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******** 008. Tag: Samstag 95-08-26 ********

8.1 Erinnerungen auf der Mastspitze

10 Uhr morgens, sagt meine digitale Armbanduhr. Ich bin von selbst wach geworden. Kein Wecken. Aber schmerzende Glieder - die geflochtene Matte ist fast genauso hart wie der Boden.

Irgendwo schnarcht jemand. Ich bin alleine in der Küche. Das Feuer im Ofen ist ausgegangen, und draußen geht ein gleichmäßiger Regen. Leise stehe ich auf und trete vor die Tür der Küche.

Dicker Nebel. Schwül. Ich bin schnell naßgeregnet, aber es ist wie eine warme Dusche. Ich sehe auf. Sogar die Masten verschwinden im Nebel.

Hält denn niemand Wache? Leise gehe ich auf und ab. Tatsächlich. Niemand paßt auf das Schiff auf, niemand auf uns. Wenn ich Irene wiederfände, dann könnten wir eventuell abhauen!

Blitzartig baut sich in meinem Kopf ein Plan auf, ein machbarer Plan: Derselbe Weg zurück, vorher an Lebensmitteln einpacken, was wir in die Finger bekommen können, vielleicht noch ein paar Seile stehlen. Würde das funktionieren? Die Rucksäcke hat man uns ja nicht weggenommen, und den Weg würden wir wohl finden, das traue ich mir schon zu: Flußaufwärts, über das Flußgeröll, in den richtigen Seitenfluß hinein, dann die Waldstraße. Diese über vielleicht einige Dutzend Kilometer, an den verlassenen Dörfern vorbei, der unbenutzten Hinrichtungsstätte und der verfallenen Hütte aus einem Saurierskelett, in die Berge rauf, der Vergewaltigungsteich, danach bald schon an der Säule hoch. Der Platz unserer Gefangennahme. Die Hängende Straße. Dann, die Kreuzigungsstätte. Der verfallene Obstgarten. Der Kleine See und der Sauriersee. Aus den Wolken raus, auf die verlassene Stadt zu, aber links halten. Die sich windende Straße hinauf, in die Wand der nächsten Säule. Nach langem Anstieg, auch durch viele Tunnelstücke an dem nun senkrecht werdenden Hang der Säule, der Platz am Ende der Straße. Dann der Klettersteig, elendiglich lang, elendiglich hoch, elendiglich luftig. Dann der Widerlagerplatz mitten in der Wand der Säule, hinauf auf die Seilbrücke. Unter dem Hängenden Berg vorbei, wo ich fast abgestürzt wäre. Tausende Meter unter uns, bis zur Wolkenobergrenze, und darunter noch einmal fünftausend Meter, wie wir jetzt wissen.

Hinter dem Hängenden Berg noch einmal eine lange Seilbrücke. Dann, der Grat. Weiterer Anstieg. Die Höhlen würden dunkler. Zeit, die Dynamolampen auszupacken. Der große, dreieckige Tunnel. Der Steinhaufen unter dem Loch in der Decke, dann, der Gang, horizontal, Treppen, sich windend. Irgendwann dann der bodenlose, stundenlange Klettersteig, die Eisenstäbe über der schwarzen Tiefe. Einer fehlt, erinnere ich mich.

Am Ende des Klettersteiges die Stelle, die wir nicht mehr in Gegenrichtung überwinden konnten. Da müßten wir uns etwas einfallen lassen - vielleicht etwas Geeignetes mitnehmen. Das müssen wir uns aber hier schon überlegen. Wenn wir aber diese Stelle überwinden könnten: Weitere Geröllhalden, irgendwo noch ein kleiner Teich, Grate, Wege in Tunneln und an Steilwänden, alles in finsterster Nacht. Dann die Stelle, wo das Glühbirnchen liegt. Wir hätten es dann fast geschafft. Bald darauf schließt sich der Abgrund, nur noch ein leicht steigender Stollen, keine Absturzgefahr mehr, am Ende ein kurzer, steiler Abstieg, noch ein paar Meter, und wir stünden im Freien, auf dem Höllentalplatt der Zugspitze! Irene, die Außenwelt da oben gibt es wirklich, ich habe es doch die ganze Zeit gesagt! So schlecht kann das Wetter gar nicht sein, daß es uns dann noch zurückhielte, einen kleinen Kilometer über das Platt, die Steiganlage 'Das Brett', ein paar Klettersteige. Wege, immer bequemer, dann, die Höllentalangerhütte, wieder unter Menschen, die sich wie Menschen benehmen! Wir könnten essen und übernachten, wir könnten sogar noch weiter, durch die Klamm, runter nach Hammersbach, nach Garmisch, Hotel oder Bundesbahn, heim nach München, heim nach Hause! - Vielleicht könnte man sogar diese unmenschliche Welt vergessen, die überall nur zehn Kilometer unter unseren Füßen liegt. Vielleicht sagen wir niemandem etwas, dann bleibt es unser Geheimnis! Vielleicht ist es dann irgendwann gar nicht mehr wahr!

Es knarrt oben im Mastwerk. Da ist doch jemand. Oder? Ich kann nicht erkennen, wo genau, und ob ich beobachtet werde. Aber was solls - diese Riesenwegesstrecke zurück, die ich mir jetzt in Gedanken vergegenwärtigt habe - das ist ein guter Bewacher. Abschreckung genug. Ob es andere Wege nach oben gibt? Oder ist es unser Schicksal, hier zu bleiben, ich erstmal als Küchenjunge, Irene als - ich weiß nicht was sie mit ihr vorhaben. Vielleicht wissen unsere Bewacher selbst nicht, was sie mit uns vorhaben.

Das Wasser des Flusses, obwohl in Strömung begriffen, ist ölig glatt, gerippelt durch die zahllosen Regentropfen. Unbewacht steht die Gangwaybrücke. Schon das Ende der Brücke, am Ufer, ist nicht mehr zu sehen. Sie könnte auf ein unendliches, flaches Meer hinausführen.

Beim weiteren Umherwandern auf dem Floß finde ich starke Winden, offenbar dazu geeignet, schwere Gegenstände an Bord zu ziehen. Das Heck des Floßes ist dazu wie ein Stück abschüssiger Straße ausgebildet, die im Wasser verschwindet. Aber ich sehe auch, daß man diese Geometrie des Heckteiles bei Bedarf ändern kann. In regengeschützten Halterungskästen stehen schwere Beile und überproportional große Schwerter bereit. Das ist kein Küchenbesteck, denke ich mir. Damit hackt man auf größeres ein. Ist dies ein Fangschiff? Ein Walfänger? Nein, ob es hier Wale gibt, wissen wir nicht. Aber vielleicht ist es ein Saurierfangschiff? Oder ein Aufbereitungsschiff?

Ich rechne etwas nach: Einen Saurier von hundert Tonnen an Bord zu bringen, im Ganzen oder in Stücken, würde bei der Größe des Floßes den Tiefgang nur um fünf bis sechs Zentimeter erhöhen. Es könnte immer noch in flachen Flußgewässern operieren.

Ich schleiche weiter. An den Stellen, wo ich es am wenigsten erwarte, höre ich die Geräusche schlafender Menschen - leichtes Atmen bis rasselndes Schnarchen. Von einem der höheren Räume, der vorne isoliert in das Mastwerk eingepaßt ist wie ein wuchtiger Jagdhochsitz, höre ich ein rhythmische Knarren. Die Frequenz läßt auf Geschlechtsverkehr oder Masturbation mit heftiger Bewegung schließen. Es gibt aber keine Lautäußerungen wie heftigeres Atmen oder gar Schreie. Diszipliniert, oder routiniert, oder leidenschaftslos? Egal, es geht mich nichts an. Ich sehe mich weiter um.

Alle schlafen in geschlossenen Räumen, niemand auf Deck, im Regen. Dabei ist der Regen so warm, daß er vielleicht nicht einmal den Schlaf stören oder verhindern würde. Alles Gewöhnungssache.

An der Bordwand zieht sich durchgehend, bis auf den achteren Teil, eine baumstarke Leiste entlang, zu niedrig für ein Geländer, aber man kann darauf sitzen, und es gibt stabile, hölzerne Doppelpoller, die entweder dafür gut sind, das Schiff mit Seilen an einem Kai zu befestigen, oder die auch Ruder aufnehmen könnten. Oder beides. Ich habe allerdings noch nichts einem Ruder ähnliches gefunden, wenn man von den größeren Messern und Breitschwertern absieht, die aber fürs Rudern wohl zu schwer und zu rostanfällig sind.

Der Bugspriet des Floßes ist so lang wie ein richtiger Mast, also mindestens so lang wie das Floß selbst. Er bildet mit der Wasseroberfläche einen Winkel von dreißig Grad, so daß seine Spitze vierzig Meter über dem Wasser ist. Das ganze Schiff muß mit dem Bugspriet zusammen eine Länge von 150 Metern haben. Auch der Bugspriet trägt Rahen, genauso weit ausladend wie die Rahen der Hauptmasten, die alle weit über die Bordwand hinausragen. Wahrscheinlich kann man eine große Menge Segeltuch setzen, um auch schwachen Wind auszunutzen. Aber ich bezweifle, daß es die Takelage zuläßt, Höhe am Wind zu gewinnen. Bei reinem Wind von achtern würde jedoch ein solcherart stark besegelter Bugspriet das Schiff in seiner Fahrtrichtung stabilisieren.

Der Regen läßt nach, aber träge ziehen tiefhängende Wolken vorbei. Es ist dunkler als gewöhnlich. Die Wolkendecke über uns scheint nicht, so wie die permanente Wolkendecke einige Kilometer über unseren Köpfen, ständig Licht zu generieren. Es sind ganz normale Regenwolken.

Da der Regen abnimmt, nimmt auch die Sicht etwas zu. Ob man aus den Masten weiter sehen kann? Ich begutachte die Wanten. Sie sehen gut besteigbar aus. Inzwischen bin ich wieder zu der Ansicht gekommen, daß das Knarren in den höheren Teilen des Mastwerkes und der Takelage nicht darauf zurückzuführen ist, daß sich dort jemand aufhält. Dazu sind diese Geräusche räumlich und zeitlich zu zufällig verteilt. Was hält mich dann noch davon ab, einmal hinaufzuklettern?

Bis jetzt habe ich nur einmal in meinem Leben die Wanten und den Mast eines richtigen Segelschiffes bestiegen. Das war bei dem Urlaub auf Lanzarote vor fünf Jahren. Dort gab es einen Nachbau des Schiffes, mit dem Magellan 1521 auf der Suche nach einem Fahrweg nach Indien die Magellanstraße entdeckt hatte, die 'Marea Errota'. Die Erbauer holten das Geld für den Schiffsbau wieder herein, indem sie täglich Touristen von der Hauptstadt Arrecife zu einer Bucht am Südende von Lanzarote, den 'Punta del Papagayo' transportierten und dort den Passagieren fast zwei Stunden lang Gelegenheit gaben, von Bord des Schiffes aus zu baden. Dabei wurde das Segelschiff mit einem Motor angetrieben, um Personal zu sparen.

Mir hatte damals das überfüllte Schiff wenig gefallen, und dann wurde auch noch zu allem Überfluß von den Veranstaltern eine überzogene Piratenklamotte abgezogen: Jeder Passagier wurde fotografiert, während ein 'Pirat' ihm einen Gummisäbel unter den Hals hielt. Am Ende der Fahrt, vor der Landung in Arrecife, mußte jeder für sein inzwischen entwickeltes und vergrößertes Bild 1000 Peseten hinlegen. Das war das 'piratische' an der Fahrt. Außerdem gab es noch an Bord eine Wahl der 'Miss Pirat 1990' und dergleichen Unfug mehr.

Ich hatte jedenfalls die Schnauze voll. Und auch damals, schon bevor wir in dieser Bucht ankerten, betrachtete ich die Wanten des vorderen Mastes. Sie waren in einem ausgezeichneten Zustand. Viel besser als die Wanten des Großmastes.

Das Schiff lag ruhig, die Besatzung kümmerte sich um die Unterhaltung der zahlenden Passagiere. Ich nahm die Gelegenheit wahr und schwang mich in die Wanten. Zwei bis drei Meter über dem Deck machte ich zunächst eine Pause, um von diesem Standort einen Rundblick mit der Videokamera zu filmen. Niemand behinderte mich oder versuchte, mich zurückzuholen.

Dann stieg ich weiter, bis dicht unter das Krähennest, das sich etwas über der Rah des Vordermasts befand. Die Höhe über Deck war vielleicht zehn oder fünfzehn Meter. Immer noch machte niemand Anstalten, mich herunterzuholen. Ich klemmte meine Ellenbogengelenke so zwischen die hier dicht beieinanderliegenden Wanten ein, daß ich kaum herunterfallen konnte. So war ein gefahrloses Videofilmen möglich.

Ich habe diese Situation damals sehr genossen. Der Atlantik, die subtropischen Strände von Lanzarote, im Süden Fuerteventura, davor die Silhouette von Lobos, das alles unter strahlend blauen Himmel und einer brennenden Sonne, so, wie Magellan sie auch erfahren haben muß, und all die anderen frühen Pioniere der Seefahrt, zu der Zeit, als es noch große, unbekannte Weiten auf dem Planeten gab, und wo jede Fahrt in die Ferne Abenteuer versprach. Das ist heute vorbei. Jedenfalls auf der Oberfläche der Erde.

Die Touristen unter mir waren weit weg, fast konnte man sie ignorieren. Mir war bewußt, daß ich, wenigstens einmal in meinem Leben, in einer Situation war, die in der alten Zeit der großen Segelschiffe viele Menschen mehr oder weniger freiwillig erfahren mußten. Die Ahnung einer Einheit mit allen, die jemals von einem Schiffsmast Ausschau halten mußten, auf noch unbekannte Gestade zum Beispiel, von denen noch alle möglichen Überraschungen ausgehen konnten.

Das Abenteuer war Spiel. Mehr kann jemand, der keine Ambitionen zum Abenteurer oder zum Hobby-Seefahrer hat, in seinem Leben nicht erwarten. Irene, die sich da unten auf dem Deck sonnte, und die ich erst mehrfach anrufen mußte, bis sie endlich nach oben sah, konnte meinen Empfindungen nicht folgen, und ich konnte sie ihr später auch nicht vermitteln. Die Sehnsucht nach dem Abenteuer, in früher Kindheit durch mancherlei spannende Bücher gepflanzt, läßt auch einen erwachsenen Mann nie ganz los. Bis er selbst tatsächlich in ein solches hineingerät. Dann könnte man sich schöneres vorstellen als diesen Streß.

Das kleine Abenteuer begann damals erst, was ich noch nicht wußte. Die Badepause in jener Bucht war zu Ende, und das Schiff ging auf Heimatkurs, nach Arrecife. Ich machte keine Anstalten, herunterzuklettern.

Nachdem der Steuermann gesehen hatte, daß ich wohl nicht willig war, meinen Aussichtspunkt aufzugeben, begann er, einen harten Kurs gegen die Wellen des Atlantik zu steuern. Jetzt, den Windschatten der Bucht verlassend, war das Schiff den Passatwinden voll ausgesetzt.

In weiser Voraussicht hatte ich die Videokamera schon wieder in der Bereitschaftstasche verstaut. Das war gut so, denn ich brauchte meine Hände, um mich festzuhalten. Denn nun versuchte das Schiff, mich herunterzuschleudern.

Durch den langen Hebelarm des Mastes war ich jeder Bewegung des Schiffes viel mehr ausgesetzt als die Passagiere unten auf Deck. Mit Armen und Beinen verklammerte ich mich in den Wanten. Dann war keine Gefahr mehr dabei, aber ich schwankte zwischen dem Stolz, die See wie ein Sturmvogel auszureiten und doch vor dem Gischt, der die Passagiere da unten durchnäßte, geschützt zu sein, und der Furcht, daß mir bis Arrecife vielleicht die Kräfte ausgehen könnten. Dabei war es zu jenem Zeitpunkt erst einige Wochen her, daß ich mit einem Kollegen das erste Mal in meinem Leben die Zugspitze durch das Höllental bestiegen hatte - Jener Aufstiegsweg also, an dem unser jetziges Abenteuer jetzt vor einer Woche seinen Anfang genommen hatte, und von dem ich damals noch nichts ahnte - ich wußte also, daß ich mich durchaus über Stunden hinweg irgendwo festhalten konnte. Und auf dem Mast war die Kamera vor Salzwasser absolut sicher.

Ich erinnerte mich an eine Sequenz aus dem 'Seewolf' von Jack London, in der der Erzähler Humphrey van Weyden ebenfalls in den Mast hinaufgeschickt wurde, allerdings zu einem noch höheren Punkt, mehr als zwanzig Meter über dem Deck. Er sollte dort nach den ausgesetzten Robbenfängerboten des Schiffes Ausschau halten. Zudem geriet das Schiff just zu dem Zeitpunkt in einen Taifun, und der arme Hump wurde hin- und hergeschleudert, der Orkan versuchte, ihn vom Mast zu blasen und das Schiff war mehrfach dicht vor dem Kentern.

Jack London verwendete in seinen Erzählungen autobiographische Elemente. Wenn er eine solche Situation beschrieb, dann kann man sicher sein, daß er es entweder selbst erlebt oder wenigstens mit eigenen Augen gesehen hat. Wenn ein Mensch solche Bedingungen aushalten kann, was sollte ich mich dann beschweren, wenn das Schiff ein bißchen in dieser leichten Brise ins Schaukeln geriet? - Auch mit diesen Gedanken versuchte ich damals, mich zu beruhigen und die aufkommende Panik zu vertreiben.

Dann allerdings trat ich nach einer halben Stunde doch den Abstieg an, für jeden Schritt eine Bewegungspause des Schiffes nützend. Immerhin hatte ich Landratte doch ein gewisses Einfühlungsvermögen in die Bewegungen des Schiffes bekommen, um das beurteilen zu können.

Als ich unten ankam, klatschten einige der Passagiere, denen nicht selbst schlecht war, Beifall. Dafür wurde mir alsbald schlecht. Seltsam: da oben auf dem Mast hatte ich nicht die Spur von Seekrankheit: Das einzige Unwohlsein rührte aus der kühlen Überlegung her, daß, in Prinzip, sich mein Griff irgendwann lockern und ich heruntergeschleudert werden konnte.

Dieser 2. Oktober des Jahres 1990 sollte mir noch lange in Erinnerung bleiben, wie alle Erlebnisse, die die physische Existenz auch nur marginal bedrohen. Und deshalb denke ich jetzt, wo ich mit den Gedanken spiele, in die Takelage aufzusteigen, an diese lange zurückliegenden Erlebnisse. Die Höhe lockt mich wieder. Und dieses Schiff liegt ganz ruhig. Verglichen mit dem, was wir beim Abstieg in die Unterwelt erlebt haben, sind diese Masten sowieso nur ein Kinderspiel.

Niemand beobachtet mich - die Gelegenheit ist günstig. Mit sicheren Griffen beginne ich den Anstieg.

Schnell bin ich über dem Niveau des Hauptgebäudes des Schiffes, das sich zweistöckig fast über die gesamte Länge des Schiffes erstreckt. Dort, wo der Großmast das Dach dieses Gebäudes durchstößt, sitzt ein zimmergroßer Aufbau als dritte Etage auf, ein Raum mit großen, scheibenlosen Fenstern. Die Brücke? Dieser isolierte Raum wird in seiner Höhe über dem Deck noch von zwei Raumkomplexen vorne und achtern übertroffen, die, im Falle des achtern Gebäudes, gerade mit ihrer Bodenecke das Hauptgebäude des Floßes berühren, während der Boden des vorderen Gebäudes etwa 15 Meter über dem Deck ist. Dann gibt es am Großmast in 25 Metern Höhe noch ein überdachtes Krähennest, das aber nicht mehr durch Treppen, sondern nur durch Kletterei durch die Takelage zu erreichen ist, so, wie ich es jetzt mache. Das scheint mir an geschlossenen Räumlichkeiten alles zu sein.

Während ich weiter an Höhe gewinne, habe ich Gelegenheit, mir die Mastkonstruktion ganz genau anzusehen. Es handelt sich nicht um die Stämme einzelner riesiger Bäume, sondern es sind eine Unzahl schlanker, gerader, fünf bis zwölf Meter langer Hölzer miteinander verleimt worden. Zusätzlich ist der gesamte Mast mit ausgewalztem Tauwerk straff umwickelt, was wohl zusätzliche Stabilität verleihen soll. Das gleiche gilt für die Rahen, deren unterste von Ende bis Ende über fünfzig Meter lang sein müssen.

Die höheren Krähennester sind weit ausladend. Mastnah ist immer ein Durchstieg, durch den man es gefahrlos besteigen kann. Von dort nehmen dann weitere Wanten für die höheren Teile des Mastes ihren Anfang.

Schließlich bin ich im letzten Abschnitt. Die anderen Masten sind schon zu Ende - der Großmast überragt sie alle um mindestens zwölf Meter. Die letzte Rah. Unter mir sind die Abgrenzungen des Floßes zwischen all den Seilen und Hölzern der Takelage kaum noch zu erkennen. Was ich erkenne, ist weit weg. Das bekannte Gefühl, daß man beim Runterfallen eventuell das Schiff verfehlen würde, stellt sich ein, auch wenn der Verstand noch so genau ausrechnen kann, daß man sich aus dieser Höhe wahrscheinlich nicht einmal mit aller Kraft beim Sprunge so heftig abstoßen kann, daß man das Floß verfehlt.

Dann habe ich die obere Befestigung der obersten Wanten in den Händen. Der Mast ist zu Ende. Fahnen gibt es hier nicht, es gibt auch keine Vorrichtung, um welche aufzuhängen. Dafür einige Rollen, über die Seile mit mir unbekanntem Zweck laufen, und über dem ganzen eine Wetterabdeckung, auf der man beidseits des Mastes sitzen kann. Diese beiden, stabilen Sitzbretter haben die fünfzehn Zentimeter durchmessende Spitze des Mastes wie ein kleines Tischchen zwischen sich. Es ist etwas schwierig, da rauf zu kommen, weil die Wanten schon tiefer enden, aber es gelingt mir. Jetzt erst, wo ich die Mastspitze in Händen halte und mein Kopf der höchste Punkt des Schiffes ist, kann ich mich umsehen.

Es ist ein ganz leichtes Schwanken zu bemerken. Dieses ist natürlich auch der Platz, wo man das am allerdeutlichsten merken muß. Wenn das Floß in Fahrt ist, dann dürfte es hier ungemütlich sein, selbst bei leichtem und stetigen Wind.

Die Regenwolken haben sich während meines Aufstieges nicht verzogen, und da Murphy's Gesetze ja universelle Gültigkeit haben, fängt es jetzt wieder an zu regnen. Als ob das Holz nicht schon glitschig genug wäre!

Man kann gerade eben bis zu den Ufern des Flußes blicken. Der Wald zeigt sich wie eine dunkelgraue Bank, die oben und unten von hellerem Grau umrandet wird. Das ist alles. Noch während ich beobachte, verschwimmt der Unterschied zwischen Wald und Flußgeröll und Himmel immer mehr. Jedenfalls kann ich nicht die Topographie des Flußes stromaufwärts und stromabwärts erkennen, was ich mir eigentlich erhofft habe.

Es könnte sein, daß ich den Regenwolken jetzt näher bin als der Wasseroberfläche. Einen genauen Anhaltspunkt dafür gibt es nicht. Und wahrscheinlich ist die Untergrenze der Regenwolken auch viel zu wenig definiert, als daß man da mit gutem Gewissen genaue Entfernungsbehauptungen anstellen könnte.

Das Wasser direkt um das Schiff herum ist auch kaum von dem Ufer, das jetzt wieder im Nebel verschwindet, zu unterscheiden. Ich brauche auch eine ganze Weile, bis ich die Gangwaybrücke ausmache. Während ich beobachte, verschwindet sie auch. Der Regen wird stärker. Die grobflockigen Wolken, die am Schiff und um mich herum vorbeiziehen, lassen wie üblich bei solcher Wetterlage kaum erkennen, ob es sich um statistische Schwankungen der Regendichte, die wie Wolken aussehen, handelt, oder um Wolken oder Nebelfetzen selber. Naja, das ist ja auch ein akademischer Unterschied.

Wenn nicht gerade jemand intensiv nach oben guckt oder gar heraufklettert, ist die Mastspitze jetzt ein gutes Versteck. Sollte ich eine Weile hier oben bleiben? Auf jeden Fall ist es angenehmer als die Küchenarbeit. Man würde unten annehmen, daß ich mich davon gemacht habe. Würde Irene darunter leiden? Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube nicht, daß eine Frau, auch wenn es eine Gefangene ist, hier für irgend etwas zur Rechenschaft gezogen werden könnte, was ein Mann ausgefressen hat. Immerhin ein Trost während des Aufenthaltes in dieser Welt: Solange man mir nichts tut, wird man Irene auch nichts tun. Hoffe ich.

Die größere Gefahr, denke ich mir, wäre nur die, daß Irene glaubt, ich wäre geflohen, und versucht, mir zu folgen. Ich kann sie unmöglich alleine den Rückweg antreten lassen. Nicht diesen Rückweg. Das schafft sie nicht.

Im Moment könnte ich eventuell gerade noch wahrnehmen, wenn sich da unten jemand über die Gangwaybrücke fortmachen will. So undeutlich, wie sie zu sehen ist, aber etwas sich bewegendes ist immer noch leichter auszumachen. Da kann ich gut noch etwas hierbleiben, auch wenn die Aussicht nicht übertrieben gut ist. Wenigstens habe ich dann nicht das Gefühl, daß ich, aussichtsmäßig, etwas erlebe, was Irene nicht erlebt. Was wäre denn, wenn ich sie hier raufgeschleppt hätte? 'Was? Das ist alles?' würde sie sagen, an der Grenze der Eingeschnapptheit, und alle Erklärungen würden ihr nicht die Faszination dieser kleinen Welt nahebringen, die durch die Höhe und den Nebel und die Gefahr des Abstürzens gebildet wird.

Es ist ohnehin merkwürdig genug, daß das subjektive Erleben dieses bescheidenen Höhenerlebnisses sich offenbar gar nicht geändert hat. Sollte man nicht annehmen, daß unser mehr als schwindelerregender Abstieg in die Unterwelt ein ständiges seelisches Trauma hinterlassen hat, eine nicht zu überwindende Höhenfurcht? Oder sollte man im Gegenteil annehmen, daß wir nun gegen jede Art von Höhenschwindel abgehärtet sind? Nichts von beiden ist der Fall. War unser Abstieg so abenteuerlich, daß das Bewußtsein sich weigert, diesen Erinnerungen mehr Bedeutung als den Erinnerungen an einen Alptraum zuzuordnen? Oder ist es unser Alter, daß die starke Einprägung von existenzbedrohenden Erlebnissen schon nicht mehr zuläßt? Vielleicht ein Vorteil, daß man nicht mehr durch eine Gefahr hypnotisiert wird, so daß keine Panik eintritt.

Bei der Zugspitzbesteigung vor fünf Jahren ist mir das auch aufgefallen. Sowohl auf dem Brett - damals das erste Mal - als auch nachher in der Höllentalwand hatte ich die Hosen gestrichen voll. Keinen Nerv, die Aussicht zu bewundern, nicht einmal, als wir schon auf der Irmer Scharte angekommen waren. Angst, wenn auch keine Panik. Jeder Griff hat gesessen. Der Klettersteig ist schließlich sorgfältig verbaut. Man kann sich überall festhalten. Kaum, daß wir dann oben waren, auf den Aussichtsplattformen des Münchner Hauses, da versank das Erlebnis hinter mir ins Akademische. Ob es meinem Kollegen auch so ging, weiß ich nicht. Er hat mir später erzählt, daß er mehr Probleme mit Wasserblasen an den Füßen hatte. Das wiederum ist ein Problem, mit dem ich nie zu tun habe.

Jedenfalls genieße ich meinen Aussichtspunkt ohne Aussicht. Kein Ärger, keine Arbeit, keine Termine. Abgesehen vom Hunger, der sich allmählich meldet. Ganz perfekt können die Bedingungen ja nie sein. Egal, ich bleibe noch etwas hier.

Auf dem Floß geht jemand über Deck. Ich kann nichts erkennen, und derjenige mich wohl auch nicht. Sekunden später Geräusche eines Treppebesteigens, dann Umeinanderräumens von irgendwelchen Gegenständen. Die nehmen hier nicht sehr viel Rücksicht darauf, daß jemand noch schlafen könnte! Oder vielleicht ist auch die Wachperiode angebrochen. Das muß ich noch genauer herausfinden, wie die Wach- und Schlafperioden auf dem Schiff liegen und wodurch sie synchronisiert werden.

Wieder Schritte, allerdings sehr gedämpfte. Es ist immer noch nur eine einzelne Person. Als ich aber ein ganz leichtes Vibrieren in meiner Sitzfläche spüre, kommt mir die Idee, daß jemand dabei sein könnte, in die Takelage aufzusteigen. Ich sehe genauer runter.

In der Tat. Jemand steigt zu mir herauf. Ausgerechnet auf den Großmast, auf dem ich sitze!

8.2 Charmion

Es ist eine Frau, wie sich unschwer erkennen läßt. Sie kommt nicht herauf, weil ich hier oben sitze - dann würde sie wohl häufiger während des Steigens nach oben schauen. Sie schaut aber überhaupt nicht nach oben. Sie steigt, als ob sie das jeden Tag macht.

Sie ist völlig nackt und unbewaffnet, trägt allerdings eine Seilrolle über der Schulter und einige Lederriemen am Körper. Keine Ahnung, wozu das Ganze gut sein soll.

Erst, als sie das letzte Krähennest, etwa zwölf Meter unter meinem Standpunkt, betritt, erblickt sie mich, weil sie einen Moment lang nach oben blicken muß, während sie sich durch das enge Loch am Mast hochzieht. Sie erstarrt augenblicklich. Sekundenlang liegen unsere Blicke ineinander.

Ich habe sie noch nicht gesehen. Sie ist jung, jedenfalls viel jünger als die Kommandantin. Auch lassen ihre Gesichtszüge nicht Härte und Entschlußkraft und Arroganz und unbedingte Gehorsamserwartung erwarten, wie ich es bei der Kommandantin gesehen habe, und auch nicht das gewisse Maß an Verachtung, das ich gesehen habe, als die Kommandantin mich flüchtig gemustert hat. Sie ist so jung, daß ihre Gesichtszüge noch völlig ungeformt sind, wie bei vielen Mädchen im Alter zwischen 16 und 20. Das muß auch ungefähr ihr Alter sein. Naja, vielleicht ein bißchen älter. 22 oder so. Es gibt da doch einige Linien in ihrem Gesicht.

Angst zeigt sie keine. Entweder begreift sie nicht, daß eine Konfrontation zwischen uns für sie ungünstig ausgehen könnte, da sie im Moment nicht bewaffnet ist - warum hätte sie auch eine Waffe beim Besteigen des Großmastes mitnehmen sollen? - oder sie hat eine Ausbildung in Nahkampftechniken, die ihr jetzt Sicherheit gibt. Oder sie kommt gar nicht auf die Idee, daß ein Mann es wagen könnte, die Hand gegen sie zu erheben. Alles nur Vermutung. Was weiß ich schon von einer Welt, in der alle Frauen mit Schwertern rumrennen und sie vielleicht sogar mit ins Bett nehmen?

Sie steigt weiter, wobei sie die Wanten auf der anderen Mastseite benutzt. Einige Sekunden später schwingt sie sich auf das Sitzbrett mir gegenüber, wo sie sich, wie ich selbst, rittlings niederläßt. Sie hat sich offenbar entschlossen, ihren Arbeitsverpflichtungen wie geplant ohne Verzögerung nachzukommen. Das ist übrigens überraschend: Das erste Mal, daß ich eine Frau in der Unterwelt manuelle Arbeiten verrichten sehe!

Sie sagt ein paar Worte zu mir, schweigt dann aber. Wahrscheinlich hat sie schon erfahren, daß Fremde an Bord sind, die nur eine unverständliche, fremde Sprache sprechen. Aus demselben Grund kann ich leider auch keine Unterhaltung anfangen, um weiteres über unsere Gastgeber in Erfahrung zu bringen.

Ein animalischer Duft steigt mir in die Nase. Die strenge Ausdünstung unserer Gastgeber kriege ich jetzt, bei dieser Nähe, natürlich ungeschwächt ab. Ich lasse mir nichts anmerken, aber wenn man in unserer Welt da oben etwa einem Kollegen mit einer so starken Ausdünstung begegnete, dann müßte man schon aus purer Selbstverteidigung die Sprache einmal ganz diplomatisch auf den Gebrauch von Wasser und Seife bringen. Bei unserer Gastgebern ist dieser Körpergeruch aber ganz normal. Natürlich laufen wir selber in der letzten Zeit auch nicht gerade duftfrei herum, aber diese strenge Aura haben wir noch lange nicht erreicht.

So ganz gleich beginnt sie mit ihrer Arbeit denn doch nicht. Da wir beide rittlings auf den kurzen Sitzbrettern zu beiden Seiten der Mastspitze sitzen, so, das wir jeweils die Mastspitze selbst zwischen den Schenkeln haben, kommen sich unsere Knie und die unteren Oberschenkel in die Quere. Man müßte etwas zurückrutschen, aber dazu ist der Sitz zu kurz und der Fallweg bis hinunter zum Deck zu lang.

Die Angst, oder sagen wir mal, die Besorgnis muß wohl in meinem Gesicht deutlich geworden sein. Sie läßt sich nichts anmerken, weder Angst noch Mißbilligung, auch gönnt sie sich nicht die Spur eines Lächelns. Da für unsere vier Beine einfach nicht genug Platz ist, faßt sie einen raschen Entschluß. Sie klemmt mit ihren Oberschenkeln die meinen ein, ihre Unterschenkel drücken meine Unterschenkel gegen die Widerlager der Wantenbefestigung unter unserem Sitzplatz, so fest, daß es weh tut. Dadurch sitzen wir jetzt zweifellos sehr sicher, aber die Stellung ist leicht, sagen wir, anrüchig. Unsere vier Oberschenkel bilden eine Raute um das fünfzehn Zentimeter durchmessende obere Ende des Großmastes, und unsere Oberkörper sind sich deshalb auch sehr nahe. Genaugenommen so nahe, daß ihr Busen meine Brust berührt.

Das ist ihr zu nahe. Nicht, weil sie etwas gegen mich hat, sondern weil sie mit dem dicken Seil, das sie immer noch auf der Schulter trägt, irgend etwas anfangen will. Die Lederriemen, deren Zweck ich nicht erkennen kann, behält sie umgehängt. Einige führen zwischen ihren Busen durch und nehmen weit weniger Platz weg als diese.

Überhaupt, als langjähriger Playboy-Leser kann ich Figur und Busen dieses Mädchens wohl klassifizierend und begutachtend einordnen. Das ist absolutes Gardemaß, und ihre Figur ist perfekt, soweit ich das aus dieser perspektivisch verzerrenden Nähe erkennen kann. Sie sieht sehr gut aus, besser als alle, die ich bisher auf diesem Schiff gesehen habe.

Ihr Gesicht ist aus dieser Nähe aber eigentlich noch faszinierender. Nicht, weil man darinnen etwas lesen könnte - es ist, wie gesagt, noch jung, fast glatt und noch nichts hat darinnen seine Spuren hinterlassen. Es ist nahezu nichtssagend. Ein hübsches Mädchen eben. Aber ich bin mir bewußt, daß dieses Mädchen in einer verglichen mit der meinen so fremdartigen Welt aufgewachsen ist, und vermöge ihrer Jugend wahrscheinlich noch nicht allzuviel über das Leben und wie es woanders sein könnte, nachgedacht hat, so daß die Welt, die sie gesehen und begriffen hat, mit der Welt, die in meinem Kopf ein Abbild hinterlassen hat, absolut nichts gemein hat. Wir haben dieselbe Physis - das ist alles, was uns gemeinsam ist. Schon die Eßgewohnheiten sind unterschiedlich - ich muß mir wieder vergegenwärtigen, daß man hier nichts dabei findet, Menschen zu essen!

Ihre Augen sind grau-grün, ihr Haar dunkel-brünett und wirr - so wie Haare eben kurz nach dem Aufstehen liegen. Das Fehlen von jeder Art von Kosmetik macht ihr Gesicht erst recht anziehend.

Sie drückt mit einer Hand gegen meinen Oberkörper, als ob sie mich vom Mast schubsen will. Obwohl sie meine Schenkel wie ein Schraubstock eingeklammert hat, addiere ich selbst noch einen erheblichen Schenkeldruck hinzu. Es ist nicht zu erkennen, ob meine Angst sie amüsiert. Sie hat jedenfalls den Platz, den sie braucht, und fängt an, das Ende des Taus, das sie mitgebracht hat, aufzudröseln. Das nennt man, glaube ich, ein 'Tau spleißen'. Man sollte wirklich mehr Fachwörter aus der Seefahrt oder der Segelschifffahrt beherrschen. Ich werde daran denken, wenn wir das nächste Mal eine Bergtour unternehmen.

Erstaunlich, daß man ihren Fingern die Folgen dieser Arbeit nicht ansieht. Andererseits macht sie es routiniert und schnell. Ich versuche, meinen Oberkörper wieder etwas aufzurichten, aber wenn der Platz zwischen ihrem Busen und meiner Brust zu eng wird, dann drückt sie mich sofort, ohne Lächeln und ohne Mißbilligung, wieder ein paar Zentimeter zurück. Das schräge Sitzen ist etwas anstrengend. Sie selbst lehnt sich übrigens nicht nach hinten.

Jetzt fällt mir erst auf, wie heiß ihre Oberschenkel sind. Auch, als eben ihr Busen meine Brust berührt hat, habe ich die Wärme gespürt. Ihre Haut ist überall feucht von einem dünnen Schweißfilm, und wenn ich selber nicht dauernd schwitzte, dann hätten ihre Busen jetzt ein paar Flecken auf meinem T-Shirt hinterlassen. Hat sie Fieber? Wieso geht jemand mit Fieber in die Takelage? Andererseits, sie sieht völlig gesund aus. Könnte es sein, daß die Körpertemperatur der Menschen hier höher ist? Bis jetzt habe ich ja noch keinen so intensiv berührt. - Daß meine Nähe dieser jungen Frau das Blut anheizen könnte, so weit geht meine Einbildung nun doch nicht. Man sollte bei realistischen Erklärungsversuchen bleiben!

Sie ist mit ihrem Tau fertig. Ich darf mich wieder aufrichten. Das Bewußtsein der langen Fallstrecke hinter meinem Rücken bis zum harten Deck nimmt wieder ab, aber nicht viel.

Sie sagt wieder etwas, sieht mich an. Mit aufrechtem Oberkörper sind wir uns ganz nahe, und ich spüre wieder ihren Busen. Tatsächlich, stelle ich fest, deutlich höhere Körpertemperatur.

Aber die klinische Unparteilichkeit meiner Beobachtungsgabe hat gelitten. Dieses Mädchen ist so aufregend und sie ist mir aufregend nahe. Die Art, wie sie das Seil und die Lederriemen trägt, unterstreicht ihre Nacktheit und ihre Weiblichkeit. Das kompensiert sogar ihren Geruch. Sicher ist sie ohne Absicht nackt hier heraufgekommen, und sie übt auch jetzt nicht all die Allüren, von denen unsere weiblichen Zeitgenossinnen meinen, daß man damit einen Mann aufregen kann. Im Moment sitzt sie einfach da, mir gegenüber, und sieht mir in die Augen, aus nächster Entfernung. Solange sie nicht mit dem Seil herumhantiert, stört es sie gar nicht, daß ihr Busen auf meiner Brust aufliegt. Genaugenommen habe ich den Eindruck, es ist ihr völlig gleichgültig. Ich habe den Eindruck, wenn sie etwas von mir will, dann lediglich das, daß ich ihr sage, was ich hier oben zu suchen habe. Das kann ich ihr leider nicht sagen, und so bin ich uninteressant.

Junges Mädchen, etwas unter zwanzig, älterer Mann in den mittleren Vierzigern. Die bekannte Konstellation. Zweiter Frühling, endlose Quelle für Affairengeschichten und Witze. Traf bis jetzt nicht auf mich zu und wird auch nicht zutreffen. Ich habe Irene noch nie betrogen und werde sie auch nicht betrügen. Gewiß, es kommt immer mal wieder vor, daß man eine andere Frau begehrt. Das sind die Instinkte, das kann man nicht wegleugnen. Aber solange nicht die Tat folgt gibt es keinen Grund zum Vorwurf. Solange die Triebe nicht das Kommando über den Verstand übernehmen, ist da auch keine Gefahr.

Gewiß, nach so vielen Ehejahren ist die Leidenschaft abgeflaut. Die sogenannten 'ehelichen Pflichten', welch fürchterliches Wort, wurden in der Prioritätenliste immer weiter nach unten gedrängt, und deshalb immer seltener. Naja, und in der letzten Woche hatten wir daran auch nicht gedacht. Gut. Kein Vorwurf. Ich mache keinen, und ich akzeptiere auch keinen an meine Adresse. Wenigstens ist der Vorteil eines abgeflauten Liebeslebens, daß die unbedingte Treue und die unbedingte Verlässlichkeit leicht fallen. Mir und Irene. Die intensive Versuchung ist jedenfalls noch nie in mein Leben getreten.

Dieses jetzt ist ja auch keine Versuchung. Kann man nicht sagen. Wir haben wenig Platz auf der Großmastspitze, das ist alles. Unten, auf Deck, da hätten wir schon gebührenden Abstand voneinander gehalten. Sicher. Das sind die Spielregeln hier an Bord.

Aber wer überwacht die Spielregeln? Was heißt überhaupt Spiel? Das Mädchen findet den fremden, schweigsamen Onkel auf der Mastspitze, der etwa doppelt so alt sein muß wie sie. Neugierig wäre sie schon, aber der sagt ja nichts. Und wegschicken kann man ihn auch nicht, weil er ja nichts versteht und weil er offenbar Angst hat, vor der Höhe oder vor ihr, vielleicht kann sie das nicht einmal unterscheiden.

Sie hat sicher noch etwas zu tun. Aber noch zögert sie, sieht mich an. Stur, möchte man fast sagen. Mir fallen die Vergewaltigungen ein, die ich gesehen habe. Sie ist in diesem Geiste aufgewachsen. Sie würde sich holen, was sie haben will, wenn sie es will. Vielleicht habe ich die Wahl, ob treu oder nicht, schon gar nicht mehr. So, wie sich die Frauen hier das holen, was sie für ihr Recht halten, bin ich dann da noch sicher? Die Musik in meinen Lenden sagt, ich wäre nicht abgeneigt, aber noch bin ich, verdammt noch mal, in erster Linie treuer Ehemann.

Da passiert etwas Merkwürdiges, und es passiert sehr schnell. Sie nimmt meine Hände, mit denen ich mich bis jetzt an der kreisrunden Fläche der Mastspitze festgehalten habe. Sie sagt wieder irgend etwas Unverständliches. Ihr Händedruck hat ungewöhnlich viel Kraft. Dann führt sie, bei gleichzeitiger Lockerung ihres Schenkeldruckes, meine Hände zwischen ihre Beine an ihren Sitz heran. Dabei hebt sie sich selber einige Zentimeter, um Platz für meine Hände zu schaffen. Der Sinn der Übung ist einfach der, daß sie mich veranlassen möchte, mich besser festzuhalten, da sie sich offenbar fortbegeben möchte. Ich soll nicht abstürzen. Dieser Fremde geht ja offenbar mit zwei linken Beinen in der Takelage spazieren, so muß sie denken.

Also eigentlich eine sachliche, ganz unerrotische Angelegenheit. Aber wie sieht das von außen aus, wenn jetzt zum Beispiel eine Kamera neben der Mastspitze uns aufnähme? Manchmal mache ich eben solche Gedankenspiele: Was würde die Kamera jetzt aufnehmen? Ich fasse mit beiden Händen zwischen die Beine des Mädchens, und weil sie ihren Oberkörper anhebt und ich den meinen etwas krümme, komme ich mit meinem Mund in ihre direkte Nähe, dicht über ihrem Busen, streife ihn sogar. Das ist Zufall, unsere Anatomie und der beengte Platz erzwingen das so. Aber das wäre es, was die Kamera aufnähme, und jeder Zuseher würde da so seine Schlüsse draus ziehen. Täte ich ja auch. Als Zuschauer wäre ich brennend neugierig darauf, was und wie sie es auf der Mastspitze treiben werden!

Nichts wird getrieben. In der nächsten Sekunde ist sie weg, hängt unter dem Sitz, auf dem sie eben noch gesessen hat und an dem ich mich jetzt festhalte. Mit einem Schwung hängt sie plötzlich an dem Seil, das von dieser Mastspitze aus schräg runter zum Krähennest des nächsten Mastes geht. Sie sichert sich mit ihren Lederriemen, eine Schlaufe um das Seil, und eine weitere um die Mastspitze. Dazu sind die also gut, denke ich, und deshalb durfte ich mich nicht länger an der Mastspitze selbst festhalten: sie mußte eine Lederschlaufe drüberlegen. Dann ist sie wieder auf dem Großmast, unter mir, und befestigt dort irgendwie ihr Seil.

In den folgenden Minuten führt sie allerlei Akrobatik vor, wobei sie ständig ihre Sicherungsriemen umordnet und an neuen Stellen neu einschlauft. Das Ergebnis ihres Tuns ist, daß sich von dieser Mastspitze zu Spitze des nächsten Mastes ein neues Seil spannt. Also einfache Erweiterungsarbeiten an der Takelage des Schiffes. Ist das für einen Mann eine zu komplizierte Aufgabe? Oder eine zu verantwortungsvolle?

Die Lederriemen dienen dabei gelegentlich als explizit benutzte Kletterhilfe. So routiniert, wie sie durch die Takelage huscht, habe ich nicht den Eindruck, daß sie auf eine Sicherung Wert legt. Sie vertraut voll auf ihren sicheren Griff und ihren festen, zielgenauen Tritt. Sollte sie daneben treten, dann werden, wahrscheinlich jedenfalls, schnellste Reflexe ihr wieder Halt verschaffen. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, daß in der ganzen Zeit, in der ich ihr zusehe, ihr auch nur eine einzige Unsicherheit passiert.

Für sie ist die Bewegung in der Höhe wie für uns das aufrechte Gehen. Da haben wir ja auch keine Angst, umzufallen, obwohl ein Umfallen ohne jede reflektorische Gegenbewegung den Kopf eines Menschen ja auch mit etwa 20 Kilometern pro Stunde auf den Boden knallen lassen würde - genug, um sich auf hartem Boden oder bei scharfen Gegenständen ernsthaft oder gar tödlich zu verletzen. Aber wir haben das Aufrechtgehen ein ganzes Leben lang geübt. Wie sollten wir Angst davor haben? Da gibt es ja auch gewisse amerikanische Indianerstämme, fällt mir ein, die gerne im Hochbau beschäftigt werden, weil sie absolut schwindelfrei sind. Das muß bei unseren Gastgebern noch sehr viel stärker ausgeprägt sein.

Solange das Mädchen arbeitet, sehe ich ihr fasziniert zu. Weniger wegen ihres Aussehens, sondern wegen ihrer zirkusreifen Darbietungen. Wenn man ihr zusieht, dann könnte man fast auf die Idee kommen, das Herumturnen auf Seilen und Stangen achtzig Meter über dem Boden sei völlig ungefährlich. Ich erliege dieser Illusion natürlich nicht, aber wenn man schon in früher Kindheit die Erwachsenen so sorglos mit der Höhe umgehen sieht, dann wird das seinen Zweck nicht verfehlen.

Außerdem fällt mir beim Zusehen auf, daß sie außer ihren perfekten Proportionen noch einiges zu bieten hat. Da sind auch eindrucksvolle Muskeln und Sehnen, zwar nicht so deutlich wie bei einem männlichen Bodybuilder, aber doch um einiges mehr als es bei uns oben der Durchschnittsmann vorzeigen kann. Irgendwie kann der weibliche Körper Muskeln besser verstecken - vermutlich wegen der dickeren subkutanen Fettschicht. Aber selbst wenn ich nicht genau hinsehe - einiges, was das Mädchen vorführt, könnte man mit dem Begriff 'einarmiger Klimmzug' umschreiben.

Das kann nicht einmal ich.

Als das Mädchen wieder nach unten klettert, würdigt sie mich keines Blickes. Was immer ich mir über diese Situation einbilden könnte, Wahrheit ist und bleibt: Ich war ihr beim Arbeiten im Wege. Wie nett von ihr, daß sie mich nicht einfach heruntergeworfen hat. Doch dann denke ich, daß ich mir auch darauf nichts einbilden sollte: Wenn ich vom Mast falle, könnte da unten ja jemand oder etwas zu Schaden kommen und das Deck verschmutzt werden.

Das hat sie wohl vermeiden wollen.

8.3 Küchendienst

Es ist 1 Uhr, als ich vom Großmast heruntersteige. Inzwischen muß die Wachperiode wieder angefangen haben, denn es sind mehrere Leute an Deck. Ich werde beobachtet, wie ich die letzten paar Dutzend Meter bis zum Deck zurücklege, aber niemand scheint sich drüber zu wundern. Ich rechne eigentlich jede Sekunde damit, daß der Koch mich wieder für Küchendienste einspannt. Nach der alten, erfolgreichen Strategie 'Geh nicht zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen würst' begebe ich mich aufs Vorschiff um mich dort einfach hinzusetzen. Dabei kommt mir das Mädchen von der Mastspitze entgegen, diesmal in der üblichen Kleidung. Sie trägt auch kein Seil oder anderes Werkzeug, außerdem scheint sie mich überhaupt nicht zu erkennen.

Ob ich Irene finde? Allmählich wäre ein Beobachtungsaustausch schon interessant: Offenbar haben unsere Gastgeber sich mit ihr ja viel intensiver beschäftigt. Dann erwische ich mich dabei, daß ich mir im Geiste zurechtlege, was und wie ich ihr das erzähle, was ich auf der Mastspitze erlebt habe. Und ob ich es ihr überhaupt erzähle. Herwig, lass das sein! Du wandelst auf gefährlichem Pflaster!

Mittschiffs fuchtelt eine der Frauen - es ist nicht die Kommandantin und auch nicht mein Mädchen von der Mastspitze - winkend mit ihrem Schwert herum, während sie mich ansieht. Es hilft nichts - diese Geste übersehen zu haben kann ich nicht behaupten.

Zwanzig Sekunden später stehe ich wieder in der Küche des Kochs, und die Frau verschwindet. Arbeitsanfang. Ich soll in die Speisekammer gehen.

Die nächsten zwei Stunden werden unangenehm. Ich muß Leichen zerlegen. Der Koch hat wohl Anweisungen bekommen, den Fremden in alle Aspekte des Küchendienstes einzuweihen, ob der das will oder nicht. Der Koch scheint ja ein umgänglicher Mensch zu sein, aber er hinterfragt Befehle, die er bekommen hat, nicht. Wenn der Fremde Muskelfleisch von Sehnen trennen soll, dann wird das so gemacht.

Er führt mir sämtliche Schnitte vor, da er mangels gemeinsamer Sprache nichts erklären kann, er an einer Hälfte einer Leiche, ich an der anderen Hälfte. Manchmal führt er meine Hand. Ich habe keine Wahl als die, mitzumachen und mich möglichst geschickt dabei anzustellen und mich so schnell wie möglich an diese Arbeit zu gewöhnen. Schließlich will ich leben. Außerdem: müssen Medizinstudenten in ihrem Studium nicht auch Leichen sezieren? Diese Arbeit haben so viele vor mir gemacht, dann kann ich das auch tun. Aber es fällt schwer, gleichzeitig konzentriert zu arbeiten und mir Entschuldigungen auszudenken, die vor mir selbst Bestand haben.

Hoffentlich kommt nicht ausgerechnet jetzt Irene rein und sieht mich bei der Tätigkeit, Menschen zu zerschneiden! Auf die Dauer werde ich es ihr wohl nicht verheimlichen können, aber ich muß es ihr langsam beibringen.

Meine Anatomiekenntnisse werden jedenfalls in diesen zwei Stunden anschaulich erweitert. Nachdem eine Leichen zerlegt worden ist, fahren wir mit der weiteren Zubereitung fort. Kopf und Knochen werden in einen bereitstehenden Eimer geworfen - das fliegt später einfach über Bord, wie ich weiß - und das Fleisch sieht zusehends anonymer aus. Das heißt, jetzt könnte es auch vom Schwein stammen. Das macht die Arbeit etwas leichter.

Der Koch hat Sympathie, obwohl er es kaum zeigt. Er sieht, daß mir diese Arbeit schwerfällt, wenn er wohl auch immer noch nicht versteht, warum. Oder, wer weiß, vielleicht versteht er es ja doch: Es soll ja Menschen geben, die auch nicht den Beruf eines Schlachters ergreifen können, weil ihnen die Tötung von lebendigen Wesen auch bei Tieren nur über große innere Widerstände oder überhaupt nicht möglich ist.

Ich sinniere vor mich hin, während ich wieder einmal damit beschäftigt bin, das Fleisch auf dem Ofen zu wenden. Es fällt mir auf, daß die Ernährung der Unterweltler, jedenfalls, nachdem, was ich bis jetzt gesehen habe, sehr einseitig ist. Nur Fleisch, wenig pflanzliche Beilagen und Getränke, das geht ja nicht lange gut. Allerdings sind mir in der Speisekammer auch leere Regale aufgefallen, die nicht für die Aufnahme von Gegenständen von der Größe eines Menschen geeignet sind. Vielleicht, so hoffe ich, sind alle alternativen Nahrungsmittel gerade dabei, zu Ende zu gehen, und es muß gespart werden. Aber ich glaube nicht so recht daran: Auf diesem Schiff, wo die Disziplin mit dem Schwert unterstützt wird, da leistet sich doch niemand von den Ladeoffizieren oder vom verantwortlichen Küchenpersonal eine solche Fehlplanung.

Während ich am Ofen allmählich meine Fassung zurückgewinne, platzt plötzlich mein Mädchen von der Mastspitze herein. Sie ruft den Koch, der grade wieder in der Speisekammer ist, mit einigen kurzen, scharfen Worten herein. Den Tonfall hätte ich ihr nicht zugetraut. Aber es ist, wie ich dachte: Als Kind dieser Kultur hat sie den normalen Umgangston mit Männer schon längst in Fleisch und Blut übernommen: Befehl und Gehorsam. Der Koch antwortet irgend etwas, und sie bedeutet mir, mitzukommen.

Sie geht voran. Sie trägt jetzt ein Schwert, stelle ich fest. Normalerweise tragen die Frauen auf dem Schiff ihre Waffen nicht dauernd spazieren. Aber jetzt ist es etwas anderes. Sie macht den Eindruck eines Offiziers, der einen Gefangenen zum Verhör bringt.

Wenn ich ihre Sprache könnte, denke ich mir, dann müßte ich sie aber mal darauf hinweisen, daß man in solchen Fällen besser hinter dem Gefangenen geht - ich könnte doch jetzt kehrt machen und abhauen oder sie angreifen! Oder ist sie sich ihrer Reflexe auch für diesen Fall so sicher?

Wir steigen die Wanten zum vorderen Masthaus hinauf. Sie wieder voran. Dabei ist sie auf den Wanten einige Sekunden genau über mir, und wenn ich nach oben sehe, dann kann ich ihr gut unter den Streifenrock schauen. Der Einblick gewährt klinische Details: Unterwäsche ist noch nicht erfunden worden. Dieser Verdacht wird allmählich zur Gewißheit.

Bevor ich mir überlegt habe, ob man den kurzen Einblick genießen sollte, ist der Augenblick auch schon wieder vorbei. Außerdem sind solche Gedanken einem verheirateten Mann nicht angemessen. Wir steigen über eine Art Veranda, die um das ganze Masthaus herumgeht, und betreten dann den Innenraum.

Irene ist da, die Kommandantin, und zwei weitere Frauen. Sie sitzen an einem Tisch, den ich in diesem Masthaus eigentlich nicht erwartet habe. Warum, weiß ich auch nicht.

Die Kommandantin bedeutet mir, Platz zu nehmen. Dann nickt sie Irene zu. Mein Mastmädchen baut sich an der Tür auf, Arme verschränkt. Sie hat, um in unseren Sprachgebrauch zu verfallen, offenbar einen der unteren oder mittleren Dienstgrade.

"Gut, daß du noch da bist!" sagt Irene. Sie wirkt übermüdet.

"Wo soll ich denn sonst sein?"

"Sie haben mir erst vor kurzem gesagt, daß du hier arbeitest!"

"Gesagt? Seit wann sprichst du denn ..."

"Darum bin ich hier. Seit ich an Bord bin, versuchen sie, mir diese Sprache beizubringen. Rund um die Uhr."

"Das ist noch kein Tag!"

"Ja. Aber ich habe es wenigstens geschafft, ihnen klarzumachen, daß du im Sprachenlernen besser bist!"

"Und?"

"Jetzt lernst du mit. Ob du willst, oder nicht. Das wird Streß, sage ich dir!"

"Meinst du, ich hätte bis jetzt keinen Streß gehabt?"

"Was denn?"

"Später. Hast du geschlafen?"

"Fünf Stunden."

"So siehst du auch aus!" sage ich ihr, "Wir müssen ihnen klarmachen, daß das der Schnelligkeit des Lernens nicht förderlich ist! Das ist doch die alte, überholte Arbeitgeber-Argumentation: Doppelt soviel Zeit bringt doppelt soviel Ergebniss! Damit wollen sie immer ..."

"Herwig, jetzt nicht!" unterbricht Irene. Sie nickt der Kommandantin zu. Diese steht auf und verläßt den Raum. Die beiden anderen Frauen haben offenbar den Lehrauftrag. Und der Unterricht fängt sofort an, oder, für Irene, er geht weiter. Die beiden Frauen dürften in den mittleren dreißiger Jahren sein und unterscheiden sich in nichts von ihren gleichaltrigen Geschlechtsgenossinnen auf dem Schiff. Ob und was sie besonders für Sprachunterricht qualifiziert, das wissen wir nicht.

Mein Mädchen vom Mast bleibt an der Tür. Allerdings, jetzt, wo die Kommandantin das Masthaus verlassen hat, nimmt sie sich die Freiheit, sich anzulehnen. Aus dem Fenster heraus kann sie ja jederzeit sehen, ob jemand das Masthaus betreten will.

Es ist mir eine gewisse Beruhigung, daß die übliche Arbeitsmoral, wie man sie in allen Armeen der Welt antrifft, auch hier zu beobachten ist: Wenn Vorgesetzte nicht in der Nähe sind, dann kann man Wachaufgaben 'optimieren'. So etwas steht in den Wachvorschriften nie drin, jedenfalls nicht unter dieser Bezeichnung.

8.4 Sprachunterricht

Der Unterricht ist anstrengend, nicht nur wegen der Hitze und dem völlig neuen Stoff, der völlig fremdartigen Sprache. Ich habe den Eindruck, daß unsere Gastgeber wollen, daß wir so schnell wie möglich ihre Sprache lernen. Nun ja, dagegen habe ich nichts. Tatsache ist aber, daß eine Sprache in unserem Alter den Weg in den eigenen Kopf wesentlich langsamer findet als das noch vor zwanzig Jahren der Fall war, oder gar in früher Kindheit.

Wenn Irene behauptet, daß ich für Sprachen begabt bin, dann irrt sie sich. Ich bin für Sprachen überhaupt nicht begabt. Eine lange Reihe schlechter Zensuren in Deutsch, Englisch und Latein belegen das. Schon auf der Schule wußte ich: Nur die Naturwissenschaften sind dein Fach. Etwas anderes brauchst du gar nicht erst zu versuchen.

Aber schon damals galt der Grundsatz, daß man, wenn man etwa Physik studieren will, am besten fließend Englisch spricht. Das war damals und ist noch heute Weltsprache der Naturwissenschaften. Und ich wußte: Englisch pauken, wenn du es mitten im Studium ganz plötzlich und ganz dringend brauchst, das ist deine Sache nicht. Fleißarbeit sowieso nicht. Es gibt nur eine Chance: Du mußt das Englisch können. Und da die Schule es in sechs Schuljahren nicht geschafft hat, genug Englisch in deinen Kopf hineinzubekommen, mußt du dir etwas anderes einfallen lassen.

Und mir fiel etwas ein. Als in der elften Klasse Englisch wegfiel, stellte ich meinen Eltern eine Forderung: Wenn überhaupt noch Literatur als Geburtstags- oder Weihnachstgeschenke, dann, bitte, nur in Englisch! Ebenso kaufte ich selbst kein deutsches Buch mehr, wo dies nicht unbedingt erforderlich war.

Ich konnte kein Englisch, aber ich tat so, als ob ich es könnte. Ich las von nun an alles mögliche nur noch in Englisch.

Wörterbuch in Reichweite, natürlich. Aber auch da mußte ich noch eine Erfindung machen: Wörterbuch nur, wenn unbedingt notwendig. Wenn das Verständnis eines Textes an einem einzigen Wort hängt, sonst nicht. Sonst hält das Nachschlagen viel zu lange auf.

Am Anfang war es noch etwas schwer. Aber bis zum Abitur war ich durch. In der Anfangszeit des Studiums war ich soweit, daß, wenn man mich bei einer Lektüre unterbrach und mir den weiteren Blick auf dieselbe verwehrte, ich nicht mehr unbedingt sagen konnte, in welcher Sprache ich gerade gelesen hatte. Zehn Jahre nach jenem Entschluß konnte ich Englisch genauso fließend lesen und schreiben wie Deutsch. Mit dem Hören und Sprechen war es wegen mangelnder Übung etwas schwieriger, aber immer noch weit besser, als wenn ich nach der Schulzeit nie wieder ein englisches Buch angefaßt hätte. Und meine Prognose bezüglich der Nützlichkeit der Sprache erwies sich als richtig: Auf alles, was ich in Schule oder Studium gelernt hatte, hätte ich notfalls verzichten können. Auf Englisch nicht.

Das Experiment wollte ich noch einmal mit einer anderen Sprache und demselben Rezept wiederholen. Hatten wir doch bei der Bundesluftwaffe einen halbjährlichen Russischkurs gemacht, dessen Lernergebnis mehreren Schuljahren Russischunterricht entsprachen. Das müßte ausbaubar sein. War die Gelegenheit nicht günstig? Der Versuch ist etwa zehn Jahre her. In Osteuropa und in der Sowjetunion kündigten sich Umwälzungen an, die einige Jahre später auch tatsächlich eintreten sollten. Ich ließ mir die Prawda direkt aus Moskau kommen.

Es war zu spät. Mein Russisch war noch nicht gut genug, um zwischen den Zeilen lesen zu können, und der damalige Stil der Prawda war auch nicht geeignet, direkt ein Interesse beim Leser zu wecken. Selbst die im Wortlaut abgedruckten Gorbatschov-Reden waren für mich Anfänger eigentlich zu schwer und zu umfangreich. Ich arbeitete mich durch keine einzige vollständig durch. Zeitmangel und andere Interessen nahmen den Russischlernen zusätzliche Resourcen weg, und anders als Englisch, das mit fast jedem Interessengebiet gekoppelt werden kann, weil es entsprechende Literatur gibt, konnte ich mir Russisch nichts anderes anfangen als Prawda-Lesen, und die Werke einiger russischer Autoren, die ich mir beschafft hatte.

Es war zu spät. Fehlschlag. Russisch habe ich nicht mehr geschafft. Und so ließ ich die Finger schließlich ganz davon.

Und nun, noch einmal zehn Jahre später, das Lernen einer neuen Sprache, die auch nicht die entfernteste Verwandtschaft mit bekannten Sprachen hat, und das in kurzer Zeit! Eine Herausforderung, die ich wohl nicht angenommen hätte, hätte man nicht jetzt die Entscheidung für uns getroffen. Mir ist klar, daß es für uns am besten ist, wenn wir unseren Geist für die neue Sprache und die damit implizierte Denkweise weit öffnen. Um so weiter werden wir kommen. Und wir brauchen die Sprache, wenn wir jemals von diesen Menschen etwas Kooperation haben wollen!

Die Zeit vergeht rasch, während wir die ersten Substantive für die Dinge des täglichen Lebens absorbieren, und die ersten Verben für die alltäglichsten Verrichtungen. Von der Grammatik begreifen wir an diesem ersten Tag noch nicht einmal eine Spur. Aber etwas anderes begreife ich schon nach diesen wenigen Stunden: Ich habe drei verschiedene Wörter für 'bumsen' gelernt, aber kein einziges für 'Liebe'. Einige Wörter, die 'Frau', 'Mädchen' oder 'Mensch' bedeutet, aber keines für 'Mann'. Sprachlich können wir gegen Beginn der Schlafperiode schon 'töten' und 'hinrichten', aber nicht 'helfen' und 'heilen'. Wir wissen das Wort für 'Schwert', aber nicht das Wort für 'Brot'.

Mir schwirrt der Kopf vor den vielen neuen Begriffen. Ich habe ein bißchen die Besorgnis, daß diese Sprache unsere Denkweise verändern könnte, weil jede Sprache auch eine Denkweise impliziert. So, wie man beim Erlernen eines Eskimo-Dialektes schon bald ein Dutzend Wörter für 'Schnee' gelernt hätte und deshalb besser über den Bau eines Iglus sprechen und denken kann als über einen Wüstenmarsch, so werden wir hier durch diese Sprache mit dieser fremden Lebensweise mit all ihren unschönen Aspekten vertrauter.

Endlich können wir, so um 24 Uhr, zum Essen gehen. Drei Stunden später als das, was meine Uhr gestern angezeigt hat. Das läßt darauf schließen, daß hier eine Tageslänge von 27 Stunden gepflegt wird. Naja, das geht ja noch.

Beim Essen, das wieder fast nur aus Fleisch besteht, fällt mir wieder ein, was das für ein Fleisch ist. Aber ich sage es Irene nicht, erwähne lediglich, daß alle andersartigen Vorräte knapp sind. Sie braucht ihre Nahrung genauso wie ich. Ich glaube kaum, daß man uns hier eine vegetarische Extrawurst braten wird.

Wenigstens wird mich das Erlernen der Sprache fortan vor dem Küchendienst retten.

Noch etwas fällt mir ein: Vor genau einer Woche waren wir in der Höhle am Höllentalplatt wieder aufgewacht, nach unseren ungemütlichen ersten Schlafversuchen. In Kürze würden wir ins Innere der Höhle aufbrechen. Die Excursion auf eigene Faust hatte ich ja schon hinter mir. Hätte ich da schon eine Ahnung von dem habe sollen, was uns erwartet?

Wir hätten den Tagesanbruch abgewartet und wären über das Höllentalplatt und übers Brett nach Hause gegangen, um jeden Preis!

Die Sitzordnung beim Essen ist diesmal etwas anders: Irene sitzt wieder zur Linken der Kommandantin, die zwei Frauen, Chechmon und Chrwerjat, unsere Sprachlehrerinnen, daneben, und ich gegenüber, an der rechten Seite der Kommandantin, ein wahrscheinlich nach den schiffsinternen Hierarchiemaßstäben unerhörter Vorgang. Die Frauen rechts neben mir reagieren auch reflexartig etwa so, als wären sie gezwungen, die Anwesenheit eines Schimpansen bei Tische zu dulden. Allerdings muß man genau hinsehen, um es zu merken. Die Kommandantin läßt sich überhaupt nichts anmerken, und die beiden Sprachlehrerinnen haben sich an unsere Gegenwart gewöhnt.

Wahrscheinlich wird beabsichtigt, durch das Tischgespräch den Sprachunterricht fortzusetzen, und vielleicht schon etwas Informationen aus uns herauszuholen. Wie soll das gehen, nach wenigen Stunden Unterricht! Unser Gespräch bewegt sich also auf dem Niveau: 'Das ist ein Teller ... Was ist das? ... das ist ein Messer' und so weiter. Die Kommandantin hört scheinbar gleichgültig zu. Ich habe aber den Eindruck, daß sie aufmerksamer zuhört, wenn ich mit Irene ein paar Worte in Deutsch wechsele. Woran wir aber nicht gehindert werden.

Mein Mädchen von der Mastspitze nimmt einige Zeit weiter unten an der Tafel Platz. Da sie die letzte ist, die vom weiblichen Teil der Schiffsbesatzung hereinkommt, nimmt die Kommandantin die Gelegenheit wahr, alle mit Namen vorzustellen. Das jedenfalls begreifen wir, wenn wir auch sonst nichts verstehen. Mein Mastmädchen heißt Charmion, und die Kommandantin nennt sich selbst Cherkrochj. Die drei Frauen, die uns hierhergebracht haben, heißen, wie wir schon gehört haben, Chrechat, Chbesmoi und Chechmirch. Die anderen Namen kann ich mir noch nicht merken.

Wir haben schon während des Sprachunterrichtes festgestellt, daß wir noch lange nicht in der Lage sind, Eigennamen fehlerlos auszusprechen. Auch mit dem Behalten dieser Zungenbrecher wird es wohl so seine Schwierigkeiten haben.

Von den Männern unten an der Tafel ist keiner der Erwähnung wert. Sie existieren einfach nicht. Inventar. Das Gesinde, gewissermaßen.

Da richtig sinnvolle Informationen aus uns nicht herauszuholen sind, geht das Gespräch nach einer Weile an uns vorbei. Wir verstehen, wenn schnell gesprochen wird, überhaupt nichts, und wir haben auch selbstverständlich Funkstille. Deshalb essen wir schweigend weiter. Gerade, daß wir in einigen Pausen auch ein paar Worte miteinander wechseln dürfen. Ich spüre genau: Das wird nur geduldet.

"Wenigstens ist das Fleisch nicht schlecht!" sagt Irene, und nickt unserer Gastgeberin diplomatisch zu, "Gut", sagt sie in der hiesigen Sprache, auf das Fleisch deutend. Die Kommandantin sieht ausdruckslos zurück.

Ich sage nichts. Niemandem wäre damit geholfen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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