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******** 010. Tag: Montag 95-08-28 ********
10.1 Militaria
Etwa 14 Uhr ist es, als wir geweckt werden. Der Unterricht geht sofort in die nächste Runde, während der Morgentoilette, während des hastig runtergeschlungenen Frühstückes, und dann erst richtig intensiv. Diesmal ist Chrwerjat dran. Chechmon darf sich ausruhen oder etwas anderes tun. Wir nicht. Ich habe jetzt den Eindruck, daß wir die einzigen auf dem Schiff sind, die dauernd arbeiten müssen.
Chrwerjat hat Bilder und Kohlestifte mitgebracht. Es gibt hier also Papier. Hartes, steifes, pergamentartiges zwar, aber es erfüllt seinen Zweck. Außerdem muß das Papier in dieser feuchtschwülen Welt ja haltbar sein, und das merkt man dem Papier an.
Die Bilder zeigen militärische Themen: Waffen, Kampfaufstellungen, Strategien, Logistik. Alles Themen, die Gelegenheit für viele neue Worte geben. Meistens militärische Begriffe.
Mir fällt sofort auf, daß sie sich nicht um Geheimhaltung bemühen, so, wie es bei allen Armeen der Welt üblich ist. Entweder rechnen sie nicht damit, daß wir irgendjemandem etwas verraten könnten, oder das, was wir erfahren, ist Allgemeingut, sowohl unter unserer Gastgebern als auch deren Feinden, die es ja auch geben muß. Darüber hinaus kriegen wir nicht viel raus. Ich habe den Verdacht, daß es sich um nicht viel mehr als Stammesfehden handeln könnte. Aber das ist keine Entwarnung - auch solche Auseinandersetzungen können mörderisch sein.
Schwert, Messer, Pfeil und Bogen, das ist tatsächlich ihr Waffenarsenal. Aus der Beschreibung einer größeren Pfeilabschußvorrichtung, die eher einer Harpune ähnelt, entnehmen wir, daß es sich dabei mehr um eine Jagdwaffe handelt, wie überhaupt die Jagd und der Krieg bei unseren Gastgebern sehr viel gemeinsam haben.
Das Pulver haben sie noch nicht erfunden, und andere pyrotechnische Methoden finden auch keine Anwendung. Die Verwendung des Feuers beschränkt sich auf die Zubereitung von Lebensmitteln und auf die Schmiedekunst, wobei die Schmiedekunst ausschließlich zur Herstellung von Schneidwerkzeugen dient. Schon den Nagel scheinen sie nicht zu kennen - Seilverbindungen sind zuverlässiger. Wir kennen ja auch schon mehrere Worte für Seile, deren semantische Unterschiede die Dicke, die Festigkeit, das Flechtmuster, die Elastizität und das Material kennzeichnen. Da ist die deutsche Sprache mit 'Faden', 'Schnur', 'Seil' und 'Tau' wesentlich ärmer dran. Andere Wörter fallen mir im Moment nicht ein.
Ich versuche, in Erfahrung zu bringen, ob sie den Bumerang kennen. In erster Linie will ich damit testen, inwieweit ich mich schon verständlich machen kann. Ich zeichne eine Folge von Bildern, die einen Bumerangwerfer zeigen. Als Chrwerjat begreift, was ich ihr da klarmachen will, scheint sie ärgerlich zu werden: Ein Holz, das man wirft und das zurückkehrt - wo gibt es denn sowas! Was will der Fremde ihr denn für Märchen erzählen!
Das wollte ich wissen. Den Bumerang kennen sie also nicht.
Im weiteren Verlauf des Sprachunterrichtes wird nicht deutlich, ob unsere Gastgeber eine Schrift kennen. Es sieht so aus, als sollen wir darüber nichts wissen, oder es wird nicht für so wichtig gehalten, daß wir darüber etwas wissen sollten. Vielleicht ist Lesen und Schreiben hier eine Geheimwissenschaft? Andererseits, wer so etwas wie technische Pläne zeichnen kann, der sollte auch eine Art Schrift kennen.
In einer Pause inspiziere ich den Inhalt meiner eigenen Brieftasche, um mir selbst die Boten einer anderen Welt vorzuführen: Personalausweis, Firmenausweis, Bibliotheksausweis, Euroscheckarte, einige Geldscheine und einige Münzen. Die Welt, an die ich mich zu erinnern glaube, gibt es doch. Das ändert aber nichts an ihrer Unerreichbarkeit. Ich stecke meine Brieftasche wieder ein.
Irene sieht, was ich mache, und schüttelt den Kopf. Dann verlege ich mich darauf, mir Haare aus der Nase auszuzupfen. Irene sieht auch das und schüttelt schon wieder den Kopf - eine Idee energischer. Ich erinnere mich an einen Vorfall kurz nach unserer Eheschließung: Sie hatte gemeint, Haare in der Nase sähen unhygienisch aus. Ich hatte auch damals gehorsam mit dem Zupfen begonnen. Sie meinte dann, das wäre erst recht unhygienisch. Und schon war der Streit da. - Also lasse ich es auch jetzt.
Und der Sprachunterricht zieht sich hin.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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