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******** 006. Tag: Donnerstag 95-08-24 ********
Es ist nicht Irene, die mich weckt, sondern ich werde von selbst wach. Dabei bemerke ich rasch hintereinander mehrere Dinge: Irene liegt neben mir und schläft auch, das Feuer ist völlig zusammengesunken und erzeugt überhaupt keinen Rauch mehr, und meine Uhr sagt, daß es Mitternacht ist. Die Umgebungshelligkeit ist wie immer unverändert.
"Sleep on watch. You ought to be shot." stelle ich fest. Irene rührt sich.
"Gut geschlafen?" frage ich bissig.
"Ja." Sie reibt sich die Augen.
"Wir hatten vereinbart, daß erst ich sechs Stunden wach bin, dann du. Ich hatte meine sechs Stunden Wache durchgehalten!"
Rüge erteilt. Irene gibt bar heraus:
"Du hattest vereinbart!"
"Du hattest nicht widersprochen, wie du dich vielleicht erinnern willst!"
"Dann widerspreche ich eben jetzt! Außerdem WAR ich sechs Stunden lang wach. Aber es ist nichts passiert. Deine sechs Stunden und meine sechs Stunden lang nichts! Dann habe ich mich eben entschlossen, noch ein paar Stunden Schlaf drauf zu legen. Wir BRAUCHEN den Schlaf! Du hast ihn auch gebraucht!"
"Und irgend ein Viech, das uns im Schlaf angreift, brauchen wir wohl auch? Irene, wir kennen diese Umwelt nicht! Wir müssen aufpassen! Wir wissen noch nicht, wie man hier am Leben bleibt!"
"Das sind doch Wild-West-Methoden!"
"Was?"
"Dies Wacheschieben! Das hast du bestimmt in irgendwelchen Abenteuerromanen gelesen. Dein Karl May oder so!"
Sie fängt an, unlogisch zu werden. Ich erhebe meine Stimme:
"Erstens ist das nicht mein Karl May, bloß, weil ich vor dreißig Jahren mal den Winnetou oder so etwas gelesen habe. Zweitens ist das Wacheschieben unter den obwaltenden Umständen ein sinnvolles Verfahren, um uns vor Schaden zu bewahren, ganz gleich, wer in welchen Abenteuerromanen so etwas zufällig auch beschrieben hat!"
"Unter den obwaltenden Umständen," äfft sie nach. Längst hat sie sich erhoben, weil man so besser streiten kann. "Unter den obwaltenden Umständen, die gar nicht eingetreten wären, wenn du nicht diese verdammte Höhle inspiziert hättest. Wohl auch etwas, was in einem Abenteuerroman vorkommt!"
"Ja und? Und wenn schon!"
"Wenn du nicht diese Höhle inspiziert hättest, dann säßen wir jetzt nicht hier!"
"Ach ja? Und wie oft habe ich zurückgefragt, ob du wirklich weiter mitgehen willst?"
"Und wann hatte ich da überhaupt eine Wahl?"
"Bis vor den ersten Klettersteig hätten wir die Wahl gehabt! Wir hätten zurückgehen können und am nächsten Tag über das Höllentalplatt absteigen können! Wir wären schon längst zu Hause! Und jetzt haben wir nur noch die Wahl, ob wir überleben wollen oder nicht! Und wenn wir das wollen, dann ist es in dieser Umwelt sinnvoll, daß nur einer zur Zeit schläft! Geht das denn nicht in deinen Kopf rein?"
Der Streit geht noch einige Zeit weiter, ohne daß wirklich neue Gesichtspunkte auftauchen - wie das bei einem Ehekrach eben so üblich ist. Man hat ja gelernt, zu argumentieren, ohne eigentlich genau mit den Gedanken bei der Sache zu sein. Genaugenommen - wenigstens geht es mir so - muß ich mir bei einem solchen Streit nur darüber klar werden, ob es irgendwann einen versönlichen Ausgang geben soll oder ob ich den Streit noch weiter anheizen möchte. Je nachdem wird etwas schärfer oder etwas weniger scharf formuliert, je nachdem werden weitere kontroverse Punkte herausgearbeitet oder unerwähnt gelassen. Provokation bis Beschwichtigung - das Klavier der innerehelichen Kommunikationssteuerung. Man hat ja darauf zu spielen gelernt!
Im Moment habe ich eigentlich keines der beiden Ziele. Das heißt, ich reagiere 'eskalationsneutral': weder besänftigend noch anheizend. Vielleicht muß Irene wirklich auf diese Weise den Frust loswerden. Den Frust über die Anstrengungen, die Gefahren, die verschwindend geringen Hoffnungen, je wieder nach Hause zu kommen, den Frust über die schlechte Ernährungssituation und den Frust darüber, daß es nach dem Aufwachen keinen Kaffee gibt. Man kann es ja verstehen. Aber warum äußern sich die Frauen immer in einem Ausbruch von Gekeife? Und ist meine Vorsicht denn wirklich übertrieben? Die Vorstellung, daß einer der hiesigen Fleischfresser im Schlafe eine Probe von uns abbeißt ist mir überhaupt nicht angenehm.
Da wir nichts zum Frühstück haben, und da dem Krach eine Periode weiteren Schweigens folgt, marschieren wir nach der Morgentoilette gleich los. Natürlich folgen wir weiterhin dem Fahrweg.
Die Kommunikationsfreiheit und die relative Ausgeschlafenheit - da hat Irene recht gehabt, das haben wir wirklich gut gebrauchen können - ermöglichen den leichten Fluß der Gedanken, den Zustand, den ich bei Wanderungen eigentlich liebe. Und meine Gedanken kreisen um diese großen Höhlen und ihre Beschaffenheit.
Erdbebenwellen und die Stoßwellen von unterirdischen Kernexplosionen haben schon seit vielen Jahrzehnten erlaubt, das Innere der Erde genau zu vermessen, die Schichtungen der Gesteine mit ihren wechselnden physikalischen Eigenschaften wie Dichte, Zähigkeit und Temperatur. Höhlen diesen Ausmaßes, mit einem nach Kubikkilometern messenden Volumen, vielleicht auch noch viel mehr, und das unter dem Boden einer Industrienation, die sollten eigentlich längst entdeckt worden sein. Oder sind die Daten falsch interpretiert worden, weil die Erklärung mit großen Höhlensystemen einfach nicht glaubhaft war? Man weiß ja, wie der Wissenschaftsbetrieb funktioniert: Nicht mehr die Suche nach der Wahrheit, sondern das Erreichen des nächsten akademischen Grades oder das Anbohren von Fördergeldquellen, das sind die primären Motivationen des Durchschnittswissenschaftlers. Wer wird sich denn da mit der Vermutung solch großer Höhlensysteme leichtfertig lächerlich machen und die eigene akademische Karriere riskieren?
Oder sind die Höhlen bekannt gewesen, und man hat, aus irgendwelchen Gründen, darauf verzichtet, ihre Existenz zu veröffentlichen? Aber aus welchen Gründen?
Neben der Frage, warum diese Höhlen sich der geologischen Forschung bis jetzt entzogen haben, steht natürlich die noch viel wichtigere Frage ihrer Entstehung. Vulkanische Prozesse pflegen, wenn überhaupt, nicht so große Höhlen zu erzeugen, und auch die gewaltigsten Karsthöhlen sind immer noch vergleichsweise mickrig. Auf Lanzarote haben wir Höhlen gesehen, die durch äußerlich erkaltende Lavaströme entstanden sind. Die noch flüssige Lava ist dann unter der Kruste weiter - und später weggeflossen. Darauf wurden diese hohlen Röhren dann von weiteren Ejecta des nahen Vulkanes bedeckt, und so entstanden diese viele Kilometer lange Höhlen. Allerdings gibt es hier keinen Hinweis auf ein analoges Entstehen. Soweit meine bescheidene geologische Urteilsfähigkeit das entscheiden kann.
Was ist mit dem langsamen Driften der Kontinentalschollen gegeneinander: Könnte das im oberen, nicht-plastischen Teil des Erdmantels die Entstehung solcher Höhlen bewirken? Und selbst, wenn diese Erklärung greift, bleibt immer noch die Tatsache, daß Mitteleuropa sich NICHT am Rande einer solchen Kontinentalscholle befindet.
Dann: Wie ist es mit der Stabilität: Die Festigkeit von Gestein ist nicht beliebig groß. Viel höher, als die größten Berge auf der Erde tatsächlich sind, können sie unter den Bedingungen der Erdschwere gar nicht sein - sie würden unter ihrem eigenen Gewicht zerfließen. Auf dem Mars etwa, wo die Schwerkraft nur ein Drittel so groß wie auf der Erde ist, können Berge tatsächlich dreimal so hoch werden, wie der Mons Olympicus mit seinen 26 000 Höhenmetern beweist.
Auf jeden Fall haben diese Höhlen eine Größe, die an der Grenze dessen ist, was man mit den normalen Gesteinen überhaupt erreichen kann. Die Gefahr, daß Einstürze vorkommen, ist deshalb durchaus real. Mir drängt sich da das Bild des Hängenden Berges auf, unter dem wir auf der Seilbrücke vorbeigeturnt sind. Was hindert diese gigantische Felsmasse, abzubrechen und herunterzufallen? Und wie lange hängt sie schon so?
Und wiederum: wenn solche Ereignisse in geschichtlicher Zeit eingetreten wären, dann wüßten wir das. Man kann in Mitteleuropa nicht einige Milliarden Tonnen Gestein einige Kilometer irgendwo herunterfallen lassen, ohne daß jemand das merkt. Es hätte verheerende Erdbeben zur Folge.
Nein, das Abbrechen solcher Gesteinsmengen ist hier ein seltenes Ereignis. Wenigstens ein Trost.
Die Existenz einer belebten Welt hier unten kann ich mir allerdings wenigstens teilweise zusammenreimen und sogar die ständige Beleuchtung. Überall auf der Welt fließt aus dem Erdinnern ein steter Strom von Wärme an die Oberfläche. Es handelt sich so größenordnungsmäßig um einige Watt pro Quadratmeter, also etwa ein Prozent von dem, was die senkrecht einfallende Sonne an Energie liefern kann. Das ist nicht ganz wenig, wenn man bedenkt, daß jedes Watt pro Quadratmeter auf einem Quadratkilometer bereits einem Megawatt entspricht.
Dieser Wärmestrom, der normalerweise für die in der Tiefe zunehmende Temperatur sorgt und der durch den radioaktiven Zerfall von instabilen Isotopen im ganzen Erdkörper erzeugt wird, könnte eine größere Höhle nicht ohne weiteres überwinden, denn eine Höhle bildet eine hervorragende Isolierung. Allerdings bildet sich in einer hinreichend großen Höhle, wenn dort genug Wasser vorhanden ist, ein Wettergeschehen aus, das den Wärmetransport von den tieferen Teilen der Höhle zu den höheren übernehmen kann. Und zumindestens ein Wettergeschehen ist tatsächlich das, was wir um uns herum beobachten.
Und damit komme ich zur letzten Erklärung, die allerdings noch sehr spekulativ ist: Das beständige Dämmerlicht in der Höhle, das manchmal direkt in den Wolken oder im Nebel erzeugt zu werden scheint.
Ich nehme an, daß das tatsächlich der Fall ist. In den Wolken finden Phasenwechsel des Wassers zwischen gasförmig und flüssig statt. Was, wenn tatsächlich ein Typ Bakterien oder schwebefähige Algen, auf jeden Fall ein Kleinstlebewesen, aus diesem Phasenwechsel Energie gewinnen kann und dabei Licht aussendet? Dieses Licht könnte dann die Photosynthese der übrigen Pflanzenwelt antreiben, wenn auch nicht mit derselben Produktivität wie das bei uns oben in dem sehr viel helleren Sonnenlicht möglich ist. Vielleicht gibt es aus diesem Grunde auch nur Kaltblüter. Jedenfalls haben wir auch bei dem Raubtier kein Zeichen irgendeiner eigenen Körperwärme feststellen können, fällt mir jetzt im nachherein auf.
Aber würde das nicht sehr viel erklären? Der Stand der Evolution, der hinter dem zurückgeblieben ist, was wir auf der Erdoberfläche kennen - auch wenn dieses ein Vorurteil sein mag, aber wir haben den Saurier ja gesehen - und der generell langsame Stoffwechsel der Lebewesen hier unten, wie wir es bei dem Raubtier erlebt haben.
Auch diese Hypothese muß ich erst einmal zu den Akten legen. Es gibt ja noch viel mehr Fragen. Zum Beispiel: warum sind diese Höhlen nicht schon längst mit Wasser vollgelaufen? Überall gibt es im Fels Wasseradern. Daß gerade diese Höhlen hermetisch abgeriegelt sein sollte erscheint mir unglaubhaft. Durch eine solche Verbindung zur Erdoberfläche sind wir ja heruntergekommen. Andererseits sind prinzipiell Mechanismen denkbar, die Wasser wieder nach oben befördern, etwa der Geysir-Mechanismus, wie er in jeder Kaffeemaschine angewendet wird.
Dann kann es auch sein, daß diese Höhle einfach zu groß ist, um während geologischer Zeiträume mit Wasser vollgelaufen zu sein.
Das ist natürlich auch eine Frage, die mich brennend interessiert: die nach der Größe der Höhle. Die sich immer mehr weitende Aussicht, als wir uns dem Level der Wolkenoberseite näherten, schien viele Dutzend Kilometer nahezulegen, und unser Weg, der immer noch abwechselnd horizontal und leicht bergab geht, scheint auch auf noch eine noch größere Tiefe hinzuweisen.
6.1 Obstgarten
Die Vegetation wird dichter und urwaldartiger. Dann aber, um 2 Uhr morgens, in 5200 Meter Tiefe, passieren wir ein Gebiet, in dem dieser Urwald vor langer Zeit gerodet worden scheint. Beidseits des Fahrweges gibt es fußballfeldgroße Gebiete, in denen das Gestrüpp nicht höher als kniehoch ist. Dazwischen stehen isolierte Bäume und wir finden auch niedrige, verfallene und überwachsene Mauern.
"Weißt du, woran mich das erinnert?" frage ich Irene, "an einen verwilderten Obstgarten!"
Das müssen wir uns genau ansehen. Schließlich hatten wir heute noch kein Frühstück.
Auf den ersten Blick sind die meisten Bäume lebensmittelmäßig nicht interessant. Jedenfalls finden wir nichts, was einer Frucht ähnlich sieht. Das wäre vielleicht auch nicht gerade das, was wir suchen - ich erinnere mich noch nur zu gut an die Ätzfrucht.
Dann aber deutet Irene auf einen vermoderten Holzstapel: "Guck mal! Den hat jemand aufgestapelt! So fällt Holz nicht per Zufall zusammen!"
Sie hat recht. Dieser Holzstapel ist zwar vermodert, aber daß er überhaupt noch existiert heißt ja nichts weiter, als daß vor einem Zeitraum, den Holz hier zum Vermodern braucht, intelligente Wesen hier waren. Auch die Auswahl des Holzes deutet darauf hin: es handelt sich um astlose Holzpfähle von etwa fünf bis zehn Zentimeter Durchmesser und neunzig Zentimetern Länge.
"Ob das ein Zaun werden sollte?" überlege ich laut. Wir durchsuchen den 'Obstgarten' weiter.
In einer Bucht dieser gerodeten Fläche, die von dem Fahrweg nicht einsehbar ist, finden wir Mauerruinen, die auf ein Gebäude schließen lassen. Sogar Fensterhöhlen kann man identifizieren. Die Hütte muß zwei Räume gehabt haben. Von einem Dach ist nichts mehr zu sehen, und die Fläche zwischen den Mauern ist genauso mit niedrigem Gestrüpp bewachsen wie der Boden außerhalb der Ruine. Hier deutet nichts auf eine Benutzung in den letzten Jahren hin.
"Vielleicht vergammelt Holz hier sehr langsam. Oder diese Holzarten vergammeln sehr langsam." versuche ich Irene zu beruhigen, "Vielleicht war schon seit Jahrhunderten keiner mehr hier!"
"Langsam vergammeln? Bei diesem feuchten Klima?" zweifelt sie. Wir suchen weiter.
Natürlich, denke ich, ist es plausibel, zu glauben, daß feuchtes Holz hier zumindestens ähnlich schnell vergammelt wie unter denselben Bedingungen auf der Erdoberfläche. Aber mehr als plausibel ist es nicht. Ich weiß nicht, was für Bakterien und Mikrolebewesen für das Zersetzen von organischem Material zuständig sind, aber das müssen hier durchaus nicht dieselben sein wie bei uns oben. Weiß man etwas über die Bakterienaktivität während der geologischen Epochen, als Saurier die Erdoberfläche unsicher machen? Trias, Jura und Kreide, wie diese Erdzeitalter heißen, hatten ja nicht nur eine andere Fauna, was die Großlebewesen betrifft. Auch die Kleinstlebewesen müssen auf einer anderen Entwicklungsstufe gestanden haben. Wer weiß, vielleicht brauchte damals ein Saurierkadaver Jahrzehnte, um bis auf die Knochen zu skelettieren, und Holz brauchte Jahrhunderte, um vollends zu verfallen.
Da fällt mir gleich der Ansatz einer neuen Theorie zum Aussterben dieser Riesenechsen ein: Wenn damals eine so lange Zeit zum Verwesen eines Leichnams nötig war, dann müssen auf der Erdoberfläche mehr tote als lebendige Saurier herumgelegen haben. Ist es der Fortexistenz einer Rasse hinderlich, wenn deren Mitglieder so viele Leichen der eigenen Spezies zu sehen bekommen?
Das wird jetzt zu spekulativ. Es wäre natürlich schon ein Zeitvertreib, sich neue Theorien über das Aussterben der Saurier auszudenken. Aber Irene ist für derartige Diskussionen nicht zu haben, außerdem weiß sie nicht genügend in den Naturwissenschaften Bescheid, und außerdem sind die Saurier ja gar nicht ausgestorben, wie wir jetzt wissen. Hier jedenfalls nicht.
Wir werden ja noch mehr darüber erfahren, wenn wir uns in dieser Höhle länger aufhalten sollten, und die Biosphäre hier tatsächlich genau derjenigen entsprechen sollte, die in vergangenen Erdzeitaltern auf der Erdoberfläche vorhanden war. Was ich nicht glaube. Die Evolution macht nie mehrmals genau die gleichen Erfindungen. Diese Biosphäre ist einmalig.
Jedenfalls gibt es Holz, und irgendjemand verwendet Holz, und dieses Holz vergammelt auch, wenn man es zu lange herumliegen läßt, wenn wir auch nicht wissen, wie schnell, und es gibt weniger Insekten, als man in einem derartig schwülen Klima erwarten würde, und es gibt Saurier und bösartige, kleine, beißfreudige aber langsame Tiere und Beeren mit schnell ätzenden Säften. Ich weiß nicht, ob ein Biologe aus diesen Informationen, die wir schon haben, genauere Schlüsse über diese Biosphäre ziehen könnte.
Es zeigt sich, daß diese gerodeten Flächen noch umfangreicher sind als es zuerst den Anschein hatte. Ich muß darauf achtgeben, daß wir nicht die Orientierung verlieren und jederzeit zum Fahrweg zurückfinden können. Da der Fahrweg immer noch ungefähr nach Norden oder vielleicht auch nach Nordosten tendierend führte und wir den östlichen Teil dieser gerodeten Flächen untersuchen, muß ein Marsch nach Westen uns jederzeit zum Fahrweg zurückbringen. - Hoffentlich geht uns der Kompaß nicht verloren! Bei der gleichmäßigen Beleuchtung aus allen Richtungen ist ein Orientieren auf andere Weise nicht möglich.
Wir finden weitere Stellen, an denen offenbar bearbeitete Holzpfähle liegengelassen worden sind, und auf einer sehr kleinen Lichtung finden wir zwei große, eingegrabene Holzpfähle - fünf oder sechs Meter hoch, zwanzig mal fünf Zentimeter im Querschnitt. Etwa fünfzig Zentimeter unter dem oberen Ende dieser Holzpfähle ist eine Kerbe, die den Querschnitt der Pfähle auf zwanzig mal zweieinhalb Zentimeter reduziert. Weitere Holzpfähle der gleichen Größenordnung liegen auf dem Boden. Wozu das ganze gut sein sollte ist nicht ersichtlich. Pfahlbauten? Das Ganze sieht unfertig aus.
Wir entschließen uns, zum Fahrweg zurück zu gehen. Dabei geschieht wenigstens noch etwas erfreuliches: An einem niedrigen, palmwedelartigen Strauch hängen Stauden kleiner, gelblicher Beeren, nicht größer als Maiskörner. Routinemäßig probiere ich. Diese Beeren geben keinen ätzenden Saft von sich, wenn man sie öffnet, sondern lassen erkennen, daß sie aus zwei Keimblättern aufgebaut sind, wie das auch bei vielen bekannten Früchten der Fall ist. Der Geschmack ist mehlig und neutral. Wir entschließen uns, soviele zu pflücken und in unseren Rucksäcken mitzunehmen, daß, wenn sie sich als eßbar herausstellen sollten, mehr als eine Mahlzeit gesichert ist. Das Pflücken geht schnell, weil an einer Staude einige hundert Gramm dieser Beeren hängen. Dann erreichen wir wieder den Fahrweg. Es ist 3 Uhr, und wir marschieren weiter wie bisher. Während wir marschieren, testen wir die Beeren. Sie scheinen zu sättigen und keine toxischen Symptome hervorzurufen. Wenn das wahr ist, dann brauchen wir nur noch häufiger diese Pflanze zu finden, und viele unserer Probleme sind gelöst! Irene tauft die Pflanze 'Maisbeerenbusch'. Na gut. Irgendeinen Namen muß sie ja haben.
Um 4 Uhr erreichen wir eine Tiefe von 5400 Meter. Der Weg biegt langsam nach Osten ab, und die Ebene geht wieder in einen Hang über, der nach Norden in unbekannte Tiefen abfällt. Sowohl der Weg als auch der Hang nehmen an Steilheit zu. Aussicht gibt es leider keine, da wir nach wie vor von dem leuchtenden Nebel eingehüllt werden. Die leichten Nieselregenschauer nehmen an Häufigkeit zu.
Um 5 Uhr Morgens haben wir 5700 Meter Tiefe erreicht. Der Hang ist nun so steil, daß der Urwald sich gerade eben halten kann. Gelegentlich sind schon wieder Felsen zu sehen, und der Weg läßt an vielen Stellen erkennen, daß tief in den Felsen hineingearbeitet werden mußte, um ihm Platz zu verschaffen.
Dann teilt sich der Weg. Die Abzweigung biegt rechtwinklig nach Norden ab und führt auf einen Grat hinaus. Wie es weitergeht, verbirgt der Nebel. Geradeaus nach Osten geht es so weiter wie bisher.
"Hm." sage ich, "ich möchte zu gerne wissen, wo der Weg hingeht. Dieser Grat sieht so aus, als ob er demnächst zu Ende ist. Vielleicht kann man das nach einigen hundert Metern schon erkennen!"
"Und was bringt uns das?" fragt Irene.
"Alles, was wir in Erfahrung bringen, 'bringt uns etwas'. Und mit je weniger Aufwand wir etwas in Erfahrung bringen, desto besser. Wenn wir nichts besonderes finden, gehen wir hierher zurück und dahin weiter." Dabei deute ich auf den Weg nach Osten.
"Kann ich nicht hier bleiben?" fragt Irene.
"Mir wäre es lieber, wenn wir zusammen blieben."
"Aber ich bin schon wieder müde. Du kannst ja zurückkommen und mich holen, wenn wir wirklich da weiter gehen wollen!"
Sie tendiert eindeutig für den weiteren Weg bergab. Na gut, warum soll ich ihr keine Ruhepause gönnen? Immerhin, das Gelände ist für einen Großsaurier zu steil, und wenn die Raubtierfauna sich durchgehend so langsam bewegt wie wir das gesehen haben, dann kann sie sich leicht vor jedem Raubtier in Sicherheit bringen.
"Okay," sage ich, "Ich gebe mir eine Stunde, ja? Das heißt, nach einer halben Stunde kehre ich um. Wahrscheinlich schon viel früher. Du bleibst hier und paßt nur auf, daß dir nichts passiert."
"Willst du den Rucksack hierlassen?"
"Nicht so gerne. Habe gerne alles dabei. Außerdem wird dann unser Ermüdungsgrad symmetrischer!"
6.2 Golgatha
Sekunden später bin ich auf dem Weg. Ohne Irene gehe ich einen Schritt rascher. Dabei merke ich, wie sehr die Temperatur zugenommen hat. Ich gerate in Schweiß.
Die Hänge dieses Grates sind schon nach hundert Metern Weges zu steil, um Pflanzenwuchs zu ermöglichen. Vor mir und hinter mir scheint sich der Weg auf dem Grat im Nebel zu verlieren. Nachdem der Weg die ersten hundert Meter an Höhe verloren hat, steigt er nun wieder an. Seine Qualität und seine Breite nehmen nun deutlich ab - ein Jeep könnte hier nicht mehr fahren. Ich habe den Eindruck, daß auch dieser Weg erst aus dem Grat herausgearbeitet werden mußte.
Als ich erst zweihundert Meter zurückgelegt habe, schält sich vor mir ein breiter Buckel aus dem Grau, allerdings ein Buckel, dessen Hänge senkrecht abfallen. Das Plateau auf dem Buckel scheint kaum bewachsen. Als ich näher trete, schälen sich geometrische Formen aus dem Nebel. Solide, senkrechte Pfähle, mit waagerechten Querbalken daran, die entfernt aussehen wie ...
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Ich glaube das nicht, was ich sehe. Welche sonderbaren Umstände haben die 2000 Jahre alten, barbarischen Vollstreckungssitten wieder zum Leben erweckt?
Als Bewohner Bayerns ist man den Anblick von Kruzifixen gewohnt. An einzelstehenden Bäumen findet man sie, und an Weggabelungen. Im Allgemeinen tragen sie ein Bild des Heilandes, und gelegentlich sind auch noch weitere Figuren einer solchen Kreuzigungsdarstellung zugeordnet, die ich mangels genauer Kenntnis der Bibel nicht identifizieren kann.
Diese Darstellungen sind Ausdruck der religiösen Gefühle der Menschen und aus der Tradition und dem Wertesystem des Christentums und der Biographie seines Begründers heraus zu verstehen. So nimmt auch niemand daran Anstoß, daß es sich um die Darstellung einer grausamen Hinrichtungsmethode handelt. Niemand aus dem europäischen Kulturkreis käme auf die Idee, hinter solchen Darstellungen etwa Schadenfreude oder Sadismus zu vermuten. Deshalb haben wir uns an die Kreuzigungsdarstellungen gewöhnt, deshalb, und weil man sich sowieso so leicht an alles gewöhnt.
Aber in eine echte Kreuzigung hineinzugeraten ist etwas anderes. Diese Kreuze da vorne sind keine religiösen Darstellungen. Sie sind groß - fünf bis sechs Meter hoch, der Querbalken ist einen halben Meter unter dem oberen Ende befestigt und über zwei Meter lang, passende Scharten verkeilen die beiden Holzteile miteinander, Seile verhindern das Auseinanderrutschen.
Die Kadaver - menschliche Kadaver - sind mit Seilen befestigt, wobei die Seile die Zeit besser überstanden haben als die Verurteilten. Diese sind in den verschiedensten Stadien der Mumifizierung oder Verwesung. Einige Leichen sind teilweise schon aus der Seilfesselung herabgefallen. Auf dem Boden des Kreuzigungsplateaus liegen deshalb viele Leichenteile und noch mehr Knochen, die schon keinerlei Weichteilreste mehr aufweisen.
Vorsichtig betrete ich das Plateau, mein gezogenes Messer umklammernd. Zwei Vögel fliegen mit schwerem Flügelschlag von einem der Kreuze weg. Ich betrachte die Hingerichteten genau, zwinge mich dazu. Nicht, daß ich vor den Toten Angst hätte. Aber der Schreck ist mir allgemein in die Glieder geschossen, und dabei ist es ein gutes Heilmittel, eine Waffe in der Hand zu halten. Außerdem besteht ja auch die Möglichkeit, einem lebenden Wesen zu begegnen. Obwohl ich nicht weiß, wie ich mich gegenüber einem ganzen Hinrichtungskommando wehren sollte.
Das Plateau ist nach allen Seiten von steil anfallenden Wänden begrenzt. Der Weg ist damit zu Ende. Ich kann mit einem Blick übersehen, daß ich hier der einzig Lebende bin. Trotzdem suche ich das ganze Plateau ab.
Es sind elf stehende Vollstreckungskreuze. Davon sind zwei unbenutzt. Auf einem Haufen an der Seite liegen weitere sieben Kreuze gestapelt, außerdem liegen da etliche Holzpfähle durcheinander, die vielleicht einmal Bestandteil eines Vollstreckungskreuzes waren. Weiterhin liegen am Rande des Plateaus, achtlos auf einem Haufen, Seilstücke verschiedener Länge.
Dann gehe ich den Rand des nur etwa 50 Meter durchmessenden Plateaus ab. Ich habe den Verdacht, daß man gelegentlich, wenn hier zuviele Leichenteile rumliegen, das Zeug einfach alles in die Tiefe wirft. Es weist nichts darauf hin, aber dafür finde ich einen Pfad, genau gegenüber der Stelle, an der ich das Plateau vom Gratwege aus betreten habe. Dieser Pfad windet sich abenteuerlich die senkrechte Nordwand hinunter. Die Bewohner dieser Welt scheinen ihren Spaß an höhenschwindelfähigen Situationen zu haben. Ich lasse meinen Blick noch einmal über das ganze Plateau gleiten - Naja, Höhenschwindel ist offenbar nicht das einzige, woran sie Spaß haben.
Jedenfalls habe ich alles gesehen. Deshalb mache ich mich wieder auf den Rückweg. Es dauert keine zwei Minuten, bis ich wieder an der Weggabel bin, an der Irene auf mich wartet.
"So schnell?" wundert sie sich. Mit knappen Worten erzähle ich ihr, was ich gesehen habe.
"Wenn du es nicht glaubst, dann gehen wir nochmal zusammen hin und sehen es uns an! Es ist nicht weit!" beende ich meinen Bericht. Sie beschließt, mir lieber zu glauben.
"Aber was nun?" fragt sie ratlos.
"Ich weiß nicht." sage ich, genauso ratlos. "Und schon gar nicht weiß ich, womit man diese Leute so auf die Palme bringt, daß sie einen auf diese Weise bestrafen. Wenn wir ihnen begegnen sollten, dann müssen wir verdammt vorsichtig sein. Übrigens, erinnerst du dich an die großen Holzpfähle im 'Obstgarten'? Das müssen auch Vollstreckungskreuze gewesen sein. Wesentlich ältere."
Nach einigen weiteren Erörterungen, die absolut keine neuen Gesichtspunkte bringen, setzen wir unseren Weg fort. Was bleibt uns auch sonst übrig?
Wir marschieren schweigend. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Wahrscheinlich denkt Irene an ähnliches wie ich: Die vielen Methoden, mit denen diese Welt uns ans Leben kann: Abstürzen, Verhungern, vergiftet werden, gefressen werden, hingerichtet werden, was noch? An Altersschwäche sterben, wenn wir hier nicht mehr rauskommen sollten. Der Vollständigkeit halber. - An Langeweile sterben ist eher unwahrscheinlich.
Der Hang wird immer steiler, und auch der steile Fahrweg belastet unsere Knie nicht unerheblich. Um 7 Uhr unterschreiten wir eine Tiefe von 6000 Metern. Der Weg windet sich jetzt an einer senkrechten Wand ohne Vegetation herunter. Erstmalig werden wieder kurze Wegstücke im Tunnel geführt, so wie wir das schon kennen. Das ist uns durchaus angenehm, da wir immer häufiger von plötzlichen, warmen Schauern durchtränkt werden. Unsere ganze Ausrüstung ist schon feucht, und wenn diese Regenhäufigkeit so bleibt, dann wird die Feuchtigkeit den letzten Winkel unserer Rucksäcke erreichen.
Nur wird der Hang allmählich überhängend, was sich zunächst darin äußert, daß wir wieder seltener von Regentropfen erreicht werden. Aber überall dort, wo der Weg noch außen am Felsen entlang führt, wo er also in Form einer großen Rille aus dem Felsen herausgearbeitet worden ist, kann man nur Zentimeter neben einem grauwirbelnden Abgrund gehen - es gelingt nicht mehr, die Felswände unterhalb des Weges und unterhalb des eigenen Standpunktes zu sehen. Da geht es einfach in die Tiefe, senkrecht hinunter in den Nebel hinein.
Der Winkel der Überhangneigung überschreitet 45 Grad. Als wir um eine Biegung herumgehen, stehe wir vor einer neuen Alptraumkonstruktion: Der Weg geht wieder in eine Hängebrückenkonstruktion über.
Diesmal jedoch ist die Konstruktion für die Benutzung durch Wagen entworfen. Man stelle sich stabile Holzplanken vor, vierzig bis fünfzig Zentimeter breit und fünf Zentimeter dick. Davon jeweils zwei parallel, im Abstand der Räder eines gewöhnlichen PKWs. In Abständen von etwa acht Metern gibt es eine Querplanke, die diese beiden Fahrspuren in konstantem Abstand hält.
Diese ganze Spur ist nach Art einer Hängebrücke an Seilen aufgehängt. Allerdings führen diese Seile vom Rand der Fahrspur nicht senkrecht nach oben wie bei einer gewöhnlichen Hängebrücke, sondern in einem Winkel von wechselnd 30 bis 45 Grad nach außen. Dabei enden diese Trageseile entweder an massiven Eisenkrampen, die in die Felsdecke geschlagen worden sind, oder sie sind mit einem dicken Trageseil verbunden, das einen weiten Abstand überspannt und seinerseits dann um so fester mit dem Felsen verbunden ist.
Die verwendeten Seile sind nicht aus Stahl, so wie bei der Seilbrücke, die wir schon überwunden haben. Wahrscheinlich wegen der Feuchtigkeit. Die ganze Anlage macht einen intakten und gewarteten Eindruck - da habe ich schon Schlimmeres erlebt, etwa in Schottland auf der Insel Skye: Das war eine Seilbrücke, aus der Fetzen von Seilstücken und ganze Planken heraushingen. Das ist hier überhaupt nicht der Fall.
Ich lese Uhrzeit und Höhenmesser ab. Es ist 8 Uhr, und wir sind in 6200 Meter Tiefe.
"Müssen wir da hinüber?" fragt Irene.
"Ja. Aber wir können durchaus eine Pause machen. Wir sind schon acht Stunden unterwegs. Allerdings weiß ich nicht, wo wir uns hier verstecken können, wenn jemand kommt."
"Ich bin noch nicht müde. Aber Pause ist okay!" strahlt Irene mich an. Also entschieden: Wir machen eine Pause.
6.3 Hängestraße
Es ist eigentlich nicht gefährlich. Die Planken sind nie besonders steil, und fünfzig Zentimeter Breite ist eigentlich ausreichend, um sicher darauf zu gehen. Die Trageseile sind allerdings außerhalb der Reichweite der Hände - Festhalten geht nicht. Und die Fahrspuren zu wechseln ist auf den nur zwanzig Zentimeter breiten Abstandhaltern, deren Festigkeit wir auch nicht kennen, nicht anzuraten, und auf den Trageseilen, die unter beiden Fahrplanken durchgeführt sind, trauen wir uns auch nicht zu balancieren. Wir sind ja keine Seiltänzer. Springen kommt auch nicht in Frage. Wir benutzen deshalb beide die linke Fahrspur und sind damit für die gesamte Länge der Brücke darauf festgelegt.
Die eine Stunde Pause, in der wir den größten Teil unseres Maisbeerenvorrates verfuttert haben, hat uns gut getan. Das ist auch notwendig, denn jetzt ist Konzentration angesagt.
Die Brücke schwankt kaum merkbar, während wir auf ihr gehen. Der weit überhängende Felshang entwickelt sich jedoch bald zu einer unebenen Felsdecke. Eine merkwürdige Landschaft: Felsenebene im Nebel, nur eben auf dem Kopf stehend.
Die Brücke - oder der Hängeweg, oder wie man sonst noch eine solche Konstruktion nennen mag, man müßte sich wirklich mal weitere Bezeichnungen ausdenken - ist lang, und langsam verlieren wir weiter an Höhe. Der Weg schlängelt sich um alle größeren Unebenheiten der Felsdecke herum, jeder konstruktiven Brückenbauherausforderung, die man nicht unbedingt annehmen muß, ausweichend. Ich sehe selten auf den Höhenmesser, denn ich möchte ihn auch nicht verlieren: Was uns hier aus der Hand fällt, das sehen wir nie wieder, wenn es nicht zufällig auf der Planke liegenbleibt. Gefährlicher: In einer Reflexbewegung, um den Gegenstand aufzufangen, könnte man das Gleichgewicht verlieren.
Um 10 Uhr haben wir eine Tiefe von 6350 Metern erreicht, um 11 Uhr sind es 6500 Meter. Phantastisch: Diese Brücke zieht sich schon etwa acht Kilometer hin! Allmählich bedauern wir, daß wir vorher keine ausgedehntere Pause gemacht haben.
Dann geschieht endlich etwas Neues: Wir erreichen eine Abzweigung. In rechtem Winkel zu unserem Weg zweigt eine Hängebrücke gleicher Bauart von unserem Kurs ab. Noch innerhalb der Sichtweite, die der dünne Nebel uns läßt, sehen wir, daß der Abstand zwischen den Planken des abzweigenden Weges und der Felsdecke geringer werden. Wir entschließen uns, dem nachzugehen.
"Hoffentlich nicht wieder eine Hinrichtungsstätte!" sagt Irene.
"Wohl kaum. Der ganze Weg ist doch eine Hinrichtungsstätte: Man braucht die Delinquenten ja nur runterzuschubsen!"
"Du hast eine perverse Phantasie!"
"Ich denke nur an das naheliegende!" wehre ich mich, "auch für eine paranoid grausame Gesellschaft gilt, daß unnötige Anstrengungen vermieden werden. Wenn also irgendjemand den Aufwand tätigt und die Delinquenten bis zu der Kreuzigungsstätte bringt, die ich gesehen habe, dann ist es ziemlich sicher, daß hier nichts dergleichen geschieht!"
"Ausgenommen den Fall, daß hier die Hinrichtungsstätten so häufig sind wie bei uns die Straßenschilder." erwidert sie. Ich weiß darauf nichts zu sagen. Hat es nicht auch in Mitteleuropa Zeiten gegeben, in denen der Galgen am Dorfausgang ein vertrauter Anblick war?
Wir brauchen dem abweigenden Weg nicht lange zu folgen, um herauszukriegen, worum es sich handelt: Als die Planken der Felsdecke näherkommen, öffnet sich dort ein drei Meter breites und vielleicht siebzig Meter langes Loch. In diesem Loch steigen die Planken über das Niveau der Felsdecke an. Wenig später stehen wir in einer Höhle, die nur spärlich durch das Licht, das durch das längliche Loch von unten hereindringt, erleuchtet wird. Für eine weitergehende Erforschung dieser Höhle müßten wir unsere Dynamolampen auspacken.
Doch das ist wohl unnötig. Ich sehe, worum es sich handeln könnte:
"Eine Straßenmeisterei!" sage ich und deute auf die Materialien, die auf dem Felsboden, der im Durchschnitt nicht mehr als ein Meter dick zu sein scheint, aufgestapelt sind: Holzplanken, Seilrollen und zackige, schwere Metallteile.
"Wir könnten uns jetzt vielleicht mit Seilen versehen!" überlege ich laut.
"Wenn du glaubst, daß ich jetzt anfange, noch eine Seilrolle zu schleppen, dann hast du dich geschnitten!" protestiert Irene.
"Schon gut! Behalten wir die Idee im Hinterkopf - für den Rückweg."
Wenn wir überhaupt jemals wieder hier vorbeikommen, füge ich im Stillen hinzu, aber ich behalte es für mich. Wir verlassen die Straßenmeisterei oder die Brückenmeisterei-Höhle wieder und folgen wenig später wieder unserem gewohnten Weg, der Hängebrücke entlang.
Zu spät denke ich daran, daß ich mir die Metallteile hätte genauer ansehen müssen - Gußeisen, oder Schmiedeeisen, oder gar Stahl? Korrodiert oder nicht? Es ist immer mein Fehler, nicht genau genug zu beobachten. Und gerade hier sollten wir alles in Erfahrung bringen, was man durch bloßes Beobachten erfahren kann. Wer weiß, wann es uns nützlich sein kann. Aber dann habe ich auch gleich wieder die Beruhigung für mein Gewissen: Es war in dem Loch ja sowieso zu dunkel.
"Ist der Wind nicht stärker geworden?" fragt Irene nach einer Weile schweigenden Marschierens.
"Hmh. Weiß nicht." Ich habe tatsächlich nicht darauf geachtet, auch darauf nicht. Aber jetzt, wo Irene es sagt, kommt es mir auch so vor. Allerdings ist bei der schwülen Hitze jeder Luftzug angenehm.
Die Brücke macht Geräusche. Als wir losgingen, war nur gelegentlich das Knarren von Seilen zu hören, das von Knoten ausging oder von den Stellen, wo die Planken von den Seilen getragen werden. Die Konstruktion ist so stabil, daß unser Gewicht praktisch keine Rolle spielt. Jetzt aber gehen von der gesamten Länge der Brücke Geräusche aus, die an ein altes Segelschiff erinnern, das in einem leichten Wind an der Ankerkette schwoit. Ein Segelschiff ist nie ganz ruhig, und jetzt ist es die Brücke auch nicht. Aber das Geräusch ist nicht beunruhigend. Bei dieser Bauart ist eine ständige Geräuschkulisse zu erwarten.
Nun aber, einmal darauf aufmerksam gemacht, achte ich ständig darauf. Der vorherrschende Wind kommt von links, bei unserer etwa östlichen Marschrichtung heißt das, er kommt von Norden. Aber da der Nebel in keiner Richtung eine Sicht von mehr als hundert bis zweihundert Metern zuläßt, sind irgendwelche Wetterbeobachtungen nicht möglich - abgesehen davon, daß ich sowieso Schwierigkeiten hätte, Wettererscheinungen unter den Bedingungen dieser Höhle zu interpretieren oder gar vorauszusagen.
Trotz der schlechten Sicht scheint allerdings gelegentlich das Grau unter uns dunkler als das Grau in horizontalen Richtungen. Ob wir uns einer Untergrenze der Wolken nähern? Ich inspiziere mal wieder Uhr und Höhenmesser: 12 Uhr und 6700 Meter Tiefe.
Wir hätten nichts dagegen, allmählich wieder festen Grund unter die Füße zu bekommen.
Eine weitere halbe Stunde später ist dieser Wunsch sehr ausgeprägt geworden: Der Wind hat so zugenommen, daß die Fahrplanken deutlich schwanken. Wir sind noch nicht in echter Gefahr, solange wir konzentriert gehen, aber auch eine geringe Unfallwahrscheinlichkeit multipliziert mit einem hinreichend großen Zeitraum bedeutet eine sehr konkrete Bedrohung.
Die Geräusche der Brücke sind sehr laut geworden. Der Wind pfeift um die Seile, Knarren und Quietschen scheint von jedem Knoten und von jeder Verbindung auszugehen, manchmal zucken die Planken unter den Füßen als ob irgendwo in der Seilverspannung ein Knoten nachgelassen hat.
Ich spiele häufiger mit dem Gedanken, umzukehren und in der Brückenmeisterei Schutz vor dem Wind zu suchen. Wahrscheinlich überlegt Irene ähnliches, auch wenn sie nichts sagt. Aber bis dahin zurückzugehen, das ist inzwischen auch schon wieder eine ganz ordentliche Wegstrecke. Wahrscheinlich würden wir es tun, wenn es sich nur um wenige hundert Meter handelte.
Unter unseren Füßen ziehen dunkle Flecken vorbei. Ab und zu scheinen da richtige Lücken in den Wolken aufzureißen, und ich habe kurz und undeutlich Eindrücke von Landschaften genau unter uns: Bewaldete Höhen, ein mäandernder Fluß, einzelne Bäume, alles sehr, sehr weit weg, also tief unter uns. Einige Kilometer mindestens. Wenn mich meine Augen nicht täuschen, dann ist die ganze Höhle, zusammen mit den 7000 Metern Tiefe, die wir bald erreichen werden, größenordnungsmäßig zehn Kilometer tief! - Ich kann es nicht glauben.
Und wieder mache ich überschlagsmäßige Statik-Berechnungen. Eine kilometerweite Felsdecke gibt es nirgendwo anders auf der Welt. Ich denke an die Brückenmeisterei: Ob man bei deren Bau daran gedacht hat, daß der Fels an der Stelle von Zugkräftefeldern durchsetzt sein muß, die man durch die Auskerbung dieser Höhle lokal verstärkt?
Durch einige dieser flüchtigen Wolkenlücken sehe ich, daß in unserer Marschrichtung sich aus den mittelgebirgsartigen Bergen unter uns höhere Berge herausheben, die von alpinen Felsenzonen gekrönt werden. Einer davon, in Marschrichtung, ist so hoch, daß ich seinen Gipfel überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen habe.
6.4 Welthöhle
Schon eine Viertelstunde später weiß ich, warum: Dieser Berg geht in eine Säule über, die sich offenbar mit der Feldecke, unter der wir entlangmarschieren, verbindet. Ich kann das immer deutlicher sehen, weil wir allmählich die 7000 Meter Tiefe erreichen und um 13 Uhr unterschreiten. Als die Wolkenfetzen uns auch die Sicht seitlich nicht mehr versperren, weitet sich die Aussicht innerhalb weniger Minuten ins Gewaltige aus:
Wir stehen in der Tat einige tausend Meter über einer Mittelgebirgslandschaft, deren Berge aus dieser Perspektive flach aussehen, obwohl auch dort relative Höhenunterschiede bis an die tausend Meter und mehr vorkommen mögen. Schräg unter und hinter uns windet sich ein großer Strom durch teilweise steile Täler. An anderen Stellen durchfließt er aber auch Schwemmland - Täler mit ebenem Grund. Die Landschaft ist jedenfall sehr abwechselungsreich, von lieblich bis wild und unbegehbar.
Vor uns nehmen die Berge alpine Formen an, und einige gehen in Säulen über, von denen die, die genau in Marschrichtung liegt, sich offensichtlich mit unserer Felsdecke verbindet. Die anderen Säulen verschwinden in der Wolkendecke.
Doch zwischen den Säulen kann man in die Ferne sehen - weit in die Ferne. Ich habe den Eindruck, daß es in einigen Richtungen hunderte von Kilometern sind. Überall gibt es diese Säulen, die vom Boden einer gemäßigteren Landschaft bis in die Wolken aufsteigen. In größeren Abständen zu diesen Säulen tendiert die Landschaft zu Mäßigung.
Links von uns, im Norden, liegt ein See, dessen jenseitige Ufer wir nicht sehen können. Der Fluß, der fast unter uns liegt, fließt dorthin, und es sind vielleicht zwanzig bis dreißig Kilometer bis zu dessem diesseitigen Ufer. Dieser See schlängelt sich, Kilometer breit, für Dutzende von Kilometern zwischen den Hochgebirgs- und Säulenzonen dahin, soweit die Sicht reicht.
Rechts von uns, im Süden, scheint die Lanschaft durchgehend dichter bewachsen - man hat den Eindruck, als ob der Dschungel für Dutzende von Kilometern keine einzige Lichtung hat, wenn man von den Hochgebirgszonen in der Nähe der Säulen absieht. Auch nach Süden ist nirgens ein endgültiges Ende der Höhle zu sehen, aber in vielleicht zehn bis fünfzehn Kilometern Entfernung versperrt eine tiefliegende Wolkenschicht den weiteren Blick auf die Landschaft darunter. Von dort an bis in verschwimmende Fernen sieht man nur die gewaltigen Felssäulen, die aus der unteren Wolkenschicht hervorragen und in der Wolkenschicht über uns verschwinden. Gelegentlich sind auch vereinzelte Berggipfel zu sehen, die diese untere Wolkenschicht durchstoßen.
Die Wolkenschicht über uns, die wir jetzt durchwandert haben, scheint sich umfassend und lückenlos über diese gesamte Welt zu erstrecken. Da sie sich knapp über unserer Höhe befindet, haben wir den Eindruck, uns in der Nähe der Decke einer immensen Halle zu befinden. Aber wenigstens sieht diese Wolkendecke, von unten betrachtet, wie eine gewöhnliche, hochliegende Wolkendecke an der Erdoberfläche aus. An einigen Stellen hängen Schleier aus dieser Wolkenschicht, die wir unschwer als Regenschauer identifizieren. Nicht alle erreichen den Boden, dafür sind an vielen Stellen über dem Boden treibende, weiße Nebelfetzen zu beobachten. Mit einem Blick sieht man, daß das Durchschnittswetter überall feucht und schwülwarm ist.
Interessant ist auch, daß die Beleuchtung nicht überall gleich stark ist. Im Norden, über dem See, liegt wesentlich mehr Licht als dort, wo wir uns befinden. Man hat fast den Eindruck, als ob, an einer unserer Sicht durch einige der Säulen entzogenen Stelle die Sonne durch die Wolken bricht. Aber das ist natürlich nur eine Illusion - wir haben uns in den letzten Tagen an die geringe Beleuchtungsstärke so gewöhnt, so daß uns leichte Helligkeitvariationen schon viel mehr auffallen müssen. Wenn meine Hypothese von der geothermischen Energieversorgung des Wettersystems in diesen Höhlen richtig ist, dann kann nirgends eine größere Leuchtdichte als ein oder höchstens einige Watt pro Quadratmeter herrschen.
Vor uns, die Säulengruppe, auf die wir zumarschieren, hinter uns, in größerer Entfernung, eine Säulengruppe, aus deren Richtung wir kommen. Das muß ungefähr unter der Gegend sein, die wir in dieser Unterwelt als erste betreten haben. Das heißt aber auch, daß manche dieser Säulen eine Höhe von vollen zehn Kilometern haben, bei einem Durchmesser von einem bis drei Kilometern.
Irene hat wie ich angehalten. Dieses Bild muß man erst einmal verdauen, auch, wenn man dauernd damit beschäftigt ist, das Gleichgewicht zu behalten.
"Ich glaube es nicht," sagt sie, "ich glaube es einfach nicht!"
"Was soll ich erst sagen," entgegne ich, und versuche, die Situation ins Komische zu ziehen: "ich weiß, daß so eine Welt nicht existieren kann! Nach allem, was Geologie und Physik sagen, gibt es das hier einfach nicht!"
Geologie und Physik und Gesteinskunde und Statik. Wie sollen Höhen und lichte Weiten mit Abmessungen, die mehr an zehn als an einem Kilometer liegen, stabil sein, wenn das 'Baumaterial' gewöhnlicher Fels ist? Höhlen im Kubikkilometerbereich war ich noch bereit zu akzeptieren. Das war das äußerste. Aber das hier?
"Irene, was wir hier sehen, ist so groß wie ganz Oberbayern! Ach was, größer!"
Läßt sie diesen Gedanken auf sich wirken? Von Füssen bis Altötting, von Bozen bis Ingolstadt, die gesamte bayrische Landschaft steht und stand schon immer über einer urweltlichen Landschaft, die man sich in der kühnsten Phantasie nicht ausdenken kann. Wer weiß? Vielleicht gehen die Höhlen noch viel weiter als wir es hier sehen können? Ist vielleicht ganz Europa unterhöhlt? Aber es gibt doch auch in Europa an vielen Orten Ölbohrungen und Bergwerke! Wenn diese Höhlen tatsächlich so ausgedehnt sind, dann hätte man sie doch längst per Zufall entdecken müssen!
Wir gehen wieder weiter. Zwar wird der Wind nicht mehr stärker, aber irgendwann müssen wir uns ausruhen. Ich nehme an, daß wir an der Säule, auf die wir uns zubewegen, absteigen können. Es sind vielleicht noch etwa zwei Kilometer, und die Felsdecke über uns senkt sich dorthin deutlich ab. Sie scheint fast einen Kilometer breit zu sein, bevor sie rechts und links wieder in den Wolken verschwindet, und hinter uns ist sie hinter der Wolkenschicht, aus der wir gerade gekommen sind, auch nicht mehr zu sehen.
Der hängende Fahrweg steuert die linke Seite der nächsten Säule an. Diese ist unregelmäßig geformt, wie wir im Näherkommen bemerken. Der Weg nähert sich der Säulenwand in spitzem Winkel, wobei die Felsendecke zusehends von der Horizontalität abweicht. Wahrscheinlich wird sich die Bauform des Weges bald wieder ändern. Hoffentlich. Wir haben, nach über dreizehn Stunden Marsch, eine Pause nötig.
Ein Vorsprung, oder ein Grat, oder eine Falte oder wie immer man diesen Vorsprung der Säule nennen will schiebt sich langsam an unserer Rechten vorbei. Aus schwindelerregendem steilen Winkel sehen wir in die Felswände hinunter. Dabei habe ich plötzlich den Eindruck, als ob sich da unten etwas bewegt. Aber ich sage nichts, weil ich glaube, mich geirrt zu haben. Wozu Irene beunruhigen. Oder mich selbst.
Dann jedoch sehen wir, daß wir demnächst eine Abzweigung erreichen werden. Nach rechts, von unserem hängenden Fahrweg abzweigend, führt eine weitere Hängebrücke. Diese besteht aber nur aus Seilen und ist wohl kaum für Fahrzeuge brauchbar. Die Konstruktion kennen wir schon: Ein dickes Tretseil und zwei Handseile, gelegentlich mit kurzen Seilstücken miteinander verbunden und immer mit einem hängenden Bogen von fünfzig bis hundert Metern auf den Säulengrat zuführend. Das Seilmaterial ist das gleiche wie bei unserem Fahrweg.
"Halt mal an," sage ich. Ich muß mal genauer hinschauen.
Die abzweigende Seilbrücke scheint dort, wo sie die Säulenwand erreicht, in einen abwärts führenden Klettersteig überzugehen. Das ist so ungefähr fünfhundert Meter zu unserer Rechten der Fall. Der Klettersteig wird ab und zu tatsächlich durch Pfadstücke unterbrochen. Kaum glaubhaft, daß in der steilen Wand immer noch Stellen sind, wo man sich ohne technische Hilfsmittel kletternd bewegen kann. Das wird durch die Unregelmäßikeit der Wand bewirkt, es gibt genauso viele Stellen, wo Überhänge einem Kletterer unüberwindliche Hindernisse entgegenstellen würden. Deshalb ist der Weg abwärts eine wechselnde Folge von Klettersteigen und ungesicherten Pfadstücken.
Dabei, der Tradition von allem folgend, was wir schon gesehen haben, ist es für das Weglassen jeder Sicherung ausreichend, wenn man irgendwelche Griffe hat, an denen man sich sicher halten kann, auch, wenn man einen Kilometer Luft unter dem Hintern hat. In den Alpen würde man so etwas noch nicht 'gesicherter Klettersteig' nennen.
Ich folge mit meinem Blick den Pfad abwärts, was nicht ganz einfach ist, weil er sich an vielen Stellen kaum vom Fels rechts oder links des Weges unterscheidet. Aber dann sehe ich es: Menschen!
6.5 Gefangennahme
Ich versuche, Irene drauf aufmerksam zu machen. Sie sind vielleicht etwas mehr als tausend Meter unter uns, und wenn man eine Weile hinsieht, dann stellt man fest, daß sie aufwärts klettern. Es handelt sich um etwa acht oder zehn Menschen. Weitere Einzelheiten kann man nicht erkennen. Wir halten uns nicht damit auf, sie zu zählen:
"Die werden die Wegabzweigung da vorne erreichen!" zeige ich Irene, "also, in welche Richtung machen wir uns davon?"
Überflüssige Frage. Zurück hieße, dem elendiglich langen Hängefahrweg wieder für Stunden zu folgen. Außerdem wird das genau die Richtung sein, die diese Leute auch einschlagen werden, weil ihre generelle Richtung ja nach oben ist. Wir aber werden, wenn wir dem Fahrweg weiter wie bisher folgen, an Höhe verlieren.
Beim Weitergehen legen wir einen Schritt zu, obwohl das eigentlich unnötig ist. In dem Gelände, das die Gruppe da unten noch zu durchqueren hat, kann man nur sehr langsam vorwärts kommen. Es wird noch Stunden dauern, bis sie diesen Fahrweg an der Abzweigung betreten, die wir nach wenigen Minuten wieder hinter uns lassen.
Allerdings ist es möglich, daß sie uns schon gesehen haben. Auch wenn sie aus der Ferne keine Einzelheiten erkennen können, wissen wir denn, ob eventuell aus irgendeinem Grund sich hier im Moment gar keine Menschen aufhalten können, so daß wir uns sofort verdächtig machen? Ich denke an die verlassene Stadt. Ein verbotenes Gebiet? Ein Gebiet, das nur Auserwählte betreten dürfen? Eventuell, um die Bewohner des Tieflandes, das wir jetzt so weit um uns herum sehen, davon abzuhalten, zur Erdoberfläche zu gelangen? - Eine Hypothese von vielen.
Unser Hängefahrweg nähert sich der Säule. Die Felsdecke wird sehr uneben und unregelmäßig. Eine große, gewölbeartige Einbuchtung muß mit einer mehr als hundert Meter überspannenden Brücke überwunden werden. Der Fels ist für ein paar Minuten wieder einige hundert Meter über unseren Köpfen und bildet einen Dom. Unsere Stimmen hallen, wenn wir nach oben sprechen, und sie verfliegen ins Leere, wenn wir das nach unten tun. Aber die Brücke ist sauber und vertrauenerweckend ausgeführt: sie schwankt nicht mehr als der bisherige Fahrweg. Dann nähern wir uns einer Stelle, wo der Fahrweg in einen Felsenbogen hineinführt, ein natürliches Portal, gewissermaßen.
Tatsächlich. Wir haben es geschafft. Der Weg geht wieder in einen aus dem Felsen gearbeiteten Fahrweg über. Sein Gefälle ist vielleicht 15 Grad, und wir können die kletternden Menschen von hier aus nicht mehr sehen. Es ist 14:30 Uhr, und der Höhenmesser nähert sich der zweiten Umrundung der Skala. Umgerechnet sagt er, daß wir uns in 7300 Meter Tiefe befinden.
Der Fahrweg hat sogar den Luxus einer Randmauer. Die Sicherheitszunahme der Vorwärtsbewegung von einem Moment zum anderen ist fast berauschend. Soviel Grund, uns einem Freudentaumel hinzugeben, haben wir natürlich nicht: Der Hunger meldet sich schon wieder ganz dringlich, und wir haben nichts mehr, außerdem machen sich mehr als 14 Stunden Marsch in unseren Beinen deutlich bemerkbar. Wegen des Hungers möchte ich an Ort und Stelle keine Rast oder gar Schlafenspause einlegen, außerdem habe ich das Gefühl, daß hier schon häufiger mit Menschen - oder was für Wesen diese Gegend auch immer bewohnen - zu rechnen ist. Der Rückweg ist uns ja schon versperrt, wenn wir diese Begegnung vermeiden wollen.
Da der Fahrweg wesentlich steiler als der Hängende Weg ist, verlieren wir nun rasch weiter an Höhe: Um 15 Uhr sind wir in 7600 Metern Tiefe, und um 16 Uhr sind es 8100. Der Höhenmesser geht in seine dritte Runde.
Der Weg ist die meiste Zeit rillenartig in den Fels hineingearbeitet, nur gelegentlich durch kurze Tunnelstücke unterbrochen. Wir zählen bis 16 Uhr insgesamt sechs Kehren. Erst nach 16 Uhr, als wir die 8000 Meter unterschritten haben, wird der Hang weniger steil, und bald zeigen sich auch wieder Vegetationsreste: Farne, Mose, allerlei Gebüsch. Immer noch tief unter uns das undurchdringliche Grün eines dampfenden Dschungels, an einer Stelle so durchbrochen, als ob eine schmale, aber sehr tiefe Schlucht parallel zu unserer Straße läuft.
Und es ist verdammt schwül und warm. Ich schätze, daß es 27 Grad bei hoher Luftfeuchtigkeit sind. Selbst die gelegentlichen Regenschauer bringen kaum eine Kühlung, aber es ist natürlich besser als nichts.
Ich rechne damit, daß es bald möglich ist, den Weg zur Nahrungssuche und zum Finden eines Schlafplatzes zu verlassen. Noch ist das zu sehr mit Kletterei verbunden.
Dann höre ich das Klirren von Metall auf Stein. Es muß hinter der nächsten Biegung sein, die in etwa achtzig Metern Entfernung vor uns den weiteren Verlauf des Weges unseren Blicken entzieht.
"Irene, da hinauf!" flüstere ich heftig. Irene erschrickt. Sie hat nichts gehört, aber meine Reaktion sagt ja deutlich genug, was uns droht.
Wir können uns einen guten Aufstieg nicht mehr aussuchen. Eine geriffelte Scharte ermöglicht uns, innerhalb weniger Sekunden eine Höhe von vielleicht sieben Metern über dem Boden der Straße zu erreichen. Aber da ist nur ein Sims, der so schmal ist, daß er uns unmöglich vollständig vor den Blicken von der Straße schützen kann. Außerdem ist kaum Platz für uns beide. Wir kauern uns hin so gut es eben geht. Da sind noch einige Sträucher, die sich an dem abschüssigen Fels festhalten. Wenn diese etwas größer wären, dann wäre das jetzt sehr nützlich.
Die letzten Steinchen, die wir losgetreten haben, kommen endlich auf der Straße zur Ruhe.
"Sei leise!" flüstere ich, "beweg dich nicht mehr!"
Wir bewegen uns nicht mehr. So gut es eben geht. Unser Halt ist nicht besonders sicher. Hoffentlich muß keiner niesen oder husten.
Wir liegen zueinander gewandt auf dem Sims, so daß wir uns sehen können. Meine Blickrichtung ist wegabwärts, also dahin, von wo der Laut gekommen ist, Irene sieht in die Gegenrichtung.
Und dann kommen sie um die Wegbiegung. Es ist eine größere Gruppe als die, die wir vorhin von weitem den Klettersteig haben hinaufsteigen sehen. Es dauert eine ganze Weile, bis alle in Sicht sind.
Es sind Menschen wie wir, äußerlich wenigstens. Also wenigstens keine Monster. Allerdings war das eigentlich schon durch die Leichenreste an der Kreuzigungsstätte klar. Aber abgesehen davon, daß wir und diese Gruppe zur selben Spezies gehören, machen diese etwa vierzig Menschen einen seltsamen, fast theatralischen und fremdartigen Eindruck.
Die Hälfte sind Frauen. Jung, hochgewachsen, selbstbewußt daherschreitend, trotz der Steigung. Sie sind durchtrainiert, in besserer körperlicher Verfassung als wir das aus unserer eigenen Umgebung von Frauen gleichen Alters gewohnt sind. Der routinierte Freizeitsportler hat einen Blick für solche sportmedizinischen Einschätzungen.
Die Kleidung ist seltsam: Eine Art Minirock aus Lederstreifen, zusammengehalten durch einen stabilen Ledergürtel, an dem noch allerlei Ausrüstungsgegenstände hängen. Außerdem trägt jede Frau ein Schwert und einen Bogen.
Die Oberkörperbekleidung besteht aus einer Lederweste, die roh und stabil geschneidert ist. Sie ist nicht schließbar, was Einblicke auf die Brüste dieser Frauen ermöglicht. Von Unterwäsche scheinen sie nicht viel zu halten. Das ist umso merkwürdiger, weil innerhalb dieser Westen offenbar noch weitere Gegenstände getragen werden - Messer oder so etwas. Das muß doch scheuern. Aber ich kann nichts genaueres erkennen.
Diese offenherzige Bekleidung scheint aber nicht dazu gedacht zu sein, attraktiv oder gar erotisch zu wirken. Dazu ist der Schnitt zu primitiv. Auch bewegen sich diese Frauen nicht so, wie man es erwarten würde, wenn sie darauf aus wären, die Aufmerksamkeit von Männern auf sich zu ziehen, also etwa hüfteschwingend und was dergleichen mehr. Keinerlei erotische Ausstrahlung. Ihr Schritt ist energisch und selbstbewußt, fast möchte man sagen, militärisch gedrillt. Allerdings impliziert dieses Wort die Vorstellung von Gleichschritt. Im Gleichschritt gehen sie nicht.
Ich erinnere mich an eine Verfilmung des Romanes 'Slave Girl of Gor', in dem die Hauptdarstellerinnen in einer konzeptuellen Mischung von Reizwäsche und Kampfausrüstung durch die glühende Sonne der Wüste liefen. Das war zwar recht nett anzusehen, aber völlig unrealistisch. Die Völkerkunde zeigt, daß sich die Menschen südlicher Länder vor der Sonne nach Möglichkeit schützen, durch Kleidung und Aufenthalt im Schatten. Das 'Sonnenbaden' ist eine europäische Erfindung, die immer noch geübt wird, weil dermatologische Erkenntnisse es eben schwer haben, sich durchzusetzen. Ein wehrhaftes Wüstenvolk würde niemals rumlaufen wie die Mädchen in den bekannten Männermagazinen. Das Ultraviolettproblem haben diese Frauen da unten aber nicht, sondern schon eher das Schweißproblem. Das erklärt vielleicht die Menge der freien Hautfläche.
Und ob sie genauso, wie sie jetzt sind, in einen Kampf ziehen würden, bleibt dahingestellt. Soviel freie Haut macht verletzlich. Andererseits ist es sinnvoll, sich zum Marschieren anders zu kleiden als zum Kämpfen. Was kann man schon durch den ersten Blick so in Erfahrung bringen?
Auch die Männer gehen nicht im Gleichschritt. Sie sind ganz genauso gekleidet wie die Frauen, tragen aber weder Schwert noch Bogen. Dafür schleppen sie allerhand andere Ausrüstung, und man sieht eigentlich mit einem Blick, daß sie wesentlich mehr zu schleppen haben als die Frauen. Einige tragen gemeinsam lange Spieße, an denen weiteres Gepäck aufgehängt ist.
Der Schritt der Männer unterscheidet sich von denen der Frauen. Sie sind zwar auch alle durchweg gesund und durchtrainiert, aber sie gehen lustlos. Außerdem reden sie nicht, während einige der Frauen miteinander Gespräche führen. Dadurch ist ihre Aufmerksamkeit gebunden, und wir können guter Hoffnung sein, daß niemand auf die Idee kommt, hochzublicken.
Auf jeden Fall ist auf den ersten Blick klar, wer in dieser Gruppe das Sagen hat. Ich habe sogar den Eindruck, daß die Männer von den Frauen nicht nur wie Untergebene, sondern schon eher wie Tragetiere behandelt werden.
Während die Gruppe näher kommt, habe ich Gelegenheit, meine Beobachtungen zu vertiefen. Ich stelle fest, daß auch die Schuhe aus gewundenen Lederstreifen gefertigt sind, und die meisten Gepäckstücke. Viele davon werden wie ein Rucksack getragen und sind ähnlich geschnitten wie ein uns gewohnter Rucksack.
Die Haut dieser Menschen ist weder blaß noch gebräunt - etwa so wie die eines Mitteleuropäers, der gelegentlich aber nicht allzu häufig ins Freie kommt. Woher in dieser lichtarmen Umwelt eine Pigmentierung kommt, weiß ich nicht.
Beide, Männer und Frauen, sind durchgeschwitzt und dreckig, und zwar ganz ordentlich, wenn man das sogar von hier aus sehen kann. Damit ist der Zweck dieser offenherzigen Kleidung eigentlich sicher: Mit gutem Wirkungsgrad schwitzen können, möglichst viel Haut dem direkten Luftkontakt aussetzen.
Die Haare sind mehrheitlich dunkel oder brünett. Der Schnitt ist bei Männern und Frauen gleich: schulterlang und horizontal abgeschnitten, der Pony über den Augenbrauen ist ebenfalls horizontal abgeschnitten. Es macht ein bißchen einen indianischen Eindruck, aber das kommt nur daher, da man in Wildwestfilmen Indianer eben mit so einem Haarschnitt herumlaufen sieht. Einige der Männer, aber keine einzige der Frauen haben ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Bei dem Anblick der Bögen kommt einem der Gedanke an Amazonen, und ich versuche, herauszufinden, ob eine der Frauen eine amputierte Brust hat. Das ist natürlich Blödsinn, wie jede Bogenschützin weiß, man kann einen Bogen sehr gut handhaben, wenn man Brüste hat. Es ist auch nirgends der Fall, bei keiner der Frauen. - Komisch, daß einem immer diese alten Legenden einfallen.
Nun sind sie praktisch schon unter dem Platz, wo wir uns so notdürftig verstecken. Noch hat niemand aufgeblickt, und mit jeder Sekunde wird der Winkel zwischen der durchschnittlichen Blickrichtung der Gruppe und der Richtung auf uns zu größer. Es sieht so aus, als ob diese Begegnung noch glimpflich verläuft.
Nun muß ich allmählich den Kopf drehen, um die Gruppe zu verfolgen, während sie in Irene's Blickfeld gerät. Vorsichtig tue ich das. Ich will wissen, ob nicht jemand nach oben blickt, uns sieht und das zunächst für sich behält. - Jetzt ist die Gruppe schon etwa vierzig Meter straßeaufwärts von dem Punkt, wo wir die Straße verlassen mußten. Wegen der starken Steigung der Straße sind sie auch etwa in unserer Höhe. Felsvorsprünge und Gebüsch verdecken uns immer besser. Wir können aufatmen.
Da hören wir Schreie. Haben sie uns entdeckt? Ich versuche zu erkennen, was los ist.
"Sie wollen den Vogel!" flüstert Irene. Dann sehe ich ihn auch: Querab zur Straße ist ein großer Vogel mit einer Spannweite von fast drei Metern aufgetaucht. Von dieser Sorte haben wir schon mehrere gesehen - sie gleiten schweigend über die Hänge und suchen Beute - wie Bussarde oder andere uns bekannte Raubvögel. Diese Vögel haben sich bis jetzt nicht für uns interessiert und wir nicht für sie.
Offenbar hat man sich in dieser Gruppe entschlossen, den Vogel abzuschießen. Ich sehe die Pfeile nicht, aber der Vogel macht im Fluge einen heftigen Ruck, dann noch einen. Danach geht er in steilem Gleitflug auf die Straße nieder - genau unter uns.
"Scheiße!" flüstere ich. Jetzt kann man nur noch hoffen, daß sie den Vogel überhaupt nicht wollten, sondern nur aus Spaß auf ihn geschossen haben. Die Hoffnung hält nur eine Sekunde. Dann kommen zwei der Männer gelaufen, eine der Frauen folgt ihnen gemessenen Schrittes.
Die beiden palavern unter unserem Standort lautstark, während die Frau sich darauf beschränkt, kurze Anweisungen zu geben. Einer der Männer deutet mit seinen Fingern eine Linie in der Luft - vielleicht will er die Flugbahn des Vogels nachzeigen, oder auf ein mögliches Nest hindeuten, oder was weiß ich. Jedenfalls führt seine Gestik dazu, daß er einen Moment in unsere Richtung zeigt und blickt. Ich fühle einen Knoten im Bauch. Dann läßt der Mann seine Hand sinken und sieht uns mit einem Ausdruck der Verwunderung und eines momentanen Erschreckens genau an: Entdeckt!
Er sagt nur ein Wort, und die beiden anderen blicken auch in unsere Richtung. Im Augenblick hat die Frau ihren Bogen auf uns angelegt.
Irene's Hände werden in den meinen feucht. Oder sind es meine, die feucht werden? Da waren schon so viele Umstände auf dieser Reise, wo wir ums Leben hätten kommen können. Jetzt kann dieser Pfeil jede Sekunde die Bogensehne verlassen, und einer von uns hat das Ding in der Kehle oder im Herzen oder im Gehirn. Ich bin sicher, die Frau kann zielen.
Sie hat ein paarmal etwas laut gerufen. Wir hören schnelle Laufschritte aus der Richtung der Gruppe. Ihre Sprints sind schnell und sehenswert. Jedenfalls sehen wir hier keine Spur des langsamen Metabolismus, der andere Spezies in dieser Unterwelt in ihren Bewegungen so verlangsamt hat. Alle kommen, jedenfalls alle Frauen. Einige haben schon im Laufen auf uns angelegt. Nach wenigen Sekunden stehen sie alle auf der Straße unter uns, und zwanzig Pfeile sind auf uns angelegt. Die Männer kommen hinterher, wenn auch wesentlich langsamer. Das Kämpfen ist ihre Sache nicht. Ich nehme an, daß sie auch gar keine Waffen tragen dürfen.
Eine der Frauen, offenbar die, die die Gruppe anführt, ruft uns in scharfem Ton etwas in einer fremden Sprache zu.
"Wir müssen jetzt langsam herunterklettern und jede schnelle Bewegung vermeiden!" sage ich zu Irene. Ich sehe, daß ihr Tränen in den Augen stehen. "Nicht doch," sage ich, "soweit ist es noch nicht!"
Mit einer Hand streiche ich ihr über die Wange. Von unten kommt ein häßliches Lachen herauf, dann wird der Befehl von eben wiederholt.
Langsam klettern wir runter, ich zuerst. Jetzt erst merken wir, was für eine unwegsame Stelle wir in unserer Panik hinaufgewetzt sind. Auf halbem Wege finde ich keinen Tritt und komme nicht weiter. Wieder lacht eine weibliche Stimme. Ich muß einen uneleganten umgekehrten Klimmzug machen. Den letzten halben Meter muß ich mich fallen lassen. Dann stehe ich auf der Straße. Als ich mich umdrehe, sehe ich gerade in die Spitze eines Schwertes vor meiner Kehle. Die Frau, die es hält, blickt mir äußerst humorlos in die Augen. Ich wage nicht, mich umzudrehen, um zu sehen, wie Irene diese schwierige Stelle meistert. Ich kann ihr nicht helfen.
Dafür habe ich Gelegenheit, die Schwertklinge genau zu betrachten, da ich ja noch nicht unter Altersweitsichtigkeit leide. Die Klinge ist aus Stahl oder hartem, geschmiedeten Eisen. Sie ist stellenweise schartig und weist Schleifspuren auf, überall. Dieses Schwert ist schon so lange im Gebrauch, daß es wiederholt geschärft werden mußte. Und ich sehe, wie routiniert das Schwert der Frau in der Hand liegt. Damit geht sie so häufig um wie wir mit der Fernbedienung für den Fernseher.
Ein Wimmern über meinem Kopf. Ich höre meinen Namen. Aber da ist ja dieses Schwert vor meinem Hals. Dann gibt die Gruppenanführerin einen erneuten Befehl, und zwei der Männer springen wie die Wiesel die Wand hinauf. Wenig später steht Irene neben mir, unverletzt. Auch ihr wird ein Schwert unter die Kehle gehalten. Aber wenigstens zielt niemand mehr mit einem Bogen auf uns - die könnten zu leicht losgehen.
Die Anführerin tritt vor Irene und fragt sie etwas.
"Du mußt irgend etwas sagen, damit sie merken, daß wir nicht dieselbe Sprache ..."
Der Tritt in den Bauch nimmt mir die Luft weg. Ich liege auf dem Boden und krümme mich. Trotz der Schmerzen ist mir immer noch bewußt, wie unwürdig diese Situation ist, aber jeder Gedanke an Haltung geht mir ab. Nur der Schmerz soll aufhören. Jedenfalls war die Lektion klar: Ab jetzt rede ich nur noch, wenn ich gefragt bin.
Es dauert zwei Minuten, bis ich wieder Luft holen kann. Bis dahin haben unsere Bewacherinnen gemerkt, daß wir nicht ihre Sprache sprechen. Die weitere Kommunikation geht mit schnellen und im Allgemeinen deutlichen Gesten vor sich. Wenn immer wir etwas nicht begreifen oder nicht schnell genug begreifen, gibt es wieder Schläge oder Tritte. Allerdings habe ich den Eindruck, daß ich wesentlich mehr Schläge kassiere als Irene. Außerdem dürfen die Männer offenbar keine Hand an Irene legen, während mir jeder eine reinhauen kann, der Lust dazu verspürt.
Wir müssen unsere Rucksäcke ablegen und uns splitternackt ausziehen. Sie befühlen unsere Muskeln. Das Naserümpfen ist nicht sehr schmeichelhaft. Über Irene lassen sie sich in einer Weise aus, daß deutlich wird, daß sie über ihr Übergewicht reden. Sie merkt es. Ich kann es ihr nicht ersparen. Aber ich vermeide jede Geste des Trostes - unsere Bewacherinnen wollen keine Kommunikation zwischen uns. Das ist uns schon klar geworden.
Kleidung und Ausrüstung wird durchwühlt. Dabei stelle ich fest, daß unsere Bewacherinnen noch nie eine Dynamolampe, Streichhölzer, eine digitale Armbanduhr oder eine Landkarte gesehen haben. Unsere Reservekleidungsstücke - Pullover etc. - werden offenbar als solche erkannt. Ich vermute, daß sie rauskriegen wollen, ob wir Waffen bei uns tragen. Als sie sehen, daß das nicht der Fall ist, - mein zusammengeklapptes Taschenmesser erkennen sie nicht als Messer - dürfen wir uns wieder anziehen und unsere Sachen zusammenräumen. Während wir das tun, diskutieren die Frauen. Die Männer halten den Mund.
Niemand mehr hat jetzt eine Waffe auf uns gerichtet. Sind wir, schwach und wehrlos, wie wir sind, jetzt ganz unwichtig geworden? Jedenfalls nicht unwichtig genug, um uns sofort laufen zu lassen.
Sie beraten wohl, was sie mit uns tun sollen. Die Anführerin trifft relativ schnell eine Entscheidung. Irene und ich müssen unser Gepäck wieder vollständig aufpacken. Die Gruppe teilt sich. Drei Frauen und drei Männer werden für uns abgestellt. Dann machen sich die restlichen 34 Mitglieder der Gruppe wieder auf den Weg in der ursprünglichen Richtung. Uns wird bedeutet, die Straße abwärts zu gehen, also in die Richtung, in die wir vorher auch schon gegangen waren.
6.6 Geschwindmarsch
Wir legen ein rasches Tempo vor, rascher, als wir es vorher alleine durchgehalten hatten. Mir macht es nicht allzuviel aus, abgesehen von der Hitze, die bei dieser Marschgeschwindigkeit rasch zu starken Schweißausbruch führt. Aber Irene wird das nicht lange durchhalten können.
Irene und ich gehen in der Mitte, rechts und links jeweils eine der Frauen. Die dritte, offenbar die, die die Kleingruppe anführt, geht hinter uns, die drei Männer kommen als letzte. Niemand paßt auf sie auf, obwohl sie ganz offensichtlich die Subalternen sind. Sie kommen nicht auf die Idee, irgendwelchen Ungehorsam zu zeigen. Gut dressiert, so kommen sie mir vor. Vielleicht seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden strikten Gehorsam gewöhnt.
Die Frauen haben ihre Schwerter wieder in die Scheide zurückgesteckt. Wir werden wohl für völlig ungefährlich gehalten. Allerdings haben wir immer noch nicht die Erlaubnis, miteinander zu reden. Irene hat bei dem Tempo auch gar nicht genug Atem dazu übrig. Ich würde ihr gerne bedeuten, den körperlichen Zusammenbruch schon zu spielen, bevor er wirklich eintritt, aber ich habe keine Möglichkeit dazu. Vielleicht kommt sie von selbst auf die Idee.
Die Frau rechts von mir versucht wieder, mit mir zu reden, dann die andere Frau mit Irene. Zwecklos. Nicht mal die Sprachenklasse wird deutlich - weder slavisch noch romanisch noch skandinavisch noch chinesisch. Eine völlig andere Welt, sprachlich, ein Wortbrei ohne erkennbare Silbenstruktur.
Da habe ich eine Idee. Es ist ja so naheliegend: Ich spreche die Frau neben mir an, tue so, als wolle ich mich verständlich machen, rede aber mit Irene. Mal sehen, ob sie darauf reinfallen.
"Irene, lass nicht erkennen, daß ich jetzt zu dir spreche!" sage ich laut zu der Frau neben mir, die mich zum wiederholten Male etwas gefragt hat. Dabei gestikuliere ich mit den Händen. Sie schüttelt den Kopf, weil sie nichts versteht. Irene läßt sich nichts anmerken.
"Irene, versuche, jetzt langsam Schwäche zu zeigen, damit sie langsamer gehen oder uns zu essen geben! Vielleicht ist auch hinken ganz nützlich!" Dabei male ich der Frau neben mir, die interessiert zusieht, eine Landkarte von Afrika in die Luft.
"Hier gelten Frauen mehr. Sieht jedenfalls so aus. Du hast da bessere Chancen als ich!" Mehrfach deute ich energische auf die Stelle, wo Nairobi liegt, und mache das, was ich für ein bedeutsames Gesicht halte.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, daß Irene anfängt, zu hinken und zu stolpern. Außerdem hält sie sich den Bauch. Hoffentlich übertreibt sie nicht.
Die Frau neben mir sieht meinen Erläuterungen genau zu. Sie weiß nicht, ob sie etwas von meinen Gesten versteht, und vielleicht ist sie sich auch im Unklaren darüber, ob sie so tun sollte, als ob sie etwas versteht. Sie wechselt mit den anderen ein paar Worte. Ich wüßte ganz gerne, was sie nun verstanden zu haben glaubt.
Der Einfall war gut. Nachdem wir eine Weile so weitermarschiert sind, und Irene mehrfach zurückgeblieben ist, wobei sie jedesmal mit groben Worten wieder vorwärtsgetrieben wurde, halten wir endlich an. Die drei Männer werden herbeigewunken. Sie schleppen, wie in der Hauptgruppe, das ganze Gepäck. Mit Lebensmitteln.
Wenig später hat jeder von uns fettige Fladen in der Hand, wir und unsere Bewacherinnen. Wahrscheinlich eine Art Brot. Es schmeckt beißend - man schätzt hier wohl scharfgewürztes. Aber es sättigt, und wir müssen eine Zeitlang nicht so rennen. Auch wenn es völlig überflüssig ist, diese Mahlzeit im Stehen einzunehmen.
Unsere Bewacher essen Fleisch, das in ebensolchen Fladen eingepackt ist wie wir sie bekommen haben. Was es für Fleisch ist kann ich nicht erkennen. Es sieht ganz gewöhnlich aus.
Dann kreist eine Flasche. Ich bereite mich seelisch auf ein schlimmstenfalls übelschmeckendes Getränk vor, aber es ist nur Wasser. Die Abneigung, mit mir fremden Leuten aus derselben Flasche zu trinken, muß ich wohl oder übel überwinden. Und ich gebe mir Mühe, mir keinerlei Ekel anmerken zu lassen. Sonst kriege ich beim nächsten Male vielleicht nichts.
Danach marschieren wir weiter. Keine zehn Minuten hat der Aufenthalt gedauert.
"Irene, es ist an dir, das Tempo runterzusetzen!" versuche ich der Frau neben mir klar zu machen, wobei ich Madagaskar in die Luft male. Sie ist nicht mehr interessiert, weil sie es ja doch nicht versteht. Irene fängt aber alsbald wieder mit dem Stolpern an. Nachdem das eine Viertelstunde so weitergegangen ist, sagt die Anführerin etwas, und alle marschieren plötzlich langsamer.
Ich kann ein Grinsen kaum unterdrücken. Wir sind von einer Übermacht, gegen die wir keinerlei Chancen haben, festgenommen worden. Und schon haben wir zwei Dinge erreicht: gemäßigtes Marschtempo und einen leidlich vollen Bauch.
Allmählich fange ich an, wieder mit Vertrauen in die Zukunft zu sehen.
Hoffentlich brauchen diese Leute auch gelegentlich Schlaf.
6.7 Erschöpfung
Unsere Festnahme war kurz vor 17 Uhr, und seit circa 17:30 Uhr marschieren wir mit unseren Bewachern weiter zu Tale. Die Uhr kann ich schon häufiger ablesen, aber scheint nicht möglich, meinen Höhenmesser auszupacken. Noch nicht. Man schätzt uns als harmlos ein, und da werden wir wohl bald wieder sogar selbst an unser Gepäck dürfen. Jedenfalls zeugt es nicht von viel Phantasie seitens unserer Bewacherinnen, daß sie uns unsere Rucksäcke selber tragen lassen. Wir könnten ja Waffen dabei haben, die sie nicht als solche erkennen, gefährlichere Waffen als mein unscheinbares Taschenmesser, oder andere gefährliche Gegenstände.
Den Höhenmesser habe ich in der Hosentasche, und als ich bis 18 Uhr mehrmals ungehindert auf meine Armbanduhr schauen konnte, riskiere ich es und ziehe ihn langsam heraus und lese ihn ab. Niemand hindert mich daran.
Wir sind schon 8900 Meter tief - Folge unseres raschen Marschtempos. Achtzehn Stunden sind wir jetzt fast ununterbrochen auf den Beinen. Irene geht es sehr schlecht, und unsere Bewacherinnen nehmen glücklicherweise im Tempo darauf Rücksicht. Trotzdem sind wir reif für eine gehörige Portion Schlaf.
Der Fahrweg schlängelt sich immer noch an Felswänden zu Tale. Inzwischen sind wir aber in die Basisbezirke der Säule gekommen, wo sie in alpine Vorgebirge übergeht. Das heißt, die geometrische Beschreibung unseres Weges kann man nicht mehr so einfach charakterisieren wie man es tut, wenn man etwa behauptet, wir bewegen uns im Zickzack an der Wand eines senkrecht stehenden Zylinders hinunter. Inzwischen ist die Topographie der Berge um uns herum so, wie man es von den oberirdischen Hochgebirgen kennt, und der Weg ist sehr abwechselungsreich. Mal führt er auf Graten, mal am Boden von Hochtälern, gelegentlich über Schluchten, Schuttkare und Geröllhalden. Schwere Stellen sind zusätzlich mit Mauerwerk oder sogar kleinen Brücken gesichert, auch roh ausgehauene Tunnelabschnitte kommen immer mal wieder vor. Wo immer Pflanzen sich festhalten können, gibt es welche, sogar Bäume, und in allen Tälern gehen rauschende Wildbäche zu Tale. Die Temperatur muß um die dreißig Grad sein, eher mehr, und es ist ungemütlich schwül.
Über uns wird allmählich, da wir uns von der ideal gedachten Wand der Säule immer weiter entfernen, die ganze Säule bis in die Wolken in ihrer vollen Wuchtigkeit sichtbar.
"Herwig, ich kann nicht mehr!" ächzt Irene. Sie hat recht. Ich versuche, gestikulierend unseren Bewacherinnen etwas klarzumachen. Dabei versuche ich, in Gesten die Tätigkeit des Schlafens anzudeuten, immer damit rechnend, daß man mir gleich wieder eine reinhaut. Ich zeige mehrmals auf Irene, um anzudeuten, daß es nicht um mich geht.
Unsere Bewacherinnen bereden sich. Sie kommen offenbar zu einem Entschluß. Allerdings haben sie nicht die Güte, uns das Ergebnis mitzuteilen, außer daß eine von ihnen kurz in Wegrichtung deutet. Heißt daß, daß wir bald eine Pause machen, sowie wir einen geeigneten Platz erreichen, oder heißt das, daß wir weitergehen?
"Ich glaube, wir halten gleich ... Uaaah!" sage ich zu Irene. Die Frau neben mir hat mir wieder einen Schlag in den Bauch verpaßt. Das tun sie offenbar besonders gerne. Diesmal ist er nicht so stark, daß ich zusammenbreche, sondern nur gerade so, daß ich begreifen soll, daß ich den Mund zu halten habe. Sie stößt mich dann noch einmal vorwärts, als ob ich Anstalten gemacht hätte, nicht mehr weiterzugehen. Wenn ich die Wahl hätte, täte ich das auch nicht mehr.
Wir schleppen uns weiter. Mir tun inzwischen alle Knie- und Fußgelenke weh. Außerdem habe ich die gewisse Kurzatmigkeit, die ich von langen Dauerläufen kenne, Zeichen, daß der Stoffwechsel nicht mehr im Gleichgewicht ist, daß das Glykogen in den Muskeln weitgehend abgebaut ist und daß der Körper in ineffizienter Weise versucht, Fett zu verbrennen. Davon stirbt man nicht, und es ist auch nicht direkt ungesund. Aber man ist dann schon weit von der eigenen Leistungshöhe entfernt.
Irene geht es bestimmt nicht besser, eher schlechter. Daß sie überhaupt noch gehen kann, wundert mich. Es ist häufig so, daß sie bei Wanderungen Stunden braucht, um in Gang zu kommen. Dann aber, wenn das Marschtempo nicht zu hoch ist, hält sie viele weitere Stunden durch. Das hat sie ja auch in den letzten Tagen bewiesen. Heute ist das Maß allerdings randvoll.
Wir kommen in einigen Kehren in ein scharf und tief eingeschnittenes Tal, das auf seinem Grunde ebene Flächen hat. Erstmals sind wir von großen Urwaldbäumen umgeben, und zahllose Tiere lassen ihre Stimmen ertönen. Ein Bergbach nimmt hier gemäßigtere Formen an und verliert sich, neben der Straße, zwischen den Baumstämmen. Ich sehe, daß ohne die Straße ein Fortkommen in dem Unterholz nicht oder mit Buschmesser nur schwer möglich wäre.
6.8 Zwangsspiele
Dann wird der Bach wieder sichtbar und weitet sich zu einem Teich. Zwischen Straße und Teich ist ein kleines, ebenes Areal. 'Bergwiese' würde man es nicht nennen, weil es von unbekanntem Gestrüpp bewachsen wird, aber es macht ungefähr einen Eindruck wie eine Bergwiese. Unsere Bewacherinnen bleiben stehen. Irene sackt zusammen. Ich fange sie auf, so gut es geht, immer unter der Gefahr, gleich wieder Prügel zu beziehen. Da das nicht geschieht, lege ich sie hin. Sie schläft rasch ein. Ihr Atem geht sehr flach.
Unsere Bewacherinnen kümmern sich nicht allzusehr um uns. Eigentlich gar nicht. Da sie sich alle niederlassen, lege ich mich auch hin, neben Irene. Das paßt einer der Frauen aber nicht. Ich werde zu einem Platz gewiesen, der mindestens fünf Meter von Irene entfernt ist. Dann läßt sie mich wieder in Frieden.
Ich sehe noch, daß sie wieder etwas aus ihrem Gepäck auspacken und zu essen anfangen. Als ich meine, daß ich ohne weiteres einschlafen kann, weil wir tatsächlich eine längere Rast machen, passiert noch etwas merkwürdiges: Den drei Männern wird etwas befohlen. Sie ziehen sich aus und gehen sofort in den Teich, allerdings ohne besondere Begeisterung. Der, der am langsamsten reagiert, bekommt einen Tritt, der ihn mit Schwung in das Wasser schickt. Ob sie uns auch so rüde zum Waschen zwingen? Ich habe im Moment überhaupt keine Lust dazu. Gerade noch, daß ich vor dem Einschlafen Uhr und Höhenmesser ablese: 20 Uhr und 9700 Meter Tiefe. Dann schlafe ich ein.
Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Ich wache davon auf, daß etwas vor sich geht. Aber es hört sich nicht so an, als ob man uns wecken will. Deshalb ist mein erster Gedanke auch, weiterzuschlafen, besonders auch, weil ich Irene's vertrautes Schnarchen höre. Sie schläft wie ein Stein. Soll sie.
Ich blinzele mit den Augen, um rauszukriegen, was mich beunruhigt hat.
Zwei der Männer schlafen gegenüber am Waldrand. Der dritte ist gerade geweckt worden. Er sieht darüber nicht sehr glücklich aus, aber er fügt sich den Weisungen einer unserer Bewacherinnen. Die zweite schläft, und die dritte hantiert irgend etwas mit ihrem Bogen. Ob sie noch wach sind, oder schon wieder, weiß ich nicht. Ich will nicht zu erkennen geben, daß ich selbst gerade wach bin - weiß ich denn, ob sie dann wieder auf die Idee kommen, daß wir schon in der Lage sein könnten, weiterzumarschieren?
Dem Mann wird etwas befohlen. Er zögert, dann sehe ich, daß die Frau ihm das Schwert an die Kehle setzt, mehr in einer flüchtigen Geste als in einer ernsthaft gemeinten Bedrohung. Daraufhin zieht er sich sofort aus und legt sich mit dem Rücken auf dem Boden.
Die Frau geht einige Schritte zur Seite und nimmt einen Brotfladen, den sie abgelegt hat, wieder auf. Während die auf demselben rumkaut, setzt sie sich dem Mann auf die Unterschenkel und fängt an, ihn mit einer Hand zu onanieren. Dabei hat sie ihr Schwert neben sich in Griffweite gelegt.
Der Mann gerät sofort in ein Stadium deutlicher sexueller Erregung. Er greift mit seinen Händen an ihre Brüste, bekommt aber sofort eins auf die Finger. Sie sagt etwas in scharfem Ton, und darauf hin läßt er es bleiben.
Nun setzt sie sich weiter nach vorne und führt sich seinen Penis ein. Dazu hebt sie ihren Rock oder Lendenschurz aus Lederstreifen lediglich hoch - wie ich dachte, Unterwäsche kennen sie nicht. Dann reitet sie genau auf seiner Mitte, er sauber eingeführt, aber ohne daß sie dabei mit dem Essen aufhört. Die ganze Zeit habe ich den Eindruck, daß ihr das Essen wichtiger ist.
Die andere Frau, die immer noch mit dem Bogen hantiert, interessiert das Schauspiel gar nicht. Ich bin mir immer noch nicht über den Grad der Freiwilligkeit bei dem Mann klar - es hat so wie eine routinemäßige Vergewaltigung ausgesehen, oder wie 'Erfüllung von ehelichen Pflichten', was so ziemlich das gleiche ist.
Allmählich werden ihre Bewegungen schneller. Offenbar zeigt ihr der Mann nicht genug Einsatz, denn sie schimpft ärgerlich auf ihn ein, während sie auf ihm auf- und niederschwingt. Deutlich: Der Mann ist Werkzeug ihrer Lust, notwendige Nebensache. Naja, denke ich, ein bißchen wird er ja auch davon haben.
Jetzt hat die Frau irgend etwas der anderen Frau zugerufen, denn diese steht auf, legt den Bogen hin und geht zu den beiden rüber. Auch sie macht den Eindruck, als sei sie so ein Schauspiel gewohnt.
Sie kniet neben den beiden kopulierenden, legt das störende Schwert weiter weg und faßt unter den Hinterkopf des Mannes, der dann in ihrer rechte Hand liegt. Die linke Hand legt sie auf sein Gesicht. Ich begreife: sie hält ihm mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu und mit der Handfläche den Mund. So kann der Mann nicht atmen! Dann dreht sie seinen Kopf so in den Nacken, daß er die auf ihm reitende Frau nicht sehen kann. Dabei gelingt es mir, in die Augen des Mannes zu sehen: Ich kann schwören - der hat eine Todesangst.
So bleiben sie eine Weile sitzen: die eine reitet, die andere dichtet ab. Dann beginnen allmählich die krampfhaften Luftholbewegungen des Mannes, als er beginnt, zu ersticken. Ich begreife den Sinn der Übung: seine heftiger werdenden Bewegungen verschaffen der auf ihm sitzenden Frau die mechanischen Reize, die sie haben will. Sie hört zwar immer noch nicht auf, dabei zu futtern, aber sie lehnt sich mit Wohlgefallen etwas weiter zurück, während sie von den heftigen Bewegungen des Mannes immer wieder hochgeschleudert wird. Sie vermeidet es jedoch geschickt, von ihm heruntergeschleudert zu werden oder ihn herausgleiten zu lassen - er bleibt wie von einem Schraubstock gefaßt zwischen ihren Schenkeln eingeklemmt.
Dann bekommt sie endlich ihren Orgasmus, zwar ohne besondere akustische Ergüsse, aber doch deutlich genug. Als sie wieder aufhört, heftiger zu atmen, sagt sie zu ihrer Assistentin etwas. Die gibt Mund und Nase des Mannes wieder frei. Ehe der jedoch einigermaßen Luft holen kann, hat sie einen Stellungswechsel gemacht: Sie rutscht weiter nach vorne und setzt sich auf sein Gesicht. Man sieht keine Einzelheiten, aber es gibt furzende und ächzende und keuchende Geräusche. Es ist offenbar so, daß der Mann mit aller Gewalt Luft holen muß, und dabei ihre äußeren Geschlechtsteile mit seinen Atembemühungen massiert, ob er will oder nicht. Ihr macht das deutlichen Spaß. Dem Mann vermutlich weniger.
Das ist nach zwei Minuten auch vorbei. Beide stehen auf, und der Mann bleibt liegen - unbeachtet wie ein Stück Dreck. Er ist so fertig, daß er sich zunächst gar nicht bewegt geschweige denn versucht, sich anzuziehen.
Dann merkt eine der Frauen, daß ich, durch die Augen blinzelnd, das alles mit angesehen habe. Sie lacht und sagt zu der anderen etwas, und beide kommen näher. Mich durchschießt ein heilloser Schreck.
Aber das schlimmste tritt nicht ein. Ich bin nicht Opfer einer solchen Vergewaltigung, aber sie führen mir noch eine vor. Vorher legen sie eines der Schwerter vor mich hin, so, daß es mit der Spitze auf meinen Bauch zeigt. Es liegt so, daß es von ihnen jederzeit ergriffen werden kann. Dann kommt das ganze Spiel noch einmal, jetzt mit vertauschten Rollen und einem von den beiden übrigen Männern, die jetzt beide aufgewacht sind. Ich sehe, daß der, den sie nicht auswählen, relativ gleichgültig dem ganzen Geschehen zusieht und sich schon vor dem ersten Höhepunkt der früheren Assistentin, die jetzt die Reiterin ist, abwendet und zum Schlafen hinlegt. Als ob er das auch jeden Tag sieht.
Ich habe den Eindruck, daß die Erstickung des Mannes diesmal wesentlich weiter getrieben wird. Ob das eine Demonstration ist oder ob sie erst loslassen, wenn es ihm und der jeweiligen Reiterin gekommen ist, kann ich nicht sagen. Jedenfalls sehe ich diesmal alles aus nächster Nähe, und außerdem wird diesmal nicht dabei gegessen.
Als das Schauspiel zu Ende ist, geht die eine Frau zu ihrem Bogen zurück, der ebenfalls restlos erschöpfte Mann bleibt reglos liegen, und die andere Frau fährt mit ihrer Mahlzeit fort. Ich werde als Zuschauer schnell wieder uninteressant. Sie interessieren sich nicht einmal dafür, ob ich beeindruckt, erschreckt oder gar selber erregt bin. Schon nach Minuten ist es so, als wäre nichts gewesen. Beide solcherart geschändeten Männer haben sich auf ihre Schlafstellen zurückgezogen, so, als wäre nichts weiter passiert als eine nächtliche Ruhestörung, die etwa ein in das Lager eindringendes Tier verursacht hätte.
Wenigstens ist die Schlafperiode noch nicht zu Ende - aus der ständig gegenwärtigen Beleuchtung kann man ja keinen Hinweis darüber entnehmen. Es scheinen sich jetzt alle fürs Schlafen entschieden zu haben. Irene hat von dem ganzen Schauspiel nichts gemerkt.
Ich stelle noch fest, daß man das Schwert wieder aus meiner Reichweite entfernt hat. Vielleicht hat mich selbst nichts weiter vor dieser Vergewaltigung geschützt als meine relative Ungewaschenheit und meine Erschöpfung, die ihnen vor dem Schlafengehen ja aufgefallen sein muß. Jedenfalls kann ich mir jetzt einen Reim darauf machen, daß die drei Männer so unsanft zum Baden geschickt worden sind. Aber bevor ich noch weitere Betrachtungen über die unterschiedlichen Moralbegriffe dieser Menschen anstellen kann, schlafe ich schon wieder ein.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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