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******** 013. Tag: Donnerstag 95-08-31 ********

Als meine Uhr Mitternacht anzeigt - jetzt vier Stunden nach Ende der Schlafperiode, es wird noch einige Tage dauern, bis wir wieder 'im Tritt' mit der Oberwelt sind, obwohl das völlig belanglos ist - ändern sich die Schiffsgeräusche. Auf Deck macht man sich wieder mit den Treibankern zu schaffen.

Ich versuche, das Unterrichtsgespräch wieder auf das Schiff und auf die nächste Planung zu bringen. Das gelingt, und Chrwerjat zeigt uns vom Fenster aus einige weitere konstruktive Einzelheiten des Schiffes. So können wir die weiteren Manöver gut verfolgen.

Das Schiff dreht sich. Wenn eine Art Sonne schiene, dann wäre das sehr auffällig, weil sich die Richtung der Sonneneinstrahlung ständig änderte. So sieht man aber nur die Landschaft langsam um das Schiff herumdriften. Das Ziel des Manövers ist, wie Chrwerjat erklärt, die Mitte des Stromes zu erreichen und dann stromabwärts zu driften. Dazu werden noch keine Segel gebraucht.

Während Chrwerjat redet, beobachte ich Charmion, die hoch über uns in der Takelage beschäftigt ist. Sie führt immer noch einen kleinen Trupp an, der letzte Hand an die Besegelung legt.

Ich frage Chrwerjat, warum nur ein Teil der Rahen Segel trägt, nicht erst seit dem Zusammenstoß mit dem Saurier - das war schon vorher so. Chrwerjat meint, daß noch mehr Segelmaterial im Deckshaus liegt. Erst, wenn man es wirklich braucht, wird es herausgeholt.

Das Schiff hat die Strommitte erreicht. Nur mit den Treibankern wird es zunächst in der gewünschten Richtung gehalten, später werden dann diese eingeholt und von da an werden Ruder verwendet. Das reicht, um das schwere Schiff zu steuern: Hier, in der Mitte des über einen Kilometer breiten und immer noch flachen Stromes, gibt es kaum Wirbel, die das Schiff wieder aus der Richtung drehen könnten.

Über einen Kilometer Geröll auf beiden Seiten des Flusses, die Urwaldränder sind drei bis vier Kilometer weit auseinander, schon bald hinter diesen Flußniederungen steigen Mittelgebirge aus dem Urwald auf, die schnell in Hochgebirge und die Säulen übergehen. Jetzt, wo wir uns ständig schneller bewegen, als es zu Fuß möglich war, gewinnt das Panorama an Plastizität. Die gigantische Größe der Höhle wird fühlbar, und wenn wir es nicht genau wüßten, dann kämmen wir nie auf die Idee, daß über den hohen Wolken irgendwo noch eine Höhlendecke ist.

Ich konsultiere meinen Kompaß. Wir bewegen uns nach Norden. Chrwerjat sieht, daß ich diesen seltsamen Gegenstand in der Hand halte, sagt aber nichts. Es interessiert sie nicht.

Unsere Driftgeschwindigkeit muß so knapp unter zehn Kilometern pro Stunde liegen. Langsamer als mein Dauerlauftempo, aber schneller als die Geschwindigkeit, die wir bepackt zu Fuß einhalten könnten.

Ich überlege, ob dies der Fluß ist, den wir von oben, von der Hängenden Straße aus, unter uns gesehen haben. Die Richtung stimmt ungefähr, aber dieser Fluß ist mit seinen Uferzonen eigentlich zu breit. Vielleicht ist er es, vielleicht auch nicht. Diese Höhlenwelt scheint mir um so weitläufiger und verzweigter zu werden, je weiter wir kommen.

Nach etwa dreieinhalb Stunden, so um 4 Uhr morgens, weichen die Ufer noch weiter von uns zurück, und der Fluß wird tiefer. Wir sehen den Flußboden nicht mehr. Wir sind auf einem möglicherweise tiefen See angekommen. Und es gibt keine Strömung mehr, die uns forttreibt.

Zur Linken, im Westen, tritt eine Säule mit ihren Vorgebirgen nahe an den See heran, und ein Berg, der wie ein Zahn oder besser wie ein senkrecht stehender Bootskörper aussieht, neigt sich mit einer überhängenden Felswand, die tausend Meter hoch sein mag, über den See.

Weiter im Norden treten noch häufiger Berge nahe an den See heran, immer wieder von Tälern und vielleicht von Seitenarmen des Sees getrennt. Kein Hinweis, wo dieser See enden könnte.

Das ist wieder ein geologischer Hinweis. Der See ist überall tief. Das Flußbett kann nur über sehr lange Zeit durch Schwemmvorgänge so breit angeschwemmt sein, wie es jetzt der Fall ist, denn der eigentliche Felsenuntergrund liegt wohl auch tiefer. Das handelt sich dann aber mindestens um Größenordnungen von hunderttausend Jahren.

"Warum setzen wir jetzt nicht Segel?" frage ich im Xonchen-Dialekt.

"Gegenwind." sagt Chrwerjat. Das heißt, sie sagt eine Variation des Wortes für 'Wind'. Das kann jetzt eigentlich nur 'Gegenwind' bedeuten. Wieder ein Wort gelernt.

Ohne Steuerung treibt das Schiff mitten auf den See hinaus. Als wir von dem ungefähren Ort der Flußeinmündung mehr als einen Kilometer entfernt sind, scheinen wir uns überhaupt nicht mehr zu bewegen. Auch unter der Mannschaft des Schiffes kehrt Ruhe ein. Bis auf Charmion, die immer noch aktiv ist: Sie beginnt mit ihren Leuten, weitere Segel aus dem Deckshaus hervorzuholen und an den noch leeren Rahen zu befestigen. Chrwerjat hat recht gehabt.

"Es wird ein schwacher Wind kommen!" sagt sie. Wenigstens dem Sinn nach.

Das dauert aber noch einige Zeit. Es wäre recht langweilig, wenn wir nicht permanent mit Sprachunterricht mißhandelt würden. Stunde um Stunde.

So um 12 Uhr herum gelingt es Irene, Chrwerjat unsere geistige und körperliche Erschöpfung klar zu machen. Die Hitze ist brütend, und der schwache Gegenwind ist völlig abgestorben. Das Seewasser wird zusehends einem Spiegel ähnlicher, oder flüssigem Blei, wie ein bekanntes Klischee sagt.

13.1 Geheimdienstschwimmen

Wir versuchen, die Erlaubnis zum Schwimmen zu erhalten. Auch aus hygienischen Gründen. Chrwerjat hat nichts dagegen. Sie geht sogar mit. Mist. Da wird der Sprachunterricht im Wasser wohl weitergehen.

Wir haben in den letzten Stunden gelegentlich auch schon andere Mannschaftsmitglieder beim Schwimmen beobachtet. Aber der große Volkssport scheint das Schwimmen nicht zu sein. Naja, die Leute haben ein Recht darauf, rumzugammeln, nach der anstrengenden Schiffsreparatur und dem Zerlegen des Sauriers. Außerdem leben sie ja dauernd hier, während wir noch ein bißchen den touristischen Blick für die Umwelt haben.

Es ist eine Wohltat, einmal die verschwitzten Klamotten vom Leibe zu reißen. Als wir im Wasser einige Dutzend Meter von dem Schiff entfernt sind, beginnt Chrwerjat mit der Erläuterung einiger Lebensformen in diesen Seen. Uns wird schnell klar, daß es auch Fischsaurier geben muß, ihrer Beschreibung nach. Das hätte sie eigentlich vorher erzählen können. Ich frage sie, ob sie nicht Angst davor hat. Sie meint, daß es auf dem Schiff einige Frauen gibt, die für die Bedrohung durch Fischsaurier einen siebten Sinn hätten. Solange die Kommandantin nicht anordnet, wieder die Harpuniergeräte auf Deck zu installieren, solange könnten wir uns völlig sicher fühlen.

Außerdem, sagt sie, um uns herumschwimmend und ihren überlegenen Schwimmstil demonstrierend, ist das Schiff für die Begegnung mit Fischsauriern gerüstet.

"Das Schiff vielleicht, aber wir nicht!" sage ich zu Irene, die in meiner Nähe paddelt.

Während wir uns im Wasser tummeln, steigt plötzlich ein großer Teil der Besatzung in die Takelage auf, aufgescheucht durch einen Befehl, den wir nicht gehört haben. Wenig später entfalten sich die ersten Segel. Sie hängen alle schlaff herunter, aber die bloße Menge des Tuches, das da gesetzt wird, ist eindrucksvoll.

Chrwerjat beruhigt uns. Mit Wind ist erst in den nächsten Stunden zu rechnen. Es ist nicht so, daß wir jetzt panisch wieder zurück auf das Schiff müssen. Angenehme Vorstellung, die mir erst jetzt klar wird: Ein plötzlicher Wind treibt das Schiff schneller davon als wir hinterherschwimmen können, und dann tauchen die Fischsaurier auf.

Ich habe noch nicht erfragt, ob die Fischsaurier Vegetarier sind.

Immerhin, Chrwerjat ist bei uns, und ich nehme nicht an, daß sie selbstmordgefährdet ist. - Das ist natürlich, bei diesen Menschen, schon wieder eine weitgehend hypothetische Annahme über ihre Motivationsstruktur: Vielleicht macht sie gerade eine private Mutprobe, ohne uns das vorher mitzuteilen!

In dem glatten Wasser machen wir ein paar Wettkämpfe von der Art, wie ich sie mit Irene im Hotelpool in Lanzarote erfunden habe: 'Geheimdienstschwimmen'. Das heißt nur, so schnell wie möglich zu schwimmen, aber auch absolut lautlos. Das ist nicht ganz einfach - dort, wo die Schultermuskeln die Wasserfläche durchstoßen, bilden sich zu leicht glucksende Wellen. Als Chrwerjat begriffen hat, worum es geht, schwimmt sie uns mit Leichtigkeit davon. Wieder dreimal schneller als wir. Und absolut lautlos. Wieder etwas für unser Selbstbewußtsein.

Man könnte in diesem warmen Wasser stundenlang schwimmen. Chrwerjat weiß zu berichten, daß die Tiefe hunderte von Metern bis stellenweise einige Kilometer betragen muß - wenn ich ihre Angaben richtig interpretiere. Woher sie das weiß? Lotungen, natürlich. Ist doch Routine, in der Seefahrt. Ach so.

Ich schlage vor, etwas weiter rauszuschwimmen, weg von dem Gebrabbel, das man immer noch vom Schiff hört. Die Mannschaft sammelt sich zum Essen. Etwas weiter vom Schiff entfernt müßte es jetzt völlig still sein.

Irene will nicht. Sie will auch nicht, daß ich soweit rausschwimme, aber da Chrwerjat keine Einwände hat, schwimme ich. Den Ehekrach machen wir dann später. Als ich mich ab und zu umsehe, kann ich Irene und Chrwerjat, die die Balken des Schiffes wieder besteigen, gut erkennen.

Ich schwimme nach Norden, also in die Richtung, in der der See sich in unbekannte Weite fortsetzt. Im Osten ist er von Urwald gesäumt, im Westen fällt die riesige, überhängende Felswand steil in den See ab - man denkt manchmal, sie müßte jeden Moment umkippen.

Einmal sehe ich, schon aus vierhundert Metern Entfernung, wie Chrwerjat von der Kommandantin aufgehalten wird. Sie sehen beide in meine Richtung, dann gehen beide ihrer Wege. Vielleicht hat die Kommandantin sich erkundigt, was ich hier draußen mache.

Es wird tatsächlich völlig still. Kaum, daß noch Geräusche vom Schiff herüberdriften. Ab und zu ein fernes Kreischen. Feinere Geräusche aus dem Urwald rundherum dringen auch nicht bis hierher. Die richtige Atmosphäre zum Meditieren, zum Erfassen des Ganzen, von einem Ende der Welt bis zum anderen. Eine Welt, deren Teil jenseits dieser Höhlen für uns unwirklicher geworden ist, die wir jedoch in uns tragen, denn sie hat uns, mich und Irene, ja zu dem gemacht, was wir sind.

Irgendwo da über uns, da ist jetzt Oberbayern. Eschelohe, oder der Herzogstand, oder schon Murnau, oder sind wir sogar noch weiter nördlich? Wir können ja nur schätzen. Unter München sind wir wohl noch nicht, aber vielleicht unter dem Starnberger See, oder unter Wolfratshausen, oder unter Holzkirchen. Etwa elf Kilometer nur. Wenn man es horizontal durchläuft, dann sind elf Kilometer ein Klacks. Eine Stunde für mich, kaum weniger - ich war nie ein schneller Läufer. Was ist eine Stunde verglichen mit den nun schon elf Tagen, die wir bis hierher gebraucht haben? Oder für diese Leute, die von unserer Welt überhaupt nichts wissen? Jedenfalls werde ich da noch nachbohren, sowie ich die Sprache besser kann.

Und dieser trügerische Himmel, der nicht die Kälte des Weltraumes abschirmt, sondern eine Höhlendecke. Eine gigantische Höhlendecke. Jedesmal, wenn man sich das klarmacht, beschleicht einen ein leichtes Grausen. Gewiß, man kann auch auf der Oberfläche der Erde von fallenden Steinen getroffen werden - Meteore, oder Dachziegel vom nächsten Gebäude. Aber daß ein Teil einer Höhlendecke einbricht, das scheint doch immer noch wahrscheinlicher. Besonders einer Höhlendecke, die so weite Räume überspannt. Was verbirgt diese Wolkendecke? Vielleicht einen Hängenden Berg, so, wie wir ihn gesehen haben, aber wesentlich weniger fest mit der Höhlendecke verbunden? Eine Milliarde Tonnen Granit, reif zum Runterfallen?

Es ist ein Kilometer bis zum Schiff. Mein 'Geheimdienstschwimmen' ist perfekt. Es ist nicht ein Laut zu hören. Wenn die auf dem Schiff nicht wüßten, daß ich hier bin, dann wäre es jetzt schon unwahrscheinlich, daß sie mich entdeckten. So allerdings werden mir ständig ein paar Augen folgen.

Das Schiff sieht jetzt merkwürdig aus. Die hohe und breite Besegelung gibt ihm den Eindruck einer behäbigen Tante. Dann, der flache Floßrumpf, so ganz anders als der Schiffsrumpf, den man sich bei dem Wort 'Clipper' vorstellt. Als ob das Gewicht der Segel den Rumpf plattgedrückt hat.

Schön ist es nicht. Mein ästhetisches Empfinden ist von anderen Schiffsansichten geformt. Aber das ist für mich nur Gewöhnungssache, und für die Menschen hier Sache einer technischen Evolution. Da waren am Anfang eben nur Flöße, die immer größer geworden sind, die Idee, den Wind als Antriebskraft zu benutzen, und dann eine sich immer weiter verbessernde Segeltechnik, die offenbar für vorherrschende schwache Winde gut geeignet ist. Für starke Winde, das sieht man mit einem Blick, ist dieses Schiff eine hoffnungslose Fehlkonstruktion.

Aber was heißt Fehlkonstruktion? Das Schwimmen in flachen Flußgewässern, die schweren und dann doch nicht so schweren Beschädigungen nach dem Kampf mit dem Saurier - wie wäre denn da ein Schiff mit der mir bekannten, klassischen Bauweise fertiggeworden? - Ein Floß ist etwas einfaches, und das kann man überall reparieren.

Auch die technische Evolution entwickelt das, was gebraucht wird - genau wie die biologische. Vielleicht mit Ausnahme großer Konzerne, die es sich leisten können, am Markt vorbeizuproduzieren. Aber ich bin schon wieder dabei, über meinen Arbeitgeber nachzudenken. Der ist jetzt weit weg. Hier unten gibt es keine Konzerne. Hoffe ich.

13.2 Berührung aus der Tiefe

Etwas streift mein Schienbein. Vielleicht ein harmloser, kleiner Fisch. Vielleicht auch nicht. Ich erinnere mich noch gut, was Chrwerjat über die Fischsaurier erzählt hat. Ich sollte zurück. Irene wird schon unruhig werden.

Langsam und lautlos bewege ich mich wieder auf das Schiff zu. Die Berührung wiederholt sich nicht. Aber die Ruhe zum Meditieren will nicht mehr aufkommen. Wieder ein Nachteil der Welt hier unten: Man muß dauernd auf der Hut sein. Wenn eine Welt nicht gezähmt und domestiziert ist, dann muß man mit allen daraus folgenden Konsequenzen leben.

Als ich zwanzig Minuten später an Bord steige, sind einige schwere Harpuniergeräte aufgebaut und bemannt. Die glänzenden Spitzen zeigen nach Norden, dahin, wo ich geschwommen bin. Irene ist sofort bei mir und erzählt mir, daß die Waffen aufgestellt wurden, als ich am weitesten draußen war. Aber erst im Masthaus erfahre ich von Chrwerjat genaueres: Als ich am weitesten draußen war, hat der Ausguck etwas zwischen mir und dem Schiff gesehen. Was es auch war, es ist nicht an die Oberfläche gekommen, aber es war groß.

"Wie gut, daß du immer soweit davon weg warst!" sagt Irene als wir uns so um 14 Uhr zum Schlafen hinlegen.

Ich verschweige die Berührung, die ich unter Wasser gespürt habe. Es reicht aus, wenn ich einen weiteren Alptraum gelernt habe.

Und dann denke ich daran, daß es auch bei uns da oben Tiere gibt, die die schwächsten Wirbel und Erschütterungen im Wasser erfühlen können. In einem völlig stillen See habe ich wahrscheinlich vergleichsweise weitreichende Wirbel erzeugt. Irgendwas mußte da ankommen und nachsehen, was da im Wasser herumzappelt. Herwig, denke ich mir, da hast du etwas Dummes gemacht. Das ist nicht dein Verdienst, daß du noch lebst.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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