie ein Begriff in der Welt der Gerüche.
Andere soziale Parameter, die sich bei einer Anzahl Menschen, die unter beengten Bedingungen zusammenhausen müssen, deutlich verändern, kann ich nicht feststellen. So zum Beispiel fehlen Brutalität und Streit unter Gleichgestellten, während Schikanen, die die Hierarchieleiter heruntergereicht werden, dauernd vorkommen. Es scheint auch Cliquenbildung zu geben, allerdings mehr unter den Frauen, wärend die Männer, die an Bord die unterste Klasse darstellen, mehr eine Art dumpfe Solidarität aller üben. Vielleicht sind diese Beobachtungen nicht unbedingt richtig. Sowie wir die Sprache erst besser können, werde ich mehr herausfinden.
Heute erfahren wir einiges aus der Sagen- und Legendenwelt dieses Volkes. Ich halte das als Thema eines Sprachunterrichtes natürlich nicht für besonders geschickt, weil da viel Stoff vorkommt, der zum wirklichen Leben einen geringen Bezug hat. Aber das kann sich ja vielleicht noch ändern, und ich vermeide Kritik. Außerdem sind diese Geschichten nicht uninteressant.
Die Sagen sind dem Inhalt nach dem Sagengut und den Märchen der Menschen ähnlich. Natürlich spiegeln sich die sozialen Verhältnisse dieser Welt wieder. Die handelnden Personen sind immer Frauen, die Heldin und die ganz Bösen. Männer spielen eine Statistenrolle, so wie in unseren Märchen Pferde oder die Bäume eines dunklen, unheimlichen Waldes. Auch wenn mal, in diesen Erzählungen, ein Mann die allerschlimmsten Untaten begeht - es steht immer der Wille einer Frau, der Antiheldin dahinter. Wenn diese am 'guten Ende' endlich zur Strecke gebracht wird, dann wird manchmal gar nicht erwähnt, ob die derart als Werkzeug benutzten Männer auch eine Strafe bekommen. 'Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie und ihre Freundinnen noch heute.' Genauso endet mindestens eine dieser Erzählungen.
Wie muß das auf die kleinen Jungen dieser Welt wirken, wenn sie schon in aller Frühe erfahren, daß sie zum unwichtigen Teil der Welt gehören!
Ein paar weitere Hinweise sind interessant. In einem der Märchen mit einer eigentlichen belanglosen Handlung wird von einem Berg gesprochen, der vom Himmel fällt. Dieser Berg bleibt in einem See liegen und wird von da an von einer Art Raubritterin als eine Art Stützpunkt genutzt. Es wird sogar eine Burg darauf gebaut.
Ich unterbreche und frage, ob das wirklich vorkommt: das ein Berg vom Himmel fällt. Das könnte ein Hinweis auf tatsächlich vorkommende Einstürze in diesen Höhlen sein!
Chechmon meint, daß das nicht so sei. Gewiß gibt es Berge auf Inseln, aber wie alle geographischen Dinge existieren diese von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Ja, ändere sich den auf dieser Welt überhaupt nichts, will ich wissen.
Nein, natürlich nicht. Das sei wider die Natur der Dinge. Und kleine, lokale Änderungen wie Überschwemmungen oder Stürme zählen nicht. Das ist eben der große Plan.
Aha. Finsterstes Mittelalter. Sie wissen überhaupt nichts über ihre Welt. Bevor Chechmon mit ihren Geschichten fortfährt, versuche ich, so gut es geht, über die leuchtenden Wolken über uns und was darüber ist zu sprechen. Was ich aus Chechmon rauskriege läuft daraus hinaus, daß man glaubt, daß da oben, in gigantischer Höhe, das Dach der Welt, eine Felsendecke ist - das ist ja auch richtig - und daß dieser Felsen, in dem sich die ganze Welt einbettet, in alle Richtungen unendlich weit ausdehnt - das ist falsch. Da hört also die Vorstellungswelt dieser Menschen auf.
Wir versuchen, den Märchen weiter zu folgen, so gut es eben geht. Ohne daß Chechmon es merkt, ist das meine Methode, diese Menschen einer Psychoanalyse zu unterwerfen.
Es gibt zum Beispiel den klaren Unterschied zwischen gut und böse, auch wenn mit diesen Begriffen ganz andere Dinge belegt werden als dies nach unseren Moralvorstellungen der Fall ist. Gut und böse, die Attribute, die unser physisch existierendes Ich den Dingen in der Welt vermöge der Kategorien Lust und Schmerz zuerkennen muß, um herauszukriegen, was gut für das Überleben ist, und was nicht. Es hätte mich sehr gewundert, wenn das anders gewesen wäre.
Der sexuelle Symbolismus, der in vielen unserer Märchen zu finden ist, glänzt durch völlige Abwesenheit. Wo es in der Handlung notwendig ist, werden sexuelle Handlungen beschrieben, aber immer mit weniger Begeisterung als zum Beispiel Kampfszenen, die ja viel spannender sind. Die Altäglichkeit und generelle Verfügbarkeit von Sexualität und sexuellen Diensten hat die Stellung der Sexualität als wesentliches Element der menschlichen Erfahrungswelt zerstört oder nie entstehen lassen. Dieses ist eine asexuelle Welt. Es gibt keine knisternde Erotik, es gibt keine jugendliche Verliebtheit, es gibt keine künstlerischen Darstellungen der körperlichen Liebe. Es gibt überhaupt keine Liebe, weder diejenige mit sexueller Komponente noch in irgend einem anderen Sinne. Es gibt auch keine schwüle Pornographie, um die es nicht schade ist. Alles Symptome einer ganz fremdartigen, eigentlich sogar sexualfeindlichen und lieblosen Welt. Das wird mir jetzt erst klar.
Ich muß bei Gelegenheit mal mit Irene drüber sprechen. Aber ich fürchte, sie wird mehr die vordergründigen Dinge sehen, die allgegenwärtige Bumserei. Was die philosophischen Grundlagen des menschlichen Seins betrifft, da haben wir sehr unterschiedliche Meinungen, und manchmal gehen solche Diskussionen auch über die Grenzen ihres Abstraktionsvermögens hinaus.
Was mich jetzt noch interessiert: Diese umfassende und immerwährende Bumserei muß doch jede Menge Schwangerschaften zur Folge haben. Andererseits habe ich noch keine Schwangere gesehen. Wie kommt das? Dürfen Schwangere vielleicht nicht auf ein solches Schiff?
Diese Frage muß ich zurückstellen. Viel reflektieren kann ich sowieso nicht, weil der Sprachunterricht meine gesamte Aufmerksamkeit erfordert.
Noch ein anderer Hinweis, der zweimal in den Märchen auftaucht. Das eine ist ein permanenter Regen, der mitten auf einem See niedergeht, und das andere ist ein Bach, der aus Regionen jenseits der Wolken kommt. In beiden Fällen wird davon gesprochen, daß es sich um Salzwasser handelt.
In einer weiteren Textstelle wird der feurige Eingang zu einer noch tieferliegenden Unterwelt behandelt. Vulkanismus? Vulkane in diesen Höhlen?
An wieder einer anderen Stelle wird von einem grellen, immerwährenden Licht über den höchsten Wolken gesprochen. Die Sonne? Ich kann es nicht genau sagen, da ich den Erzählungen kaum folgen kann. Das Konzept von bitterer Kälte kommt auch vor, und von Gewässern, auf denen man gehen kann. Alte Erinnerungen an die Oberwelt, an den Winter und an vereiste Flüsse?
Der Drache, der in unseren Märchen vorkommt, hat hier natürlich auch seine Existenzberechtigung. Allerdings ist es in den meisten Fällen der alltägliche Saurier, den jeder kennt. Nur in einem Fall wird auch von Feuerspeien gesprochen, aber davon abgesehen spielt der hiesige Drache im Märchen eine ähnliche Nebenrolle wie in unseren Märchen Pferde.
Stunde um Stunde vergeht, während wir anhand der hiesigen Legendenwelt weiter in die Sprache einsteigen. Es ist 13 Uhr, als ich plötzlich einen schwachen Lufthauch spüre, der durch die Fenster des Masthauses streicht. Gleichzeitig beginnt es, überall im Mastwerk zu knarren, und schlaff flattern die gesetzten Segelbahnen.
Wegen der Segel kann ich kaum aus einem Fenster etwas von der Uferlandschaft sehen, geschweige denn, ob sie sich relativ zu uns bewegt. Aber ich habe mich wohl nicht geirrt.
"Wind!" sagt Irene, die es auch gemerkt hat. Chechmon nickt, aber wir fahren mit dem Sprachunterricht fort, obwohl ich jetzt gerne das Manövrieren beobachtet hätte, und das Vorbeiziehen der Uferlandschaft. Wenigstens kühlt der Lufthauch so ab und zu die Stirn. Bald wird auch der allgegenwärtige Gestank an Bord schwächer.
Erst um 16 Uhr, eine Stunde vor dem Schlafengehen, können wir nach unten auf das Deck und ans Ufer sehen.
Der Wind ist so schwach geblieben, wie er am Anfang war. Von 'geblähten Segeln' kann keine Rede sein. Flüchtig betrachtet hängen die Segel immer noch genauso runter wie naße Bettücher auf einer Leine. Aber die große Gesamtfläche der Segel bewirkt doch immerhin eine schwache Geschwindigkeit von vielleicht etwas mehr als einem viertel Meter pro Sekunde, also einem Kilometer pro Stunde. Das ist wesentlich weniger als die Driftgeschwindigkeit den breiten Fluß hinunter. Für einen Fußgänger wäre es anstrengend, so langsam zu gehen.
Wir haben also seit 13 Uhr erst drei Kilometer zurückgelegt. Der Berg, der westlich vom Südende dieses Sees von Süden gesehen so sehr an ein großes, halbes Boot erinnert hatte und dessen Deck diese tausend Meter hohe, überhängende Felswand über dem Seeufer gebildet hatte, ist noch zu sehen, auch wenn er aus dieser Perspektive mit einem Boot keine Ähnlichkeit mehr hat. Zum Norden hin hat er sehr flache Hänge, die ein einfaches Besteigen des Grates versprechen. Es muß leicht möglich sein, die 'Bootsspitze' zu erreichen und von dort die tausend Meter in den See hinunter zu spucken.
Das Schiff ist so langsam, daß sich die Uferlandschaft zu beiden Seiten kaum bewegt. Auch scheint die Schiffssteuerung unter diesen Umständen keine besonderen Anforderungen zu stellen. Die Verteilung der Segel auf dem Schiff bewirkt, daß sich der Bug aus dem Wind in die Gegenrichtung bewegt, und dann, bei symmetrischer Einstellung der Segel, das Schiff genau in Windrichtung getrieben wird. Um zu steuern müssen die Rahen zusätzlich zur Bedienung des Ruders gedreht werden, dabei ist aber, sagt mir mein mechanisches Vorstellungsvermögen, nur eine geringe seitliche Drift möglich. Dann dürften dem Schiff lediglich eine geringe Auswahl an Kursen, vielleicht jeweils 20 oder 30 Grad zur Rechten oder zur Linken möglich sein. Keinesfalls ist es möglich, Höhe am Wind zu gewinnen, es sei denn, sie haben hier noch einige Tricks auf Lager, von denen ich nichts weiß.
14.2 Demonstration
Plötzlich, nachdem wir schon ein paarmal die Schiffsseite gewechselt haben, um die Uferlandschaft auf beiden Seiten zu sehen, merke ich, daß die Kommandantin Cherkrochj oben auf dem Backbord-Niedergang vom oberen Geschoß des Deckshauses steht und uns schon eine ganze Weile beobachtet. Sie kommt jetzt herunter und geht auf uns zu.
"Sprache gut?" fragt sie. Ich hätte das sogar verstanden, wenn sie es grammatisch etwas elaborierter formuliert hätte. Vielleicht ist sie in demselben Fehlurteil befangen, das bei uns auch viele Menschen haben: Wenn man mit einem Ausländer spricht, dann muß man die eigene Sprache der Beherrschung der Sprache des Angesprochenen anpassen. Das ist natürlich Quatsch - wie soll der Angesprochene dann seine Beherrschung der deutschen Sprache weiter ausbauen? Im Gegenteil, man muß in solchen Fällen ganz besonders korrekt sprechen. Einfacher Satzbau natürlich, aber kein Gebabbel wie das von Zweijährigen. Für das Sprechen mit Kindern gilt ganz genau das gleiche. Und jetzt mit uns? - Vielleicht aber kann ich noch gar nicht darüber urteilen, was in der Xonchen-Sprache verhunzte Grammatik ist und was nicht, und ich tue Cherkrochj mit meiner nicht ausgesprochenen Vermutung unrecht.
"Sprache schwer!" sage ich in meinem freundlichsten Ton. Zu spät fällt mir ein, daß Irene hätte antworten müssen.
Cherkrochj schweigt einen Moment, sieht mich indifferent an, dann winkt sie jemanden heran. Es ist Charmion. Sie sagt ihr irgend etwas, und Charmion verschwindet wieder.
"Ihr müßt lernen!" sagt sie, überflüssigerweise. Was denkt sie denn, was wir die ganze Zeit tun? Charmion kommt wieder. Ein Mann der Besatzung, der mir bisher nicht besonders aufgefallen ist, begleitet sie.
"Ihr müßt lernen!" wiederholt die Kommandantin. Dann gibt sie Charmion einen Wink.
Charmion packt den Mann im Nacken. Er wehrt sich nicht. Aber er hat Angst. Von einem Moment zum anderen ist seine Stirn mit Schweiß bedeckt. Was geht vor?
Der Mann wird in die Knie gedrückt. Charmion fesselt ihm die Unterarme hinter seinem Rücken parallel zusammen. Das muß schmerzhaft sein, aber sie nimmt keine Rücksicht darauf, ob sie vielleicht seine Schultergelenke disloziert. Danach bindet sie auch seine Beine zusammen. Dann nimmt sie ihn an seinen Beinen und tritt an den Rand des Floßes. Unsanft schleifen Oberkörper und Kopf über die Decksbalken. Vierzig Zentimeter tiefer ist der Wasserspiegel.
Dann läßt Charmion den Mann mit dem Kopf bis zu den Schultern ins Wasser hängen. Sehr langsam. Es dauert dreißig Sekunden, bis der Wasserspiegel die Augen des Mannes erreicht, eine Minute, bis gerade eben die Nasenlöcher unter Wasser geraten.
Der Mann wehrt sich, er windet und biegt sich, versucht, wenigstens noch durch den Mund Luft zu kriegen. Dann befindet sich auch der Mund unter Wasser, und die Bewegungen des Mannes werden heftiger.
Charmion hat Übung, es ist, als ob sie das nicht zum ersten Male macht. Ausdruckslos sieht sie zu, wie der Mann unter Wasser zu gurgeln und zu röcheln anfängt.
Die Kommandantin führt uns eine Maßregelung oder Bestrafung oder Hinrichtung vor. Mit was für einer Absicht bloß? Muß sie ihre Kommandogewalt demonstrieren? Ist ihr Ego tatsächlich so unterentwickelt, daß sie das ab und zu nötig hat? Ein Zug ihres Charakters, denn sie mit vielen Menschen auf der Erdoberfläche, die Führungspositionen erreicht haben, gemeinsam hat. Was sie natürlich nicht sympathischer macht.
Das Schauspiel dauert einige Minuten. Erst, als die Todeskrämpfe schwächer werden, holt Charmion auf ein Wort von Cherkrochj den Mann wieder heraus. Er wird mir dem Rücken auf das Deck gelegt. Niemand macht Anstalten, an ihm irgendwelche Wiederbelebungstechniken anzuwenden.
Sehe ich einen triumphierenden Zug im Gesicht der Kommandantin? Der Ausdruck von Charmion ist ausdruckslos, als sie auf das Opfer runtersieht. Vielleicht ist da eine Spur von Bedauern, vielleicht auch nicht. Vielleicht möchte ich da nur eine Spur von Bedauern sehen. Ich glaube, meine Charmion, die Frau mit dem bemerkenswertesten Körperbau auf diesem Schiff, ist genauso ein Arschloch wie all die anderen.
Der Mann hat noch nicht fertiggelitten. Als er verstärkt röchelt und spukt und prustet und hustet, als er versucht, in das Leben zurückzukommen und seine Lungen vom Wasser zu befreien, hat die Kommandantin einen weiteren Einfall. Sie legt plötzlich ihr Schwert und ihren Lederstreifenrock ab.
Charmion setzt sich, ohne daß die Kommandantin ihr sagt, was gemacht werden soll, auf die Beine des Mannes, klemmt diese mit ihren Schenkeln ein und hält seinen Rumpf mit den Händen fest. War das, was jetzt kommt, doch vorher abgesprochen? Die Kommandantin setzt sich, mit dem Rücken zu Charmion, mit ihrem Geschlechtsteil so auf sein Gesicht, daß sie zwischen ihren Beinen dessen Augen sehen kann. Sie rutscht hin und her, bis ihre äußeren Geschlechtsteile Mund und Nase des Mannes möglichst gut abdecken. Der Arme kriegt schon wieder keine Luft. Seine Versuche, dieses dennoch zu erreichen, müssen ihr die mechanischen Reize geben, die sie haben will. Wenn das das ist, was sie im Moment haben will: Ich habe den Eindruck, daß sie mehr an den Leiden des Mannes interessiert ist. Ekelhaft. Und wir stehen dabei und können nichts tun, trauen es uns nicht, sagen nicht einmal etwas.
Warum wehrt er sich nicht? Warum beißt er ihr nicht in die Klitoris oder etwas ähnliches? Dann wird ihm wahrscheinlich gleich der Kopf abgeschlagen, aber das geht wenigstens schnell. So muß er in dieser unwürdigen Position zum zweiten Male qualvoll ersticken, während Cherkrochj ihm interessiert in die Augen sieht, auf seinem Gesicht etwas vor- und zurückgleitend. Hinter ihr hält Charmion ungerührt einfach fest, verhindert alle heftigen Bewegungen. Obszöne schmatzende oder schlürfende Geräusche dringen zwischen den Beinen der Kommandantin hervor.
Wird sie auch diesmal rechtzeitig aufhören? Es sieht nicht so aus. Sie blickt dem Sterbenden mit klinischem Interesse die ganze Zeit in die Augen. Entweder kann der sich nicht wehren, oder seine ganze Erziehung läßt keinen Gedanken an die paar Methoden, mit denen er sich noch wehren könnte, nicht zu.
Nach ein paar Minuten ist es vorbei. Die Kommandantin Cherkrochj befühlt seine Schläfen, ob er wirklich tot ist. Dann macht sie ein letztes Experiment:
Sie drückt ihre Schenkel mit aller Kraft zusammen. Die Sehnen in den Beinen der Kommandantin treten hervor wie unter der Haut gespannte Stahlseile. Einige Sekungen passiert nichts, dann verformt sich der Kopf des Mannes mit deutlichem Krachen. Die Kommandantin läßt ab. Blut kommt aus den Ohren des Mannes, dann auch aus den Augenlider. Der Kopf bleibt verformt.
Beide Frauen stehen auf. Die Kommandantin tritt vor Irene hin. Auf mich wirft sie keinen Blick.
"Müssen Sprache gut lernen! Müssen Sprache schnell lernen!"
Dann legt sie ihren Lederstreifenrock und ihr Schwert wieder an und tritt ab, geht nach oben, zum gemeinsamen Speisen. Sie überläßt es Charmion, sich um die Leiche zu kümmern.
Mir ist schlecht. Irene wahrscheinlich auch. Ich nehme meine Xonchen-Kenntnisse zusammen:
"Charmion! Warum das?"
Charmion sieht mich einen Moment lang an, sagt dann aber nichts. Ihr Gesichtsausdruck, den sie in Ansätzen geformt hatte, könnte etwa interpretiert werden als pure Abweisung einer so weit hergeholten Frage, als Rüge, daß ein Mann ihr überhaupt Fragen zu stellen wagt, dazu noch Fragen über das Verhalten der Kommandantin. Als einfaches, männliches Besatzungsmitglied wäre ich für diese Frage wahrscheinlich schon schwer bestraft worden.
Charmion verschwindet mit der Leiche über der Schulter in Richtung Speisekammer. Wahrscheinlich hätte sie diese Arbeit einem Manne der Besatzung überlassen, wenn sie ihr zu mühsam oder zu ekelhaft gewesen wäre. Aber sie macht etwas alltägliches: sie bringt eine Leiche eines Besatzungsmitgliedes in der Küche vorbei. Eben mal so - es ist der Mühe nicht wert, damit jemanden anderen zu beaufzutragen.
Was hat dieser Mann getan? Oder hat er nichts getan, und an ihm hat die Kommandantin nur ihre absolute Macht an Bord demonstriert? Einer Laune folgend? Und dieser Mann war einfach dran?
An diesem Abend nehmen wir nicht an dem Gemeinschaftsessen teil. Der Appetit ist mir vergangen. Wir reden auch kaum. Es gibt ja nichts zu kommentieren. Die machen das hier eben so. Wir müssen das einfach zur Kenntnis nehmen.
Wir finden erst spät Schlaf. Vielleicht liegt das auch an den gelegentlichen Lachsalven, die aus dem Deckshaus zu uns herüberdringen.
Lauter weibliche Stimmen.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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