Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


******** 003. Tag: Montag 95-08-21 ********

3.1 Lichtspuren

Der Schlaf war lang. Es ist 12 Uhr, als sich mein Bewußtsein widerwillig in die Wirklichkeit zurückversetzt. Auch Irene schläft noch und läßt sich genauso schwer wecken. Die Anstrengung sitzt noch in unseren Knochen.

Morgentoilette. Das heißt, kein Waschen - womit auch? Aus unseren zwölf belegten Broten werden zehn. Der Hunger wird erst beim Marschieren kommen, das kennen wir schon. Einige Treppenstufen oberhalb unseres Lagerplatzes werden unschön verschmutzt. 'Duftmarke', so nennt man das bei einem Hund. Ob jemals hier jemand vorbeigehen und reintreten wird? - Jedenfalls wird der Duft uns noch eine Weile folgen, da immer noch ein leichter Wind in Marschrichtung weht. Erinnerungen an frühere Campingurlaube: der Gestank defekter Toiletten und unsachgemäßer Abwasserentsorgung.

Dann packen wir wieder auf und marschieren weiter, mit schmerzenden Muskeln, verklebt und verschwitzt.

Der Gang geht weiter so in die Tiefe wie schon bisher. Die ständige Änderung der Richtung ist merkwürdig. Wäre nicht eine einfache Wendeltreppe einfacher gewesen? Oder ist man, bei der Herausarbeitung des Ganges, dem am leichtesten zu bearbeitenden Gestein gefolgt? Oder wollte man ein ausgeglichenes Gemisch von Rechts- und Linkswendungen herstellen, so daß die Flüssigkeit in den Gleichgewichtsgängen gar nicht erst ins Rotieren kommt und so der Drehschwindel vermieden wird?

Ebenso merkwürdig sind die Wände - ich habe den Eindruck, daß es sich nicht mehr um Kalk handelt - oder was auch immer das normale Material der nördlichen Kalkalpen und auch des Zugspitzmassives ist. Wann sich das geändert hat, habe ich nicht mitgekriegt, und ich weiß auch nicht, wie man das Gestein nennt, das uns jetzt umgibt. Es scheint sehr hart zu sein.

Es ist 2 Uhr nachmittags, als ich anhalte und Irene den Höhenmesser zeige:

"Sieh her. Fällt's dir auf?"

"Ja. Meereshöhe. Sogar etwas tiefer."

"Ich wette, daß es auf der ganzen Welt keine Höhle gibt, die luftgefüllt ist und die unterhalb des Meeresspiegels liegt."

"Dann wäre dieses ja die erste."

"Nicht unbedingt. Siehst du, ich habe den Höhenmesser auf durchschnittlichen Luftdruck gestellt - 1020 Hektopascal. Wenn jetzt draußen ein Tiefdruckgebiet ist, etwa 980 Hektopascal, dann sind wir schon 200 Meter unter dem Meeresspiegel. Und umgekehrt, wenn draußen 1060 Hektopascal Hochdruck ist, dann sind wir noch 200 Meter drüber. Wir können nichts anderes tun als uns auf den durchschnittlichen Luftdruck zu beziehen."

"Also wissen wir überhaupt nicht, wie tief wir sind?"

"Das würde ich nicht sagen," fahre ich fort, "weil ich nämlich glaube, daß diese große Höhle nur sehr wenig Luft mit der Außenwelt austauscht. Das heißt, daß sich hier ein Luftdruck einstellen müßte, der dem Durchschnitt des Außendruckes entspricht, in vergleichbaren Meereshöhen, versteht sich. Dann, wenn das richtig ist, ist dieser Höhenmesser sehr korrekt, und wir unterschneiden tatsächlich gerade jetzt den Meeresspiegel."

Irene weiß daraufhin nichts zu sagen, und so marschieren wir weiter.

Um 3 Uhr nachmittags sind es 400 Meter unter dem Meeresspiegel. Der Höhenmesser zeigt 3600 Meter an, weil seine Skala rundherum gerade viertausend Meter umfaßt. Wahrscheinlich wird er nun irgendwann aufhören, zu funktionieren, oder er geht sogar kaputt, weil er für diesen Druck nicht gebaut wurde. Wir merken von dem ungewöhnlichen Druck noch nichts. Das ist auch nicht zu erwarten, da die Änderung langsam vor sich geht.

Um 3:15 Uhr geht der immer noch abwärts führende Stollen plötzlich in einen horizontalen Stollen über. Das bleibt einige hundert Meter so, ohne daß wir auch nur einen Meter an Höhe verlieren. Dann bleibt plötzlich für einige Dutzend Meter die Stollendecke weg. Das Loch öffnet sich in einen wesentlich größeren Raum. Unsere Lampen finden keinerlei Ziel in der Schwärze über uns.

"Sei mal still," sage ich, "Lampe aus!"

Einen Moment horchen wir mit verhaltenem Atem nach oben. Ist es das Blut in den Kopfarterien, oder ist da von ferne wirklich eine Art Rauschen zu hören?

Irene hört nichts, und so marschieren wir weiter. Die Decke des Stollens schließt sich wieder. Dafür geht es wieder bergab, allerdings nicht so steil, daß Stufen erforderlich wären.

Dann ist der Stollen plötzlich zu Ende. Er weitet sich in einem kleinen Raum, und im Boden ist ein etwa einen Meter durchmessendes Loch. Der Höhenmesser zeigt 500 Meter unter dem Meeresspiegel an.

Wir leuchten den Raum aus. Nichts von Bedeutung, außer vielleicht einigen Nischen in der Wand, die als Ruhebänke gedeutet und jedenfalls so benutzt werden können. Das Loch im Boden ist nicht sehr tief, vielleicht einen Meter fünfzig. Ich gebe meine Lampe Irene und setze meinen Rucksack ab. Irene leuchtet mir mit beiden Lampen.

Aus diesem Loch kann ich mich wieder hochziehen, also ist es kein Risiko, mich hinunterzulassen. Wenn ich aufrecht stehe, dann kann ich sogar noch meine Ellenbogen auf die Lochkante legen. Dann nehme ich meine Lampe wieder.

Der Boden des Loches ist merkwürdig, in der Mitte höher als am Rand. Als ich mich bücke, um das genauer zu untersuchen, stelle ich fest, daß ich auf einem kleinen Hügel stehe. Dieser Hügel ragt aus einer tieferliegenden Höhle empor, deren Abmessungen ich nicht genau abschätzen kann. Es ist jedenfalls kein Gang, sondern der Raum ist sehr viel größer.

"Tja," sage ich, "es spricht nicht sehr viel dafür, daß es hier weitergeht. Aber woanders geht es auch nicht weiter. Also: gib mir mal die Rucksäcke!"

Eine halbe Minute später stehen wir in der unteren Höhle. Der Hügel könnte künstlich aufgeschüttet sein. Er besteht jedenfalls aus einzelnen Felsbrocken mittlerer Größe. Genau kann man es nicht sagen, und wir finden zunächst auch keinen definierten Weg.

Bald haben wir Klarheit über die Form dieser Höhle. Sie hat etwa einen dreieckigen Querschnitt und bildet so einen Tunnel mit zwei schiefen Böden und einer horizontalen Decke, die mehr als zwanzig Meter überspannt. In Richtung nach - ich konsultiere den Kompaß - nach Osten führt der Tunnel abwärts, in der anderen nach oben, ohne deutliche Querschnittveränderung. Das Loch, durch das wir gekommen sind, ist sehr nahe am Tunnelrand, so daß der kleine, unauffällige Hügel nicht sehr hoch aufgeschüttet werden mußte. Ich sage Irene, daß das auch wieder nach Absicht aussieht.

Wir folgen diesem großen, dreieckigen Tunnel in Abwärtsrichtung. Es läßt sich gut gehen, obwohl der Boden schief ist. Der Querschnitt des Tunnels ändert sich jedoch, weitet sich stellenweise auf eine Spannweite bis zu achtzig Metern auf, an einer Stelle reichen unsere Lampen weder an die Decke noch ist seitlich eine Begrenzung zu sehen. Dann rücken die Wände wieder zusammen. Langsam steilt sich der linke Boden weiter auf, so daß man nur noch auf dem rechten Boden gehen kann, der sich zum Ausgleich abflacht. Jedenfalls ist es deutlich, daß hier ein natürlicher Bruch im Fels als Tunnel verwendet wurde, der kaum bearbeitet wurde, da er überall gut begehbar ist.

Flüchtig denke ich daran, daß wir diesen Tunnel auch in die andere Richtung hätten gehen können. Irgendwie haben wir die Entscheidung aus dem Bauch heraus getroffen, als ob wir uns sicher wären, daß es dort irgendwann einfach nicht mehr weiter geht. Im Prinzip haben wir diese Option auch noch, aber ich glaube nicht, daß wir sie noch nutzen werden. Irene hat das nicht kommentiert, also hat sie es entweder nicht gemerkt, oder sie schätzt diese Möglichkeit auch nicht als erfolgversprechend ein.

Nun weicht die rechte Wand wieder so weit aus, daß sie nicht mehr sichtbar ist, und wenig später ist auch die linke Randung des Tunnels nicht mehr zu sehen. Nur in der Höhe läßt sich noch das Grau der Decke wahrnehmen.

3300 Meter, sagt der Höhenmesser. Also 700 Meter unter dem Meeresspiegel. Definitiv tiefer als alle Depressionen der Erdoberfläche. Wir nehmen es einfach nur noch zur Kenntnis.

Der Boden wird abschüssig, und als er so steil wird, daß das Klettern wieder die Zurhilfenahme der Hände erfordert, da stoßen wir auch wieder auf einen angelegten Weg. Kaum zu erkennen, aber wenn man ihm folgt, dann ist es wesentlich leichter. Es tauchen Felssäulen aus der Dunkelheit auf, die wir umrunden. Wir können nicht erkennen, ob diese Säulen in die nun unsichtbare Decke übergehen oder irgendwo da oben enden.

Als wir 800 Meter tief sind, treten wir auf eine ebene Felsfläche hinaus. Zunächst wissen wir nicht, welche Richtung nun angesagt ist, aber dann scheint es klar zu werden, da diese Felsfläche doch leicht gewölbt ist. Offenbar sind rechts und links in einiger Entfernung Abgründe. Wir können geradeaus für eine lange Strecke mit nur geringem Gefälle weitergehen.

"Irgendwie höre ich jetzt auch etwas!" sagt Irene.

"Machen wir einmal eine Horchpause!" stimme ich zu, und wir lassen unsere Lampen verlöschen. Es ist wahr: Da ist in der Ferne ein hohles Rauschen, ganz schwach, an der Grenze der Wahrnehmbarkeit. Aber noch etwas anderes ist da:

"Irene! Siehst du etwas?"

Wir halten immer noch unseren Atem an, als ob man dadurch besser sehen könnte. Ich habe tatsächlich den Eindruck eines grauen Schimmers rundherum, der vielleicht in unserer Marschrichtung noch stärker ist.

"Kann sein," sagt Irene nach einer Weile, "Aber es kann auch eine Täuschung sein."

"Warten wir fünf Minuten, damit unsere Augen sich besser an die Dunkelheit gewöhnen!" schlage ich vor. Für eine volle Dunkeladaption des Auges braucht man, wie jeder Hobbyastronom weiß, eine halbe Stunde. Aber wir wollen es jetzt ja nicht übertreiben, auch wenn wir weniger bräuchten, wegen des trüben Lichtes unserer Lampen.

Da ist definitiv Licht. Aber zu wenig, um etwas von der Höhlenstruktur zu erkennen. Rechts und links grau, vorne vielleicht etwas mehr. Schließlich stimmt auch Irene meiner Beobachtung zu.

"Gehen wir weiter," schlage ich vor, "wenn es tatsächlich von vorne kommt, dann gehen wir ja darauf zu."

Gesagt, getan. Solange wir unsere Lampen pumpen, scheint die Schwärze um uns herum perfekt.

Es liegen wieder hausgroße Felsen auf unserem Weg, die wir umrunden müssen. Dabei wird deutlich, daß in der Tat rechts und links der felsige Boden immer steiler wird und in die Tiefe abstürzt. Es ist, als ob wir auf dem Rücken eines runden Berges gehen.

Schließlich glaube ich trotz Lampe etwas vor uns zu sehen. Wir machen wieder eine Dunkelpause.

"Das ist wie Tageslicht!" sagt Irene nach einer Weile.

"Nein, es ist noch zu lichtschwach und deshalb sieht es grau aus. Aber definitiv: Es ist Licht!"

Wir pumpen die Lampen weiter. Das ist immer noch notwendig, um zu gehen. Der Rücken des Berges, auf dem wir gehen, wird steiler, dann geht es wieder eine Weile horizontal dahin. Nun ist der Lichtschimmer dauernd zu sehen, auch während unsere Lampen leuchten.

Wir erreichen eine Tiefe von tausend Meter. Allmählich werden auch die Felsen außerhalb der Reichweite unserer Lampen sichtbar. Hoch über uns, vielleicht über zweihundert Meter, vielleicht auch nur hundert Meter, vielleicht aber auch viel mehr, sieht man ebenfalls die Umrisse gewaltigender hängender Felsen. Selbst diese schwache Beleuchtung läßt die Dimensionen dieser Höhle deutlich werden.

Dann rückt von links die Wand dieser gigantischen Höhle wieder näher. Der Abgrund zur Linken scheint sich wieder geschlossen zu haben. Bald wird der Boden wieder zusehends schräg. Unangenehm zu gehen, die Gefahr, nach rechts in die Tiefe zu stürzen wird durchaus real.

Dann aber erkenne ich die Linie des Weges, der wieder aus dem Fels herausgearbeitet ist. Das Umgebungslicht hat dazu schon mehr getan als das Licht unserer Lampen.

Der Weg ist steil, aber sehr sauber ausgeführt. Praktisch droht kaum die Gefahr, zu stolpern. Die ganze, gewaltige Höhle macht eine leichte Linksbiegung, und wenig später folgt unser Weg einem sehr steilen Abfall. Die Wände links reichen wieder bis an die Höhlendecke, von der ich jetzt überzeugt bin, daß sie tatsächlich etwa dreihundert Meter über uns ist.

Ich lasse die Dynamolampe erlahmen. Wie gut das tut! Und die Helligkeit, die sowohl von vorne als auch aus der Tiefe heraufdiffundiert, reicht für den Weg gerade aus.

"Geht das?" fragt Irene.

"Geschmackssache."

Sie probiert eine Weile rum. Aber schon nach wenigen weiteren hundert Metern halten wir an und packen unsere Dynamotaschenlampen in die Rucksäcke. Zum Zeitungslesen wäre es vielleicht noch zu dunkel, aber zum Wandern auf ausgebauten Wegen reicht es.

Wirklich irritierend ist bei diesem Licht nur, daß es in seiner Menge aus der Tiefe kommt. Und es ist grau-bläulich. Naja, besser als dunkelrot - das würde an Lava denken lassen.

Wir müssen noch einmal anhalten. Die Temperatur ist inzwischen etwa zwanzig Grad, was wir allerdings nur schätzen können. Jedenfalls verschwinden weitere Pullover im Rucksack.

3.2 The Bridge of Doom

Um 18 Uhr erreichen wir in 1200 Metern Tiefe ein schwaches Rinnsal, das über den Weg läuft. Wir nutzen die Gelegenheit und ergänzen unsere Flüssigkeitsvorräte. Außerdem trinken wir soviel wie wir können. Erschöpfung durch Dehydration können wir uns nicht leisten.

Wir machen dabei die implizite Arbeitshypothese, daß das Wasser mikrobiologisch einwandfrei ist. Es bleibt uns ja auch nichts anderes übrig.

Die Felswand zur Linken weicht wieder zurück, und bald gehen wir wieder auf einem Grat, dessen ausgesetzteste Stellen wieder durch Wegstücke ausgebaut sind. In alle Richtungen kann man jetzt hunderte von Metern weit sehen. Vielleicht sind es sogar Kilometer. Die großen Höhlenausdehnungen in unserer Marschrichtung sind noch lichterfüllter als die bisherigen, seitlich abbiegenden Höhlen, die gähnende, turmhohe schwarze Löcher sind. Genau dort, wo der Grat uns hinführt, teilt eine gewaltige, berggroße Säule diese Höhlenwelt. Mir ist unklar, wie es dort weitergeht. Aber wir werden es ja bald sehen.

Ich habe den Eindruck, daß, je tiefer wir kommen, desto geräumiger werden diese Höhlen. Vielleicht liegt das aber auch etwas an der Beleuchtung, die jetzt eine weite Übersicht ermöglicht.

Der Grat wird wieder steiler, und rechts und links fallen seine Wände in alpinem Wahnsinn nach unten. Es gibt wirklich nur diesen einen Weg, ob ausgebaut oder nicht. Ich habe den Eindruck, als ob diese Wände noch weit tiefer als tausend Meter von unserem jetzigen Standpunkt aus abstürzen. Wie tief denn noch?

Als wir um eine Felsnadel auf dem Grat herumgehen - der Höhenmesser zeigt inzwischen eine Tiefe von 1300 Meter an, und ich rechne eigentlich damit, daß er sehr bald kaputt gehen muß, aber er tut's einfach nicht - bleiben wir entsetzt stehen.

"Nicht schon wieder!" flüstert Irene.

Die gewaltige Säule, auf die wir zumarschiert sind, ist gar keine Säule. Sie ist ein gewaltiger Berg, der von der Höhlendecke herunterhängt.

Dieser Berg hat keine Verbindung mit dem Grat, dem wir bisher gefolgt sind. Und dieser Grat ist jetzt auch zu Ende. Etwa fünfzig Meter unter unserem Standpunkt - soweit führt noch der sich abwärts windende Pfad - geht er in eine senkrecht nach unten abfallende Felswand über. Gelegenheit zum Abstürzen überall.

Vom Ende des Pfades hinüber zum hängenden Berg ist eine weit durchhängende Hängebrücke gespannt. Sie muß etwa zweihundert Meter überwinden. Ihre Konstruktion ist denkbar einfach: Drei Seile. Auf einem geht man, die beiden anderen bilden eine Art Geländer. In Abständen sind diese beiden Geländerseile mit dem Tretseil durch Streben verbunden.

Ich sehe nicht, wie zuverlässig verhindert wird, daß sich diese Konstruktion zufällig verdrillen könnte, wenn man sie betritt.

Drüben, wo diese Brücke den hängenden Berg trifft, geht es auf dieselbe Art weiter. Die drei Seile bilden eine Folge von kleineren Hängebrücken, auf denen man unter dem hängenden Berg weitergehen kann. Es sieht so aus, als ob man an den Aufhängestellen den Felsen über dem eigenen Haupte berühren kann, dazwischen sich aber aufgrund des Durchhängens der Teilbrücken bis zu einigen Dutzend Metern von dem Fels entfernt. Von unserem Standort aus können wir diese Konstruktion über einen Kilometer verfolgen, aber ich sehe nicht, ob sie da hinten schon aufhört.

Unter der Brücke und unter dem hängenden Berg geht es viele hundert Meter in die Tiefe, zwischen den Felsnadeln da unten vielleicht auch tausende von Metern. Ich sehe nichts, wo ein endgültiger Grund ist. Irgendwo da unten kommt auch das Licht her.

Dieses ganze Bild ist so entsetzlich, daß man es nicht sogleich begreifen kann. Wir wissen ja: Wir sind soweit, daß wir nicht mehr hoffen können, auf demselben Weg zurückzukommen. Wir würden es kräftemäßig nicht schaffen, und technisch an einigen Stellen auch nicht. Es gibt nur einen Weg für uns: Vorwärts.

Hier gibt es nur ein Vorwärts: Über die Brücke.

"Sehen wir uns mal den Anfang der Brücke an." sage ich und beginne, das letzte Stück des Pfades abzusteigen.

"Du willst doch nicht etwa darüber?!" fragt Irene. Ich sehe ihr lange in die Augen.

"Ich glaube nicht, daß wir noch eine Wahl haben!"

Zögernd folgt sie mir. Nach wenigen Minuten stehen wir am Anfang der Brücke, von drei Seiten vom Abgrund umgeben.

Hier hat der unbekannte Baumeister einen Platz aus dem Felsen herausgehauen, der so groß ist, daß man da ein Auto abstellen könnte. Wahrscheinlich geschah es zu dem Zweck, die Widerlager der Seile fest in dem Felsen zu verankern. Zweihundet Meter Spannweite ist eine ganz ordentliche Ingenieurleistung. Immerhin haben wir auf diese Weise die Möglichkeit, hier die Nacht abzuwarten. Ich möchte auf dieser Anlage keinesfalls von der Dunkelheit überrascht werden.

Die Seile selbst sind Stahlseile, gewunden und geflochten aus zahlreichen Litzen. Sie glänzen und zeigen kaum Rostansätze. Die nächsten Querstreben kann man noch gut erkennen, weil sie etwa alle zehn Meter angewendet wurden. Es handelt sich ebenfalls um Stücke aus Stahlseilen, deren Enden gespleißt und dann um die Trageseile geflochten worden sind.

Ich lege den Rucksack ab.

"Ich probiere mal ein paar Meter!"

"Mein Gott, Herwig!"

"Keine Angst. Ich komme gleich zurück!"

Die drei Seile bilden etwa ein gleichseitiges Dreieck von 110 Zentimeter Kantenlänge. Nein, vielleicht nicht ganz, die beiden Handseile sind näher beieinander. Diese haben einen Durchmesser von vier Zentimeter, das Tretseil von sieben. Außerdem ist das Tretseil von einigen dünnen Seilen so umwunden, daß sie eine Art Netz bilden, weil man sonst wahrscheinlich Schwierigkeiten mit der Glätte des Tretseils hätte. Es sieht halbwegs vertrauenerweckend aus.

Ich kann nicht feststellen, daß diese Seilbrücke von meinem Gewicht Kenntnis nimmt. Wahrscheinlich ist es so, daß nur eine einfache Konstruktion dieser Art, aus leichten Seilen, Schwierigkeiten macht, weil zum Beispiel das Tretseil die Neigung hat, zur jeweils anderen Seite auszuweichen als das Handseil. Hier handelt es sich aber um tonnenschwere Seilkonstruktionen.

Ich gehe über dreißig Meter hinaus. Das scheint der schwierigere Teil zu sein, weil man am Anfang einer solchen Seilhängebrücke immer abwärts geht. Aber die Konstruktion liegt ruhig und mein Fuß steht sicher. Sogar das Umdrehen macht wenig Schwierigkeiten. Meine Augen fokussieren sich so auf meine Füße, daß ich die Tiefe darunter nicht richtig wahrnehme. Eigentlich müßte man sich an sowas gewöhnen - der Mensch gewöhnt sich ja an alles. Beim Zurücksteigen überlege ich, ob mir die 'Brett'-artige Kletteranlage, über die wir so mühsam gestiegen sind, oder diese Brücke unangenehmer ist.

Bald stehe ich wieder neben Irene. "Es geht," sage ich, "es geht sogar gut. Wir müssen nur ausgeruht sein. Du siehst ja - keine Zwischenpause möglich für die ganze Strecke da, und wer weiß für wieviel mehr noch."

"Wollen wir hier übernachten?" fragt Irene.

"Es ist schon nach 20 Uhr. 1350 Meter tief sind wir hier, nebenbei. Ja. Wahrscheinlich sollten wir das. Obwohl ..."

"Obwohl?"

"Obwohl das Licht mit dem Tageslicht offenbar kaum etwas zu tun hat. Es verändert sich nicht."

"Was ist es dann?" fragt Irene.

"Weiß ich nicht. Ich war noch nie hier!"

Wir setzen uns und lassen die Aussicht auf uns wirken. Da ist ein ständiges, fernes, aber deutliches Rauschen in der Tiefe, und ein leichter, unregelmäßiger Wind flattert uns um unsere Nasen.

"Wir haben jetzt noch sechs belegte Brote, nicht?" überlege ich laut, "Heute hat jeder drei gegessen. Das heißt, morgen gibt's noch voll zu essen, und dann nichts mehr, oder morgen jeder zwei und übermorgen jeder eins, oder in den nächsten drei Tagen jeder eins."

"Ich glaube, das halte ich nicht aus, wenn ich weiß, daß noch etwas da ist." schüttelt Irene den Kopf.

"Also morgen zwei und übermorgen eins?"

"Schon eher."

"Irene, du weißt, wir machen eine Dummheit. Seit Tagen schon. Wir gehen immer weiter, als ob uns am Ziel etwas erwartet! Insbesondere etwas zu essen."

"Wir können doch nicht mehr zurück!"

"Schon richtig. Aber bis vor kurzem haben wir uns doch noch eingebildet, daß wir irgendwie einen anderen Ausgang aus diesem Höhlensystem erreichen könnten. Irgendwo im Tal. Aber du siehst ja: Es geht immer weiter in die Tiefe. Jetzt schon 1350 Meter unter dem Meeresspiegel. Das sagt nicht nur der Höhenmesser, das sagen auch unsere Knochen. Also, bis auf die Höhe von Garmisch rauf wären das über zweitausend Meter zu steigen, und bis zum Eingang der Höhle wären es schon 3400 Meter. Ja, und dazu die Schwierigkeiten auf dem Herweg. Es stimmt, wir können nicht mehr zurück. Weder auf das Höllentalplatt noch sonstwohin auf die Erdoberfäche."

"Du meinst, wir haben keine Hoffnung mehr?"

"So würde ich das nicht sagen. Kommt drauf an, was uns am Ende dieses Weges erwartet. Wir denken immer - oder ich denke jedenfalls so - daß der gute Zustand dieses Weges darauf hindeutet, daß dieses alles erst in jüngster Zeit erbaut worden ist. Sieh diese Seile an! Wie hat man angefangen, diese Brücke zu bauen? Zunächst gab es ja keine Brücke - wie überwindet man dann diesen Abgrund? Irene, da ist mehr dahinter als sich unsere Geologen und unsere Historiker träumen lassen. Die haben da in jüngster Zeit irgend etwas übersehen. - Oder auch in nicht so jüngster Zeit. Vielleicht gibt es hier wenig Veränderungen. Die trockene Luft - diese Seile können auch Jahrhunderte alt sein. Jahrtausende."

"Ja und?"

"Ich möchte nur, daß wir, daß du genau weißt, auf was für ein zweifelhaftes Unternehmen wir uns da eingelassen haben."

"Ist mir längst klar."

"Und du gehst weiter mit?"

"Was soll ich denn sonst tun? Ich geh mit meinem Mann. Bis zum Ende. Bis ans Ende der Welt, wenn es sein muß! Das habe ich mal dem Bürgermeister in Aying gesagt!"

"Mmhpf. Der war daran ja auch nicht besonders interessiert. - Also dir ist klar, daß wir alles auf eine Karte setzen? Die Karte, daß am Ende des Weges etwas ist, was uns nützt, zu überleben und vielleicht wieder zurückzukommen? Vielleicht ist es aber auch wirklich das Ende der Welt."

"Das ist mir alles klar. Habe ich schon gesagt."

"Gut."

Eine Weile Stille.

"Bei den sechs Broten, die wir noch haben, hast du für heute abend keine mehr eingeplant?" fragt Irene ganz plötzlich.

"Ne. Eigentlich nicht. Sind drei Brote pro Nase für heute denn nicht genug?"

"Ich habe Hunger. Außerdem bin ich glockenwach."

"Willst du damit sagen," frage ich, "daß, wenn während unseres Essens das Licht nicht dunkler wird, wir gleich wagen könnten, diese Brücke zu begehen?"

"Morgens komme ich immer so langsam in Gang!" gibt Irene zu bedenken.

"Das ist ein Argument!"

Das Brot wird ausgepackt, und es gibt eine Mahlzeit. Vielleicht eine Henkersmahlzeit. Allerdings gehen wir davon nicht aus, denn sonst würden wir gleich alles essen was noch da ist.

Während des Essens werfe ich einen Blick auf den Höhenmesser. Immer noch 1350 Meter. Ich habe die Überlegung angestellt, daß wir, während längerer Zeiten des Aufenthaltes an einem Platz eventuelle Druckschwankungen feststellen können. Wenn ja, dann wissen wir, daß es noch mehr Verbindungen zur Oberfläche geben muß als die, die wir gekommen sind.

Langsame Druckschwankungen, also langsames Driften der Höhenanzeige, habe ich noch nie festgestellt. Jetzt sehe ich aber, daß der Zeiger sich ein kleines bißchen bewegt. nach einer Weile fängt er wieder in Gegenrichtung an zu kriechen. Dann wieder zurück. Als ob wir unsere Höhe alle paar Minuten um 25 Meter rauf und runter verändern.

Dafür habe ich keine Erklärung. Ich zeige es Irene, aber sie glaubt nicht, eine Bewegung des Zeigers zu sehen. Ich lasse das Thema auf sich beruhen.

"Da waren's nur noch vier!" zitiere ich, als wir nach dem Essen wieder aufpacken. Es ist halb zehn, und es ist kein bißchen dunkler geworden. Also gehen wir. Ich als erster, natürlich.

3.3 Fehltritt

Es ist schon eine große Erleichterung, nicht dauernd mit der Lampe herumfuchteln zu müssen. Sonst hätten wir, so ähnlich wie auf dem Alptraum-Klettersteig, immer abwechselnd ein paar Meter gehen müssen, während der andere leuchtet.

Ein paarmal halten wir an. Es ist um so leichter, je weniger verkrampft man geht. Und das müssen wir, da wir ja lange gehen müssen.

Ich zwinge mich, in solchen Pausen in die Tiefe zu schauen. Wir müssen uns ja doch dran gewöhnen, so lang, wie diese Hängebrückenfolge sich noch vor uns hinzieht.

"Wir sind um 21 Uhr losmarschiert, nicht?" fragt Irene.

"Halb zehn ungefähr. Warum?"

"Nur so."

Sonst reden wir wenig. Ich habe im Gebirge immer etwas Angst um Irene, weil sie nicht dieselbe motorische Geschicklichkeit hat wie ich. Eine Ungeschicklichkeit, die ich an mir selbst nur bei großer Müdigkeit beobachte, und die dann sehr lästig ist.

Auch zu Hause ist diese marginale Ungeschicklichkeit bei Irene zu beobachten: Sie stolpert leichter, stößt öfter irgendwo an, läßt Dinge fallen. Das darf alles jetzt nicht sein. Ich hoffe, daß sie gerade das Maß an Todesangst hat, das sie gerade nicht lähmt, aber immer noch jede Bewegung mitdenken läßt. Und ich hoffe natürlich auch, daß ich selbst auch in diesem Bereich des vorsichtfördernden Angstlevels bleibe.

"Weißt du, woran ich gerade denke?" frage ich.

"Nein." sagt Irene hinter mir.

"An meinen Vater. Als er noch im Dienst war, mußte er, wie alle anderen Lehrer auch, Schulausflüge machen. Einige davon in die Alpen. Er hat immer erzählt, daß das ein Alptraum ist, auf so viele undisziplinierte, frisch pupertierende Schüler aufpassen zu müssen. Der sollte uns hier sehen! Hier mit einer Schulklasse entlang! Stell dir das vor!"

"Herwig, laß das!" protestiert Irene, "Wir sind hier. Das reicht mir!"

Sie stellt es sich also nicht vor. Diplomatisch halte ich den Mund.

Der größte Teil der Hängebrücke ist geschafft, es geht wieder steil bergan. Vor uns wölbt sich der hängende Berg. Je näher wir ihm kommen, desto weniger sehen wir von ihm. Einen Teil seiner Felsoberfläche sehen wir schon genau aus der Nähe. Bald schon kann ich die Aufhängung der Hängebrücke erkennen.

Es sieht wie große Eisenbügel aus, die in den Fels geschlagen worden sind. Diese tragen ein kurzes, gedrungenes, dickes Seil, das die eigentlichen Seile der Brücken trägt. Die Eisenbügel werden durch die Halteseile genau in der Richtung belastet, in der man auch eine Kraft ansetzen müßte, um sie rauszuziehen. Eine widerliche Vorstellung. Aber unser Gewicht ist gering, im Vergleich zum Gewicht der Brücke, und ich nehme an, daß Irene nicht solche mechanischen Betrachtungen macht.

Diese Konstruktion hat schon so lange gehalten, warum sollte sie ausgerechnet jetzt versagen?

Die Folge der kleineren Hängebrücken läßt sich genauso begehen wie die große, und die Aufhängestellen gleichen sich im wesentlichen auch. Ich staune schon darüber, wie gut diese ganze Anlage in Schuß ist. Sogar bei dem sorgfältig überwachten Klettersteig durch die Höllentalwand kenne ich eine Stelle, an der das Halteseil mit einem scharfen Knick durch eine Ösenstange führt und dort immer wieder aufdröselt. Hält jemand hier diese Anlagen in Ordnung? Oder sind sie für die Ewigkeit gebaut worden?

Mir wäre die letzte Version lieber. Gegenverkehr möchte ich hier keinen haben.

Langsam driften Berge, Felsnadeln, Schluchten und Grate unter uns vorbei. Ich schätze, daß wir uns mit etwa einem Kilometer pro Stunde fortbewegen. Vielleicht auch etwas mehr - wir kommen allmählich in Übung.

Der Blick in die Tiefe wird mir immer vertrauter. Deshalb sehe ich auch als erster etwas Neues:

"Da sind Wolken!"

"Wo?"

"Unter uns! Da, in der Schlucht, die so merkwürdig verdrillte Wände hat, etwas vor uns!"

"Da gucke ich jetzt nicht hin." sagt Irene entschlossen.

"Gutgut," sage ich schnell, "ich behalte es im Auge."

"Behalt lieber im Auge, wo du hintrittst!"

"Natürlich."

Das Gespräch stirbt wieder ab. Aber je weiter wir gehen, desto mehr von dieser Wolkenfläche wird sichtbar. Entweder, diese Wolken leuchten selbst, oder das Licht kommt aus einer Lichtquelle unter ihnen. Das läßt sich allerdings überhaupt nicht entscheiden.

Der wechselnde Wind wird stärker. Hauptsächlich bläßt er uns von vorne an. Es ist noch nicht so, daß es beim Gehen stört. Aber die Vorstellung, daß der Wind mit Sturmesstärke uns von den Seilen herunter blasen könnte, taucht auf. Ich verdränge sie gleich wieder.

Der hängende Berg zieht sich hin. Er muß so groß sein wie eine hier überkopf aufgehängte Benediktenwand. Allerdings ist sein Scheitel runder als diese, und wir verlieren stetig an Höhe. An Stellen, wo wir den 'Abhängen' dieses Berges nahekommen, sehen wir, daß die eigentliche Höhlendecke noch hunderte von Metern über uns ist. So abwegig ist der Vergleich mit der kopfgestellten Benediktenwand nicht.

Wir nähern uns einer mächtigen Felssäule, die wirklich die Höhle in ihrer ganzen Höhe durchmißt. Sie verschwindet in den leuchtenden, wogenden Wolken da unten, und nach oben vereinigt sie sich mit der Höhlendecke. Soweit die nach oben behinderte Sicht durch den hängenden Berg das zu sehen zuläßt.

Der Durchmesser dieser Felssäule muß wohl bei zwei Kilometer liegen. Eher mehr. Der Rücken des Hängenden Berges muß kurz vor der Felssäule irgendwo enden.

Es geht träge vorwärts. Nur langsam verändert sich die Rundung des hängenden Berges zu einer mehr gratigen und unregelmäßigen Form. Die Folge der hängenden Brücken führt jetzt seitlich am hängenden Berg entlang. An der Konstruktion ändert sich aber nichts, nur das wir bald zur Linken eine Felswand des hängenden Berges, die uns begleitet, haben.

An einer Stelle dieser Felswand folgt uns für einige hundert Meter ein in den Fels geschlagener Gang von der Art, wie wir ihn schon kennen: Vielleicht einen halben Meter breit und zwei Meter hoch. Offenbar wurden bei der Anlage dieses Weges alternative Konstruktionen gesucht und wieder verworfen. Hoffentlich kommt nicht noch eine Strecke, die wieder als Klettersteig ausgeführt ist, ohne Handseil! Im Moment fühle ich mich mit dieser Konstruktion eigentlich ganz wohl.

Dann denke ich daran, daß ich nichts berufen sollte: Die Erbauer der Hängebrücken könnten ja auch auf die Idee gekommen sein, eine Hängebrücke ohne Handseile auszuführen - wissen wir, ob sie vielleicht ohne jedes Schwindelgefühl waren oder nicht? - Ich verdränge den Gedanken wieder.

Als ich mich zu genau für die Rudimente des anderen Weges in der Felswand zur Linken interessiere, passiert es. Irgendwie ist das Maschengeflecht um das Tretseil an der Stelle, wo ich gerade auftrete, so uneben, daß ich einen Moment den Eindruck habe, ich trete asymmetrisch auf das Seil auf. Reflexartig korrigiere ich. Dabei trete ich richtig ins Leere.

Jetzt geht alles sehr schnell. Durch die kurze Drehung des Körpers dreht sich auch der andere Fuß auf dem Tretseil, außerdem fing er gerade an, entlastet zu werden. Ich knicke im Knie ein, was aber der Standfestigkeit nicht im mindesten hilft, und mit den beiden Händen an den Handseilen kann ich, so mit ausgestreckten Armen, mein Gewicht nicht halten. Der zweite Fuß rutscht auch vom Tretseil runter, allerdings zur anderen Seite. Hinter mir schreit Irene.

Mit aller Wucht falle ich so auf das Tretseil, daß es mir den Hoden in den Arsch rammt. Der Schmerz ist fürchterlich, instinktiv schließe ich die Beine und bemerke gleichzeitig, daß ich dabei bin, mit dem Oberkörper links am Tretseil vorbeizufallen. Ein flüchtiger Eindruck der fernen Felshänge, die da unten irgendwo in die Wolken eintauchen, huscht durch das Bildfeld. Auch meine Arme schließen sich um das Tretseil, während ich nach links unten rotiere.

Der Schmerz am Hoden ist furchtbar. Da kann man sich noch so oft sagen, daß das erstens keine unbedingt lebenswichtigen Organe sind und daß zweitens diese Körpergegend besonders gut heilt. Reflexartig öffnen sich meine Beine wieder, ohne mein Zutun. Und dann hänge ich nur noch mit den Oberarmen um das Tretseil.

"Herwig, mein Gott, Herwig!" schreit Irene in den höchsten Tönen.

"Bleib stehen, bleib, wo du bist!" ächze ich. Eigentlich wollte ich schreien, aber ich erreiche nicht meine übliche Lautstärke.

"Bleib stehen. Ich halte mich schon." Ob das wohl gelogen ist? Ich habe den Eindruck, daß das Tretseil sich aus meinen Armen herauswinden will. Wenn ich erst mit langen Armen hänge, dann wird es noch schwerer. Oder auch unmöglich. Mein Gott, tun mir die Eier weh. Egal, ist etwas anderes kaputt? Etwas wichtiges? Blaue Flecke habe ich verschiedene, aber die sollten jetzt nicht stören.

Erster Punkt: Ich muß mit den Beinen wieder das Tretseil umschlingen. Wenigstens mit einem. Und das mit dieser Wunde da unten! Ich versuche, zu schwingen. Wie lästig der Rucksack ist - er zieht nach unten.

Ich strampele mit den Beinen, um herauszukriegen, ob die noch funktionieren. Da treten neben dem Hoden starke Sehnen in das Becken ein, die zum Schließen der Oberschenkel notwendig sind. Ganz besonders sind die notwendig, wenn man etwas mit den Schenkeln einklammern will. Die dürfen jetzt unter keinen Umständen beschädigt sein. Allerdings sollte das bei einem Fall aus dieser geringen Höhe auch nicht geschehen sein.

Nach einigen Mühen, die Irene hilflos verfolgt, schaffe ich es. Ich mußte es einfach schaffen - ich kann Irene nicht zumuten, zuzugucken, wie ich mich vergeblich abmühe. Das ist mir völlig klar: sie kann mir nicht helfen. Sie muß sich ja selbst mit wenigstens einer Hand am Handseil festhalten. Und mit der anderen hat sie zuwenig Kraft. Weit genug bücken dürfte auch nicht in Frage kommen. Sie würde das Gleichgewicht verlieren.

Jetzt, wo ich mit einem Bein über dem Tretseil hänge, wünsche ich mir, schlafen zu können, um das alles hier zu vergessen. Egal, weitermachen. Jetzt muß ich mich auf das Tretseil heraufwinden, um dann sofort durch Absenken beider Beine an beiden Seiten des Tretseils ins Gleichgewicht zu kommen.

Das Heraufwinden ist schwer. Irene könnte mir dazu einen Fuß vor die Nase stellen, aber leider steht sie auf der falschen Seite. Ist sie überhaupt noch da? Wieder eine Vision: Sie hat irgendwo helfend zugreifen wollen und ist ausgerutscht, stürzt schon längst in die Tiefe, hat jeden Schrei unterdrückt, um mich nicht zu einer Unachtsamkeit zu veranlassen.

"Irene?"

"Ja?"

"Halt dich bloß fest, ich komm schon klar!"

Sie sagt nichts. Ich komme in die gewünschte Lage. Die Dicke des Tretseiles ist da sehr hilfreich. Allerdings denke ich zu spät daran, daß ich durch das zeitweise Verdrillen des Tretseiles um mehrere Dutzend Winkelgrade Irene in die allergrößten Schwierigkeiten bringen könnte. Zum Glück ist das Tretseil so stark, daß es sich nur um sehr viel kleinere Winkelbeträge verwindet. Nun aufsetzen. Dabei werde ich wieder in das labile Gleichgewicht kommen, aber das ist für einen Moment notwendig. Unangenehmer ist schon, daß ich meinen Hoden dabei erneut quetschen muß. Trotzdem kann ich aus der sitzenden Stellung mit einem raschen Griff wieder die Handseile erreichen. Dann stehe ich auf.

"Gottseidank, Herwig, das ..." setzt Irene an.

"Mir tut alles weh," unterbreche ich, "wir müssen weiter, ja? Ich muß mich irgendwo setzen. Mir ist ganz flau."

Das stimmt, aber ich hätte das auch nicht sagen sollen. Was sollte Irene tun, wenn mir hier schlecht wird? Wir können uns hier nicht festhalten, wenn einer von uns die Kontrolle über seinen eigenen Körper vorübergehend einbüßt.

Langsam gehen wir wieder weiter, Schritt für Schritt. Konzentriert. Angst. Um mich, um Irene. Schmerzen - immer noch das Pochen zwischen den Beinen. Trotzdem: Konzentriert gehen!

Um eine Rundung der Felswand kommend sehen wir die Säule vor uns in ihrer ganzen Größe. Gleichzeitig sehen wir, wie es weitergeht: Eine freihängende Brücke von der Art wie die ganz am Anfang. Nur ist sie noch größer: Wir müssen über dreihundert Meter überwinden und dabei etwa weitere zweihundert Höhenmeter verlieren.

Wir sehen noch etwas anderes. Das heißt, ich sehe es:

"Irene, halt dich fest!" sage ich, mit künstlich fester Stimme, um unsrere Gedanken etwas von unserer Situation abzulenken, "Da unten ist eine Burg oder eine Stadt!"

"Wo?"

"Die Säule vor uns, ganz unten am linken Rand, aus der Wolkendecke hervorragend!"

Es ist schwer zu erkennen, wegen der großen Höhe über der fraglichen Formation. Aber sie kann nicht natürlichen Ursprungs sein. Der aus dieser Höhe kleine, steile Berg ragt neben der mächtigen Säule aus dem Nebel empor. Er trägt auf seinem engen Gipfelplateau Formationen, die sich eigentlich nur als Gebäude und Mauern deuten lassen.

Außerdem wird dieser Berg mit der mächtigen Felssäule durch einen Grat verbunden, der teilweise nicht aus den Wolken herausragt. Ich bin nicht sicher, aber es sieht so aus, als ob am burgseitigen Teil dieses Grates sich ein Fahrweg herunterwindet.

Zeichen von Bewohnern kann man nicht erkennen. Kein Feuer, kein Rauch, keine Bewegung. Menschen wären aus dieser Entfernung, also einige tausend Meter und so direkt von oben, sowieso nicht auszumachen.

"Meinst du wirklich, das ist eine Stadt?" fragt Irene. Also hat sie sich überwunden und hingeschaut.

"Es sieht jedenfalls so aus. Wie eine Burg oder eine Stadt. Mehr kann ich nicht sagen. Vielleicht, wenn wir näher kommen. Wenn wir über die Brücke da vorne gehen, dann sind wir fast genau über dieser Stadt. Wir werden sehen."

Wir gehen weiter. Nach einigen hundert Metern kommen wir an die diesseitige Aufhängung der Hängebrücke, die, bis auf die Stärke ihrer technischen Ausführung, allen bisherigen Brückenaufhängungen gleicht. Am Anfang ist diese Brücke unangenehm steil, weil sie eine so weite Strecke überspannt. Es muß etwa 50 Winkelgrade abwärts gehen. Ich sehe mich nach Irene um. Wirkt sie schon übermüdet?

"Was ist?"

"Geht's noch?"

"Natürlich."

"Es ist steil."

"Das sehe ich auch."

Na, wenn sie meint. Ich trete auf die Brücke hinaus. Die Schmerzen zwischen den Beinen sind jetzt weitgehend abgeflaut. Das ist gut, denn nun wird es doch wieder etwas knifflig. Das Tretseil ist glücklicherweise gut umflochten. Auf einem blanken Stahlseil könnte man hier nicht gehen.

Irene atmet schwer. Eigentlich ein gutes Zeichen. Schlimmer wäre es, wenn sie übermüdet ihren Gehstil der Steilheit der Brücke nicht genug anpassen würde. Ich sage deshalb kein Wort.

Dafür vertreibe ich mir die Zeit, auszurechnen, daß mit jedem Schritt, den wir weitergehen, die Steilheit abnimmt. Im Moment ist die Abnahme ungefähr ein Winkelgrad pro vier Meter. Mit jedem Schritt wird es leichter. Die letzten achtzig Meter der Brücke wird es wieder etwas bergauf gehen. Kettenlinie - Cosinus Hyperbolicus. Das ist die Form einer hängenden Kette ohne Biegesteifigkeit, erinnere ich mich. Helfen tut uns das natürlich gar nicht.

Mit unseren kleinen, konzentrierten Schritten kommen wir langsam vorwärts. Es kommt mir wie eine ganze Stunde vor. Wahrscheinlich ist es das auch. Ich habe keine Zeit, die Aussicht nach unten zu begutachten. Endlich trete ich mit rascheren Schritten vom Ende der Brücke runter. Sekunden später läßt Irene sich neben mir zu Boden gleiten.

Es ist eine kleine Plattform in den Felsen geschlagen worden, so ähnlich wie die, die wir ganz am Anfang der Brückenstrecke gesehen haben. Vielleicht wurde ein natürlicher Felsvorsprung ausgenutzt, denn sonst hätte beim Bau eher eine kleine Höhle entstehen müssen. Sie ist fast genauso groß und hat einen wunderbar ebenen Boden. Gleich hinter ihrer Vorderkante geht es aber kilometerweit senkrecht abwärts, und den hängenden Berg, den wir jetzt von einer tieferen Position umfassender sehen können, kann man nur über diese unmöglich steil werdende Brücke erreichen. Vor Tagen noch hätte ich niemandem, der mir Bilder von dieser Gegend gezeigt hätte, abgenommen, daß wir eine solche Konstruktion besteigen würden. Aber vor Tagen hätte ich die Existenz einer solchen Gegend auch überhaupt nicht geglaubt. Tue ich das jetzt? Vielleicht ist das alles nur ein Traum. 'Life is a dream, a little more coherent than most', heißt es, irgendwo. Einen prinzipiellen, objektiven Unterschied im subjektiven Erleben eines Traumes und der Wirklichkeit gibt es nicht. Vielleicht bis auf starke Schmerzen. Schmerzen träumt man eigentlich nicht. Ist mir jedenfalls noch nie passiert. Aber daß wir, wie die Wahnsinnigen, immer weiter in diese Alptraumwelt hinabsteigen, spricht das nicht für einen Traum?

Zeit und Höhenmesser. Der Höhenmesser meint, daß wir 1900 Meter unter dem Meeresspiegel sind, und die Uhr sagt, daß es 2 Uhr nach Mitternacht ist - also schon Dienstag. Wir sind zeitlich ganz schön aus dem Tritt geraten. Aber wenigstens haben wir ganz ordentlich etwas geschafft.

"Hier übernachten wir!" stelle ich fest. Ich glaube nicht, daß Irene mir eine andere Wahl gelassen hätte. Wir packen uns und unsere Sachen weit von der Außenkante entfernt an die Felswand. Die unveränderte Beleuchtung hindert uns nicht, eng aneinandergeklammert einzuschlafen. Zuvor jedoch untersuche ich mich auf Verletzungen. Der Hoden scheint geschwollen, aber die gering gewordenen Schmerzen geben Anlaß zu Optimismus. Erst, als ich keine wesentlichen Verletzungen finde, sondern nur Abschürfungen und Hautverfärbungen, bin ich beruhigt genug, um einzuschlafen.

Noch im Halbschlaf spüre ich, wie Irene immer wieder zusammenzuckt. Der zweite Teil der Wanderung: Die geträumten Abgründe. Und in die fällt man gelegentlich wirklich rein. Wird mir gleich auch so gehen.

Diese Nacht werde ich wahrscheinlich häufiger zusammenzucken.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite