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******** 005. Tag: Mittwoch 95-08-23 ********
5.1 Die Tote Stadt
Mitternacht. 4400 Meter Tiefe. Wir sind an einer längeren, offenen Stelle des Fahrweges angekommen. Nach jetzt fünf Stunden Marsch, in denen wir weitere 2000 Meter abgestiegen sind, haben wir uns eine hungrige Ruhepause verdient. Wir setzen uns in die Zinnenlücken der Außenmauer.
Die verlassene Stadt ist jetzt genauer und aus einer besseren Perspektive zu sehen. Der spitze Felsen, auf dem sie steht, dürfte etwa einen Durchmesser von bloß 200 Metern haben, und er befindet sich in einer Entfernung von etwa dreihundert Metern von unserer Felssäule. Die Gebäude der Stadt oder der Burg sind eng und hoch gebaut, die Gassen zwischen den Gebäuden so schmal, daß man von unserer Position nicht mehr alle einsehen kann.
Die Gebäude haben Fenster, wie man das eigentlich auch erwartet. Allerdings scheinen die Fenster sehr unregelmäßig in die Mauern eingebrochen worden zu sein. Jedenfalls kann man von außerhalb eines Gebäudes nicht auf eine eventuelle systematische Stockwerkstruktur schließen.
"Eigentlich," sage ich, "dachte ich daran, diese Burg zu inspizieren. Aber jetzt denke ich, daß wir uns erstmal um etwas zu Futtern kümmern sollten."
Irene nickt Zustimmung.
"Außerdem," fahre ich fort, "haben wir in dem Punkt vielleicht sowieso keine Wahl. Wir gehen dahin, wo dieser Weg uns hinführt."
Irene nickt wieder. Mal sehen, ob wir das noch ein drittes Mal zustande bringen.
"Am besten, wir brechen alsbald wieder auf."
Die Zustimmung fällt dieses Mal nicht so deutlich aus. Eigentlich kann man sagen, daß die Zustimmung sogar ganz ausfällt.
"Irgendwann müssen wir weiter." gebe ich zu bedenken.
"Aber ein paar Minuten können wir doch noch sitzen bleiben!" bittet Irene.
"Natürlich." Solange es nur diese Bitte ist. Die kann man immer noch erfüllen. Aber was ist, wenn sie mich wider besseres Wissen um etwas zu Essen bittet, oder ich sie? Wenn wir uns anschreien, weil wir keine Brote auf der flachen Hand wachsen lassen können? Und wenn wir dann sogar zum Anschreien zu schwach sind?
Egal. Ich habe Vegetation gesehen. Rede ich mir ein. Organische Materie. Irgendwas kann man verdauen, und wenn es Gras, Moos oder Baumrinde ist. Der Mensch ist ein Allesfresser. Wenn es hier Leben gibt, dann werden wir essen. Es ist nur eben die Frage, ob wir eher etwas Giftiges oder etwas Nahrhaftes finden.
Ich erinnere mich an alte Geschichten von Menschen in der Zwangssituation des Hungers. Fragmente eines alten Liedes kommen mir in den Sinn:
Man warf das Los, um festzustellen, Wen man am besten schlachtete ... Das Los fiel auf den kleinen Moses, Der fing gleich an mit Ach und Jeh.
Der Mensch, reduziert auf seine Rolle als Kalorien- und Protein-Depot. Eine andere Geschichte von John Wyndham: Survival. Eine hoffnungslose Notsituation auf einem Raumschiff, das havariert um den Mars kreist. Ich erinnere mich: Als die Rettung nach Jahren eintrifft, ist nur noch eine Frau mit ihrem Baby am Leben. Die Retter finden abgenagte, menschliche Knochen, die durch die Räume des Schiffes treiben ...
Soweit sind wir noch nicht. Hungern kann man wochenlang. Wenn es sein muß. Und wir werden vorher etwas finden.
Die Minuten vergehen. Es ist im Moment völlig windstill. Ich glaube ein paarmal, fernen Donner zu hören, der an- und abschwillt. Außerdem ist da plötzlich ein langgezogener, klagender Schrei, der aus großer Ferne ganz schwach zu uns dringt. Ich sehe Irene an. Hat sie es gehört? Sie läßt es nicht erkennen, und ich horche weiter. Mir ist, als sei da immer ein flacher, fast lautloser Hintergrund von Stimmen, Schreien, Kreischen. Oder ist es in meinen Ohren? Das Blut in den Gefäßen des Kopfes, die aktivierten Neuronen, die die schwächsten Signale auswerten sollen - vielleicht nimmt man dan Signale wahr, die gar nicht da sind, oder Signalem die objektiv die Hörschwelle nicht überschreiten.
Die Pause dauert fast eine Stunde. Um 1 Uhr machen wir uns wieder auf den Weg.
Nun ändert sich etwas. Die bisher über Tausende von Metern völlig steilen Wände der Felssäule flachen geringfügig ab. Das hat zur Folge, daß von nun an der Fahrweg praktisch ständig nicht mehr in einem Tunnel, sondern außen wie eine normale Straße in den Bergen am Hang geführt wird. Zum Marschieren ist das wegen der besseren Beleuchtung auch angenehmer. Nur an den Kehren des Fahrweges, die wir schon längst nicht mehr mitzählen, sind gelegentlich noch kurze Tunnelstücke gebaut worden.
Um 2 Uhr erreichen wir in 4800 Metern Tiefe die Höhe der höchsten Gebäude der Stadt. Die Perspektive, die sich nun von Minute zu Minute ändert, bringt leider keine neuen Erkenntnisse. Immer noch sieht die Stadt völlig tot aus, auch, wenn wir nun und schon seit einiger Zeit das Gefühl haben, beobachtet zu werden. Das hat man in einer solchen Situation wohl immer. Ich erinnere mich an unseren Urlaub auf Lanzarote, wo wir an verlassenen städtebaulichen Projekten vorbeigekommen sind. Da war zum Beispiel das 'Atlante del Sol'-Projekt, ein großer Rohbaukomplex an der Südwestküste der Insel, der wohl eigentlich einmal eine Hotelanlage werden sollte. Überall sah man Zeichen des Verfalls, aber auch Zeichen einer vorübergehenden Nutzung durch Menschen, die sich in den unteren Räumen eine provisorische Unterkunft gebaut hatten. Wir hatten keine Menschen gesehen. Aber auch dort haben wir uns überall beobachtet gefühlt.
Ich inspiziere den Grat zwischen der Stadt und uns genauer. Der stark gewundene Fahrweg drüben, der ebenfalls an fast senkrechten Felswänden unter der Stadt gebaut worden ist, verschwindet nach unten in der Wolkenoberfläche. Wir wissen nicht, ob es sich um unseren Fahrweg handelt, oder ob er von dem unserem abzweigt, oder ob es eventuell überhaupt keine Verbindung zwischen unserem und jenem Weg dort gibt. Auf jeden Fall ist der Grat zwischen der Stadt und unserer Felssäule immer noch weit unter der Wolkenobergrenze - es sieht so aus, als müßte man, um die Stadt zu verlassen, wenigstens fünfhundert Höhenmeter opfern.
Seit geraumer Zeit ist die Stadt nun zu unserer Linken. Es gibt keine Kehren mehr, und so fällt die Stadt allmählich deutlich hinter uns zurück. Jetzt, wo ihre Zinnen und Türme uns um einiges überragen, sieht sie bedrohlicher aus als vorher. Aber es gibt nach wie vor keine Anzeichen irgendeines Lebewesens.
5.2 Nahrungssuche und Ätzbeeren
Unser Fahrweg führt uns jetzt also im Uhrzeigersinn um unsere Felssäule herum. Es ist, als ob wir uns auf ein weißes, wogendes Meer zu bewegen.
Kurz nach 2 Uhr entdecke ich einen dunkelgrünen Fleck am Wegesrand.
"Sieh mal!" rufe ich Irene zu, "Was meinst du: ist das Moos? Oder irgendeine Flechte?"
Unsere Kenntnisse in Biologie sind leider nicht so grundlegend, daß wir das beantworten könnten. Aber es ist etwas Lebendes, da bin ich sicher. Schon nach kurzer Zeit mehren sich diese Flechten.
Außerdem hören wir nun definitiv das Kreischen von Vögeln, auch, wenn wir noch keine sehen. Es wird um so lauter, je weiter wir kommen.
Um 2:30 Uhr erreichen wir eine Tiefe von 5000 Metern. Die Obergrenze der Wolken ist erreicht. Nebelschwaden fliegen an uns vorbei, dichter und dichter. Nach einigen Minuten ist die Aussicht verschwunden. Nun könnte dieses eine Fahrweg irgendwo auf der Oberfläche der Erde sein, während eines nebeligen Tages.
Die Luft wird feucht. Genaugenommen wird es schwül. Außerdem wird der Felsen immer flacher, und die Artenvielfalt des Pflanzenwuchses nimmt rasch zu. Moose, Grase, gelegentlich sogar kleine Büsche. Dann, als der Felsenboden in einen erdbedeckten Hang übergeht, sind wir innerhalb weniger Dutzend Meter vollständig in der Vegetationszone. Auch die Zinnenmauer zum Außenhang, die den Weg bis jetzt begleitet hat - seit einigen hundert Metern schon gemauert und nicht mehr aus dem Fels herausgeschlagen - verschwindet. Dafür gibt es jetzt rechts und links des Weges zugewachsene Gräben, und der Weg wird ebener und leichter zu begehen. Er ist jetzt mit Steinplatten belegt. Wäre er das nicht, dann wäre er wohl auch schon zugewachsen. Zwischen den Ritzen der Steinplatten drängen sich kraut- und grasartige Pflanzen heraus. Nichts deutet darauf hin, daß dieser Weg häufig benutzt wird. Aber sollte ein solcher Weg trotz dieser Steinplatten nicht eigentlich wenigstens dann vollständig zuwachsen, wenn er überhaupt nicht benutzt wird?
Wir sehen uns in dem uns nun umgebenden Buschwerk um. Keine Pflanze, die uns bekannt wäre. Büsche, vereinzelte Bäume, Farben und Formen, alles ist fremdartig. Wir sehen uns das alles unter dem Aspekt 'eßbar' oder nicht an. Das ist allerdings bei einer völlig fremden Vegetation schwierig. Das ist ja fast so, als ob man auf einem anderen Kontinent oder sogar auf einem anderen Planeten gelandet wäre.
Die Beleuchtung entspricht jetzt, wo wir uns in Wolken und Nebel befinden, ungefähr einem nebeltrüben Tag auf der Erdoberfläche. Das allgemeine Licht ist also grau. Trotzdem erscheinen die Farben fremdartig, und ich spekuliere darüber, ob in dieser Vegetation statt des Chlorophylls etwas anderes verwendet wird. Wenn sich die Biochemie dieser Pflanzen von der unseren aber deutlich unterscheidet, dann wird es mit der Ernährung schwierig.
Da das knietiefe Dickicht zu beiden Seiten der Straße allmählich unwegsam wird, beschränken wir uns auf die Inspizierung der Pflanzen, die wir von der Straße aus erreichen können. Schließlich findet Irene eine Staude mit pflaumengroßen, roten Beeren. Wir haben schon einige andere Früchte gesehen, die möglicherweise Kalorien versprachen, aber die hatten alle eine unappetitliche Farbe oder eine zähe, ungenießbare Konsistenz. Diese Beeren sind das erste, was nicht schon optisch abstoßend aussieht.
"Wer wagt es?" frage ich. Rhetorische Frage. Ich natürlich. Vorsichtig versuche ich, eine dieser Beeren zu lösen. Dabei platzt sie. Ein klebriger Saft läuft mir über die Finger und ein übler Geruch hüllt uns momentan ein. Das wäre nicht das schlimmste: Der Saft fängt an, auf der Haut wie eine Säure zu brennen.
"Scheiße. Das tut weh. Irene, hilf mir! Nein, faß das nicht an!"
Ich versuche, den Saft an Blättern anderer Pflanzen abzuwischen. Das gelingt, aber das brennende Gefühl verschwindet nicht restlos. Mit viel Speichel kann ich wenigstens wieder die Illusion einer relativen Sauberkeit schaffen. Die Hautoberfläche meiner Hände verändert sich nicht. Ich kann nur hoffen, daß das Erlebnis keine bleibenden Folgen hat.
5.3 Begegnung mit der Vorzeit
Wir suchen weiter. Das Gelände wir immer ebener. Zu diesem Zeitpunkt weist nichts mehr darauf hin, daß sich in der Nähe Gelegenheit zu extremen Felsklettereien bietet. Auf diese können wir aber gut verzichten.
Unsere Marschrichtung ist laut Kompaß ungefähr Nord. Der Weg schlängelt sich, ohne daß zu erkennen wäre, welchen geographischen Hindernissen er ausweicht. Mehr als etwa fünfzig bis hundert Meter des Weges in beiden Richtungen können wir sowieso wegen des Nebels nicht überblicken. Deshalb kommen wir auch ziemlich überraschend an den See. Es ist jetzt 5 Uhr Morgens. Ich denke, wir könnten bald wieder Schlaf vertragen.
Der See scheint kreisrund und flach zu sein. Sein Durchmesser ist annähernd zweihundert Meter, wie wir nur kurzzeitig durch einige Nebellücken sehen können. Die meiste Zeit aber entzieht der treibende Nebel das gegenüberliegende Ufer unseren Blicken. Deshalb ist auch nicht restlos auszuschließen, daß der See nur die Bucht eines größeren Sees sein könnte.
Der Weg folgt dem Ufer für vielleicht fünfzig Meter und verläßt ihn dann wieder.
"Trinkwasser oder nicht?" denke ich laut nach, "Wir haben noch. Wir brauchen kein überflüssiges Risiko einzugehen!"
Irene sagt nichts, und ich gehe erst einmal daran, meine Hände in dem Seewasser von den letzten Resten des ätzenden Beerensaftes zu waschen. Dann kühle ich mir die Stirn. Das Wasser ist warm, und ich denke daran, daß man sich hier eventuell etwas länger aufhalten könnte, um wieder zu Kräften zu kommen. Außerdem MÜSSEN wir uns mit der Vegetation weiter vertraut machen, wegen des Nahrungsproblems.
Irene hat sich auch an das Ufer gesetzt. Sie zieht Schuhe und Socken aus und stellt ihre Füße ins Wasser. Damit bietet sich für mich an, für einen Trinkwassertest einige Dutzend Meter weiter am Ufer entlang zu gehen. Die Idee, sich einmal wieder gründlich zu säubern ist aber an sich nicht schlecht.
Irene strammpelt mit den Füßen und erzeugt lautstarkes Platschen. Schaum und Spritzer sehen ganz gewöhnlich aus, wie bei ganz normalem Wasser eben. Wie beruhigend, nach der Erfahrung mit dem Beerensaft.
Dann rauscht und braust es draußen auf dem See für einige Sekunden auf. Wir verfallen sofort in absolute Bewegungslosigkeit. Im Moment ist der Nebel wieder so dicht, daß die Sicht nicht weiter als fünfzig Meter reicht. Man kann hinter der grauen Wand über dem Wasser nichts, aber auch gar nichts erkennen. Was wir aber gut erkennen können sind die Wellen, die nach wenigen Sekunden aus der Richtung dieses Brausens kommen. Weitaus höhere Wellen als die, die wir hier am Ufer selbst verursacht haben. Das ist überhaupt nicht mehr beruhigend.
"Leise!" flüstere ich. "Das könnte ein großes Tier sein!"
Es rauscht und platscht wieder, wenn auch schwächer. Dann rülpst es. Einen solchen Rülpser habe ich aber noch nie gehört. Ein sonorer Baß, voluminös, laut und langgezogen. In einschlägigen Kreisen und unter anderen Umständen würde man das als 'opernfähig' bezeichnen. Wir sehen uns an.
"Herwig, ich will hier weg!" sagt Irene. Sie zieht schon wieder ihre Socken und Schuhe an.
"Sei leise! Es hat uns vielleicht noch gar nicht bemerkt!" sage ich.
Einen Moment lang wird der Nebel wieder durchlässiger. Fast könnte man wieder eine Blick auf das gegenüberliegende Ufer erhaschen. Aber nur fast. Was ich schemenhaft sehe, und was vorher nicht dagewesen ist, ist eine kleine Insel, neben der ein seltsam gebogener, gedrungener Baumstamm aus dem Wasser ragt. Der obere Teil des Baumstammes ist fast horizontal von der Insel weggebogen. Er hat überall einen konstanten Durchmesser. Dann zieht sich der Nebel wieder zu, ehe ich mehr sehen kann. Ich glaube aber noch erkennen zu können, daß der dicke Baumstamm leicht schwankte.
"Das erinnert mich an etwas. Bist du fertig?" flüstere ich. Laut schwappt das Wasser ans Ufer, nicht nur hier, sondern rund um den See. Eine willkommene Geräuschkulisse, wenn wir uns jetzt davonmachen wollen.
Wir haben aufgepackt und wollen losmarschieren. Dann schlägt Murphy zu: Eine große Nebellücke öffnet den Blick bis auf das gegenüberliegende Ufer. Von einer Sekunde zur anderen sehen wir es und es sieht uns. Wie angenagelt bleiben wir stehen.
"Beweg dich nicht!" flüstere ich. Irene bewegt sich nicht. Ich auch nicht. Das Vieh auch nicht. Noch nicht.
Brontosaurus. Oder Apatosaurus. Oder Brachiosaurus. Oder Seismosaurus. Wie im Bilderbuch. Oder im Lehrbuch für Paläobiologie. Der größte Teil seines Körpers ist noch unter Wasser. Wir sehen nur den Rücken und den gebogenen Hals. Von uns aus gesehen sieht es nach links, das heißt, es hält wenigstens den Kopf in diese Richtung. Wahrscheinlicher ist aber, daß es kein stereographisches Sehen beherrscht und dafür fast 360 Grad rundherum sehen kann. Die kleinen Augen liegen jedenfalls ziemlich weit seitlich an dem in Vergleich mit dem übrigen Körper kleinen aber absolut gesehen PKW-großen Kopf.
"Es hat uns noch nicht gesehen!" vermute ich. Ob Irene mir glaubt oder nicht weiß ich nicht. Was weiß ich über Brontosaurier? Nicht viel: So groß und schwer, daß man eine ganze Zeitlang geglaubt hat, daß sie sich entweder die meiste Zeit oder sogar immer in flachem Wasser aufhalten müssen. Aus welchen Gründen diese Meinung revidiert wurde, weiß ich nicht. Er hat eine Art Zweitgehirn im Rücken, wegen der weiten Entfernung zum Kopf. Pflanzenfresser. Wahrscheinlich bemerkenswert unintelligent. Vielleicht sind diese Erkenntnisse auch schon wieder überholt. Ich weiß es nicht.
Außerdem ist dieses Vieh hier zu groß, meiner Meinung nach. Brontosaurier sind groß, aber doch nicht so groß!
"Wenn der Nebel wieder kommt, hauen wir ab!" schlägt Irene vor. Gute Idee. Müßte gleich soweit sein. Vor wenigen Minuten war doch dauernd dichter Nebel.
"Hast du nicht deine Kamera mit?" frage ich leise.
"Du spinnst wohl!"
Jetzt weiß ich es. Na gut, im Moment ist Fotografieren wahrscheinlich nicht mit ihrem Gemütszustand vereinbar, selbst, wenn sie die Kamera mithaben sollte. Wir hätten ja schon einige sensationelle Aufnahmen machen können, von den Hängebrücken, dem langen Klettersteig, der toten Stadt, und jetzt dies hier. All das hat aber nur Sinn, wenn wir jemals zurückkommen sollten. Selbst wenn wir die Kamera mithaben sollten, ich weiß nicht, wo sie verpackt ist.
Also keinen Schnappschuß von dem Saurier. Schade. Wahrscheinlich ist es völlig ungefährlich. Die einzige Gefahr, die von einem Brontosaurier oder einem Exemplar einer verwandten Gattung ausgeht ist die, daß er auf einen drauftreten könnte, wenn man ihm zufällig im Wege steht. Jedenfalls beruhige ich mich jetzt innerlich mit dieser Aussage. Oder ist es nur eine Vermutung? Was können die Paläobiologen schon herausgebracht haben über die Verhaltensweise von Brontosauriern? Bloß, weil Brontosaurus nicht so ein abartig effektives Gebiß wie Tyrannosaurus Rex hat, heißt das noch lange nicht, daß er auch wirklich einen netten Charakter hat. Andererseits - Elefanten sind auch groß, und die haben einen - weitgehend - netten Charakter. Welche Schlüsse sollen wir ziehen?
Der Nebel wird wieder dichter. Wir haben Glück.
"Gleich können wir weiter!" flüstere ich. Da dreht das riesige Tier langsam den Kopf in unsere Richtung. Dort, wo der Hals die Wasserlinie trifft, bildet sich eine Bugwelle. Es bewegt sich!
Nur einige Sekunden später ist es durch den Nebel unserem Blick wieder entzogen. Aber das Rauschen und Platschen aus der Mitte des Sees deutet an, daß sich der Saurier tatsächlich in Bewegung gesetzt hat. Die Geräusche kommen langsam näher. In welche Richtung sollten wir uns jetzt davon machen? Keiner von uns trifft eine Entscheidung, und so bleiben wir erst einmal stehen. Die Sekunden vergehen.
Dann taucht der Kopf wieder auf, in fünfzig Meter Entfernung und in etwa dreizehn Metern Höhe. Es kommt geradewegs auf uns zu, und es will hier an Land steigen!
Seine Bewegungen und seine Geschwindigkeit sind zäh und langsam. Jeder Fußgänger ist schneller, geschweige denn ein Läufer. Wir laufen einige Schritte. Währenddessen sehe ich das Tier über die Schulter an. Es verändert seine Marschrichtung überhaupt nicht.
"Halt an!" rufe ich. Wir sehen beide zu, wie sich das Tier der Uferstelle nähert, an der wir eben noch gestanden haben. Immer mehr von seinem Körper hebt sich aus dem Wasser. Ich habe kaum geglaubt, daß das geht, aber es wird tatsächlich noch langsamer!
"Es nimmt uns gar nicht zur Kenntnis!" vermute ich.
Waren wir der Grund, aus dem es diese Uferstelle angesteuert hat? Jedenfalls scheint es mit unseren kleinen Positionswechsel intellektuell schon restlos überfordert zu sein. Mühsam steigt es an Land. Seine Schritte frieren zeitlupenartig ein. Der Boden zittert leicht. Dann kommt es zum Stehen. Nur die Wellenfronten auf dem See zeigen noch, daß es sich überhaupt bewegt hat.
Es sieht wirklich so aus, wie man sich einen Brontosaurier gemeinhin vorstellt, nur eben viel größer. Allein der lange Schwanz, den es nach sich zieht, ist groß wie ein Güterwagen der Bundesbahn.
"Es muß über hundert Meter lang sein!" schätze ich. Der Kopf pendelt jetzt, wo das Tier fast ganz aus dem Wasser heraus ist, in vielleicht zwanzig bis fünfundzwanzig Metern Höhe. Es steht jetzt fest: Die Evolution hat bei dieser Gattung noch einiges an schierer Größe zugelegt. Dann fällt mir etwas auf:
"Irene, siehst du das da unter dem Bauch! Zitzen! Es ist ein Weibchen! Man könnte eventuell an Milch kommen ..."
Ich halte ein. Das ist Blödsinn, was ich gesagt habe: Saurier sind Reptilien, keine Säugetiere. Sie können keine Zitzen haben. Auch andere, äußere Geschlechtsorgane sind bei Reptilien unüblich - glaube ich. Oder hat die Evolution hier beides zusammengebracht? Oder ist unser Wissen über die Saurier unvollständig? Schließlich weiß ich, daß es einige Arten gibt, bei denen man sich noch darüber streitet, ob es nicht vielleicht doch Warmblüter gewesen sein könnten. Vielleicht ist hier alles anders. Vielleicht hat die Evolution hier den Reptilien Eigenschaften gegeben, die sonst nur den Säugetieren zugeschrieben werden. Außerdem habe ich noch in dumpfer Erinnerung, daß die Saurier mehr mit den Vögeln gemeinsam haben sollen als mit den Reptilien. Ich weiß nicht, wo ich das gelesen habe - es paßt nämlich genauso wenig mit dem zusammen, was wir jetzt sehen: Vögel sind auch keine Säugetiere. Vielleicht sind diese 'Zitzen' auch irgendwelche Hautfalten. Vielleicht ist das Tier bloß fett.
"Und wie willst du da rankommen?" fragt Irene. Ihr ist dieser Widerspruch zwischen Reptil- und Säugetiereigenschaften noch nicht aufgefallen.
Recht hat sie. Um das Tier zu melken bräuchte man eine Leiter, um an den Bauch ranzukommen. Eine lange Leiter. Wenn es sich überhaupt um Zitzen handelt, was ja nun überhaupt nicht sicher ist. Und wenn es solange still hält.
Der große Kopf senkt sich. Und senkt sich. Senkt sich immer noch. Dann taucht er in das Buschwerk ein. Selbst, wenn wir der Grund seines Marsches an Land waren, dann hat es uns schon wieder vergessen. Es fängt an, in dem Buschwerk zu äsen. Dabei scheint es ohne allzugroße Präferenzen abzugehen: Es zerkaut alles, was es in das Maul bekommt.
"Es stinkt!" sagt Irene.
"Was erwartest du von einigen hundert Tonnen Frischfleisch ohne besondere Hygieneaktivitäten? Vielleicht sind es sogar an die tausend Tonnen."
"Du spinnst." flüstert Irene.
Das Wort 'Frischfleisch' erinnert mich schlagartig wieder an unser Hauptproblem: Wir müssen lernen, uns in dieser Umwelt etwas zu Essen zu beschaffen. Wenn Saurierfleisch genießbar ist, dann sind keine hundert Meter von uns entfernt genug Lebensmittel für Jahre. Nein, korrigiere ich mich: Von einer Tonne ausgewogener Lebensmittel könnten wir beide ein ganzes Jahr leben. Da drüben sind also mehr Kalorien als wir in unserem ganzen Leben verbrauchen könnten. Das heißt, wenn ich meine vegetarischen Gewohnheiten vergesse.
Abenteuerliche Ideen fallen mir ein. Die meisten verwerfe ich gleich wieder. Man könnte zum Beispiel ein Stück Fleisch aus dem Schwanzende herausschneiden und sich davonmachen, bevor das Tier reagiert. Aber wer sagt, daß die Haut überhaupt so dünn ist, daß ich mit meinem Taschenmesser bis auf das Fleisch durchschneiden kann?
Man könnte versuchen, das Tier umzuwerfen. Vielleicht kann es sich an Land nicht wieder erheben und ist dann wehrlos. Hört sich auch einfach an. Das würde das Graben einer Fallgrube bedeuten, die groß genug sein müßte, daß es sich dort mit eine Fuß verfängt. Also mindestens etwa so groß wie eine Garage. Das können wir nicht.
Im Nebel über uns rauscht etwas vorbei. Wenig später lassen sich zwei größere Vögel auf dem Rücken des Sauriers nieder. Der läßt sich dadurch nicht stören. Die Vögel beginnen sofort, ihm irgend etwas aus seinen Hautfalten zu picken. Wahrscheinlich ist das ein ganz normaler Vorgang. Die Vögel wären als Braten auch schon recht. Es muß ja kein ganzer Saurier sein. Wie sich jetzt alle Gedanken ums Essen drehen!
"Wahrscheinlich," sage ich, "könnte man sich diesen Vögeln nähern - die kennen keine Menschen."
"Bis auf die, die diese Wege gebaut haben." stellt Irene fest. Hat sie auch wieder recht. Außerdem sind die Vögel da auf dem Saurierrücken für uns sowieso unerreichbar.
"Am besten, wir gehen weiter." vermute ich.
Wir folgen der Straße, leise auftretend und rückwärts gehend. Langsam steigt die Entfernung zwischen uns und dem Riesentier. Immer häufiger treiben immer mehr Nebelschwaden zwischen uns und ihm. Dann sind wir seinem Blick entzogen. Wir drehen uns um und gehen normal weiter - unversehrt, aber hungrig und ungewaschen.
"Ich glaube es immer noch nicht." sage ich, "Irene, sage mir, daß ich nicht träume! Weißt du, was das für die Wissenschaft bedeutet, was wir da eben gesehen haben?"
"Ich habe Hunger." sagt die Irene. Ich träume tatsächlich nicht - so, genauso reagiert die Irene, wenn man einem Weltwunder über den Weg gelaufen ist. Egal, welches.
Es dauert nicht lange, bis die Straße einen kleineren See streift. Dort holen wir wenigstens das Waschen nach. Da wir die kleine, vielleicht achtzig Meter durchmessende, flache Pfütze gut übersehen können, sind wir ziemlich sicher, daß nicht plötzlich auch hier ein Reptil auftaucht. Trotzdem wäscht sich nur einer zur Zeit, während der andere am Ufer steht und Augen und Ohren aufsperrt. Aber nichts Beunruhigendes geschieht.
Es ist 6:30 Uhr, früher Mittwoch Morgen. Wir denken allerdings beide ans Schlafen. Gleich nach dem Gedanken ans Essen, versteht sich.
Irene wäscht sich als zweite. Als sie an das Ufer steigt, rutscht sie im Uferschlamm aus.
"Autsch!" ruft sie.
"Na, so hart kann der Boden nicht gewesen sein!" sage ich. Undiplomatisch. Ich sollte eigentlich wissen, daß ich es nicht anzweifeln darf, wenn sie sich weh getan hat.
"Ich bin auf etwas Hartes gefallen!" sagt sie.
"Jedenfalls kannst du dich gleich nochmal abspülen - nicht hier, das Wasser ist jetzt trüb!" bemerke ich und trete näher. Im Uferschlamm, an der Stelle, wo sie hingefallen ist, ist ein länglicher Gegenstand, ein Stein, oder ein Ast, oder auch ein ...
Ich hechte hin. Eine Sekunde später liegt ein betäubter oder toter Fisch an Land. Vielleicht vierzig Zentimeter lang und sechs Zentimeter dick. Nicht viel, aber wenn er genießbar ist?
Er rührt sich. Also hat Irene ihn mit ihrem überraschenden Fall betäubt. Meine heftiger Sprung, um ihn zu fangen, war also unnötig. Aber ich muß dafür sorgen, daß er nicht wieder zu sich kommt: Meine Faust fährt wie ein Hammer auf das Ende, wo ich den Kopf des Fisches vermute. Dann klappe ich mein Messer auf. Im Prinzip bin ich ja Vegetarier. Aber ich bin auch hungrig. Nicht nur im Prinzip, sondern jetzt und unmittelbar. Außerdem haben wir ja ernsthaft versucht, pflanzliche Nahrungsmittel zu finden. Es lag nicht an uns, daß es hier sowenig zum Essen gibt! Also lassen wir die Prinzipien erstmal unberücksichtigt.
"Du meinst, man kann ihn essen?" fragt eine hoffnungsvolle Irene, die plötzlich neben mir steht.
"Ich weiß nicht." sage ich, als ich mein Messer in den Fischleib bohre, gleich hinter den Klappen, die die Kiemen sein müssen. Es geht schwer. Auch früher, als ich es mit der vegetarischen Lebensweise nicht so ernst genommen hatte, habe ich nie einen Fisch vernünftig zerlegen können. Auch hier gelingt es mir nur sehr unvollkommen. Es gibt ein Rückgrat und Gräten und innere Organe, die ich gleich zur Seite lege. Nach einigen Minuten habe ich einige ordentliche Stücke schieres Fleisch herausgearbeitet. Das ganze wird von einem ordentlichen, eigentlich widerlichen Gestank begleitet.
"Feuer wäre jetzt recht." sage ich.
Irene ist inzwischen mit ihrem Waschen fertig und hat sich wieder angezogen.
"Hast du nicht Streichhölzer mit?" fragt sie.
"Ja. Irgendwo. Aber ob wir hier viel Brennbares finden - die Pflanzen stehen hier alle im Saft, und abgefallene Zweige vermodern schnell."
"Ich geh was suchen!" sagt Irene und geht auf die nächsten Büsche zu.
5.4 Großmaul's Ende oder die Lust zum Töten
Ich bin bald mit dem Zerlegen des Fisches fertig. Sechs große Stücke, die leidlich frei von Gräten sind und fast nur aus Fleisch bestehen. Ich stehe auf, um Blätter zu suchen, um die Stücke zum Braten darin einzuwickeln.
Halt, denke ich, wenn du hier Fleisch rumliegen läßt, dann wird sich über kurz oder lang ein anderes Tier drumm kümmern. Besser, Irene bringt Blätter mit. Wo ist sie eigentlich? Ich sehe mich um.
Der ruhige See, jetzt mit völlig regloser Oberfläche, der Fahrweg, der sich dem Ufer des Sees auf wenige Meter nähert, die sumpfige Stelle an der gegenüberliegenden Seite des Sees, wo vielleicht ein Rinnsal den Zufluß bildet, und überall sonst das dicke Gebüsch, das meistens schon höher ist als ein aufrecht stehender Mensch. Glucksen aus der Richtung der Wasserfläche, fernes, verhaltenes Gekreisch von Vögeln, das Säuseln eines leichten Luftzuges an meinen Ohrmuscheln. Aber von Irene ist nichts zu hören oder zu sehen. Man müßte wenigstens das Knacken von Ästen hören, ihre Bewegungen im Gebüsch - sie wollte doch Holz sammeln?
"Irene!" rufe ich. Nichts. Nachdem ich das mehrere Male wiederholt habe, lege ich die Fischfleischstücke auf den Boden. Mit gezogenem Messer gehe ich auf die Stelle im Dickicht zu, an der Irene verschwunden ist.
Ich finde an einigen Büschen abgebrochene Äste, die anzeigen, daß sie vielleicht an diesen Stellen gewesen ist. Offenbar ist sie weitergegangen, um besseres Brennmaterial zu suchen. Leider hat sie dabei nicht die ganze Zeit Äste abgebrochen. Schon bald weiß ich nicht mehr mit Sicherheit, ob ich nicht vielleicht ihre Spur verloren habe.
Dann glaube ich, meinen geflüsterten Namen zu hören. Es kam von links. Nach einigen Schritten sehe ich schon das Streifenmuster ihres T-Shirts. Es bewegt sich aber nicht. Sie pflückt jedenfalls kein Holz. Ich halte das Messer draußen und versuche, mich so leise wie möglich ihr zu nähern. Ganz lautlos geht das aber nicht, nicht in diesem Dickicht. Sie müßte mich doch kommen hören! Warum dreht sie sich nicht um? Mit einigen schnellen Schritten bin ich bei ihr.
Ein widerliches, hundgroßes, haarloses Monster, das zwei Meter vor der erstarrten Irene steht, reißt ein beeindruckendes Gebiß auf. Das Gebiß ist für ein Tier dieser Größe eigentlich zu groß, aber ich bin sicher, daß es weiß, wie man damit umgeht. Irene steht immer noch vom Schreck gelähmt. Vielleicht hat sie ihre Bewegungslosigkeit bis jetzt vor dem Angriff des Tiers geschützt, ich kann jedenfalls mit einem schnellen Blick bei ihr keine Verletzungen erkennen.
Ich habe die Szene allerdings nicht bewegungslos betreten. Das Tier wendet sich mir zu und geht mich an. Seine Bewegungen sind auffallend langsam.
"Irene, hau ab, es ist nicht schnell!" rufe ich und springe zur Seite. Vielleicht könnte man dem Tier ganz gut ausweichen, aber hier, in dem Gebüsch, ist das schwierig. Monster von vorne, Busch von hinten, links und rechts. Ich habe keine Wahl.
Ich weiß nicht, wo es am verletztlichsten ist. Aber eine Körperstelle, die im allgemeinen nie besonders gut gegen mechanische Einwirkung geschützt ist, bei keinem Tier, präsentiert es mir ja geardezu in obszöner Intimität: seinen Rachen. Zwischen den messerartigen Zähnen, zwischen denen ein zäher Saft niederfließt, ist roter Gaumen oder Teile einer Zunge zu sehen.
Verglichen mit seinen Bewegungen stößt mein Messer sehr schnell zu und ist schon wieder zurück. Das Maul klappt zu als meine Hand schon wieder fast zwei Sekunden lang draußen ist. Mein Messer ist blutig.
Es ist nicht mein Blut. Plötzlich spüre ich etwas, was ich noch nicht kenne: Aggression und die Lust zum Töten. Dieses Tier hat uns angegriffen und damit die moralische Rechfertigung unserer Gegenwehr gegeben. Jetzt heißt es: ich oder es.
Ich weiß nicht, was es solange überlegt. Vielleicht ist es über den ungewohnten Schmerz im Maul verblüfft. Oder meint es, der Blutgeschmack im Maul wäre mein Blut. Egal. Präzise führe ich das Messer ein weiteres Mal nach vorne, ins Auge.
Das gelingt. Das Tier scheint überhaupt keine Reflexe zu haben, oder seine Reflexe sind viel zu langsam. Es reißt das Maul auf, wie zu einem Schmerzensschrei. Erst jetzt fällt mir auf, daß es offenbar keine Stimme hat. Um klare Verhältnisse zu schaffen, steche ich auch in das andere Auge. Dann trete ich an dem Tier vorbei in Richtung Irene.
Der Kampf ist praktisch gewonnen. Es war eigentlich zu leicht. Seine Gebißausstattung ist zwar gefährlich, aber seine Bewegungen waren viel langsamer als man das eigentlich von Raubtieren dieser Größe gewohnt ist. Sonst hätte ich in diesem Kampf schlechte Karten gehabt.
Es dreht sich im Kreise, schnappt ein paarmal ins Leere. Ich positioniere das Messer in der Hand um, mit der Klinge nach unten. Dann stoße ich in seinen Nacken. Beim ersten Mal komme ich kaum durch die zähe, lederartige Haut hindurch, aber ich stoße mehrfach zu. Endlich bricht das Tier zusammen, immer noch ohne einen Laut. Ich knie mich daneben hin und führe einen tiefen Schnitt unter seinem Hals, dort, wo ich seine Kehle vermute. Das ist erfolgreich: diese Wunde schlägt Blasen und röchelt.
Dann gehe ich zu Irene und nehme sie in die Arme. Sie ist in der Tat unverletzt, aber der Schreck sitzt ihr immer noch tief in den Knochen. Schweigend sehen wir uns den Todeskampf des Tieres an.
Jetzt könnte ich mir wieder Mitleid mit der armen, gequälten Kreatur leisten, denke ich. Aber mir ist auch weich in den Knien. Ist es nicht gerechtfertigt, um sich selber mehr Angst zu haben als um den Angreifer?
"Das wird jetzt so bleiben, solange wir hier unten sind, Irene. Hier gibt es bestimmt noch mehr solche Viecher. Geht es wieder?" Sie nickt.
"Dann sammeln wir weiter Holz ein. Ich glaube, Fleisch haben wir jetzt genug!"
Vorher jedoch muß ich wirklich reinen Tisch machen. Die Röchelgeräusche könnten andere Raubtiere herbeilocken. Irgendwie scheint das Tier durch den Schnitt in der Kehle immer noch erfolgreich zu atmen. Ich setze meinen Fuß auf den Hals und trete zu. Erfolgreich: Der Kehlkopf, wenn es einen hat, kollabiert mit einem feuchten Knirschen, und das Röcheln hört auf. Nach etwa einer Minute bewegt es sich nicht mehr.
Irene hilft mir, das Tier zurück zum Teich zu schleppen. Dabei versuche ich, es irgendwie in die biologische Klassifizierung einzuordnen, aber das gelingt mir nicht. Schon der Saurier, der so aussah, als wäre er zugleich ein Säugetier, entzöge sich wahrscheinlich schon den Klassifizierungsversuchen eines jeden Zoologen.
In den nächsten Minuten holen wir gemeinsam Holz - das Holz, das Irene schon abgebrochen hat, und weiteres. Ich fürchte, wir werden Schwierigkeiten haben, ein gutes Feuer zu entzünden, denn das meiste ist relativ feucht. Außerdem versuche ich, dilletantisch das Tier zu zerlegen. Es ist zwar ein unerfreuliches Gemetzel, was ich da anrichte, aber es gelingt mir doch, einige größere Muskelfleischstücke herauszupräparieren, bevor der Rest zu unordentlich aussieht, um noch irgend etwas sauber zu identifizieren oder herauszuschneiden. Dann bauen wir den Haufen aus Brennmaterial.
Die Streichhölzer habe ich nach einigem Suchen in meinem Rucksack gefunden. Diesmal hat meine eigene Bequemlichkeit uns wieder einen großen Vorteil verschafft: Weil ich nie ernsthaft damit gerechnet habe, daß wir auf einer Zugspitzwanderung Streichhölzer brauchen, hatte ich die Absicht, einfach einige Schachtel zuunterst in meinem Rucksack unterzubringen - für den unwahrscheinlichsten der Fälle. Allerdings hatten wir keine mehr im Hause, und deshalb war ich beim letzten Einkauf gezwungen, ein Paket mit zehn Schachteln mitzunehmen. Beim Packen des Rucksackes war ich zu faul gewesen, das Paket auseinanderzunehmen. Was wiegen schon ein paar Streichhölzer. Aus diesem Grunde haben wir jetzt zehn Schachteln mit insgesamt etwa 400 Streichhölzern!
Das erste, was ich mache ist, diese zehn Schachtel strategisch auf uns beide zu verteilen. Jeder bekommt fünf. Sie sind jetzt nicht mehr unwichtig, vorausgesetzt, es gelingt uns tatsächlich, Feuer zu machen.
Das ist zunächst nicht sicher. Ich suche unter den kleinsten Ästchen diejenigen zusammen, die leidlich trocken aussehen. Damit wird am Fuße des Holzhaufens ein Häufchen von dem am leichtesten brennbaren Material gebaut und in den Haupthaufen hineingedrückt. Als mir die Vorrichtung solide und dicht genug gepackt aussieht, riskiere ich das erste Hölzchen.
Vor meinem geistigen Auge spielt sich dabei immer dieselbe Katastrophensituation ab: Ein Zündhölzchen nach dem anderen wird verbraucht, ohne daß es gelingt, das feuchte Gestrüpp zum Brennen zu bringen. Deshalb bin ich ziemlich unvorbereitet auf das, was tatsächlich geschieht: Schon mit dem ersten Hölzchen fängt das Holz Feuer. Die Flammen breiten sich ungewohnt rasch in dem Haufen aus. Der hohe Feuchtigkeitsgehalt wirkt sich offenbar lediglich so aus, daß die Rauchentwicklung recht ordentlich ist. Aber bald schon brennt der ganze Haufen.
"Ist ja klar, woran das liegt!" sage ich zu Irene, "Wir sind in fünftausend Meter Tiefe. Das bedeutet etwa einen doppelt so hohen Druck wie auf der Erdoberfläche. Dann ist natürlich die Konzentration von Sauerstoff auch doppelt so hoch. Sieht so aus, als ob das den Nachteil mit dem feuchten Brennmaterial kompensiert!"
Irene interessiert sich weniger für meine grundsätzlichen Erwägungen. Sie legt das Fleisch ins Feuer. Sie hat ja recht. First things first. Wir müssen was in den Magen kriegen. - Hoffentlich fängt das Fleisch nicht ebenso leicht Feuer!
Zunächst ist der Gestank unerträglich. Dann aber, als die Fleischstücke heiß genug werden und an der Oberfläche bereits verkohlen, wird der Geruch langsam bratenartiger. Irene dreht die Stücke gelegentlich mit einem Stöckchen um, wobei sie häufiger ein neues Stöckchen nehmen muß, weil die alten so schnell Feuer fangen.
Das Feuer sinkt zu einem glühenden Haufen zusammen. Ich muß nachlegen. Dabei experimentiere ich etwas. Es sieht so aus, als ob nur das frische, aus dem lebenden Strauch gebrochene Holz mehr schwelt statt brennt. Wenn es sich aber um ein dickeres Stück handelt, dann verkohlt es über kurz oder lang und kann noch lange als glühendes Holzkohlestück Wärme geben. Die Rauchentwicklung ist aber in jedem Falle beachtlich.
Das Feuermachen bedarf hier wohl der Gewöhnung, wegen der größeren Luftdichte und der fremdartigen Holzarten. Bin neugierig, wieviel Gewöhnung man braucht, um dieses Fleich zu verzehren. Ich spieße die Stücke mit meinem Messer auf und ziehe sie zum Rand des Feuers hin. Dann legen wir los: Der Hunger sagt: große Stücke essen, die Vorsicht sagt: kleine Stücke essen, der Geschmack sagt auch: kleine Stücke essen.
Wir essen große Stücke. Ich sage mir: wenn es eine toxische Reaktion geben sollte, dann sollten wir dieselbe noch bei Kräften erleben. Wir sind schließlich erst etwa einen Tag ohne Nahrung. In manchen Gegenden der Welt würde man das noch nicht als Hunger bezeichnen. Mit diesem Argument ist wenigstens die Stimmengleichheit zwischen den Argumenten für viel und für wenig Essen erzielt worden.
Das Fleisch des Raubtieres ist zäh und schmeckt streng, das des Fisches ist zarter und schmeckt seifig. Beides würde man in einem Luxusrestaurant zurückgehen lassen. Das tun wir nicht. Wir hören nicht eher auf, als bis der größte Teil des Fleisches, der weder verbrannt noch roh ist, verschwunden ist. Es ist reichlich viel. Zusätzlich zu der Müdigkeit stellt sich jetzt die Bettschwere ein, wie sie nur der volle Magen bewirkt.
Das ist jetzt aber ein Problem: Oben, in den Felsen, da gab es keine Lebewesen, die unseren Schlaf stören konnten. Das sieht hier anders aus. Rundherum kann ich keinen Platz sehen, wo wir uns so zum Schlafen hinlegen könnten, so daß wir irgendwie im Schutz von irgend etwas liegen.
"Tja, Irene," sage ich, "es ist hart, aber hier können wir nur schichtweise schlafen. Denk an das Viech!" Dabei deute ich auf den Kadaver, der immer noch abseits liegt und uns gelegentlich mit üblen Gestankschwaden einnebelt.
"Es ist jetzt gleich 8 Uhr morgens. Mittwoch morgens. Ich schlage vor, erst schläfst du sechs Stunden, dann ich. Dann marschieren wir weiter!"
Irene scheint sich diesen Aspekt noch gar nicht überlegt zu haben. Aber da ich ihr die erste Schlafschicht anbiete, ist sie schnell einverstanden.
"Aufräumen tu ich." sage ich. Irene kuschelt sich am Boden hin und ist eingeschlafen, noch ehe sie erfragen kann, was ich eigentlich aufräumen will.
Das ist natürlich klar. Unsere Essensreste und den Kadaver des Raubtieres. Da ich aber sehr schnell merke, daß mir zum Vergraben eine Schaufel oder ein Spaten fehlt, gehe ich zu gezielter Umweltverschmutzung über: Das Zeug landet alles im Teich. Undeutlich sehe ich Bewegung in dem Wasser: Es kümmern sich bereits irgendwelche Tiere um die Leichenteile. Aber das Gestankproblem ist gelöst.
Jetzt muß ich 'nur noch' gegen die Müdigkeit ankämpfen. Sechs Stunden lang. Ich weiß auch schon wie: Ich gebe dem Pyromanen in mir etwas zum spielen. Das Feuer in Gang halten. Zu etwas anderem reicht es nicht mehr.
Und falls sich doch noch Symptome einer Lebensmittelvergiftung einstellen sollten, wird meine Wache noch unterhaltsam. Aber ich bin sogar für gespannt beobachtende Hypochondrie zu müde.
5.5 Wachvergehen
Die letzten Minuten bis 14 Uhr zähle ich ab. Es ist nichts, aber auch gar nichts in diesen sechs Stunden passiert, was einem geholfen hätte, wach zu bleiben. Nur das Feuer habe ich sorgsam gesichert: ständig neuer Material an den Rand der Glutzone legen, das, wenn es erst einmal hinreichend getrocknet ist, in die Glutzone selbst geschoben werden kann. Damit habe ich im Laufe der Zeit einen Glutberg mit mehr als einem Meter Basisdurchmesser geschaffen, dessen intensive Infrarot- und Wärmestrahlung uns sehr nützlich wäre, wenn hier noch dieselben Kältegrade vorherrschten wie oben, auf dem Höllentalplatt, sieben Kilometer über unseren Köpfen.
Seit mehr als sechs Stunden haben wir jetzt eine ganz ordenliche Rauchsäule in den Nebel über uns entlassen. Bei klaren Sichtbedingungen hätte man den eigenen Aufenthaltsort viele Kilometer weit im Umkreis verraten. In diesem Nebel natürlich nicht. Obwohl: nicht weit über uns ist ja die Obergrenze dieses Nebels. Ich weiß nicht, wie sich der Rauch da sichtbar macht. Vielleicht wird sich die dunkle Rauchsäule wie ein Geschwür von der weißen Nebeloberfläche abzeichnen.
Ein paarmal hätte ich Gelegenheit gehabt, Fische in der Randzone des Teiches mit Steinwürfen zu erledigen. Das Platschen hätte Irene aber aufgeweckt, und so habe ich das lieber nicht getan.
Die Uhr zeigt 14:00 Uhr an. Ich gebe ein paar Sekunden zu. Dann wecke ich Irene. Sie kommt schwer zu Bewußtsein. Es ist nicht so sehr die Müdigkeit, sondern eher unsere Lage, die einem mit jedem Wachwerden wieder deutlich werden muß, die Ferne von unseren Lieben und unserem normalen Leben.
Ich gebe ihr mein Messer und erläutere mit ein paar Worten, wie man ohne großen Aufwand auf das Feuer aufpassen kann. Nicht weil wir jetzt unbedingt ein Feuer brauchen, sondern weil sie das Feuer vielleicht genauso zum Spielen braucht, um wach zu bleiben wie ich.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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