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******** 007. Tag: Freitag 95-08-25 ********
7.1 Urwald
Es ist 4 Uhr morgens, als ich geweckt werde. Naja, ungefähr acht Stunden Schlaf sollten reichen, aber es könnten trotzdem mehr sein. Irene ist schon geweckt worden, und ihr fällt es genauso schwer.
Mit deutlichen Gesten werden wir in den Teich zum Waschen geschickt. Das ist im Prinzip eine gute Idee, aber ich überlege mir, ob da andere Hintergedanken sein mögen. Die Szenen von der letzten Schlafperiode habe ich noch deutlich vor Augen.
Als wir uns tropfnaß wieder anziehen - abtrocknen lohnt bei den vorherrschenden Temperaturen nicht - packen unsere Bewacher schon wieder auf. Mist. Frühstück ist nicht vorgesehen. Wenn Irene's Blicke töten könnten, dann würden unsere Bewacher jetzt in sechs blitzenden Donnerschlägen unter Funkensprühen vergehen.
Wir folgen dem Tale weiter. Das Gefälle der Straße ist nicht mehr stark, und unsere Knie bedanken sich dafür. Allerdings sind unsere Bewacherinnen wieder der Meinung, daß wir ein stärkeres Marschtempo anschlagen könnten. Und das ohne Frühstück!
Der Urwald wird so dicht und hoch, daß sich die Kronen der Bäume immer häufiger über der Straße schließen. Deshalb bekommen wir auch von den zurückweichenden Berghängen rechts und links immer weniger zu sehen.
So um 6 Uhr unterschreiten wir eine Tiefe von 10000 Meter. Als ich den Höhenmesser abgelesen habe, teile ich Irene das mit, indem ich der immer noch rechts neben mir marschierenden Frau diese Mitteilung mache. Diese nimmt mir ganz überraschend den Höhenmesser aus der Hand und betrachtet ihn während des Gehens genau.
Soviel Feinmechanik in den Händen dieser Barbaren! In Gedanken nehme ich Abschied von meinem Meßinstrument. Jetzt schüttelt sie das Gerät. Fehlt nur noch, daß sie darauf beißt. Das tut sie aber nicht, sondern sie gibt es der Frau hinter ihr, die nach kurzer Betrachtung das Ding an die Frau links neben Irene weitergibt. Die kann sich auch keinen Reim aus diesem Ding machen, und ich bekomme es wieder zurück. Es ist, äußerlich wenigstens, unversehrt. Der Zeiger steht immer noch auf 2000 Meter Meereshöhe, wie vorher.
Den drei Männern, die brav hinterhertrotteln, den Höhenmesser zu zeigen, auf diese Idee kommt keine der drei Frauen. Aber von denen scheint sich auch keiner dafür zu interessieren.
Bei dieser Inspektion des Höhenmessers haben die Frauen wieder ein paar Worte miteinander gewechselt. Bei dieser Gelegenheit versuche ich, ihre Namen herauszukriegen, Worte, die sie häufiger verwenden, insbesondere, wenn sie anfangen, sich anzureden. Das ist schwer, bei dieser fremdartigen Sprache. Immerhin meine ich, daß die Frau hinter mir, die das Kommando führt, häufiger mit 'Chrechat' angeredet wird. 'Chbesmoi' könnte die neben mir heißen, und 'Chechmirch' die links neben Irene. Vielleicht sind das aber auch Titel. Noch kann ich das gar nicht sagen.
Ich will es einmal probieren. Ich drehe mich rechts herum nach hinten und sehe die Anführerin an. Rechts herum, weil ich nicht will, daß sie meinen, ich will mit Irene sprechen.
"Chrechat, wir haben Hunger!" sage ich und mache unmißverständliche Gesten in Richtung meines Magens. Das nächste, was ich spüre, ist ein Schlag in die Nieren. Fast glaube ich, daß mir die Wirbel in der Wirbelsäule auseinander hüpfen. In der nächsten Sekunde liege ich am Boden, und 'Chrechat' ist dabei, mir die Kehle einzutreten. Sie ist sehr wütend und schreit den ganzen Wald zusammen. Sogar die anderen stehen wie erstarrt, besonders die drei Männer. Ich muß irgend etwas ganz Falsches gesagt oder gemacht haben.
Dann gibt es eine Meinungsverschiedenheit. Die Frau, die zu meiner Rechten ging, muß zu meinen Gunsten interveniert haben. Vielleicht weist sie nur ganz sachlich darauf hin, daß alles, was ich gesagt oder angedeutet haben kann, nicht ernstgenommen werden darf, weil wir ja nicht die Sprache dieser Welt beherrschen. Offenbar hat sie Erfolg, denn die Anführerin hört auf, mich zu treten.
Ich darf wieder aufstehen, und wenige Augenblicke später marschieren wir wieder weiter, als ob nichts vorgefallen wäre. Zusätzlich zu meinem Magen tun mir jetzt allerdings noch einige weitere Körperteile weh.
Um 7 Uhr passiert etwas Komisches. Einer der Männer wird nach vorne gerufen, und die Anführerin gibt ihm mit ein paar Worten ihr Schwert. Der Mann freut sich wie ein Kind und rennt voraus. Bald ist er im Wald vor uns verschwunden.
Nach kurzer Zeit schon ist er wieder da, über der Schulter die Leiche eines schäferhundgroßen Tieres schleppend. Das Tier wird so rasch zerteilt, daß ich keinerlei zoologische Beobachtungen machen kann. Dann gibt der Mann mit einer völlig unangemessenen Demutsgebärde das Schwert zurück. Naja, was immer hier 'angemessen' bedeutet. Die drei Männer, die uns begleiten, haben sowenig Selbstbewußtsein, daß sie schon fast identisch aussehen. Ich könnte jedenfalls nicht genau sagen, welche beiden von den dreien gestern Nacht vergewaltigt wurden.
Nur die größten und am einfachsten herauszuschneidenden Stücke schieren Fleisches werden verwendet. Der Rest des Kadavers fliegt einfach in den Wald. Dann bekommt jeder ein Stück Fleisch. Auch Irene. Nur ich nicht. Das ist wohl meine Rechnung für das, was ich vorhin gesagt habe.
Alle hauen ihre Zähne in die blutigen Stücke. Alle außer Irene. Das liegt nicht an der Geräuschkulisse aus sechsfachem Schmatzen und Kauen und Schlucken und Rülpsen. Der Hunger würde alles reintreiben, auch dieses unappetitliche Fleisch unter dieser unappetitlichen Begleitmusik.
Nein, Irene hat etwas anderes vor. Sie versucht, ihr Fleischstück der Länge nach zu zerreißen, so, wie es die Faserrichtung der Muskeln eigentlich zulassen müßte. Aber rohes Fleisch ist zäh, und es gelingt ihr nicht. Da gibt sie mir das ganze Stück.
Die schmatzende Geräuschkulisse verstummt, als sei die interne Schmelzsicherung eines HiFi-Verstärkers durchgebrannt. Irene hat sich jetzt gegen den demonstrierten Willen der Anführerin gestellt. Was soll daraus werden?
Wie ein Automat fange ich an, das Fleischstück zu zerreißen. Dabei bespritze ich mich und Irene mit Blut, aber es gelingt. Dann gebe ich die Hälfte Irene zurück. Jede Sekunde erwarte ich eine Tritt oder einen Schlag.
Aber in dieser Welt können sich Frauen auch als Gefangene mehr leisten als Männer. Es gibt eine hämische Bemerkung der Anführerin, wonach alle in einem pflichtschuldigen Tonfall lachen. Aber als dann weitergegessen wird, nehme ich an, daß wir es auch dürfen.
Arme Irene, denke ich: Du hast dir jetzt vielleicht eine Feindin gemacht.
Der Marsch verläuft von nun an zunächst ereignislos. Die Straße verliert nur noch wenig an Höhe, was der Höhenmesser immer noch registriert. Zeitweise stehen die Urwälder rechts und links in Wasser, und die Straße verläuft auf einem aufgeschütteten Damm. Das bewahrt uns jedoch nicht davor, gelegentlich auch schlammige Stellen zu passieren, und zweimal müssen wir eine Furt überqueren. Wir sauen uns im Laufe der Zeit ganz schön ein.
Einmal zischt die Frau neben Irene etwas, und momentan gehen alle fast lautlos und langsam. Wir natürlich auch, es wird schon seinen Grund haben, wenn unsere Bewacher Besorgnis zeigen. Dabei sieht der Wald rundherum so aus wie immer.
Wir kommen allerdings innerhalb von fünfzig Metern an einen verlandeten Weiher an der rechten Seite der Straße. Einige mächtige Baumleichen in den sumpfigen Wasserresten würden auch über diesen Weiher jedes Fortkommen erschweren. Unsere Bewacher spähen sorgfältig zur jenseitigen Seite des Weihers.
Ich kann nichts erkennen. Aber da muß etwas sein, denn erst, als wir diese Stelle hundert Meter hinter uns gelassen haben, werden die Schritte wieder fester.
Bald darauf kommen wir an einer Lichtung vorbei, die nicht viel größer ist als das alte Saurierskelett, das sie fast zur Gänze ausfüllt. Das Saurierskelett - es muß sich wohl auch um einen Bronto der Größe, wie wir ihn schon gesehen haben, handeln - liegt aber schon so lange da, daß es von Menschen vorübergehend zweckentfremdet wurde: Die Rückenwirbel, die etwa in drei Metern Höhe über dem Boden von den Rippen rechts und links getragen werden, sind mit Lederstreifen an denselben befestigt. Auf diese Weise fällt der ehemalige Torso des Sauriers nicht auseinander. Zwischen einigen der Wirbel flattern Reste von Lederplanen, und auf dem Boden zwischen den Rippen gibt es einen innen geschwärzten Steinring.
Eine Feuerstelle. Naja, daß unsere Bewacher Feuer kennen müssen ist eigentlich klar. Wie will man ohne Feuer Schwerter schmieden? Dieses Skelett hat also eine Zeitlang als provisorische Behausung gedient. Warum nicht. Die pure Größe dieser Tiere erlaubt eine ganze Menge Verwendungen, die wir in der Land- und Vieh-Wirtschaft gar nicht kennen.
Innerhalb der nächsten paar Stunden führt die Straße zwar immer vorwiegend durch dichten Urwald, aber zweimal passieren wir größere Lichtungen oder Rodungen. Auf beiden stehen am Wegesrand die Ruinen von lange verlassenen Steinhäusern. Die Dächer fehlen, die Mauern sind teilweise eingestürzt und bewachsen, was auf den Feldern, wenn es welche sind, gewachsen ist, ist nicht mehr zu erkennen. Teilweise gehen die Rodungen kontinuierlich in den Urwald über. Unsere Begleiter interessieren die Überreste dieser Dörfer nicht.
Auf einer weiteren, kleineren aber wohldefinierten Lichtung stehen achtzehn neue, unbeschädigte Vollstreckungskreuze, die aber keine Verurteilten tragen. Auch hier marschieren wir vorbei, ohne daß unsere Begleiter irgendeine erkennbare Reaktion zeigen. Als ob sie verlassene und verfallene Dörfer und Hinrichtungsstätten jeden Tag sehen.
Um 12 Uhr kommen wir an einen breiten, flachen Fluß. Breite Steinstrände weisen darauf hin, daß dieser Fluß zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich viel Wasser führt. Wir haben eine Tiefe von 10450 Metern erreicht, und von nun an folgen wir diesem Fluß auf diesen Steinstränden. Der Fahrweg schien am Ufer des Flußes zu enden. Das ist merkwürdig. Allerdings gab es auf den letzten Kilometern der Straße Abzweigungen, die wir nicht genommen haben, außerdem ist es möglich, daß der Weg auf der anderen Seite des Flußes weitergeht. Das werden wir nun nicht erfahren.
Auf diesem Schwemmland ist wieder der Blick nach oben ungehindert, der auf der Straße immer nur durch gelegentliche Baumlücken möglich war. Ich versuche, mich zu orientieren. Der Anblick der Säulen aus dieser Perspektive ist ungewohnt. Wenn man behaupten möchte, daß der Anblick aus anderer Perspektive, zum Beispiel von oben, als gewohnt zu bezeichnen ist.
Die beiden nächsten Säulen sind flußaufwärts von uns und voneinander etwa zehn Kilometer entfernt. Das sind aber wahrscheinlich nicht die Säulen, zwischen denen wir auf der Hängebrücke gegangen sind, weil ich nichts von der Felsdecke zwischen ihnen finden kann. Vielleicht hat sich auch die Untergrenze der Wolken abgesenkt, so daß man diese nicht sehen kann.
Ebensowenig weiß ich, ob dies der Fluß ist, den wir von oben, von der Hängenden Straße aus, gesehen haben. Das Schwemmgebiet zu beiden Seiten des Flußes müßte mir doch aufgefallen sein? - manchmal wäre ein photographisches Gedächtnis schon sinnvoll.
Ich habe nicht allzuviel Muße, mich in die Betrachtung des 'Himmels' zu versenken, weil der Marsch in dem Flußgeröll eine üble Stolperei ist. Man muß aufpassen, wo man hintritt, um nicht mit dem Fuß umzuknicken. Die Bänder in meinen Füßen sind zwar durch das Lauftraining sehr stabil, aber trotzdem könnten sie beim hundertsten Umknicken überdehnt werden oder gar reißen. Invalidität kann ich jetzt gar nicht brauchen.
7.2 Der Saurierfänger
Weil wir mehr vor die Füße als woandershin schauen, sehen wir das Schiff auch ziemlich spät, als die Masten sich schon deutlich vor dem grauen Himmel vor uns abzeichnen. Es ist noch einige Kilometer von uns entfernt, und als wir näher kommen, wird es wieder unsichtbar, weil Nebel aufzieht und das Schiff schneller erreicht als wir. Die Orientierung wird schwierig: Offenbar ist der breite Fluß in einen noch größeren, noch breiteren eingemündet, und die Urwälder an den beiden Ufern scheinen einen Kilometer voneinander und viele hundert Meter von uns entfernt.
Ein seltsames Bild: Weil der Nebel nur eine flache Schicht am Boden bildet, werden die Urwaldbäume am Ufer unsichtbar. Hebt man den Blick aber etwas, dann sieht man noch die oberen Teile der nächsten Säulen. Ein unheimliches Bild. Wenn wir nicht wüßten, wie wir hierhergekommen sind, dann wäre das eine Alptraumlandschaft.
Ich kenne da ein Spiel, was ich mit Irene manchmal spiele: Augen zu, sich einbilden, daß die Erinnerung der letzten zwei Jahre, oder fünf Jahre oder zehn Jahre nicht mehr da ist, und Augen auf. Frage: wo sind wir jetzt? Sicher ein interessantes Spiel, nicht nur, weil wir die Amnesie nur für eine Woche spielen müssen. Auf welche Lösungen wir kämen, wenn wir uns erfolgreich vormachten, nicht zu wissen, wie wir hierhergekommen sind, daß wäre es wirklich interessant. Ob man sich bei dieser Kulisse überhaupt eine solche Amnesie vormachen kann?
Dann tauchen endlich, um 13:30 Uhr, über dem Nebel vor uns die Masten wieder auf. Das Schiff ist in unmittelbarer Nähe. Ich frage mich, wie ein so großes Schiff auf so flachem Wasser schwimmen kann. Der Fluß ist zwar breit, aber eben weil er breit ist, ist er nirgends so tief, als daß man nicht stehen könnte. Jedenfalls gilt das hier, wo der Fluß keine Berge durchbrechen muß.
Dann sehe ich: Das Schiff ist ein Floß, ein riesiges, besegeltes Floß. Von der Segelschifffahrtskunst reichlich unbeleckt erkenne ich also nur weniges auf Anhieb: Drei oder vier Masten, bis neunzig Meter hoch, mit einer Anzahl Rahen. Rahsegler nennt man das normalerweise. Hier stehen die Masten aber nicht auf einem Schiffsrumpf, sondern auf einem massiven, fünfundsiebzig Meter langen und fünfundzwanzig Meter breitem Floß. Außerdem ist da ein langer Bugspriet, der so groß wie ein nach vorne geneigter Mast ist. Auf diesem Floß gibt es eine Reihe von Aufbauten, ohne daß allerdings ein klares Designprinzip zu erkennen wäre. Zwischen den Masten und den Rahen spannt sich eine Menge Seilwerk. Ich sehe Wanten, die so aussehen wie richtige Wanten auf richtigen Segelschiffen. Bei dem Zweck des meisten anderen zahlreichen und unübersichtlichen Seilgutes muß ich aber passen.
Einige Gestalten sind auf Deck zu sehen. Alles Männer. Sie machen im Moment keinen übertrieben arbeitsamen Eindruck. Einige sind mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt, andere stehen nur so rum. Ihren Gesichtern ist anzusehen, daß sie uns mit einem Gemisch aus Neugier und Abneigung entgegensehen - so, als bedeute die Ankunft einer solchen Gruppe etwas Unangenehmes - nämlich Arbeit.
Irgendjemand muß eine Meldung über unser Ankommen weitergegeben haben. Plötzlich erschallt eine kommandogewöhnte Stimme. Eine weibliche Stimme, natürlich.
Wir stehen am Flußrand, also dort, wo das Geröll mit Wasser überspült zu werden beginnt. Das Schiff ist etwa fünfzig Meter weiter draußen. Erst dort ist das Wasser tief genug. Unsere Bewacherinnen warten auf etwas.
Es geschieht auch etwas: Sechs oder sieben Mann der Mannschaft bauen routiniert eine Flachwasserbrücke auf, oder eine Gangway, wenn man es so nennen will, ohne sich daran zu stören, daß es sich um mehrere Stücke handelt, die nacheinander im Wasser zwischen dem Schiff und uns aufgestellt werden. Mit dieser Konstruktion, das sehe ich, läßt sich in flachem Wasser eine trockene Verbindung zu einem Schiff schaffen, das auch sehr weit draußen liegen kann. Es ist sogar möglich, diese Brücke Stück für Stück aufzubauen, ohne sich naß zu machen. Wenn man allerdings, so, wie es jetzt geschieht, die einzelnen Stücke durch das Wasser watend zusammensetzt, dann kann man an der gesamten Länge der Gangwaybrücke gleichzeitig bauen.
Es dauert keine zwei Minuten, bis die Brücke fertig ist. Wahrscheinlich wäre sie aufgebaut geblieben, wenn man an Bord des Schiffes damit gerechnet hätte, daß jemand ausgerechnet jetzt das Schiff betreten will.
Wir gehen im Gänsemarsch über die schwankenden Planken: Erst unsere drei Bewacherinnen, dann Irene, dann ich, dann die drei Männer.
7.3 Cherkrochj
Dort sehe ich zum erstenmal die Frau, die so aussieht und sich so gebärdet, als hätte sie hier zu sagen. Unsere Bewacherinnen reden in einem Tonfall mit ihr, die einen etwas an die alten Bundeswehr-Zeiten erinnert: Meldung machen, schnell und präzise und ohne überflüssiges.
Die Frau, die wohl Kommandantin des Floßes ist, hört sich alles mit unbewegtem Gesicht an. Sie ist etwa vierzig, verglichen mit allen Frauen, die wir bis jetzt gesehen haben, ungewöhnlich blond, und hat tief eingeschnittene Linien im Gesicht. Ein grausamer Zug um die Mundwinkel. Ihre Kleidung unterscheidet sich nicht von der Kleidung der anderen, sichtbare Rangabzeichen können wir auch bei ihr nicht erkennen. Solche Dinge sind in kleinen Gruppen, wo jeder jeden oder jede jede kennt wohl unnötig.
Die Kommandantin hat Narben auf beiden Oberarmen und auf dem Bauch. Die deutlichen Narbenwülste lassen vermuten, daß die Verletzungen sehr tief waren, oder daß die Kunst der Behandlung von Wunden hier nicht bekannt ist. Ihre Figur ist sonst makellos, so wie bei allen hier, wenn man davon absieht, daß alle Frauen, die wir bis jetzt gesehen haben, über breite Schultern verfügen, auch und gerade die Kommandantin. Ob es sich um eine Konstitutionseigenschaft handelt, die allen Menschen hier eigen ist, oder ob die Frauen, bedingt durch andere Art von körperlicher Ertüchtigung, im Durchschnitt über bessere Schultermuskulatur verfügen als die Männer kann ich noch nicht sagen. Der Unterschied zwischen typisch weiblicher und typisch männlicher Figur, wie wir ihn kennen und wie wir an ihn gewöhnt sind, ist hier jedenfalls überhaupt nicht ausgeprägt, um nicht zu sagen, nicht existent.
Natürlich gibt es Unterschiede. Unterschiede in der Haltung. Wir hatten ja schon auf dem Herweg genug Gelegenheit, dieses genau zu betrachten und zu vergleichen. Die Frauen halten sich aufrecht. Der Führungsanspruch und die Gehorsamserwartung ist ihnen auf einen Kilometer Entfernung anzusehen. Sie strahlen Aggression und Selbstbewußtsein aus. Diese Kommandantin besonders - sie ist eine Inkarnation der Arroganz.
Die Männer gehen hingegen irgendwie geduckt, auch wenn sie, anatomisch gesehen, aufrecht stehen. Ihre ganze Haltung ist servil, ängstlich, abwartend. Auch wenn sie über viel durch harte Arbeit gewonnene Muskelkraft verfügen, wirken sie schwach.
Die Kommandantin tritt vor uns hin. Sie mustert uns beide. Dann fragt sie Irene in scharfem Ton etwas. Irene antwortet nicht, weil sie ja nichts versteht. Ich erwarte schon, daß sie sofort Schläge bezieht, aber das ist nicht der Fall. Eine weibliche Gefangene ist etwas ganz anderes als ein männlicher Gefangener.
Dann wird Irene abgeführt, nachdem sich die Kommandantin mit einigen anderen Frauen - vielleicht ihren Offizieren - beraten hat. Wir sind getrennt.
Wie um den unterschiedlichen Wert von Mann und Frau noch weiter zu verdeutlichen, kümmert sich niemand um mich. Ich stehe einfach auf Deck. Was sie mit Irene machen ist offenbar wesentlich wichtiger.
Fast zehn Minuten lang werde ich vollkommen ignoriert. Ich habe Gelegenheit, das Floß genauer zu betrachten, Gerüche und Geräusche aufzunehmen. Mitglieder der Mannschaft hetzen an mir vorbei, außer gelegentlichen gedämpft neugierigen Blicken interessieren sie sich nicht für mich.
Das Floß scheint ganz sacht zu schwanken. Die Verbindung zwischen der Gangwaybrücke, die nicht abgebaut wird, und dem Floß knarrt in langsamen Rhythmus. Auch aus der Takelage hört man das Reiben von Seilen gegen Seilen und Seilen auf Holz und Holz gegen Holz. Ich stelle fest, daß das Hauptkonstruktionsmittel des Floßes Seile und Holz sind. Vielleicht eine sehr stabile, beschädigungstolerante Konstruktion. Aber ich kann das ja nicht beurteilen. Jedenfalls sind etliche Mannschaftsmitglieder damit beschäftigt, Seilverbindungen zu verstärken und zu reparieren.
Es riecht nach kalten Feuerstellen und organischen Abfällen. Einige Balken an Deck zeigen Verfärbungen, als seien sie wiederholt von färbenden Flüssigkeiten getränkt worden. Und über mir, in der Takelage, unter den weit ausladenden untersten Rahen, gibt es Konstruktionen, von denen ich annehme, daß es nichts mit der Besegelung zu tun hat. Das sind Kräne. Dieses Floß transportiert etwas, was nur mit beträchtlichem Aufwand an Bord gebracht werden kann. Aber was?
Das große Floß trägt eine ganze Reihe von Aufbauten, die an Blockhäuser, Holzhütten oder kleinen Fabrikhallen erinnern. Das können nicht alles Mannschaftsunterkünfte sein. Aber was ist es dann?
7.4 Die Schiffsküche
Da baut sich plötzlich ein Mann vor mir auf. Schmuddelig und schmierig, vielleicht fünfundvierzig bis fünfzig Jahre alt, untersetzt und übergewichtig, aber unverkennbar muskulös. Er hat schon eine gut ausgebildete Glatze und er erinnert mich ein bißchen an einen Schankwirt. Er weist auf die Tür eines der heckwärtigen Blockhäuser.
Es ist Küchendienst. Nachdem mir der Mann eine Ecke zugewiesen hat, wo ich meinen Rucksack abladen kann, deutet er mir mit Gesten an, was ich zu tun habe. Das Innere dieser Hütte hat sich tatsächlich als Küche entpuppt, allerdings mit einem beträchtlichem Inventar an Küchengerät. Ein Großteil davon starrt vor Dreck - angetrockneten und teilweise verwesten Speiseresten. Entsprechend ist der Geruch. Wenn ich nicht ganz genau wüßte, daß organischer Gestank kaum toxisch ist, dann müßte ich jetzt um meine Gesundheit fürchten.
Immerhin, die Tatsache, daß ich überhaupt diese Geräte sauber machen soll beweist Problembewußtsein. Es ist halt das Abwaschproblem, das wir, Irene und ich, zuhause erst durch Anschaffung einer Waschmaschine gelöst haben. Der Abwasch - der natürliche Feind des Menschen und gleichzeitig nur in seiner Gegenwart existenzfähig - ein widerliches Biest!
Vorübergehend fällt mir der Thomas Mugridge aus dem 'Seewolf' von Jack London ein. Der Erzähler wird dort in einer ähnlichen Situation durch den Koch Mugridge erniedrigt, geschlagen und mit Arbeit überlastet. Der Mann, der mich hier einweist, scheint aber nicht aus demselben Holz geschnitzt zu sein. Eher scheint er diese Einweisung so schnell wie möglich hinter sich bringen zu wollen. Er zeigt mir einen Haufen genauso schmutziger Tücher, die ich zum Saubermachen benutzen soll. Dann, als er sieht, wie ich anfange, Pfannen und Messer mit diesen Drecktüchern zu reiben, verzieht er sich.
Die Schinderei durch einen Thomas Mugridge bleibt mir erspart. Nur wird das Geschirr nicht sauber. Es handelt sich um teils recht große Messer, Spieße, Töpfe und Pfannen, weiterhin Teller und fast normales Besteck. Essen unsere Gastgeber mit Messer und Gabel? Gabeln kann ich keine finden.
Die sonstige Einrichtung des Raumes ist die einer Küche. An der Wand stehen Regale und Zubereitungstische, in der Mitte des Raumes ein zweieinhalb Meter durchmessendes und eineinhalb Meter hohes rundes Gemäuer, das bei näherem Hinsehen doch aus Holz ist. Seitliche Öffnungen unten und ein Grillrost, der die kreisrunde Öffnung oben abdeckt, zeigen, daß es sich um einen großen Ofen handelt, der jetzt nicht in Betrieb ist. Durch den geschwärzten Rauchabzug in der Decke könnte ein Mann hindurchklettern.
Auch auf dem Ofenrost liegt dreckiges Geschirr, einfach überall, wo es nicht hingehört. Ein Saustall! Was Irene wohl zu dieser Küche sagen würde?
Mit den Drecktüchern kann ich die Fettschmiere höchstens verreiben und neuverteilen. Ich brauche wenigstens Wasser. Ein Waschmittel wäre nicht schlecht, aber man kann nicht alles haben. Wasser gibt es draußen. Das Floß schwimmt schließlich in demselben.
Mit drei oder vier Tüchern über der Schulter und einem Stapel Teller und kleinerer Pfannen verlasse ich die Küche und trete an die Bordwand. Wer immer auf Deck steht, sieht mich mit Interesse an.
Die Wasseroberfläche ist etwa fünfzig Zentimeter unter dem Niveau des Deckes. Die Tücher auszuwaschen ist auch in einer unangenehmen Zwangshaltung kaum möglich. Ich muß selbst ins Wasser. Während ich über die Bordwand steige, spüre ich die Blicke aller, die auf Deck etwas zu tun haben, im Nacken. Wenn sie jetzt annehmen, daß ich ausreißen will, dann wird sich mir wahrscheinlich gleich ein Pfeil in den Nacken bohren.
Das Wasser ist wirklich flach. Es geht mir gerade bis zur Brust. Ich könnte ohne Schwierigkeiten das zu waschende Geschirr vom Floß runternehmen, wenn da nicht eine leichte Strömung wäre. Diese drückt mich so zur Seite weg, daß ich mich eigentlich dauernd festhalten muß. Es ist also nicht ganz einfach.
Ohne Waschmittel kriege ich den allerletzten Fettfilm nicht weg. Aber es gelingt mir in den folgenden Stunden, nicht nur den deutlich sichtbaren Schmutz von allem Gerät zu entfernen, sondern sogar etwas wie gezieltes Aufräumen in der Küche zustande zu bringen. Außerdem, da ich jedes Gerät genau ansehen muß, gewinne ich allmählich Klarheit über den Zweck des Floßes: Diese Beile und diese großen Messer dienen nicht dazu, Mahlzeiten für die Floßbesatzung zuzubereiten. Wahrscheinlich sind sie versehentlich in die Küche gelangt. Das Schiff ist vermutlich eine Art Fischereibetrieb, oder ein Basisschiff für Jagdunternehmen. Ich sehe zwar nirgends Fleischvorräte, aber ich habe ja auch noch lange nicht in alle Aufbauten hineingesehen.
Die ganze Zeit habe ich den Eindruck, daß ich alleine arbeite. Eine ganze Handvoll Männer sieht mir zu, und zwei oder drei fahren lediglich dann mit ihrer eigenen Beschäftigung fort, wenn sich eine Frau an Deck blicken läßt. Danach stellen sie ihre Tätigkeit schnell wieder ein. Geredet wird kaum etwas.
Einmal kommt eine Frau auf Deck, die einen der Männer zu sich winkt. Sie setzt sich auf eine Kabelrolle und zwingt den Kopf des Mannes unter ihren Rock zwischen ihre Beine. Niemand beachtet das mit mehr als einem flüchtigen Blick. Dann aber, als sie sich zurücklehnt, sieht sie mich mit meinem Geschirr neben der Bordwand hantieren. Sie richtet sich sofort wieder auf, stößt den Mann wieder weg und stellt sich zu den anderen, gaffenden Männern - mit einem gewissen Abstand - und gafft ebenfalls. Nach einigen Minuten verschwindet sie wieder. Daß sie eben einen der Männer zu sexuellen Diensten befohlen hat und damit offenbar nicht fertig geworden ist hat sie schon wieder völlig vergessen. Der Fremde, der da Küchendienst macht, war offenbar viel interessanter!
Ein paarmal glaube ich aus einem der Räume im ersten Stock des Brückenaufbaus Irene's Stimme zu erkennen. Das könnte sein, denn sie ist in die Richtung abgeführt worden. Ihre Sprachmelodie ist seltsam, aber es ist eindeutig Irene's Stimme, dann wieder unterbrochen von anderen weiblichen Stimmen. Verhör? Sprachunterricht? Sprachunterricht wäre das Plausibelste, was mir einfällt. Sonst kann man ja kaum etwas aus uns herausholen. Wenigstens wird sie im Moment nicht mißhandelt.
Der Mann, der mich eingewiesen hat, läßt sich erst nach zwei Stunden wieder blicken. Er sieht mir mindestens fünf Minuten zu, denkt vermutlich intensiv nach und sagt nichts. Dann verschwindet er wieder.
Während des Putzens finde ich ein Fleischstück, das noch relativ neu erscheint. Jemand hat schon hineingebissen, es dann aber wieder zur Seite gelegt. Ich schneide die Bißkante ab und esse den Rest. Das ist das erste Fleisch, was anständig schmeckt, so, wie normales Schweinefleisch. Ob es Saurierfleisch ist?
So um 18 Uhr bin ich mit Saubermachen fertig. Ich lasse mich in der mir zugewiesenen Ecke nieder und versuche, zu schlafen. Das gelingt - eine Zeitlang. Dann werde ich wieder von meinem 'Thomas Mugridge' geweckt. Ich bin inzwischen sicher, daß er die Rolle eines Kochs spielt. Der Vergleich mit einem Schankwirt war also gar nicht so falsch. Er ist wohl froh, daß er Assistenz bekommen hat, wenn er sich das auch nicht so anmerken läßt wie jener Thomas Mugridge auf der GHOST.
Mein Arbeitstag ist also immer noch nicht zu Ende. Er nimmt einige der großen Hackmesser von den Halterungen, wo ich sie so sorgsam und der Größe nach sortiert aufgehängt habe und führt mich in einen anschließenden Raum, den ich noch nicht betreten habe.
Da stehen vier große, stabile Tische aus massiven Holz. Außerdem stinkt es ganz ekelhaft nach Verwesung. Ihn scheint das aber nicht zu stören. Er öffnet große Wandschränke und winkt mich heran. Als ich nähertrete, wird mir schlecht. Die Knie geben nach, und ich muß mich an einem Tisch festhalten. 'Mugridge', der Koch, sieht mich verwundert an.
7.5 Menschenfleisch und Kochrezepte
Es sind Leichen. Tote Menschen. Über- und nebeneinander gestapelt. Alles Männer in den besten Jahren. Der Anblick erinnert mich an Filmaufnahmen von der Befreiung der Konzentrationslager, dem Öffnen der ersten Gaskammern. Diese Menschen wurden jedoch nicht 'zweckfrei' umgebracht. Ich begreife: Das ist ein Teil des Schiffsproviants.
Unsere 'Gastgeber' sind Menschenfresser.
Menschenfresser. Was für ein billiges Wort. Das klingt nach Abenteuerromanen ohne Anspruch. Freigegeben von 14 bis 18. Menschenfressen ist weniger schlimm als bumsen. Das ist erst ab Altersstufe 16 oder 18 freigegeben. Die Mitarbeiter der Bundesfilmprüfstelle waren wohl noch nie bei Menschenfressern zu Gast.
Wie in Trance nehme ich nun wahr, was geschieht, wie ein Träumender handle ich, wo ich zum Handeln aufgefordert werde. 'Mugridge' deutet mir an, ihm dabei zu helfen, zwei der Leichen aus den Schränken zu nehmen und auf zwei Tische zu legen.
Ich sehe, daß die Leichen bereits ausgeweidet sind. Ein großer Schnitt im Bauch. 'Mugridge', der Koch, öffnet bei einer der Leichen diesen Schnitt mit den Händen, drückt die Wundränder auseinander und holt einen großen Stein heraus. Er behandelt diesen Stein, als ob er das wertvollste an der Leiche wäre. Er öffnet einen weiteren Schrank, und legt den Stein auf viele ähnliche.
Steinsalz? Zum Konservieren der Leichen? Ich weiß nicht. Als 'Mugridge' mich auffordert, bei der anderen Leiche dasselbe zu machen, muß ich auf den Boden kotzen. Der Koch steht dabei, als ob er nicht versteht, was ich eigentlich habe oder warum ich mich so anstelle.
Er besteht nicht darauf, daß ich weitermache. Wahrscheinlich muß er über meine Reaktion erst mit einer Vorgesetzten sprechen. Ich werde wieder in den anderen Raum zu meiner Ecke zurückgebracht. Dann läßt er mich in Ruhe. Nicht einmal den unschönen Fleck, den ich auf dem Fußboden verursacht habe, läßt er mich wegmachen. Er stört ihn überhaupt nicht.
Die Geräusche aus dem Nebenraum ermöglichen allerdings, daß man den Fortschritt bei der Zubereitung der Leichen gut genug verfolgen kann.
Ich kann nicht schlafen. Nicht, weil kein Bett da ist. Das haben wir auf dieser Reise ja schon gelernt: Ohne das auszukommen. Aber dieser routinemässige Kannibalismus - so routinemäßig, wie wir in Bayern, ach was, in der ganzen Welt, das Fleisch von Tieren essen, oder Milch und Käse.
Ich erinnere mich auch, daß das Fleischstück, das ich da vorhin gefunden habe, endlich wie richtiges Fleisch geschmeckt hat.
Jetzt weiß ich, was ich da gegessen habe.
7.6 Der Ofen und das Fleisch
Ich weiß nicht, wie lange ich gesessen und in der Dämmerung des Küchenraumes gegrübelt habe. Der Koch kommt rüber und macht sich an dem Grillofen zu schaffen. Er spricht mich zunächst nicht an, bis das Feuer einigermaßen brennt. Dann bedeutet er mir, durch weiteres Nachlegen von Holz dafür zu sorgen, daß der Ofen seine volle Leistung erreicht. Dann verschwindet er wieder. Lustlos und widerstrebend komme ich seiner Aufforderung nach. Was da gebraten werden soll, ist ja klar.
Der Schornstein, der sich über dem Abzug befinden muß, scheint länger zu sein. Ich habe ihn von draußen zwar nicht gesehen, aber das heißt nichts. In dem Takelagengewirr habe ich ja fast überhaupt nichts wiedererkannt. Jedenfalls ist der Zug nach kurzer Zeit ganz ordentlich, und das Feuer brennt mit steigender Hitze. Der Raum wird dabei durch den Zug des Schornsteins gut durchlüftet. Ein Wind kommt durch die offenstehende Tür von draußen. Dafür bin ich dankbar, da es in diesem Raum ungemütlich warm ist - wärmer als die Außentemperatur, die ohnehin schon ständig etwas über dreißig Grad beträgt.
Der Stoß des bereitliegenden Brennholzes ist gut getrocknet, und so entstehen weniger und heißere Schwelgase, die dann alle gleich mitverbrennen. Ich sehe, daß das Feuer ungewöhnlich heiß brennt: Es tut in den Augen weh, glühende Holzkohlestücke direkt anzusehen. Ja, natürlich: Wir sind in 10500 Meter Tiefe. Da ist der Druck etwa der vierfache Atmosphärendruck. Vierfacher Sauerstoffpartialdruck. Da muß Feuer schon deutlich anders brennen. Zwar wird dann auch die vierfache Menge Stickstoff miterhitzt - immer unter der Annahme, daß der Stickstoffgehalt dieser Luft derselbe ist wie bei uns oben - aber wahrscheinlich wirkt sich das größere Sauerstoffangebot bei der Verbrennung deutlicher aus.
Ich habe zuviel nachgelegt. Flammenspitzen schießen durch den Eisenrost. So kann man kein Fleisch darauf legen. Was mache ich jetzt?
Es ist mir schon vorher aufgefallen, daß der Ofen aus Holz ist. Eine schwere, schwer brennbare Holzart, vielleicht ein Holz mit einem hohen Mineralgehalt. Die Innenwände des Ofens sind fast steinartig eingeröstet. Wahrscheinlich eine stabile, bewährte Konstruktion. Aber nicht für zu heftige Feuer gedacht. Denn nun beginnen die Ofenwände stellenweise zu qualmen. Ich sehe vor meinem geistigen Auge schon das Schiff in Flammen aufgehen.
Der Koch betritt den Raum wieder, beide Arme voller Fleischstücke. Er ist über das heftige Feuer nicht besonders beunruhigt. Er wirft das Fleisch auf den glühenden Rost, wo es bei der Berührung mit den glühenden Stangen laut aufzischt, und kümmert sich dann um den Ofen selbst. Ein paar Griffe an den seitlichen Feuerungsöffnungen. Jetzt erst sehe ich, daß da Drosselungsklappen vorhanden sind. Hätte ich auch selber drauf kommen können.
Bevor der Koch rausgeht, nimmt er eine lange Zange vom Haken und bedeutet mir, das Fleisch regelmäßig zu wenden. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als genau das zu tun.
Ich kann nicht erkennen, woher die einzelnen Fleischstücke kommen. Die größeren Muskeln sind in mehrere Stücke zerhackt, Sehnen und größere Gefäße sind entfernt worden. Die weiteren Fleischstücke, die der Koch in wenigen Minuten bringt, sind genauso zubereitet. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dann würde ich nicht auf die Idee kommen, daß es sich um Menschenfleisch handelt.
Das Fett fällt in das Feuer, es qualmt. Vielleicht wende ich die Fleischstücke häufiger, als es notwendig ist. Ich will, ich muß meine Sache gut machen - sonst ende ich auch auf diesem Rost. Und das sähe ganz genauso aus wie es jetzt aussieht. Menschenfleisch ist von dem Fleisch der Tiere, die wir selber als Nahrung zu uns nehmen, kaum zu unterscheiden. Für mich als Vegetarier sowieso nicht.
Die Vorstellung, daß Irene oder ich auf einem solchen Rost enden könnten, ohne daß jemals unsere Bekannten und Verwandten etwas über unseren Verbleib oder unser Schicksal erfahren würden, erscheint mir schrecklich. Natürlich weiß ich, daß, im großen Lauf der Weltgeschichte, unser Leben nicht wichtiger ist als das der Menschen, die da vor mir auf dem Feuer brutzeln. Aber das ist eine Abstraktion. Realität ist: Ich will am Leben bleiben, und ich will, daß Irene am Leben bleibt.
Wir müssen flexibel sein. Wenn es zum Überleben notwendig ist, geschlachtete Menschen zum Essen zuzubereiten, dann werde ich das tun. Wenn es notwendig ist, bei Hinrichtungen zu assistieren, wenn es notwendig ist, der Kommandantin zu Diensten zu sein - zu welchen Diensten auch immer - dann werde ich das tun. Das ist hier kein Rechtsstaat. Hier gibt es keine Berufungsinstanz. Moralische Grundwerte müssen jetzt erst einmal zur Seite gestellt werden.
Was glauben wir, was wir da oben für Probleme haben! Parteispenden, getürkte Gutachten über die Sicherheit von Kernkraftwerken, Abtreibungsdiskussion. Was noch? Wann wird es hier etwas geben, was unserem Rechtsstaat und unserer Demokratie nur annähernd entspricht? Wieviel Zeit braucht es, in den meisten dieser Köpfe solche Ideen reifen zu lassen? Jetzt heißt das Geschäft erst einmal 'Überleben'. Ohne rechtsstaatliche Hilfen.
Fast werde ich bei diesem Gedanken etwas stolz. Ein bißchen gesellschaftlichen Fortschritt haben wir doch zustande gebracht, da oben, in den alten, dekadenten europäischen Ländern! Verglichen mit den Verhältnissen hier.
Und der Koch betritt wieder den Raum und wirft weiteres Fleisch auf den Rost, und ich wende brav das Fleisch. Was für eine Laufbahn. Herwig. Diplom der Physik. Fünfzehn Jahre Berufserfahrung im Schreiben systemnaher Software. Ein paar Fachartikel in renommierten Zeitschriften. Auch ein paar S-F-Geschichtchen. Jetzt Schlachter und Küchengehilfe. Wird demnächt lernen, einen Menschen fachgerecht zu zerlegen.
Herwig, wie weit hast du es gebracht!
Es ist vielleicht 21 Uhr, als der größte Teil des Fleisches gar ist. Unter Anleitung des Koches verteile ich die Stücke auf etwa zwanzig Teller. Ist das die Anzahl der derzeitige Besatzung des Schiffes?
7.7 Bedienung bei Tisch
Es gibt noch ein paar pflanzliche Beilagen, aber nach meinen Vorstellungen nicht übertrieben viel. Einen so großen Teil der eigenen Nahrung als Fleisch zu sich zu nehmen gibt Grund zu medizinischen Bedenken, egal, um welches Fleisch es sich nun handelt. Aber die Abwesenheit medizinischer Grundkenntnisse kann ich unseren Gastgebern schon gar nicht vorwerfen. In diesem Punkte sind sie mit den meisten unserer zivilisierter Zeitgenossen in bester Gesellschaft, wie weltweit Hunderte von Millionen oder sogar Milliarden Raucher beweisen, oder den ähnlich hohen Prozentsatz von Menschen, die nicht einmal über rudimentäre ernährungsphysiologische Kenntnisse verfügen.
Wenigstens versuche ich, mir das Aussehen des wurzelartigen Gemüses zu merken, für den Fall, daß wir es einmal in freier Natur suchen und wiedererkennen müssen. Ich wünschte, ich könnte den Koch darüber befragen.
In dem Raum über uns ist Getrappel. Dem Koch folgend verlasse ich die Küche, jeder von uns vier Teller balancierend. Eine steile Treppe bringt uns zu einem langen Mehrzweckraum, der etwa in der Mitte des Schiffes liegt. In diesem Raum sind lange Tische aufgestellt. Alle essen zusammen, Schiffsleitung und Mannschaft. Die Mannschaft, also im wesentlichen Männer, sitzen von der Kommandantin am weitesten entfernt. An diesem Ende der Tafel wird auch geschwiegen. Wenn die Kommandantin und ihre Offiziere miteinander reden, dann haben alle anderen Funkstille.
Natürlich wird das weibliche Ende der Tafel zuerst bedient. Jetzt erst sehe ich, daß Irene neben der Kommandantin sitzt. Sie starrt vor sich hin, blickt gar nicht auf und hat mich noch nicht gesehen.
Der Koch und ich werden praktisch ignoriert, so, wie das bei dem Bedienungspersonal in Restaurants auch bei uns üblich ist. Nur vom unteren Ende der Tafel werden ein paar neugierige Blicke auf den Fremden geworfen, aber wer an Bord etwas darstellt, der täte sich nie dazu herablassen, sich auch nur in Spuren so etwas wie vulgäre Neugier anmerken zu lassen. Schließlich hat man die Situation ja in der Hand, auch wenn da so ein unerklärlicher Fremder auftaucht.
Wir flitzen mehrfach zwischen Küche und Kantinenraum rauf und runter. Der Koch überläßt mir die weitere Verteilung der Fleischteller alleine, nachdem jetzt dafür gesorgt worden ist, daß die Schiffsführung die besten Stücke bekommen hat, und kümmert sich um Getränke.
Die Arbeitsteilung ist nicht sehr geschickt. Zwei Leute brauchen eine ganze Weile, um alle Esser an einer zwanzigköpfigen Tafel zu versorgen. Wer schon hat, ißt und trinkt sofort, wer noch nicht hat, wagt nicht, zu protestieren. Das Getränk, das der Koch in blechernen Bechern serviert, könnte eine Art Wein sein, oder Bier. Es riecht nach beidem, aber ich habe das Gefühl, daß gar kein Alkohol drin ist. Die Männer bekommen Wasser.
Ich habe den Eindruck, daß diese formale Tafel unüblich ist, aber ich weiß nicht, was mich auf diesen Gedanken bringt.
Irene ißt mechanisch. Die geistesabwesende Art, wie sie ißt, verrät mir, daß sie über Einiges nachdenkt, nicht aber über ihr Essen. Also weiß sie noch gar nicht, was sie da ißt, denn das wäre ihr anzumerken - so gut kenne ich meine Frau. Sie hat mich auch immer noch nicht bemerkt.
Während ich arbeite, verfolgt die Kommandantin mich nun doch mit ihrem Blick. Nicht, daß sie mich anspricht - das wäre unter ihrer Würde. Aber man merkt ihr an: Sie möchte alles an Bord und in ihrem Einflußbereich unter ihrer Kontrolle haben. Von Irene hat sie noch nicht allzuviel erfahren - wenn sie tatsächlich Sprachunterricht machen, dann ist da in diesen wenigen Stunden nicht viel rausgekommen. Habe ich doch auch kaum wiedererkennbare Ausdrücke aufgeschnappt, bis jetzt. Ein Jammer, daß die neuronalen Grundlagen des Erlernens einer Sprache nur in den ersten Lebensjahren so gut sind.
Das Gelage ist lang, und es wird tatsächlich alles Fleisch aufgegessen. Der Koch beschäftigt mich wieder mit Saubermachen. Wie wohl der tägliche Rhythmus aussieht? Wir sind um 4 Uhr heut morgen wach geworden, jetzt wird es 23 Uhr. Mir reichts. Ich versuche, dem Koch das klarzumachen. Er zuckt mit den Schultern und geht raus. Heißt das, daß ich schlafen darf?
Es heißt das. Als er wieder reinkommt, bringt er mir eine geflochtene Matte mit. Ich breite sie im Augenblick in meiner Ecke aus. Er interveniert nicht, als ich mich niederlege.
Allerdings hat er weiter in der Küche zu tun. Wenn ich nicht so hundemüde wäre, würde mich das gelegentliche Scheppern vom Schlafen abhalten. Irgendwann muß er doch auch schlafen? Wann ist denn nun die Schlafperiode? Aus der gleichmäßigen Außenbeleuchtung kann man ja überhaupt nichts erkennen.
Kein Thomas Mugridge, denke ich im Einschlafen. Er schikaniert nicht und akzeptiert Fremdartigkeit. Und doch hackt er Menschen auseinander, weil er es schon immer getan hat. Seine Welt, diese Welt: Darinnen kann man Menschen eben essen. Er hat diese Welt genauso vorgefunden, wie alle anderen auf diesem Schiff. Sollte ich mich in der Beurteilung dieser Menschen zurückhalten? Was täten denn wir, wenn wir in diese Welt hineingeboren wären?
Mit dem Gedanken an Irene und ob sie wohl auch endlich schlafen darf, schlafe ich selbst ein.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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