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******** 004. Tag: Dienstag 95-08-22 ********

4.1 Höllenleiter

15 Uhr ist es, als ich aufwache. Das muß man dieser Umgebung lassen: Es gibt wenig Störungen. 'Paradiesische Ruhe' würde man es unter anderen Umständen nennen.

Irene schläft noch. Um meine Gedanken von den vier vermutlich etwas vertrockneten belegten Broten, die noch da sind, abzulenken, erkunde ich ein bißchen die Umgebung. Das bringt die Muskeln auch wieder in das Stadium der Brauchbarkeit, nach den 13 Stunden Schlaf auf dem unebenen, felsigen Untergrund.

Ich habe schnell rausgefunden, wo es weitergeht: eine senkrechte Steigleiter nach unten. Es handelt sich um genau dieselbe Konstruktion, die in vielen Klettersteigen der Alpen verwendet wird: Massive Eisenbügel, die mit ihren beiden Enden in den Fels eingepaßt sind. Diese hier sind etwa dreißig Zentimeter übereinander angeordnet und jeder Bügel ist etwa ebenso breit. Stabil und zuverlässig sieht es ja aus. Aber man hat einige Kilometer Luft unter dem Arsch, das läßt sich nicht wegdiskutieren! Und wieweit diese Leiter in die Tiefe geht, das läßt sich von hier aus auch nicht ausmachen. Das heißt also, daß wir schlimmstenfalls damit rechnen müssen, daß wir einige tausend Meter darauf absteigen müssen, bis zur nächsten Gelegenheit, wo man mit den Händen wieder einmal etwas anderes machen kann als sich irgendwo festzuhalten.

Arme Irene. Wie kann ich es dir nur ersparen? Noch schläft sie und weiß nichts von der neuen Angsttour. Armer Herwig. Dir würde ich es auch gerne ersparen. Wenigstens kann man sich beim Einstieg von oben in die Leiter am Tretseil der Brücke festhalten. Sonst wäre das Turnen über die Kante doch eine sehr wackelige Angelegenheit.

Je nach Länge der Leiter ist da nicht nur die Gefahr, daß die Nerven nicht mehr mitspielen, sondern auch ganz konkret die Möglichkeit, daß die Armmuskeln nicht mehr mitmachen. Dieselben haben wir zwar in den letzten Tagen des öfteren geübt, aber wie wir uns im Leitersteigen über hunderte von Metern machen, das wissen wir nicht. Da ist es auch kein Trost, daß eine Leiter wie diese bloß dem alpinen Schwierigkeitsgrad 1 oder noch weniger entspricht.

Die Burg oder die Stadt zeigt aus dieser Perspektive immer noch keine neuen Einzelheiten und auch nicht die Spur von Lebewesen. Allerdings stelle ich etwas anderes fest: als ich etwas in die Weite gucke, vorbei an anderen Felssäulen ähnlich der, an der wir uns jetzt befinden, weit in die Höhlen hinein, die sich dem Blick um so weiter öffnen, je tiefer wir kommen, stelle ich fest, daß auf einigen der Berggipfel, die gerade aus den Wolken unter uns ragen, dunkelgrüne Flecken zu kleben scheinen, und ebensolche dort, wo die Säulen, die die Höhle der ganzen Höhe nach durchmessen, die Wolken durchstoßen. Sind das Pflanzen? Sind das gar ganze Wälder? Von hier aus kann man den Unterschied noch nicht feststellen. Wir werden jedenfalls noch einige Kilometer an Höhe verlieren müssen, bevor wir das herauskriegen.

Überhaupt, wenn ich die Größenordnungen jetzt richtig zusammenschätze, dann sehe ich von diesem Platz stellenweise fünfzehn oder zwanzig Kilometer weit. Bei einer Höhle von dieser Größenordnung ist natürlich Wetter zu erwarten, thermodynamisch wahrscheinlich in Gang gesetzt durch die Hitze des Erdinnern. Das erklärt zwar noch nicht das permanente Licht, das aus den Wolken oder von darunter kommt, aber ich kann ja nicht erwarten, daß mir alle Erklärungen nur so zufliegen. Daß wir diese Höhle überhaupt jetzt kennen ist ja schon mehr als jeder andere lebende Mensch weiß. Vermutlich.

Wenn wir irgendwann wieder Zeit haben sollten, in Ruhe nachdenken zu können, dann müßte man mal alle Überlieferungen der Menschheit auf Hinweise auf diese Höhle abklopfen.

Irene rührt sich. Ich bleibe ganz still. Sie soll so lange schlafen wie sie nur irgend kann. Das einzige, das ich ihr noch bieten kann.

Der Höhenmesser zeigt immer noch exakt 1900 Meter Tiefe an. Langfristige Druckschwankungen scheint es nicht zu geben. Aber ein paarmal glaube ich wieder, ein leichtes Schwanken der Nadel zu erkennen, sogar, als ich das Gerät auf den Felsboden lege.

"Muß ich schon aufstehen?"

"Nein," sage ich zu einer aus nur einem Auge blinzelnden Irene, "mußt du nicht. Wir haben jede Menge Zeit. Schlaf noch."

Sie bringt es aber nicht fertig, wieder einzuschlafen. Bald schon ist sie bei der Morgentoilette. Soweit man ohne Wasser davon reden kann. Es sieht so aus, als ob sie sich ganz absichtlich nicht dafür interessiert, wie es weitergeht, weil ihr Unterbewußtsein oder ihre Erinnerung an das, was wir von der Brücke aus schon gesehen haben, sie davon abhält.

Zwei der belegten Brote werden ohne Diskussionen verspeist. Nur satt werden wir davon nicht. Und es sind nur noch zwei weitere da.

"Was haben wir sonst noch?" frage ich.

"Äpfel sind schon alle weg. Wasser ..."

"Wasser ist genug da," sage ich, "aus dem Bach, an dem wir vorbeigekommen sind. Nahrung wird knapp, das ist es."

Allmählich interessiert sie sich für die Aussicht.

"Ich habe Spuren von Pflanzenwuchs da unten gesehen - wahrscheinlich. Vielleicht bekommen wir da etwas zu essen." Mein dünner Versuch, sie aufzumuntern.

"Ich habe aber jetzt Hunger!"

Eigentlich sollte man bei Kräften sein, wenn man einen solchen Klettersteig angeht wie den, der uns gleich erwartet. Und auch zwei Brote im Magen wären noch nicht soviel, daß das Zusammenziehen von Blut im Gedärm durch die Verdauungsarbeit in anderen Körperteilen schon Schwierigkeiten durch Blutmangel macht. Ich stelle fest, ich suche schon Argumente, gleich alles aufzuessen.

"Es sind die letzten zwei Brote, Irene!"

"Ich weiß."

Sie sieht die Stelle an der Felskante an, hinter der der Klettersteig losgeht. Weiß sie das auch?

"Es wird jetzt grauenhaft." sage ich leise.

"Ich weiß."

"Dann," sage ich, "essen wir diese zwei Brote. Wir werden alle Kräfte brauchen."

Während wir, dicht aneinandergedrängt sitzend, diese Brote essen, denke ich an das, was wir auch alles nicht mehr erleben können, wenn dies unsere letzte Mahlzeit sein sollte. Mein Büro in der Firma. Unsere Wohnung. Die langen, einsamen Waldläufe in den Wäldern um Aying. Meine Bücher, die gelesenen und die ungelesenen. Die Münchner S-Bahn. Die Besoffenen vom Oktoberfest, über die man in der S-Bahn in manchen Jahreszeiten gelegentlich stolpert. Die unabsichtlichen Versprecher in den Tagesthemen und die absichtlichen Ausflüchte von direkt und konkret befragten Politikern. Und, und, und. Was so die Welt ausmacht, in der man lebt.

Aber warum solche Gedanken, wir haben doch schon so viel geschafft? War alles andere einfacher? Der erste Klettersteig, bei dem man sich weder mit den Händen festhalten konnte noch genau wußte, wie tief es nun tatsächlich hinuntergeht. Eigentlich war der ja viel schlimmer. Und auf der Brücke hätten wir uns auch keinen Schwächeanfall leisten können.

Wir laden auf. "Höchstens zehntausend solche Stufen," sage ich, "mehr können es eigentlich sein, weil wir dann auf das Niveau der Wolken da unten kommen. Wahrscheinlich sind es aber viel weniger - die Erbauer müssen eine Physiologie haben, die der unsrigen ähnlich ist. Ewig lange Leitern zu klettern hat ihnen sicher auch Schwierigkeiten gemacht."

"Erzähl mir nichts von zehntausend Stufen!" Irene wird sauer. Das kommt bei ihr häufiger vor, daß sie auf die Konfrontation mit der Wirklichkeit mit versuchter Verdrängung und schlechter Laune reagiert.

Ich lasse das Thema sein und beginne, auf die Leiter zu steigen. Die Aussicht ignoriere ich von nun an. In der Tat, bei den ersten Stufen das Tretseil der Brücke noch als Griff verwenden zu können erleichtert die Sache ungemein. Auch Irene schafft diese Stelle, während ich, unter ihr stehend, ihr Anweisungen gebe.

Wie gut, daß die Rucksäcke nicht mehr ganz so schwer sind wie zu Beginn des Ausfluges. Trotzdem versucht ihr Gewicht, uns von der Leiter abzuhebeln. Ich überlege mir, daß man jetzt eigentlich eine Maximierungsaufgabe zu lösen hätte: Die Kraft des Festhaltens an den Eisensprossen gerade eben so groß halten, daß der Griff sich nicht löst und die Unterarmmuskeln nicht durch überflüssig viel Kraft frühzeitig ermüdet werden.

Allerdings lasse ich durch solche Überlegungen mich nicht von einem festen Griff abbringen. Erstens weiß ich, daß ich, wenn sich Zeichen der Muskelermüdung zeigen sollten, noch ein paar Übungen aus der Zeit meines Krafttrainings kenne, die die Muskeln wieder geschmeidig machen und weitere Belastung ermöglichen. Zweitens habe ich schon erfahren, daß man sich enorm lange festhalten kann, wenn man nur muß. Das war zum Beispiel so, als ich das erste Mal mit einem Kollegen den Klettersteig in der Höllentalwand durchstiegen habe. Das war damals meine erste richtige Zugspitz-Besteigung, und ich war der naiven Ansicht, daß mit der Überwindung des 'Bretts' schon alle Schwierigkeiten vorbei waren. Weit gefehlt, die Höllentalwand erforderte noch einmal drei Stunden konzentrierte Kletterarbeit, auf die ich weder psychisch noch körperlich vorbereitet war. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon seit langem kein Krafttraining mehr gemacht, und die ungewohnte Höhe versetzte mich die ganze Zeit in eine Art leichte Panik. Dem Kollegen, mit dem ich wanderte, ging es nicht anders.

Jedenfalls hielt ich mich die ganze Zeit an dem Seil, das den Klettersteig durch die Höllentalwand in seiner ganzen Länge nach sichert, zu krampfhaft fest. Trotzdem hatte ich bis zum Schluß nicht das Gefühl, wegen zunehmender Erlahmung der Armmuskeln loslassen zu müssen. Deshalb nehme ich an, daß ich auch jetzt wenigstens drei Stunden diese Leiter hinabsteigen kann. Drei Stunden, alle drei Sekunden eine Sprosse, das macht einen Kilometer Höhenunterschied. Wenn der Klettersteig allerdings bis dahin nicht zu Ende ist, dann können es auch zehn Stunden werden, bis wir das Niveau der Wolken erreicht haben. Vielleicht wird in den letzten Stunden nur noch die Todesangst die Kraft zum Festhalten geben. Vielleicht geht's, vielleicht geht's auch nicht.

Und wie lange wird Irene durchhalten?

Während unseres gleichmäßigen Absteigens habe ich Gelegenheit, die Eisenbügel genauer zu betrachten. Sie sind aus einem Vierkanteisen mit quadratischem Querschnitt mit drei Zentimeter Kantenlänge gefertigt. Die Enden des Bügels biegen sich erst nach oben und dann in Richtung Fels, in dem sie in einem millimetergenauen Loch eingepaßt sind. Das ist fast das merkwürdigste: Ein genau quadratisches Loch mit drei Zentimetern Durchmesser und wer weiß welcher Tiefe herzustellen ist nicht einfach. Ein rotierender Bohrer kann es nicht gewesen sein, und auch bei genauem Hinsehen gibt es kein Hinweis, daß eigentlich ein größeres Loch gebohrt wurde und dann mit einer Art Beton oder Mörtel der Bügel eingepaßt wurde.

Allerdings kann ich nicht anhalten, weil sonst Irene mir auf die Finger steigt. Das wäre noch auszuhalten, aber ich will nicht, daß sie vor Schreck losläßt.

Wir steigen lange Zeit weiter ab, ohne ein Wort zu sagen. Konzentrieren, auf jede einzelne Sprosse konzentrieren. Die Idee, die Stufen mitzuzählen, habe ich gleich zu Anfang aufgegeben. Ich will mich lieber auf die Kletterei konzentrieren.

Gelegentlich werfe ich einen Blick in die Höhe, an Irene vorbei. Die Brücke ist gegen die vergleichsweise dunkle Höhlendecke kaum noch zu erkennen, den Hängenden Berg kann man jetzt auch in seiner vollen Länge sehen, wenn man den Kopf weit in den Nacken legt, was ich jetzt nicht tue.

Die Leiter dreht sich, weil wir die Seite einer vorspringenden Kante erreicht haben. An dieser entlang geht es weiter in die Tiefe. Aus den Augenwinkeln sehe ich unter uns irgendeine neue Formation. Ich sehe nicht genau hin, weil ich mein Klettertempo nicht verändern will. Aber es sieht so aus, als ob wir uns von oben einer Plattform nähern. Wäre das schön, wenn das wahr wäre!

Es ist wahr. Die Felswand bildet allmählich eine mehrere Meter durchmessende Rinne, die bald schon Zeichen von künstlicher Bearbeitung zeigt. Dann sind wir nur noch hundertfünfzig Meter über der Plattform.

Jetzt hat auch Irene etwas gemerkt: "Ist da unten etwas?" ruft sie zu mir herunter.

"Ja. Noch zweihundert Meter, dann haben wir es geschafft." Besser etwas übertreiben.

Ein paar Minuten später ist es soweit. Vorsichtig räuspere ich mich, damit Irene sich nicht erschreckt. Inzwischen hat die Plattform sich zwar zwischen uns und die Tiefe geschoben, aber auch ein Absturz aus einigen Dutzend Metern Höhe auf einen felsigen Untergrund ist immer noch fatal, auch wenn es nach der Gewöhnung an hundertfache Höhenunterschiede nicht mehr gefährlich aussieht.

"Noch zwanzig Meter," sage ich, "langsam!"

Fast zwei Minuten später stehe ich auf ebenen Felsboden. Als Irene neben mir die letzten Sprossen heruntersteigt, zuckt sie einen Moment zusammen, als sie mich hinter ihr bemerkt. Bis vor kurzem hätte ich, um diese relative Position einzunehmen, hinter ihr in der Luft schweben müssen.

"Hinsetzen! Ausruhen!" befehle ich. Das darf ich, weil sie genau das sowieso vorhat. Ich selbst will mich erstmal orientieren.

4.2 Fahrweg

2400 Meter Tiefe, sagt der Höhenmesser, und einige Minuten vor 19 Uhr, sagt die Uhr. Wir waren etwa zwei Stunden auf der Leiter und haben 500 Meter überwunden.

Die Plattform ist groß, etwa zehn Meter im Durchmesser, und sie liegt in einer entsprechend großen Höhle, die offenbar genau für diesen Zweck in den Fels geschlagen ist.

Zum Abgrund hin ist sie von einer mit Zinnen bewehrten Mauer begrenzt. Auch diese Mauer ist aus dem Fels herausgearbeitet worden. Sie ist etwa dreißig Zentimeter dick, zwischen den Zinnen dreißig Zentimeter hoch, an den Zinnen sind es sechzig Zentimeter. Sowohl die Zinnen als auch die Lücken dazwischen sind dreißig Zentimeter breit. Allmählich fällt mir auf, daß das Längenmaß dreißig Zentimeter häufig auftaucht - der Klettersteig war auch in ganzzahligen Vielfachen dieser Maße konstruiert. Ich erinnere mich an die alte Längenmaßeinheit 'Fuß'. Das ist ungefähr genauso viel. Ob da ein Zusammenhang ist?

Wenn man vor der Mauer steht und hinaus in die Tiefe schaut, dann ist der Klettersteig, auf dem wir hierher gekommen sind, zur Linken. Zur Rechten öffnet sich in der Wand dieser Höhlung ein Loch von drei Metern Breite und drei Metern Höhe.

"Ein Fahrweg!" sagte ich, "guck es dir an!"

"Na und?" fragt Irene.

"Na und? das heißt, keine Klettereien mehr!"

Das ist jedenfalls eine plausible Vermutung. Der Fahrweg geht allerdings steil nach unten, gerade noch, daß ein Fußgänger keine Stufen braucht. Und der Boden ist auch nicht direkt eben zu nennen, was allerdings für einen Fußgänger, der aufpaßt, wo er die Füße hinsetzt, wieder ein deutlicher Vorteil ist, weil er immer Stellen finden kann, die weniger abschüssig sind als das durchschnittliche Gefälle des Fahrweges. Mit einem Geländefahrzeug könnte man diesen Weg durchaus befahren, wenn auch langsam und vorsichtig. Ein normaler PKW würde wohl schon bald auseinanderfallen.

Der Fahrweg führt nicht ins Dunkle. Man sieht in etwa achtzig oder hundert Metern entfernung ein großes Loch in der Felswand, das wieder Licht von außen hereinläßt. Dieses Loch ist auch mit einer Zinnenmauer gegen den Abgrund bewehrt. Zweihundert Meter weiter ist noch so ein Loch, und noch weiter hinten läßt ein Lichtschein weitere solche Löcher vermuten. Allerdings kann man soweit nicht mehr sehen, weil der Tunnel des Fahrweges sich biegt. Offenbar ist der Fahrweg ständig in einem Tunnel, der nur wenige Meter von der Außenwand entfernt durch den Fels führt.

Vorsichtig beuge ich mich über die Zinnewand vor der Plattform. Fast genau unter uns, aber immer noch schwindelerregend tief, sieht man immer noch die Burg. Es sind kaum mehr Einzelheiten sichtbar, und immer noch bewegt sich nichts.

Der Verbindungsgrat zu unserer Felssäule ist jetzt vollständig unter den Wolken verschwunden, als ob die Obergrenze der Wolken angestiegen ist. Sonst hat sich nichts verändert.

In der Höhe, hinter dem Hängenden Berg, kann man jetzt den Grat erkennen, wo die Brücke begann. Von der Brücke selber ist dort nichts mehr zu sehen - auf die Entfernung heben sich die Seile nicht mehr von dem dunklen, felsigen Hintergrund ab, wenn man nicht genau weiß, wo man hinschauen muß. Was man dafür jetzt allerdings gut überblicken kann ist die endlose Länge des Steilabfalles unter dem Gratende, wo die Brücke ihren Ausgang nimmt.

"Ich denke, wir werden jetzt rasch vorwärts kommen. Dann finden wir vielleicht auch bald etwas zu essen!" sage ich, um Irene aufzumuntern. Das mit dem 'zu essen finden' ist eine taktische Vermutung. Aber sie wirkt. Irene blickt sich jetzt aufmerksamer um, allerdings noch ohne aufzustehen.

"Das sieht ja aus wie eine Burg!" sagt sie und deutet auf die Zinnen.

"Ja," sage ich, "aber wohl zu einem anderen Zweck. Zinnen auf einer mittelalterlichen Burg, zum Beispiel, waren Deckungsmöglichkeiten für Bogenschützen. Aber wer sollte hier von da draußen angreifen? Da müßte man fliegen können! Und warum sollte man diesen Platz angreifen?"

"Vielleicht können sie fliegen?"

Da hat sie nun auch wieder recht. Was wissen wir über die Lebewesen in dieser Unterwelt? Wir haben ja noch gar keine zu Gesicht bekommen. Vielleicht sollte ich nicht so viele Erklärungen über Dinge, die ich selbst nur mehr oder weniger plausibel vermuten kann, geben - aber die Aussicht, von jetzt an vergleichsweise bequem marschieren zu können heitert mich auf.

"Auf, den reich gedeckten Tischen entgegen - wenn es denn da unten irgendwo welche gibt." Das sage ich nicht ganz selbstlos, weil ich auch schon wieder einen Knoten im Magen spüre. Ich weiß, daß ich viel Magensäure habe. Das macht sich unangenehm bemerkbar, wenn nichts drin ist im Magen.

Irene steht endlich auf, und wir marschieren los, den Fahrweg hinab. Einen anderen Weg gibt es ja nicht. Aber es ist köstlich, sich bewegen zu können, ohne nicht in jeder Sekunde von einem Absturz in endlose Tiefen bedroht zu sein.

Der Fahrweg ist so, wie er am Anfang ausgesehen hat: steil, holprig, und alle hundert Meter ein drei Meter durchmessendes Loch in der Wand. An diesen Stellen sieht man, daß immer etwa zwei Meter Fels zwischen der Wand des Fahrwegtunnels und der Außenwand der Felssäule sind.

Die Lichtmenge, das durch diese Löcher hereinfällt, ist nicht übertrieben reichhaltig. Zwischen den Löchern muß man die Unebenheiten des Fahrweges schon mehr erraten als sehen, und man tut gut daran, nicht durch die Löcher, wenn man eines passiert, hinauszusehen, damit man nicht wieder für einige Dutzend Meter geblendet ist.

Nach vielleicht siebenhundert Metern Marsch kommen wir an eine Kehre, und von da an sind die Öffnungen nicht mehr zur Linken, sondern zur Rechten des Fahrweges. Nach noch einem Kilometer gibt es wieder eine Kehre.

Wir kommen gut voran, abgesehen von gelegentlichem Stolpern in den dunkleren Abschnitten des Tunnelfahrweges zwischen den Fenstern. Dann erreichen wir einen Streckenabschnitt von einigen hundert Metern, wo der Fahrweg völlig im Freien ist. Auf einer Seite gehen die Felsen senkrecht oder sogar leicht überhängend hoch, und auf der anderen Seite, hinter der Zinnenmauer, senkrecht nach unten.

Um 21 Uhr sind wir in einer Tiefe von 3200 Metern. Wir passieren eine Stelle, wo der Fahrweg sich aus unbekannten Gründen zu einer Plattform von zehn Metern Breite und vierzig Metern Länge ausweitet. Diese Plattform ist auch völlig eben. Danach ist der Fahrweg so steil wie vorher.

Mangels anderer Alternativen marschieren wir weiter. Das geht jetzt eigentlich gut und schnell. Um 23 Uhr erreichen wir eine Tiefe von 4000 Metern. Das heißt, der Höhenmesser hat sich jetzt einmal überschlagen. Das muß man in Zukunft beim Ablesen berücksichtigen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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