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******** 012. Tag: Mittwoch 95-08-30 ********
12.1 Tyrannosaurus Rex
Auch Chechmon und Chrwerjat haben plötzlich etwas anderes zu tun, und es stellt sich offenbar jetzt erst heraus, daß niemand geplant hat, wo wir jetzt bleiben sollen. Sie bedeuten uns, uns in das kleine Masthaus mittschiffs zurückzuziehen. Das gefällt mir, weil es mit über 25 Metern über Deck der höchste Raum ist.
Irene gefallen schon die Wanten in das vordere Masthaus nicht so besonders, und dieses kleine Masthaus ist noch einmal zehn Meter höher. Aber nach dem, was wir schon durchgemacht haben, ist das nur eine periphere Überlegung. Ich habe jedenfalls den Eindruck, daß wir da oben sicherer sind als auf Deck.
Noch während wir klettern, spüre ich ein Zittern in den Wanten, das nicht von unseren Kletterbewegungen herkommt. Unter uns platscht es mehrfach. Ich sehe, daß die Gangway-Brücke abgebaut wird. Schnell, sehr schnell. Alle sind in Hast. Dann erreichen wir das Masthaus. Wir sind die einzigen. Der Ausguck muß noch weiter oben im Mastwerk sein.
Wie gut, daß das Wetter heute klarer ist. Man kann weit flußaufwärts sehen. Irgendwo dahinten ist etwas, was das ganze Schiff in Aufregung versetzt. Wieder spüre ich ein Zittern im Boden.
"Das Schiff bewegt sich!" sage ich zu Irene. Es stimmt: Die Enden der Rahen driften langsam vor der Kulisse der fernen Säulen entlang. Sie müssen das Schiff mit Muskelkraft bewegen, denn es sind ja keinerlei Segel gesetzt. Wahrscheinlich verwenden sie eine Art Flaschenzug, um die Ankerseile an den Enden des Schiffes zu spannen und auf diese Weise das Schiff zu bewegen. Ich kann aber nichts erkennen.
Unten, auf Deck, werden Waffen zusammengesetzt und in Stellung gebracht. Es handelt sich um große, armbrustartige Harpuniergeräte. Eine ganze Seite des Schiffes wird damit besetzt. Außerdem wird das Schiff mit Treibankerketten so im Fluß, quer zur Strömung, festgelegt, daß man es schnell wenden und ausrichten kann, indem die Ankerketten rechts oder links ausgelassen oder wieder angezogen werden. Das ist wohl nicht die stabilste Lage, wie wir jetzt merken - das Schiff schwankt deutlich. Vorher lag es völlig ruhig längs der Strömung und näher am Ufer.
Das Ganze scheint nicht unerwartet zu sein. Es ist zwar Unruhe unter der Besatzung, aber keine Panik. Sie haben auf das, was jetzt kommt, gewartet. Und sie haben das auch schon oft getan.
Jetzt sehe ich endlich etwas. Es ist noch etliche Kilometer weit weg und sieht auf den ersten Blick aus wie ein rollender, grauer Ball, der aber sehr groß sein muß, wenn man ihn über diese Entfernung sieht. Dann verändert er seine Form. Er richtet sich auf.
"Großer Gott!" sage ich.
Irene erkennt es auch: "Kommt das hierher?"
"Glaube ja. Alles andere macht doch kein Sinn!"
"Das ist aber nicht so einer, wie wir ihn schon gesehen haben!" sagt Irene.
Allerdings nicht. Nicht Brontosaurus phlegmaticus. Auch kein Maiasaurus oder Brachiosaurus. Dies hier ist Tyrannosaurus Rex Horribilis. Oder wie immer die exakte Bezeichnung lautet - ich kenne mich in der Klassifikation der Saurier nicht aus. Aber das kann ich schon erkennen, daß es eine ganz andere Körperform hat als ein Brontosaurus, und daß es sich sehr schnell bewegt.
"Hoffentlich trauen sich unsere Gastgeber nicht zuviel zu!" meine ich. Dann erläutere ich Irene, was ich jetzt zu wissen glaube: Daß es sich bei diesem Schiff um ein Jagdschiff handelte, das schien mir ja schon klar. Aber die ganze Zeit bis jetzt hatte ich die Vorstellung, daß irgendwo ein Saurier erlegt wird und auf irgendeine Weise, vielleicht mit kleineren Flößen, hierhergebracht wird. Daß es das geschickteste sein könnte, den Saurier lebend zu veranlassen, hierherzukommen und erst von Bord des Schiffes aus bekämpft zu werden, auf die Idee bin ich noch nicht gekommen. Jetzt bin ich aber sicher, daß es so ist: Der Saurier wird entweder hierhergelockt oder hierhergetrieben. Da es sich um ein Exemplar handelt, das dem Tyrannosaurus wenigstens ähnelt, nehme ich an, daß eher die 'hierher locken' Theorie zutrifft. Das entspricht dem Temperament, das man dieser oben an der Oberfläche der Erde längst ausgestorbenen Spezies unterstellt.
Das Tier kommt rasch näher. Es scheint die meiste Zeit im flachen Flußwasser zu laufen, denn man kann bis hierher den Schaum und die Bugwelle sehen, die es aufwühlt. Wieder beschleicht mich der Verdacht, daß die Evolution bei den Sauriern den Größenwuchs noch etwas weiter vorangetrieben hat als es seinerzeit an der Erdoberfläche der Fall war. Jedenfalls ist dieses große Segelfloß mit dem Saurier verglichen eine recht zerbrechliche Angelegenheit.
12.2 Die Jagdruderinnen
Es hätte mich interessiert, wie sie das Tier locken. Ich bin sicher, es kann schneller laufen als ein Mensch. Vorneweg laufen geht also nicht. Dann aber erkenne ich es: Es ist ein Boot, lang und schmal, länger als ein Achter. Vielleicht sechzehn Menschen sind darinnen. Und sie rudern um ihr Leben.
Einen Moment beschleicht mich eine Achtung. Da gehört schon etwas dazu, erst dieses Tier aufzustöbern, vielleicht in den Bergen, weitab vom Fluß, dann bis zum Fluß zu locken, wo schon ein Boot bereit liegt, daß dann die weitere Köderfahrt übernehmen soll. Es muß eine große, koordinierte Aktion sein. Ich glaube kaum, daß das Boot diese hohe Geschwindigkeit über Dutzende von Kilometern durchgehalten hat. Wenn sie den Saurier auf diese Weise locken, dann haben sich wahrscheinlich verschiedene Boote abgelöst. Oder? Wer weiß, nachdem, was ein Menschenleben hier wert ist, sind vielleicht ganze Bootsbesatzungen geopfert worden!
Sie sind noch zu weit weg, ich kann ihre Gesichter nicht erkenne. Aber schon aus ihren Bewegungen geht hervor, daß sie alles an Anstrengung aufbringen, was sie können.
Trotzdem: Der Abstand des Bootes von dem Saurier veringert sich!
Jetzt ist es weniger als einen Kilometer zwischen dem Saurier und uns. Gedämpfte Befehle von unten. Das Schiff bewegt sich wieder. Alle Harpunen sind gespannt. Man hört bereits das Stampfen des Riesentieres und seinen schnaubenden Atem - auf die Entfernung!
800 Meter. Das Boot noch 600 Meter. Ich glaube, zu erkennen, daß es nur mit Frauen besetzt ist. Und sie ziehen ihre Ruder tief durch, schnell und schnell und schnell. Wehe, sie setzen jetzt auf einer Untiefe auf! Der Saurier wäre im Augenblick über ihnen.
Ich erwische mich dabei, daß ich ihnen den Daumen drücke, ihnen, unsern Bewachern! Dabei bin ich natürlich durchaus egoistisch. Boot und Saurier bewegen sich genau auf das Schiff zu. Wenn das Vieh nicht gestoppt wird, wenn der Besatzung das nicht gelingt, dann ist hier in einer Minute Sekunden alles Kleinholz!
"Wir hätten vom Schiff runter sollen!" murmele ich, als ob der herantrabende Fleischkoloß uns hören könnte.
"Das fällt dir jetzt erst ein?" fragt Irene.
"Ist es dir eingefallen?"
Es bleibt keine Zeit zum Streiten. Der Boden des Masthauses zittert - die Erschütterungen des Auftretens des Sauriers finden ihren Weg durch den Boden und durch das Wasser, in dem das Floß schwimmt, bis hierher!
Er muß über vierzig Kilometer pro Stunde schnell sein. Wahrscheinlich kann er sich noch wesentlich schneller bewegen, aber er hat schon viele Kilometer hinter sich und ist auch restlos erschöpft. Dazu sein vergleichsweise langsamer Metabolismus, wie er allen Tieren hier eigen ist. Wie sie ihn wohl so gereizt haben, daß er diese ganze Strecke die Verfolgung des Bootes nicht aufgegeben hat? Und wie viel Erfahrung und Training stecken in diesem Ruderboot? Ich habe den Eindruck, daß es schneller ist als ein gewöhnlicher Achter bei olympischen Wettkämpfen.
400 Meter der Saurier, 300 Meter das Boot. Es wird sehr knapp. Das Boot zielt haarscharf am Schiff vorbei. Sie werden rechts passieren, wenn alles gut geht. Wenn nicht, dann können sie sich immer noch in Sicherheit bringen, während der Saurier mit dem Schiff kolidiert.
200 Meter. Weitere Befehle von unten. Es werden normale Pfeile in Richtung seiner Augen abgeschossen. Einige Sekunden lang scheinen alle Besatzungsmitglieder ausschließlich damit beschäftigt zu sein. Dann springen alle an die schweren Harpunengeschütze.
Der Boden zittert immer heftiger.
150 Meter der Saurier, 100 Meter das Boot. Ein lautes Kommando von unten. Der Boden zuckt mehrfach, als die Harpunengeschütze ihre schweren Projektile dem vorzeitlichen Ungeheuer entgegenschleudern.
100 Meter der Saurier. Vier Sekunden seit dem Abfeuern der Harpunen. Hat ihn das überhaupt nicht beeindruckt?
Er richtet sich im Laufen auf. Großer Gott, er erreicht genau die Höhe des mittleren Masthauses! Jetzt sehe ich die blutenden Augen, nur noch zerfetzte Höhlen, der Rachen öffnet sich zu einem Schrei - Wut oder Schmerz, was weiß ich. Es ist blind, aber das nützt uns nichts, denn es läuft immer noch genau auf uns zu!
"Irene, die andere Seite! An die andere Seite!" brülle ich, aber Irene hat schon kapiert. Während der Saurierkopf sich auf das Masthaus zubewegt, versuchen wir, uns an der gegenüberliegenden Wand, an den Fensterstreben des Masthauses, irgendwie festzuklammern. Kaum, daß wir diese im Griff haben, schlägt der Kopf des Sauriers wie ein Riesenhammer in das Masthaus hinein.
12.3 Schiffsschlag
Was unter uns auf Deck los ist, davon haben wir keine Vorstellung. Die Fensterstreben werden uns fast aus den Armen gerissen, aber der Halt erfüllt seinen Zweck. Das Schiffshaus unten und viele der tiefliegenden Rahen fangen die Hauptwucht der Kollision auf. Überall splittert Holz und reißen Taue. Von unten dringen Schmerzensschreie herauf. Eine Wolke von üblem Gestank hüllt uns einen Moment lang ein - aus einem seit Jahren oder Jahrzehnten nicht gereinigten Sauriermaul.
Das Masthaus ist halb zerstört, und rundherum und unter uns hört man immer noch berstendes Holz. Dazwischen das Brüllen des Sauriers und weitere Varianten des atemberaubenden Gestankes. Das ganze Schiff liegt etwa vierzig Grad schief, was uns daran hindert, aus dem halben Masthaus herauszurutschen. Der Saurier hat das Schiff fast umgeworfen! Nur langsam richtet es sich wieder auf. Durch das Loch im Boden sehen wir ein gespenstisches Schauspiel:
Der hintere Teil des Körpers des Sauriers ist irgendwie unter das Floß geraten, daß sich durch den Aufprall schräg gelegt hat. Der vordere Teil mit Hals und jetzt auch mit dem Kopf liegt auf dem Deck und in den eingedrückten Teilen des Deckhauses. Dadurch wird das Schiff gleichzeitig wieder zurück in die Waagerechte gedrückt, kann diese aber nicht ganz erreichen.
Die Besatzungsmitglieder springen mit dem Mut von Löwen auf dem immer noch lebenden Tier herum. Ich kann Charmion erkennen, die sich als erste vorne am Hals zu schaffen macht. Sie drischt mit ihrem Schwert auf eine Stelle unter den Kinnladen ein, wo vermutlich wichtige Arterien in den Kopf hinaufführen. Da bäumt sich Hals und Kopf wieder auf, und sie wird heruntergeschleudert. Ich kann nicht erkennen, wohin.
Der blinde Kopf fährt unter uns in das Mastwerk, und wieder zittert das ganze Schiff, als wolle es uns abwerfen. Der Mast dröhnt wie ein angeschlagenes, riesiges Bambusrohr. Als ich das nächste Mal einen Blick nach unten werfe, ist die Kommandantin selbst dabei, die Stelle zu bearbeiten, an der Charmion angefangen hat. Sie wird von Blut überströmt.
Auch Charmion taucht wieder auf. Sie und noch weitere zwei Frauen kümmern sich darum, dem lebenden Tier den Kopf vom Rumpfe abzutrennen. Es scheint ihnen egal, daß sie vor Blut triefen. Es ist ja nicht ihr eigenes Blut.
Allmählich hat das Tier Angst und Schmerzen. Es begreift, daß es ihm ans Leben geht, und es kann ja nichts mehr sehen. Sein Brüllen ist ohrenbetäubend, der ganze Körper windet sich. Wieder schaukelt das Floß wie im Sturm. Das klare Wasser rund um das Floß ist längst zu einem roten Strom geworden, und der Gestank ist unerträglich. Zum Körpergeruch des Sauriers kommen jetzt auch noch die Ausdünstungen aus seinem Inneren, die aus zahllosen Wunden abdampfen.
So schwer wie der Saurier das Schiff auch getroffen hat, er hat vor dieser fabrikmäßigen Tötungsmaschine keine Chance. Jeder da unten weiß, wo er schneiden muß. Kaum eine macht das zum ersten Mal. Um das ruinierte Schiff kümmert man sich später.
Und mit welcher Präzision! Ich weiß nicht, ob es Absicht ist oder nicht, aber als eine kleine Gruppe einen tiefen Einschnitt am Rückgrat macht, wirft ein Krampf den Körper des Sauriers so herum, daß der hintere Teil sich wieder unter dem Floß herauszieht. Mit einer schwungvollen Bewegung richtet sich das Floß wieder vollständig auf, und wir werden dabei fast aus dem halboffenen Masthaus herausgeschleudert.
Das Brüllen wird schwächer. Als ich es wieder wage, nach unten zu sehen, arbeitet schon jemand an den Nackenwirbeln des Sauriers. Seine Nervenverbindungen zum Körper werden fachmännisch durchtrennt. Die Frau, die das macht, schwebt dabei in Lebensgefahr, wie alle da unten, aber sie ist Meisterin in dieser Form der Kampfchirurgie. Das Tier schnappt immer noch mit dem Maul, blind und hilflos. Dann stellt auch das bißchen Gehirn, über das er verfügt, wegen Blut- und Sauerstoffmangel seinen Dienst ein. Es ist vollbracht.
12.4 Schlachtfest
Unten, auf dem Schiff, bricht keinerlei Jubel oder etwas ähnliches aus. Es hat niemand ernsthaft bezweifelt, daß man das Tier besiegen würde. Aber nun gibt es eine Menge Arbeit, auch, weil das Schiff so schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Man arbeitet einfach weiter. Die Tötung des Tieres geht in seine Zerlegung über. Außerdem teilt die Kommandantin schon die ersten Reparaturtrupps ein.
Jetzt erst kommt das Boot von der anderen Seite heran. Langsam und zögernd. Es sind tatsächlich sechzehn Frauen, und sie sind restlos erschöpft. Fix und fertig. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie wieder mit zugreifen können.
"Sieh mal," sage ich zu Irene, "Im vorderen Masthaus wäre uns nichts passiert! Es ist unbeschädigt!"
"Es ist uns doch auch nichts passiert!" stellt Irene fest.
"Das ist glatter Zufall!" sage ich und zeige mit einer Handbewegung auf den Teil des Masthauses, der so gut wie verschwunden ist.
"Jedenfalls machen wir mal einen Standortwechsel. Hir stehen wir nur im Wege, wenn sie anfangen, es hier zu reparieren."
12.5 Reparaturtermin
Vom vorderen Masthaus können wir die Ereignisse gut verfolgen, ohne daß man uns stört und ohne daß wir jemanden stören. Jedenfalls sind Chechmon und Chrwerjat auch im Arbeitseinsatz, und das erlaubt uns, uns auch und ganz besonders vom Sprachunterricht zu erholen. Ohnehin ist es ein Unfug, zu glauben, daß bei einer Tätigkeit wie dem Erlernen einer Sprache 16 Stunden pro Tag das doppelte Ergebnis von 8 Stunden pro Tag bringen. Das ist bei keiner geistigen Tätigkeit der Fall. Trotzdem wird das Vorliegen von so einfachen, linearen Zusammenhängen weithin für gegeben gehalten. Man braucht sich ja nur die Argumentation der Arbeitgeber und die der Gewerkschaften anzuhören. Wo immer sie im Gegensatz sind - der Glaube an die Proportionalität zwischen Arbeitszeit und Arbeitsergebnis eint sie.
Allerdings - wenn schon in einer Industrienation mit einem hohen Anteil an geistiger Arbeit die allertollsten Vereinfachungen in diesen Ansichten das Feld beherrschen, dann wird das hier erst recht der Fall sein. Wir sehen ja, welche Art von Arbeit die Menschen hier kennen: Schiffe reparieren und Saurier zerlegen. Wer damit täglich konfrontiert ist, der wird annehmen, daß in anderen identifizierbaren und benennbaren Arbeitsvorgängen ähnlich lineare Verhältnisse zwischen zeitlichem Aufwand und Ergebnis vorliegen. Da brauche ich mich gar nicht auf eine Diskussion einzulassen - wenn man einmal davon absieht, daß unser bisheriges Wissen über die Xonchen-Sprache eine Diskussion sowieso ausschließt.
Schon bald wird mir klar, daß das Schiff weniger schwer beschädigt ist als ich zunächst angenommen habe. Die Masten stehen noch, und der floßartige Rumpf ist unbeschädigt. Die Aufbauten sind eingedrückt, eine ganze Menge Rahen sind zu Bruch gegangen und haben aus der ganzen unteren Takelage ein heilloses Wirrwarr gemacht. Und natürlich unser Masthaus mittschiffs. Das sieht traurig aus.
Aber so routiniert, wie da unten bereits an den Decksaufbauten gearbeitet wird, so schnell wird vermutlich der gesamte Schaden behoben werden. Ein weiterer Grund für den begrenzten Schaden liegt wahrscheinlich auch darin, daß es keine Nägel gibt - die vorherrschende Verbindungsmethode in dieser Schiffskonstruktion ist das Seil. Solch eine Verbindung kann viel Stoßenergie absorbieren und ist danach immer noch leidlich einsatzfähig. Wo Holz nicht zersplittert ist, reicht oft das Nachziehen von Seilverbindungen aus - es ist nicht einmal weiteres Holz- oder Seilmaterial notwendig. Dazu kommt, daß ein Floß nicht leckschlagen kann. Allmählich kommt mir der Gedanke, daß diese Schiffskonstruktion für die Saurierjagd ideal ist.
Außerdem merkt man, daß jetzt die Schiffsbesatzung um weitere 16 Personen verstärkt wurde. Und jeder arbeitet: Mit dem Hammer, mit der Säge, mit dem Fleischmesser. Schon sind große Fleischstücke vom Kadaver des Sauriers abgezogen und verschwinden im Deckshaus. Wie das wohl haltbar gemacht wird?
Die einzigen, die nicht arbeiten, sind wir. Ich überrede Irene dazu, etwas vom Fenster des Masthauses zurückzutreten, damit man nicht so deutlich sieht, daß wir uns auf die Rolle des Zuschauers beschränken.
Unsere Rucksäcke, die wir im Moment im vorderen Masthaus aufbewahren, sind unbeschädigt, wie ich jetzt feststelle. Das wäre vielleicht nicht mehr der Fall, wenn sie irgendwo da unten im Deckshaus aufbewahrt worden wären. Aber seitdem wir Sprachunterricht machen müssen, ist dieses Masthaus offenbar zu unserem permanenten Aufenthaltsort bestimmt worden, und so sind unsere Sachen eben auch hierher gebracht worden. Daß das Masthaus sich zwar vorübergehend schräg gelegt hat, hat den Rucksäcken nicht geschadet. Allerdings müssen wohl einige der Tische und Bänke repariert werden - alle sind an die dem Aufprall des Sauriers gegenüberliegende Seite gerutscht. Also, in hohen Seegang darf dieses Floß nicht kommen, denke ich mir. Dafür scheint nichts auf dem Schiff eingerichtet.
Aber vielleicht gibt es in dieser Welt ja auch keinen hohen Seegang.
Im Laufe der folgenden Stunden kommen in Abständen einige weitere Gruppen an Bord. Wir können sie von unserem Standpunkt schon lange vor ihrem Eintreffen sehen. Der Ausguck im Mast über uns wahrscheinlich auch. Wenn er noch da ist und nicht unten mit anpacken muß. Jedenfalls werden die Ankömmlinge nicht angekündigt, und sie lösen, als sie an Bord kommen, keinerlei Überraschungen oder Unruhe aus. Wahrscheinlich waren sie organisatorisch irgendwo an der Saurierjagd beteiligt.
Vielleicht, überlege ich, gibt es ja auch mehrere solcher Schiffe, so daß es möglich ist, mit nur wenig Personal von jedem einen zahlenmäßig hinreichend starken Trupp aufzustellen, der nacheinander Saurier vor die Harpunen eines jeden einzelnen Schiffes treibt. - Aber das ist natürlich nur eine Hypothese.
Während der Saurier allmählich bis auf das Skelett zerlegt und immer mehr Fleisch in das Deckshaus gebracht wird, verlassen auch einige Gruppen das Schiff wieder. Vielleicht sollen sie Holz für die Schiffsreparatur holen, vielleicht die Vorräte an pflanzlicher Nahrung aufstocken, vielleicht gehören sie auch gar nicht an Bord. Ich weiß nicht. Ich kann nicht alles wissen. Und im Moment stellen wir vielleicht lieber keine Fragen.
Unter dem Strich aber nimmt die Mannschaft zahlenmäßig zu. Wir müssen befürchten, daß wir bald nicht mehr alleine in diesem Raume sind. Wenigstens Chechmon und Chrwerjat werden sich wieder hier einquartieren.
Das dauert aber. Mehr als einmal habe ich den Eindruck, daß Charmion, die jetzt nur noch mit Zimmermannsarbeiten im Mastwerk beschäftigt ist, kurz zu uns heraufblickt, als ob sie kontrollieren will, ob wir noch da sind. Da dies der Fall ist, sind wir nicht mehr weiter interessant.
"Komisch," sage ich, "erst lassen sie einen arbeiten, und dann, wenn wirklich alle Hände gebraucht werden, dann lassen sie einen in Ruhe. Paßt auch nicht zusammen."
"Die Kommandantin hat eben entsprechende Anweisungen gegeben!" vermutet Irene, "und niemand wagt Gegenvorschläge."
Ich rechne den Beginn der Schlafperiode hoch. Gestern war es 8 Uhr, bei einem 27-Stunden-Tag müßte es heute 11 Uhr werden. Noch ein paar Stunden Lärm auf dem Schiff. Naja, wenn es nur das ist.
Die Rechnung scheint zu stimmen. Schon kurz nach 9 Uhr nimmt der Lärm ab. Von dem Saurier ist nur noch der entfleischte Kadaver übrig. Es sieht nicht so aus, als wäre beabsichtigt, diese Reste irgendwie zu beseitigen. Das Skelett, in und an dem noch viele Reste von Eingeweiden und Bindegewebe hängen, bleibt da, wo es ist. Es ist sehr großzügig ausgenommen worden, so daß es sich bei dem, was bald in Fäulnis übergehen wird, noch um viele Dutzend Tonnen handelt. Wenn wir dann noch hier sind, dann wird der Gestank noch um einiges schlimmer.
So kurz vor 10 Uhr scheint man sich im Speiseraum im ersten Stock zu versammeln. Wir wagen es und gehen auch hin. "Vielleicht gibt es jetzt ja Saurierfleisch statt Menschenfleisch!" erkläre ich Irene.
Der Speiseraum ist recht voll. Wir wissen nicht, wo wir uns hinsetzen sollen. Viele Besatzungsmitglieder, die jetzt erst an Bord gekommen sind, sehen uns neugierig an. Manche versuchen auch, mit uns zu reden, allerdings mit wenig Erfolg.
Plötzlich steht Chechmon vor uns. Sie macht uns klar, daß wir hier verschwinden sollen. Sie bringt uns persönlich in das Masthaus zurück. Wahrscheinlich ist ihr das befohlen worden, jedenfalls entnehmen wir das ihren Erklärungen.
Wir sehen schon einer hungrigen Nacht entgegen, aber schon nach kurzer Zeit wird uns Essen gebracht. Es ist wieder gemischt vegetarisch und Fleisch. Aber dieses Fleisch ist wenigstens kein Menschenfleisch. Es ist unglaublich zäh, sehr bitter und streng im Geschmack, aber genießbar. Und es ist wirklich echtes Saurierfleisch!
Ich leihe mir ein Messer von Chechmon aus, weil ich nicht will, daß sie das Taschenmesser als Messer erkennt. Als Chechmon sieht, daß wir das Messer zum Zerschneiden des Fleisches verwenden, scheint sie amüsiert. Während wir unsere kleinen Bissen einschieben, haut sie ihre Zähne ohne große Umstände in die Fleischstücke. Sie hat da keinerlei Schwierigkeiten. Wer das beißen kann, der muß auch Holz zerbeißen können!
Es wären fast ideale Verhältnisse, wenn jetzt Chechmon auch noch weggehen würde. Das tut sie nicht. Der Sprachunterricht geht beim und nach dem Essen weiter.
Immerhin erfahren wir auf diese Weise einiges. Offenbar gibt es nur dieses eine Schiff, das an der Aktion beteiligt ist, und einige der Menschen, die an der Jagd teilgenommen haben, gehören nicht zur ständigen Besatzung, sondern leben hier irgendwo im Busch. Was sie als Gegenleistung für ihre Teilnahme bekommen haben, sagt Chechmon nicht.
Was das Anlocken des Sauriers berifft, so scheint man einen Duftstoff pflanzlicher Herkunft verwendet zu haben. Chechmon erklärt, daß dieser Stoff auf manche Saurier eine so starke Wirkung hat, daß man sie damit zur Raserei bringen kann. Man kann zum Beispiel Saurier dazu bringen, eine Felswand herunterzustürzen. Das wurde früher auch so gemacht. Dann stellt sich aber das Problem des Abtransportes von diesen immensen Fleischmengen. Deshalb gibt es diese Fangschiffe, eine Neuerung, die sich erst vor vierzig Generationen durchgesetzt hatte.
Vierzig Generationen, habe ich das richtig verstanden? Das sind 800 bis 1000 Jahre unserer Zeitrechnung. Dann ändert sich hier aber nicht sehr viel. - Ob diese Angaben wirklich präzise und zuverlässig sind? Daß bei solchen Überlieferungen in jeder Generation die Angabe der vergangenen Generationen um eins hochgezählt wird, kann ich nicht recht glauben. Wie wenig zuverlässig solche Zahlenangaben sein können, kann man ja an den biblischen Altersangaben im Alten Testament ablesen.
Wir erfahren noch einige weitere Informationen. Unsere Gastgeber nennen sich, als Kollektivbezeichnung, 'Steinbeißer', wobei unklar ist, ob sich diese Bezeichnung nur auf eine Sippe oder auf ein ganzes Volk bezieht, wo immer hier der Unterschied sein mag. Sie erwähnen andere Volksstämme, die auch 'Steinbeißer' heißen. Aber es gibt hier soviele Worte für die verschiedenen Gesteinsarten, daß man erst sorgsam durch Vergleich herausfinden muß, was nun als 'Granitbeißer', oder als 'Basaltbeißer' oder als 'Gneisbeißer' zu bezeichnen ist.
Ich denke an die Beißkraft unserer Gastgeber. Ob die Bezeichnung 'Granitbeißer' mehr als eine symbolische Bezeichnung ist?
Dann erzählt Chechmon von noch anderen Volksstämmen, aber ihre Erzählungen werden unklar, nicht nur wegen der Sprache, sondern auch wegen dem legendenartigen Charakter ihrer Erzählungen. Ob diese ausgestorben sind oder ob man sie einfach nicht zu Gesicht bekommt wird nicht deutlich. Dann wieder glaube ich, daß sie von den Erbauern 'toter Städte' spricht, und 'von denen da oben'. Diese Hinweise elektrisieren mich. Sind am Ende sogar die Menschen der Erde gemeint? Oder welche, die von den Menschen an der Oberfläche abstammen? Die hier eingewandert sind? Ich denke an die tote Stadt, an der wir vorbei gekommen sind. Was für Geheimnisse sind dort? Chechmon weiß jedenfalls auch nichts genaues, soviel wird mir klar.
Schade, daß gerade solche Themen bei unseren beschränkten Sprachkenntnissen soviel schwieriger sind. Jedenfalls geht die Zeit wie im Fluge vorbei, und kurz nach 11 Uhr legt Chechmon sich hin. Endlich ist die Schlafperiode da, und wir tun das auch. Waschen entfällt: Das Wasser um das Schiff herum ist noch zu sehr durch den Kadaver des Sauriers verschmutzt.
"Wir gleichen unseren hygienischen Standard allmählich dem unserer Gastgeber an!" sage ich im Einschlafen zu Irene. Sie findet das nicht lustig. Gut. Dann habe ich es auch nicht lustig zu finden.
12.6 Kreuzfahrt
Schon vor dem geschätzten Termin des Endes der Schlafperiode um 20 Uhr werden wir wieder wach, weil es draußen laut wird. Der Sprachunterricht geht sofort weiter, selbst während wir uns in dem vermutlich immer noch nicht ganz sauberen Flußwasser waschen. Einiges kriegen wir aber doch so nebenbei mit.
Die Besatzung war während der Schlafperiode nicht ganz untätig. Ohne daß wir es gemerkt haben, ist das Schiff um einige hundert Meter flußabwärts versetzt worden, und es liegt auch wieder längs der Strömung. Damit sind in dem Wasser zwar immer noch die Exsudate der Saurierleiche vorhanden, sie haben sich aber etwas mehr im Flußwasser verteilt. Und der Gestank ist nicht mehr ganz so schlimm.
Auf der Leiche des Sauriers haben sich zahllose Vögel niedergelassen. Dieser Kadaver wird wahrscheinlich noch die Nahrungsbilanz ganzer Schwärme günstig beeinflußen. Das ist eben der Lauf der Natur.
Auf den ersten Blick scheint das Schiff wieder vollständig repariert. Allerdings turnen immer noch eine ganze Reihe Besatzungsmitglieder in der Takelage herum, und es ist nicht zu übersehen: Charmion ist dabei, und sie hat die Aufsicht. Auch im Vergleich zu all den anderen scheint sie diejenige zu sein, die am virtuosesten in den Seilen herumklettert.
Sogar das hohe Masthaus mittschiffs ist mittlerweile wieder repariert worden. Das muß während der Schlafperiode passiert sein, denn vorher war es definitiv noch demoliert.
Chechmon blickt kurz auf, als Chrwerjat das Masthaus betritt. Ablösung. Nicht für uns, versteht sich, sondern für Chechmon.
Sie hat auch eine Neuigkeit: In wenigen Stunden werden wir ablegen. Wohin, das erzählt sie uns nicht.
Irene und ich sehen uns an: wenn dieses Schiff ablegt, dann beginnt eine ganz neue Phase in unserem Abenteuer: Dann können wir aus eigener Kraft überhaupt nicht mehr zurück. Schließlich können wir nicht auf dem Wasser schreiten. Wenn wir zurückwollen, dann müßten wir das jetzt bald in die Wege leiten. Während Chechmon und Chrwerjat miteinander reden, erläutere ich Irene diesen Gesichtspunkt.
"Die lassen uns doch nicht weg!" meint sie.
"Natürlich nicht. Das enthebt uns der Notwendigkeit einer sofortigen Entscheidung. Aber ich möchte, daß du weißt, was es bedeutet, wenn wir ablegen!"
"Ich bin ja nicht blöd!"
Das ist ein Argument. Chechmon geht jetzt, und Chrwerjat setzt den Unterricht fort. Wir müssen später reden.
Was wollen wir wirklich? Darüber müssen wir uns sowieso klar werden. Lassen wir mal die ganz großen Schwierigkeiten des Weges zurück in unsere Welt aus den Betrachtungen weg. Denn denen könnten ähnlichen Schwierigkeiten gegenüberstehen, die uns hier noch blühen - wir haben ja schon eine Ahnung von dem Charakter dieser Leute.
Also, völlig unbeteiligt: Hierbleiben oder nach Hause?
Nach Hause: Eintöniger Beruf, der nicht die Spur einer Karriere zuläßt. Die Bürokratie meines Arbeitgebers schränkt Produktivität und Arbeitsfortschritt auf das Niveau eines sozialistischen Landes ein. Auch wenn der Arbeitsplatz leidlich sicher ist, die wirklich interessanten Dinge spielen sich außerhalb der Dienstzeit ab. Innovation, technisch interessante Dinge, Herausforderungen - bei dem Arbeitgeber: nein.
Und welches sind die Dinge außerhalb der Arbeitszeit: Eine Welt, die nach dem Abflauen des großen Ost-West Gegensatzes instabiler statt stabiler geworden ist, die Tag für Tag mehr in dem Dreck ihrer Humanfertilität versinkt. Der große, unwahrscheinliche Krieg ist durch zahllose, schmutzige, kleine Kriege ersetzt worden, Kriege, die wirklich stattfinden. Es gibt Anzeichen, daß die Religionen in Form vieler Sekten immer mehr Macht übernehmen und den Rückschritt in das Mittelalter bereits eingeläutet haben. Der Glaube, daß der Fortschritt in den Naturwissenschaften automatisch eine entsprechende Klarheit in den Köpfen der Menschheit schaffen würde, ist längst zerbrochen. Die Flexibilität des menschlichen Geistes ist unglaublich - es gibt keine Ideologie, die so abstrus wäre, daß sie nicht immer noch ihre Anhänger fände.
Es ist schon viele Jahre her, als ich mit einem Schock begriffen hatte, daß das Licht der Aufklärung nur wenige erreicht. Schön, das sind einige mehr als in den Jahrhunderten zuvor. Eine technische Zivilisation erzwingt eben eine objektive Denkmethode in die Köpfe wenigstens einiger. Aber das dürfen sehr wenige sein - erstaunlich wenige. Ich habe Beispiele gesehen, von Physikern, die die Schöpfungsgeschichte wörtlich genommen haben, von Ingenieuren, die dem Wiedergeburtsglauben anhingen, von Biologen, die Darwin für einen Satan hielten. Das gibt es heute noch!
Was ist da noch in unserer Welt? Sowohl Irene's als auch meine Eltern leben noch, aber in einem ihren hohen Alter entsprechend schlechten Gesundheitszustand. Pflegefälle stehen uns wahrscheinlich ins Haus, schlimmstenfalls vier. Das ist egoistisch gedacht, aber nichtdestoweniger wahr: Das kann uns noch die gesamte Finanzplanung für die Zukunft oder die gesamte Freizeit ruinieren. Vielleicht sogar beides. Es wird ihnen nicht schlechter gehen, wenn wir nicht wieder auftauchen, denn dann muß die Allgemeinheit einspringen. Eine Allgemeinheit, die wir guten Gewissens in die Pflicht nehmen können, schließlich haben wir sie durch unsere Sozialabgaben lange genug gesponsort. Gehen wir in unsere Welt zurück, dann werden wir die Last des Alters dreimal tragen: einmal haben wir sie schon über unsere Sozialabgaben getragen, dann durch die direkte Beteiligung an der Pflege unserer Vorgeneration, und irgendwann werden wir auch selbst alt. Dann werden wir mit uns selbst beschäftigt sein.
Es ist zynisch, aber vor diesem drohenden, vielleicht unvermeidlichen Schicksal hat unser Abenteuer einen neuen Ausweg geöffnet. Nämlich hierbleiben.
Denken wir das mal durch. Hierbleiben? Daß wir hier in einer Art Mittelalter gelandet sind, ist klar. Die Flexibilität des Geistes, seine Aufnahmebereitschaft für den größten Blödsinn ist hier natürlich genauso ausgeprägt. Und das Licht der Aufklärung hat hier noch niemanden erreicht. Damit müssen wir jedenfalls rechnen. Hier werde ich auch ewig vermöge meiner Geschlechtszugehörigkeit zu einer unterprivilegierten Klasse gehören. Da sollte ich mir gar keine Illusionen machen.
Aber dafür erscheint diese Welt sauber weil dünnbesiedelt. Viele Probleme, die wir in unserer technischen Zivilisation da oben haben, haben die Granitbeißer nicht, nicht weil sie einsichtiger wären, sondern weil sie nur einen winzigen Teil des sie umgebenden Biotopes darstellen. Das ist offenbar auch ein permanenter Zustand, denn diese Welt mit Menschen zu überschwemmen, das ist in einigen Dutzend Generationen leicht möglich. Es ist aber noch nicht geschehen, obwohl schon genügend Generationen hier geboren wurden.
In dieser Welt würden wir eventuell Nischen finden, weitab von dem Leben und Treiben der Granitbeißer.
Und wie sieht die Bilanz für Irene aus? Ihr Beruf oben, in ihrer Bank, ist genauso streßbehaftet. Dazu kommt noch, daß in unserer Gesellschaft Frauen doch immer noch eine Art Neger sind. In der Bank läßt man sie das häufig genug spüren.
Hier ist sie Mitglied des privilegierten Geschlechtes. Sie könnte es zu etwas bringen. Vielleicht nicht nur sie, vielleicht wir beide. Wir haben ja auch einiges zu bieten. Was wissen die hier alles nicht, was man ihnen beibringen könnte. Bumerang, das Beispiel hatten wir ja schon. Was noch?
Medizinische Erkenntnisse. Sollten wir das tun? Wie war es denn oben, in unserer Welt? Bei den Infektionskrankheiten, und nur da, hat die Medizin ihre großen Erfolge erzielt, teils mit Antibiotika, teils mit der Erfindung der Hygiene. Was haben wir damit erreicht? Die Aufhebung der natürlichen Beschränkung der Bevölkerungsdichte. Wo die Menschen dicht beieinander leben ist das Weitergeben von Infektionskrankheiten wesentlich wahrscheinlicher. Aber mit einer guten ärztlichen Versorgung und Wasser und Seife für jeden hält man die Krankheit zurück. Dann gewinnen Testes und Uterus das Rennen. Eine Zeitlang, bis die Welt völlig ruiniert ist.
Nun ja, vielleicht trifft hier dieser Aspekt nicht zu. Vielleicht halten die Granitbeißer ihre eigene Zahl ja mit dem Schwert gering, vielleicht über den Umweg über andere Volksstämme, die es genauso halten. Postnatale Geburtenkontrolle auf Gegenseitigkeit: der Stammeskonflikt.
Hierzubleiben hieße, da mitzumachen. Tricks zu verraten, mit denen man in solchen Auseinandersetzungen erfolgreicher sein kann als der Nachbarstamm. Tricks zu verraten, mit denen man Krankheiten vermeiden kann. Alles gute, gute Tricks. Wir könnten die Lawine lostreten! Muß das, darf das sein?
Lassen wir mal die ethischen Erwägungen ganz egoistisch beiseite, denn die Folgen unseres Hierbleibens, wenn es denn tatsächlich so weitreichende Folgen hätte, würden im Laufe unserer Lebenszeit noch nicht deutlich werden. Also: wollen wir hierbleiben?
Wir wissen immer noch zuwenig über diese Welt. Wir wissen sowenig, wie ein Außerirdischer, der auf der Erde gerade mitten unter den Touristen auf der Marea Errota landet. Was soll er aus dem, was er da um sich sieht, schließen? Die Menschen verbringen ihre Zeit damit, in der Sonne liegend ultraviolettgenerierte Melanome zu kultivieren und gelegentlich durch einen Sprung in eine salzige Flüssigkeit ihre Allergien aufzufrischen. Nicht sehr repräsentativ.
Ich weiß nicht, was wir tun sollen. Ich muß mit Irene drüber reden. Jetzt geht's nicht, wegen dem Sprachunterricht. Später mal. Wir müssen auch noch mehr über diese Welt in Erfahrung bringen.
Chrwerjat merkt, daß ich geistesabwesend bin, und befragt mich intensivst, während sie in ihrem Bildmaterial wühlt. Ich muß alle möglichen Dinge benennen. Dösen ist bei diesem Unterricht nicht drin.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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