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******** 002. Tag: Sonntag 95-08-20 ********
2.1 Wege in der Finsternis
Vor dem Abmarsch gibt's noch einige notwendige Vorbereitungen. Die Ersatzglühbirnchen verteilen wir gleichmäßig auf beide. Jeder hat drei, und die eine, die in Irene's Lampe ist, bleibt bei Irene.
Dann stelle ich den Höhenmesser und sehe mir noch einmal die Karte an.
"Ich weiß nicht, was wir draußen für ein Wetter haben. Deshalb stelle ich das Ding auf neutrale Luftdruckverhältnisse, einverstanden?"
Irene hat keine Einwände.
"Danach sind wir 2100 Meter über NN. Mmh. Ziemlich weit oben. Eigentlich sind es etwa nur 1500 Meter Luftlinie zum Brett."
Nachdem wir aufgepackt und unseren Lagerplatz nach liegengelassenen Gegenständen untersucht haben, geht es den mir schon bekannten Weg los. Mir scheint es, als kämen wir rascher vorwärts. Ich zähle meine Schritte mit. Vorsichtige dreißig Zentimeter lange Schritte, davon 1500. Dann sind wir an der Stelle, wo wir seitlich auf dem Sims weitergehen müssen und zu unserer Rechten der Abgrund gähnt. Der Höhenmesser sagt 2000 Meter. Aber nun verlieren wir rasch an Höhe.
Irene geht hinter mir, bleibt zurück. In der Dunkelheit kann ich nicht sehen, wie sie auf den zunehmenden Grad der Gefährlichkeit des Weges reagiert. Ich glaube, ich muß sie beruhigen.
"Solange man konzentriert geht, kann nichts passieren. Der Fels und die Treppen sind überall fest. Und wir haben Zeit."
Beides Aussagen, die man diskutieren könnte. Aber ich muß Irene beruhigen. Und mich.
Es ist 2 Uhr morgens, als ich auf einer Treppenstufe etwas glitzern sehe. Mein durchgebranntes Glühbirnchen. Ich mache Irene darauf aufmerksam. Von nun an ist auch für mich wieder Neuland.
Wir lassen das Glühbirnchen liegen. Der Höhenmesser zeigt 1800 Meter an.
Wenig später, nach einigen weiteren Kehren der engen Treppe, reichen unsere Dynamotaschenlampen mit vereinten Kräften gerade an die gegenüberliegende Spaltwand. Man kann allerdings nichts Genaues erkennen. Eine Felswand eben, was sonst. Zum wer weiß wie vielten Male schärfe ich Irene ein, zum Wechsel der Dynamotaschenlampe stehen zu bleiben und erst weiterzugehen, wenn die Schlaufe wieder sicher um das andere Handgelenk liegt. Vielleicht rede ich zuviel, aber hier ohne Licht zu sein ist ein Alptraum. Diesen möchte ich nicht Wahrheit werden lassen.
Als der Höhenmesser 1700 Meter anzeigt, öffnet sich in der Wand plötzlich eine Tunnelhöhle, in die wir hineinmüssen. Von einem Moment zum anderen ist die Gefahr des Absturzes wieder gebannt. Aber dieser Tunnel ist mit Sicherheit künstlich: Sauber herausgehauene Treppenstufen, beidseits der Treppe Abflußrinnen, die aber völlig trocken sind, und in etwas über Kopfhöhe eine gewölbte Tunneldecke.
Ständig weht uns ein gleichmäßiger Wind entgegen, wesentlich stärker als der schwache Zug oben am Eingang der Höhle. Das läßt Schlüsse auf weitere Verzweigungen des Höhlensystems zu.
Einige Male wird der Tunnel durch größere Höhlen unterbrochen, die offenbar beim Bau des Tunnels genutzt wurden, um Arbeit zu sparen. Diese Höhlen sind teilweise weitaus größer als die Reichweite unserer Taschenlampen.
Der Tunnel ist gut zu begehen, ausgenommen die Strecken in den Zwischenhöhlen, wo man den Weg in dem Felsengeröll etwas suchen muß. Wir verlieren rasch an Höhe. Als der Höhenmesser bei 1400 Meter angekommen ist, öffnet sich der Tunnel wieder in eine Höhle, deren jenseitige Wände von unseren Lampen nicht mehr erreicht werden kann. Es wird wieder gefährlich: der Weg führt auf einen Grat hinaus. Rechts und links gähnt eine unergründliche, schwarze Tiefe. Nur stellenweise gibt es Stufen, dann wieder windet sich der Weg, als die Gratlinie zu steil wird, in engen Kehren nach unten. So kann man sich wenigstens so ab und zu an Felsen abstützen.
1300 Meter. Die Gratlinie ist fast senkrecht, und der Weg besteht wieder aus einer Folge von schmalen Simsen und Treppchen.
"Kannst du noch, oder sollen wir eine Rast machen?" frage ich.
"Wo sollen wir den hier rasten?" fragt Irene zurück. Wohl wahr. Wir dürfen uns keine Schwächeanfälle leisten. Gut, daß wir den ganzen Sommer über in vielen Bergwanderungen trainiert haben. Trotzdem, 800 Meter in unbekanntem Gelände absteigen, das machen wir eigentlich nie am Stück.
Ob die große, senkrechte Höhle, an deren Wänden wir absteigen, dieselbe ist wie die erste ganz am Anfang unserer Excursion, können wir nicht sagen. Es ist überhaupt völlig unmöglich, ein geistiges, dreidimensionales Modell der Höhlen, durch die wir kommen, zu entwickeln. Zu viele Windungen und Richtungsänderungen, die wir teilweise wegen unserer beschränkten Übersicht gar nicht mitbekommen.
1200 Meter. Unsere Felswand geht in eine Geröllhalde über. Da liegen Brocken rum, größer als ein Haus. Sie sehen aus, als ob sie jeden Moment kippen könnten. Der Weg führt, gerade noch erkennbar, um einige davon herum. Plötzlich halte ich an: irgendwie hat sich der Felsen vor mir auf dem Boden des Weges bewegt.
"Siehst du das?" frage ich.
"Was?"
"Da vorne. Die abschüssige Platte. Sie hat sich eben gedreht!"
"Quatsch." sagt Irene, "Du mußt dich irren. Hier bewegt sich nichts!" Woher will sie das denn wissen, denke ich.
Wir gehen vorsichtig einige Schritte weiter. Wieder bewegt sich ein Teil der Platte. Der entferntere Teil. Er ist sowieso sehr schwer zu erkennen, weil er irgendwie abgedunkelt ist. Es erinnert mich irgendwie an ...
"Wasser!" ruft Irene. Sie greift einen Stein und wirft ihn, ehe ich etwas sagen kann, nach vorne, in Richtung des hinteren Teils der Felsplatte. Die Wasserfontäne ist beruhigend und beunruhigend zugleich. Sind wir am Ende unseres Weges angekommen?
Nun, wo die aufgeworfenen Wellen die Wasseroberfläche deutlich sichtbar machen, ist das Ufer des Sees klar zu erkennen. Wir entscheiden uns, auf dem trockenen Teil der großen Felsplatte vor uns zu rasten. Wenn Irene den Stein etwas knapper geworfen hätte, dann wäre dieser Teil der Felsplatte jetzt nicht mehr trocken. Langjährige Eheerfahrung hält mich aber davon ab, diesen Vorwurf in Worte zu kleiden - sogar bei echten Fehlleistungen halte ich mich da zurück, nicht nur bei möglichen Fehlleistungen.
4 Uhr morgens. Wir spüren beide Müdigkeit. Essen, trinken, schlafen. Oder sollten wir wieder aufsteigen? Wir könnten um 8 oder 9 Uhr am Höhleneingang sein, restlos erschöpft, aber dann hätten wir einen ganzen Tag zur Verfügung, um uns über das verschneite Platt zum Brett durchzukämpfen. Jetzt stelle es ich mir sogar machbar vor, über die Steiganlage abzusteigen, wenn sie völlig vereist sein sollte. Und dann wären wir in nicht einmal einer Stunde bei der Höllentalangerhütte!
Diese Hütte ist jetzt etwas höher als unser Standpunkt und wahrscheinlich nicht sehr weit entfernt. Wenn nicht der viele Fels dazwischen wäre ...
Wir machen eine Schlummerpause. Irene legt ihren Kopf in meinen Schoß, und ich lehne mich nach hinten. Eine Weile horche ich in die Dunkelheit hinein, aber hier ist wirklich nichts zu hören. Nicht einmal das gelegentliche Tropfen, das in so vielen Höhlen einen Geräuschhintergrund bildet.
Wieso ist diese Höhle so trocken?
Die Felsplatte ist so flach, daß weder wir noch unsere Rucksäcke versehentlich ins Rollen kommen können. Keine Gefahr, jedenfalls nicht von da. Daß die Hölle allerdings über unseren Köpfen offenbar viele hundert Meter hoch ist, und daß Steinchen oder Steine, die von da oben abgehen, uns durchaus schaden könnten, daran denke ich jetzt nicht. Und wenn ich doch daran denke, dann sage ich mir, daß diese Steine vielleicht Millionen Jahre lang Zeit gehabt haben, herunterzufallen. Warum also gerade jetzt?
Dann denke ich daran, daß irgendwann einmal jemand diesen Weg benutzt haben muß. Vor meinem geistigen Auge sehe ich fackeltragende Kolonnen, die mit unbekannter Absicht von hier oder von einem Ort, der noch tiefer im Berg ist, nach oben ziehen. Wer waren sie? Oder sollte es sie noch geben? Quatsch. Es ist nur natürlich, daß man an unterirdische Kolonien von Trollen und Kobolden denkt. So etwas gibt es aber nicht. Unbekannte Völker, mitten im dichtbesiedelten Deutschland, die von uns nichts wissen und von denen wir nichts wissen. Was für eine Vision.
Es kann nicht sein. Dieser Weg ist bestimmt ein archäologisches Relikt. Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende alt. Hier ändert sich wenig. Keine Erosion. Da kann eine Steintreppe unbeschadet ohne weiteres Jahrtausende überstehen.
Was war vor tausend Jahren? Zweitausend? Da unten, bei Garmisch, gab es römische Verkehrswege. Germanien war teilweise römische Kolonie. Aber es ist nicht überliefert, daß die Römer sich für die Berge interessiert hätten. Genaugenommen ist aus dieser Zeit überhaupt nichts überliefert, was das mögliche Interesse der Menschen an der hochalpinen Bergwelt betrifft. Und von Höhlen ist schon gleich gar nichts überliefert.
Nein, es waren auch nicht die Römer. Diese Wege hat jemand ganz anderes gebaut. Da bin ich sicher.
Dann denke ich an meinen alten Geschichtslehrer. Mit welchen archäologischen Kenntnissen könnte ich jetzt auftrumpfen! - Aber erstens würde er mich sofort über den historischen Hintergrund befragen, und über den weiß ich ja nichts, und zweitens trennt mich ja schon ein Dritteljahrhundert von diesem Unterrichtsgespräch. - Außerdem ist er wahrscheinlich schon tot.
Mit diesen Gedanken schlafe ich ein.
2.2 Wunschdenken
Diesesmal war der Schlaf erholsamer und tiefer. Es ist Mittag, als ich von Irene's unruhigen Bewegungen geweckt werde. Es dauert eine Weile, bis ich weiß, wo ich bin, und welche Anstrengungen uns noch von dem Wiedererreichen der Zivilisation trennen.
Das Frühstück / Mittagessen ist umständlich, wegen der Dynamolampen. Wir stellen fest, daß das Seewasser trinkbar ist. So schonen wir unsere mitgebrachten Vorräte an Getränken.
Ich bin schneller fertig, aber es wird trotzdem 1 Uhr, bis wir wieder abmarschbereit sind.
"Also," frage ich, "rauf oder runter?"
"Weiter natürlich - wenn es noch weiter geht!"
Irene macht ihre Entscheidung vielleicht etwas zu sehr von der Aussicht auf den anstrengenden Wiederanstieg abhängig. Aber wenn ich ehrlich bin, ist mir das recht.
"Das heißt aber, daß wir in der nächsten Nacht wieder aufsteigen müßten, wenn wir nichts finden!"
"Daran glaube ich nicht! Wir werden einen Weg hinaus finden." entscheidet Irene. Wishful Thinking. Hoffentlich hat sie recht. Je weiter wir in die Tiefe vorstoßen, desto kräfteraubender wird der Wiederaufstieg werden. Inzwischen ist sogar die Wanderung über das Höllentalplatt und das Brett der kleinere Teil der noch zu erwartenden Anstrengung.
"Wie gut, das wir Urlaub haben!" meint Irene, als wir losmarschieren, "Sonst müßten wir am Montag blaumachen!"
"Das wäre mir völlig egal. Ich will nur am Leben bleiben," sage ich. Sieht sie vielleicht nicht ein, daß das nicht so restlos gesichert ist?
Wir suchen das Seeufer ab. Der See ist klein und oval, vielleicht hundert Meter lang und vierzig Meter im Durchmesser. Er hat keinen erkennbaren Zu- oder Abfluß, auch nicht die ausgetrockneten Überreste eines solchen. Auch sind nicht die mindesten Spuren von Lebewesen oder anderem organischen Material zu finden. Wir finden den Weg, den wir gekommen sind, und einen zweiten, wo es weitergeht.
Soweit wir es erkennen können, bewegen wir uns jetzt auf dem Grund einer immensen Höhle, die viele hundert Meter hoch und zwischen dreißig und siebzig Meter weit ist. Der Höhlenboden ist ein Wirrwar von mächtigen, übereinandergetürmten Felsbrocken und würde uns wohl ab und zu komplizierte Klettereien abverlangen, wenn der Weg uns nicht so führen würde, daß wir das immer gerade noch vermeiden. Trotzdem müssen wir häufig die Hände gebrauchen.
Wir passieren zwei weitere Seen. Es kommt mir so vor, als ob diese Höhle in ihrer Richtung in etwa konstant bleibt, aber der Kompaß sagt, daß unsere Richtung zwischen Nord und Ost schwankt. Am frühen Nachmittag unterschreiten wir eine Höhe von tausend Meter über dem Meeresspiegel, und vielleicht eine Stunde später sind wir nur noch 800 Meter hoch.
"Wir sind jetzt auf der Höhe von Hammersbach!" informiere ich Irene. Sie antwortet nicht. Es hört sich an, als hätte sie ihren gesunden Marschrythmus gefunden. Da will ich sie lieber nicht rausbringen.
Dann verengen sich die beiden Höhlenwände, und der Abstieg wird wieder steiler. Es dauert nicht lange, und wir folgen einem Gang, der nicht breiter als etwa einen Meter ist. Schmalere Stellen sind offenbar bearbeitet worden, und häufig gibt es wieder Treppenstücke. Jedenfalls sind wir immer noch auf dem richtigen Weg. Über uns verliert sich der schmale Spalt in dunkler, undurchdringlicher Höhe. Man würde fast erwarten, Fledermäuse zu sehen. Aber natürlich sind wir hier die einzigen Lebewesen. Fledermäuse wären Bestandteil eines Biotops. Und woher sollte dieses in dieser ewigen, trockenen Dunkelheit seine energetischen und materiellen Resourcen bekommen?
Eine Zeitlang marschieren wir kräftig, weil es so gut vorangeht. Wir müssen irgendwo rauskommen. Inzwischen sagt mein Höhenmesser 600 Meter. Das heißt, wir unterschreiten jetzt die Meereshöhe von München. Auf jeden Fall sind wir schon deutlich tiefer als Garmisch-Partenkirchen.
Dann, vielleicht gegen 17 Uhr, als der Höhenmesser 450 Meter anzeigt, weitet sich unser Gang wieder auf etwa acht Meter Durchmesser. Wir gehen jetzt auf einer Art Wall - rechts und links vor den Wänden gibt es gefährlich tiefe Spalten. Das Ganze sieht so aus, als sei vor Urzeiten die Decke der Höhle auf einer ganzen Strecke eingestürzt, und das, worauf wir gerade gehen, ist der Schutt- und Geröllwall, der von diesem Ereignis erzeugt wurde.
Dann hört unser Weg urplötzlich auf. Vor unseren Füßen öffnet sich ein Abgrund. Kein erkennbarer Abstieg. Wieder kommt ein fühlbarer Zug aus der Tiefe.
Es geht nicht weiter.
"Es muß weitergehen!" sagt Irene. Sie denkt dasselbe wie ich. Einen so großen Aufwand zu treiben, so viele Treppen und Wege anzulegen, das tut man nur, um irgendwo hinzukommen. Niemand legt aufwendig Wege an, um sie im Nichts enden zu lassen. Es sei denn, ein geologisches Ereignis hätte den Weg teilweise zerstört. Ein Felsenbruch, ein Höhleneinsturz, oder so etwas.
Wir inspizieren unsere Umgebung genau. Die Wände rechts und links von uns können wir mit unseren Lampen gerade noch erreichen. Felsen, sonst nicht.
"Mir kommt es so vor," sagt Irene und deutet nach rechts hinunter, "als ob man da runter kann."
"Aber ob man da runter soll?" zweifele ich.
"Zur anderen Wand kommt man gar nicht mehr hinüber - guck dir mal diesen Spalt neben unserem Weg an! Das braucht man gar nicht erst zu versuchen."
Sie hat recht. Also klettern wir rechts vom Weg runter, auf die Höhlenwand zu. Wir haben mindestens zwölf Meter Höhe verloren, als wir sie erreichen. An zwei oder drei Stellen müssen wir sogar kurze Sprünge wagen, weil auf andere Weise die betreffenden Felskanten gar nicht zu bewältigen sind, und über eine Felskante müssen wir uns mit einem umgekehrten Klimmzug herunterlassen, weil erst zwei Meter tiefer wieder ein fester Stand ist. Es geht aber gut, auch bei Irene, die solche Klettereinlagen gar nicht mag. Dann sehen wir uns wieder um.
"Großer Gott!" flüstert Irene. Dann sehe ich es im schwachen Licht der Dynamolampe auch.
2.3 Klettersteig
Es ist ein Klettersteig, eine Anlage so ähnlich wie das Brett. An der rechten Höhlenwand entlang, weiter in die Richtung, in die wir gehen wollen, ragt alle vierzig Zentimeter eine Eisenstange von etwa der gleichen Länge aus der Wand. Jede Eisenstange ist etwas tiefer als die vorhergehende, jedenfalls, soweit wir es von unserem Standpunkt aus überblicken können.
Unter den Eisenstangen ist nur ein gähnender, schwarzer Abgrund. Und, noch schlimmer: Es gibt kein Halteseil. Keine Handgriffe, weder künstlich noch natürlich.
Wir waren schon am 'Brett' zu leichtsinnig. Eigentlich seilt man sich an einem Klettersteig mit zwei Karabinerhaken, die mit einem ordentlichen Tragegurt verbunden sind, an. Wenn es kein Handseil gibt, dann ist das schon eine alpine Sache, und man sollte für eine Seilsicherung auf andere Weise sorgen.
"Das ist der Wahnsinn." sage ich, "Das kann ich nicht. Wie soll man da gleichzeitig die Lampe betätigen können?"
Wir hören beide mit unseren Dynamolampen einen Moment auf. Unsere Finger sind schon gar zu lahm von der stundenlangen Pumperei. Besprechen kann man sich auch im Dunkeln.
"Wir müssen zurück." sagt Irene, "Da geh ich nicht rüber."
"Ich auch nicht. Vielleicht ist es auch gar nicht der richtige Weg. Vielleicht haben wir eine Abzweigung verpaßt?"
"Wie hoch müssen wir?"
"Wir sind etwas über 400 Meter. Der Eingang der Höhle ist auf 2100 Meter. Das sind 1700 Meter Höhendifferenz."
Es bleibt uns wohl nicht erspart. Selbst das verschneite und vereiste Brett wird einfacher zu bewältigen sein als dies hier.
"Okay," entscheide ich, "je eher wir anfangen, desto eher sind wir wieder zu Hause. Es ist viel zu steigen, aber es ist ja nirgends wirklich schwierig." Wir fangen sofort an, wieder auf die Mitte des Weges hinaufzuklettern. Nachdem ich mich einmal entschieden habe, liegt der Rest unseres Abenteuers zwar als große jedoch absehbare Anstrengung vor uns, und ich fühle beim Hinaufklettern wieder eine Zuversicht, die ich in den letzten Stunden schon vermißt habe.
Das ist schon nach wenigen Metern vorbei.
2.4 Zurück?
"Wie sind wir eigentlich hier runter gekommen?" frage ich und leuchte die überhängende Felsstufe ab, "Das ist ja über zwei Meter hoch!"
Eine rhetorische Frage. Unser umgekehrter Klimmzug ist mir noch in Erinnerung. Ich probiere es zuerst. Es geht nicht. Dann setze ich meinen Rucksack ab. Irene hält ihn fest.
Es ist eine elendigliche Quälerei, bis ich die Kante mit einem Ellenbogen erreiche. Dann noch ein Schwung. Das Knie ist oben. Und noch ein Schwung. Der Oberkörper liegt auf der Kante. Geschafft! Irene leuchtet mir unten mit beiden Lampen, aber die Oberkante des Felsens liegt im Schatten. Ich kann meinen Liegeplatz nur erfühlen. Schwer atmend bleibe ich liegen.
"Das schaffe ich nie." sagt Irene von unten.
"Dann ziehe ich dich eben rauf."
"Und wer leuchtet so lange? Und wer bringt unsere Rucksäcke hinterher?"
"Die könntest du vorher ..." Ich lasse mir meine Lampe raufgeben und sehe mich um. Verdammt wenig Platz. Und etwas abschüssig. Kein sicherer Stand, jedenfalls, wenn man die Hände nicht zum Festhalten frei hat. Das mit dem Raufziehen ist auch so eine Sache. Zu wenig Platz für uns beide hier oben. Und Irene ist zwar gut in Form, aber auch, wie sagt man, gut im Futter. 82 Kilo, wenn ich mich recht erinnere. Ich kann sie nicht raufziehen. Ich könnte sie höchstens hier und dort unterstützen. Das geht aber auch kaum, wenn man dauernd eine Lampe pumpen muß. - Und wir sind beide erschöpft. Ich habe es eben doch selbst kaum geschafft.
Herwig, sage ich mir, sieh es realistisch. Sie kommt hier nicht rauf. Da kannst du machen was du willst. Jede Hilfe heißt, daß der Helfer auch keine Hand mehr für die Lampe frei hat. Und im Dunkeln dürfen wir hier, so nahe am Abgrund, keine akrobatischen Experimente machen.
"Ich komme wieder runter," sage ich, "es muß einen anderen Weg geben."
Es gibt keinen. Wir suchen alles ab, wo man eventuell aufsteigen könnte. Aber schon dem Spalt zwischen Weg und Höhlenwand weiter in die Richtung zu folgen, aus der wir gekommen sind, ist nicht möglich. Da muß man sich zwischen Höhlenwand und einem Felsbrocken hindurchzwängen - eine vier Meter hohe und ebenso lange, aber nur einen halben Meter durchmessende Spalte. Mitten in dieser Spalte ist plötzlich ein Loch im Boden. Ein grundloses Loch. Ich denke kurz an irgendeine Art von Kaminkletterei. Aber das kann Irene ja genausowenig. Und ich eigentlich auch nicht.
Andere Aufstiegsmöglichkeiten finden wir nicht. Wir sitzen fest.
"Da haben wir etwas Dummes getan," sage ich, "Ich hätte nie hier runterklettern dürfen. Scheiße."
Ich lasse meine Lampe ausgehen. Irene pumpt gerade nicht. Es ist völlig dunkel.
"So ein weiter Weg," sage ich, "Und dann, kurz vor Schluß, die Einbahnstraße. Ich habe sie nicht erkannt."
Irene legt mir im Dunklen ihre Hand auf meine Hand.
"Laß nur. Ich habe es doch auch nicht gesehen."
Wir umarmen uns im Dunkeln. Schweigend vergeht die Zeit. Was soll man jetzt noch sagen? Daß es einem leid tut, unser schönes, hoffnungsvolles Leben abgebrochen zu haben? Nicht durch eine große Tat, sondern durch eine Tolpatschigkeit?
"Wir ruhen uns jetzt aus," sagt Irene. Ihre Stimme klingt künstlich fest. "Wir ruhen uns jetzt aus. Dann suchen wir noch einmal alle möglichen Aufstiege ab. Wenn nichts geht, dann gehen wir über den Steig da vorne."
"Was? Meinst du das im Ernst?"
"Ja. Oder willst du hier mit mir verhungern oder verdursten? Wer hat denn immer, bei einem Klettersteig gesagt: 'Stell dir das ganze etwa dreißig Zentimeter über dem Boden einer Turnhalle vor. Dann ist es ganz einfach.' Hast du das nicht immer gesagt? Alpiner Schwierigkeitsgrad Eins? Das waren deine Worte, jedenfalls am Brett."
"Ja."
"Siehste. Da vorne, auf diesen Sprossen, kann man sich an die Felswand anlehnen. Das macht es sogar noch einfacher. Einer geht, der andere leuchtet. Unsere Chancen sind gut. Hier zu bleiben ist aufgeben. Hier rettet uns niemand. Wenn wir weitergehen, dann haben wir vielleicht eine Chance."
Ich sage nichts. Eigentlich sollte ich etwas zu Buche geben. Was ich für eine tapfere Frau habe. Als ob sie klarer nachgedacht hat als ich. Oder ist ihr klarer als mir, daß der Rückweg endgültig versperrt ist? Sie kann diesen Klimmzug an der Felskante hinter uns nicht machen. Damit kommt sie nicht mehr rauf. Und ich auch nicht. Denn ich bleibe bei ihr. Oder?
"Ich könnte," überlege ich laut, "alleine zurückgehen und Hilfe holen!"
"Und mich hier alleine lassen?"
"Ich komme ja wieder. Mit der Bergwacht. Mit Seilen und Strickleitern."
"Nach Tagen," protestiert Irene, "wenn überhaupt. Du könntest verunglücken oder dich verirren. Wir wüßten überhaupt nichts voneinander. Du könntest den Höhleneingang nicht wiederfinden. Die Bergwacht könnte dir nicht glauben. Und ich sitze hier die ganze Zeit im Dunkeln. Wir könnten uns nicht gegenseitig helfen, wenn etwas passiert."
Ich halte den Mund. Irene hier alleine zurückzulassen, auch mit der festen Absicht, Hilfe zu hohlen, gefällt mir auch nicht.
Okay. Lassen wir es dabei. Wir bleiben zusammen, und die einzige Richtung heißt 'vorwärts'.
2.5 Schlagloch im Eisenweg
Die Zeit vergeht. Wir machen Inventur. Unsere Lebensmittel reichen mindestens noch einen Tag, die Getränke sogar noch länger. Zwölf belegte Brote, von zwanzig, als wir die Wanderung begannen. Noch zweieinhalb Liter Getränke für jeden. Genug, um die 1700 Meter wieder aufzusteigen und nach Hause zu gehen. Wenn der Weg nicht so gründlich versperrt wäre. Es ist auch noch keine weitere Glühbirne kaputt gegangen.
"Hast du gemerkt, daß es eigentlich ziemlich warm ist? Ich meine, bei dem Wetter draußen?" fragt Irene. Ich erläutere ihr in kurzen Zügen etwas über die geologischen Grundlagen des Erdaufbaus.
"Hier, in Mitteleuropa, ist der geothermische Gradient gering. Wir könnten noch viele Kilometer absteigen, dann aber wird es sehr heiß. Allerdings ist das ja kaum zu erwarten. Wenn der Höhenmesseer nicht spinnt, sind wir 400 Meter über dem Meeresspiegel. Also, noch vierhundert Meter tiefer geht es eigentlich nicht mehr. Da muß einfach Wasser sein. Bin neugierig, wo der Weg dann hingeht."
"Heißt das, daß wir bald irgendwo ankommen?"
"Ja, natürlich. So endlos weiter absteigen, wie wir das bisher getan haben, das muß bald ein Ende haben. Im Moment sind wir auf dem Niveau des Inntales. Es ist mir völlig unklar, wieso hier überhaupt noch Hohlräume sind, die nicht völlig mit Wasser gefüllt sind. Das geht eigentlich nur, wenn irgendwo eine Art Abfluß ist."
"Und du meinst," fragt Irene, "daß wir bis zum Inntal marschieren müßten, um diesen Abfluß zu finden?"
"Nicht unbedingt. Abfluß und Ausgang, oder sagen wir, das Ende dieses Weges, das sind zwei verschiedene Dinge. Ich nehme an, daß wir irgendwann wieder steigen müssen, ein paar hundert Meter wenigstens."
Das sage ich nur einfach so. Wissen tu ich ja überhaupt nichts. Aber ich muß uns Mut machen.
19 Uhr. Ich schlage Irene vor, daß wir diesen Klettersteig jetzt hinter uns bringen. Wir packen auf.
"Herwig, du mußt mir eins versprechen."
"Was denn?"
"Wenn ich da abstürze, dann gehst du allein zurück. Den Weg, den wir gekommen sind. Allein kannst du es."
"Was redest du da. Du stürzt nicht ab. Ich habe auch nicht die Absicht. Und was sollte ich dagegen dir für einen Vorschlag machen, wenn ich es doch tue?"
"Dann springe ich hinterher."
"Nein. Das tust du nicht. Du mußt dich irgendwie nach draußen durchschlagen. Jemand muß der Welt diese Höhle verraten!"
"Warum?"
Darauf gebe ich keine Antwort. Es gibt keine. Warum sollte die Welt diese Höhle kennen?
Bevor wir losmarschieren, umarmen wir uns lange Zeit. Es ist eigentlich albern, denke ich mir. Der Tod droht dauernd, von allen Seiten, auch im Alltag. Die Katastrophe ist nur einen Schritt entfernt, immer. Straßenverkehr, Unfall im Haushalt. Der Weg zur Invalidität ist immer kurz. Nur macht man sich meistens keinen großen Gedanken darüber. Was ist also jetzt anders? Daß man keine Hilfe holen kann? Die völlige Machtlosigkeit? Ich sehe vor meinem geistigen Auge Irene abgestürzt, hundert Meter tiefer, schwer verletzt, aber noch bei Bewußtsein. Sie schreit, und ich kann nichts tun. Ich kann sie nicht einmal sehen. Eine entsetzliche Vorstellung.
"Irene, stürz nicht ab." sage ich ihr eindringlich ins Ohr. "Konzentriert gehen. Auf jeden Schritt achten. Ruhig atmen. Stehenbleiben und abwarten, wenn die Panik kommt. Sicher stehen bleiben. Zwei Füße auf zweien dieser Metallstäbe, da stehst du sicher. Stürz nicht ab!"
Dann gehen wir los.
Ich zuerst. Ein mäßig weiter Schritt bis zum ersten Stab. Kein Problem. Ich prüfe ihn wippend, jederzeit erwartend, daß er brechen könnte. Fühlt sich an wie einbetoniert. Der Rost ist auch nur oberflächlich, wahrscheinlich, weil es hier so trocken ist.
Dann verlagere ich mein Gewicht auf den Stab. Nun geht es unter mir bereits in die Tiefe. Irene's Lampe leuchtet gerade eben ein paar Meter des Klettersteiges aus, mehr nicht.
Ich stehe mit beiden Füßen auf dem ersten Stab. Dann steige ich auf den zweiten hinüber. Er ist genauso fest. Der dritte, der vierte.
Ermessensspielraum: Man steht sicherer, wenn man die Füsse nicht direkt am Fels aufsetzt, sondern weiter draußen. Vierzig Zentimeter sind ja viel Platz. Andererseits ist dann das Abknickmoment auf die Eisenstange größer. Was ist die beste Strategie?
"Es geht ganz gut!" sage ich, und mein heftiger Atem straft meine Worte Lügen.
Dann stelle ich mich fest auf zwei der Stäbe, halte mich mit einer Hand an der Felswand fest und benutze meine Lampe. Ein kurzes Leuchten in die Tiefe zeigt, daß da kein Grund ist, jedenfalls nicht in Reichweite der Lampe. Es sind mindestens zehn Meter, es können aber auch zweihundert sein. Dann leuchte ich die Stäbe für Irene aus.
Sie tritt auf die Stäbe hinaus. als ob sie das ganze Leben nichts anderes getan hätte. Tapfere kleine Frau! Auf dieses hat dich die Arbeit in deiner Bank nicht vorbereitet.
Schon nach wenigen Sekunden steht sie neben mir. Jetzt bin ich wieder dran, und sie leuchtet.
Es ist wahr, vom technischen Standpunkt ist es ganz einfach. Vielleicht wäre es noch einfacher, wenn man es vorher etwas geübt hätte. Etwa wenn man das 'Brett' überquert hätte, ohne sich festzuhalten. Aber wer kommt denn auf so eine Wahnsinnsidee? Naja, dann üben wir eben jetzt. Der Weg scheint lang genug zum Üben. Ich steige drei Meter und Irene leuchtet, dann kommt Irene drei Meter hinterher, und ich leuchte. Und so geht es weiter. Schon bald ist der letzte Felsvorsprung, von dem wir ausgegangen sind, jenseits der Reichweite unserer Lampen. Jetzt ist da nur noch die senkrechte Felswand und die kleine, zittrige Insel aus Licht, die immer nur wenige Steigstäbe und die Beine von einem von uns beleuchtet.
Ich habe unangenehme Visionen, die ich aber für mich behalte: Was, wenn die Folge der Steigstäbe plötzlich aufhört? Was, wenn plötzlich mehrere Steigstäbe fehlen und eine zu große Lücke lassen? Was, wenn die Wand allmählich überhängend wird, oder die Steigstäbe nach außen abschüssig, oder beides?
Wir klettern weiter. Keine Hand frei, um Uhr oder Höhenmesser anzusehen. Nichts als den Glauben, daß diese Art des Weges ja irgendwann einmal zu Ende sein muß, und daß die Länge des Weges wohl kaum das Leistungsvermögen eines Menschen übersteigen wird.
Eine ganze Weile ist jeder Steigstab deutlich tiefer als der vorhergehende. Dann wieder geht es eine ganze Weile horizontal weiter. Auf einigen Dutzend Metern des Weges kommt die gegenüberliegende Höhlenwand in die Reichweite unserer Lampen und nähert sich auf zwei Meter, um wenig später wieder in die Unsichtbarkeit zurückzufallen. Hilfreich ist das nicht, und ich überlege, ob es wenigstens beruhigend ist. Eigentlich auch nicht.
Es scheinen Stunden zu sein. Unser Vorwärtssteigen wird routinierter, und ich ermahne - vielleicht in völlig überflüssiger Weise - uns mehrmals zur Konzentration. Selbst in sicherem Gelände ist die abnehmende Konzentration eine Gefahr, wieviel mehr dann hier.
Dann passiert es. Der nächste Stab fühlt sich unter meinen Füssen schwammig an. Ehe ich recht begreife, habe ich instinktiv den Fuß auf den übernächsten Stab gesetzt. Irene stößt einen Schrei aus, aber ich stehe fest, im achtzig-Zentimeter Spreizschritt. Das geht noch.
Der jetzt unbelastete Stab zwischen meinen Füßen ist nach unten abgeknickt. Direkt am Fels sehe ich die Bruchstelle. Und ich habe eine üble Vision: Irene versucht, doch diesen Stab als Tritt zu benutzen. Das darf nicht sein.
"Der muß weg!" sage ich entschlossen, prüfe meinen Stand und trete dann mit dem Fuß, den ich eben noch vertrauensvoll auf diesen Stab setzen wollte, mitten auf denselben. Er bricht ab.
Mit angehaltenem Atem lauschen wir dem Klingen des Stabes, wie er in die Tiefe fällt und immer wieder irgendwo anschlägt. Ich zähle, obwohl das nicht sehr sinnvoll ist: Weiß ich denn, wie stark der Stab tatsächlich in seinem Fall gebremst wird? Weiß ich denn, ob der Stab nicht immer noch fällt, wenn er schon längst nicht mehr in Hörweite ist?
Es dauert lange. Das wiederholte Anschlagen und Klingen wird immer leiser, aber einen definitiven, endgültigen Aufschlag kann ich nicht erkennen. Nach über einer Minute kommen nur noch verirrte Echos zu uns herauf.
Das geht hier verdammt tief hinunter! Das müssen viele hundert Meter sein.
"Man müßte sich die Bruchstelle des Stabes genau ansehen." sage ich, "Dann könnte man rauskriegen, ob Guß- oder Schmiedeeisen. Oder gar Stahl. Aber ich kann nicht so richtig hinsehen."
"Laß die Experimente!" zischt Irene. Sie hat ja recht. Andererseits wollte ich durch einige akademisch klingende Überlegungen eine Atmosphäre der Sicherheit verbreiten.
Plötzlich fällt mir eine uralte Geschichte ein. In früher Kindheit. Kollegen meines Vaters, ein Ausflug. Ein Schacht, mehr ein Loch im Boden, altes Bergwerk vermutlich. Fast zwei Meter unter dem Rand ein Stein, der geologisch interessant war - oder aus welchem Grunde auch immer. Der Kollege meines Vaters - ein Herr Litzen oder so ähnlich - wollte den unbedingt haben. In waghalsigem Kriech- und Klettermanöver hat er sich über die Kante des Schachtloches geschoben - und wie entsetzlich tief das war! Für uns Kinder sowieso der bodenlose Abgrund. Seine Frau hat ihn von hinten festgehalten, gleichzeitig keifend und bettelnd. Aber der war stur. Mein Gott, war der stur! Und wir waren starr vor Schreck. Was die Erwachsenen so alles machten - und uns wurde immer alles verboten!
Aber diese Episode war ja nicht so gefährlich. Er hat es überlebt, und vielleicht verzerrt und vergröbert die Erinnerung den Schacht. War es vielleicht nur eine Grube? Nebenbei, es war Tag, und man hätte Hilfe holen können, im schlimmsten Fall. Ich muß ihn noch mal fragen. Wenn wir hier rauskommen, frage ich ihn. Lebt er überhaupt noch? - Es kostet nur einen Anruf, mehr nicht. Warum spricht man nicht häufiger mit seinen ehemaligen Lehrern? Wo man mit ihnen soviel Zeit des Lebens verbracht hat. Wenn sie erst weggestorben sind, dann geht es nicht mehr. - Und wenn man selber weggestorben ist, dann auch nicht. - Paß auf deine Füße auf, Herwig! Konzentrieren!
Ich gehe weiter, dann leuchte ich für Irene. Sie hat mit ihren kürzeren Beinen etwas mehr Schwierigkeiten, außerdem ist sie leicht panisch. Trotzdem gelingt ihr der weite Schritt. Von nun an ist das Fortkommen wieder Routine, soweit man so etwas Routine nennen kann. Das Adrenalin kreist aber noch in unserem Blut, und ich wünsche mir sehnlichst, daß dieser Weg bald zu Ende sein möge.
Nach vielen weiteren Minuten, gerade, als Irene leuchtet und ich steige, sehe ich vorne etwas Graues. Ich sage noch nichts, um keine verfrühten Hoffnungen zu wecken, aber schon, als ich das nächste Mal dran bin, sieht Irene es auch:
"Da ist etwas."
"Seh ich. Sachte. Ich sehe noch nicht, wie es weitergeht."
Im rechten Winkel zu der Wand, an der wir entlangsteigen, trifft eine weitere Felswand auf die unsere. Dort, wo sie sich treffen, lassen sie einen schmalen Spalt von etwa zehn bis zwanzig Zentimetern, ausgenommen die Stelle, auf die wir uns zubewegen. Dort ist dieser Spalt auf sechzig Zentimeter erweitert, und zwar auf einer Höhe von etwa zwei Metern.
Beim nächsten Steigabschnitt komme ich auf zwei Meter an das Loch heran, dann zwinge ich mich wieder zur Geduld. Irene folgt die drei Meter nach, während ich unermüdlich die Lampe pumpe. Wie gut, daß wir während dieses Wegeabschnittes keine Glühbirnen wechseln mußten!
Dann steige ich auf das Loch zu. Noch fünf Stäbe, dann vier, dann drei. Ich gehe nicht schneller als sonst, denn die Felswände, die sich hier treffen, fallen nach wie vor in unergründliche Tiefen ab. Dann stehe ich in dem Loch und leuchte Irene.
"Langsam. Du hast es gleich geschafft. Aber langsam!"
Ihre Hände auf dem Fels zittern, ich sehe es. Meine Position ist nicht zu sicher, da dieser Stollen einen fünfzehn Zentimeter breiten Spalt im Boden und in der Decke hat. Vielleicht zu wenig, um da durchzurutschen, aber man kann natürlich immer noch Ausrüstungsgegenstände verlieren.
Als Irene den Stollen betritt - ich trete zwei Schritte zurück - halte ich sie fest. Mir ist auch mulmig.
"Komm hier rüber. Füße darüber. So. Man kann hier überall stehen, aber dieser Spalt da im Boden ist natürlich lästig."
"Ich möchte mich hinlegen!" haucht sie.
"Moment. Stehst du sicher? Gut. Ich gehe mal ein paar Meter diesen Stollen entlang, ob da ein besserer Rastplatz ist."
Gesagt, getan. Es sind fast fünfzig Meter, die der Stollen horizontal zurücklegt. Dann biegt er rechtwinklig nach rechts ab und geht steil nach unten. Der Boden ist wieder eine sauber herausgeschlagene Treppe, ohne Spalt in der Mitte.
Wenig später habe ich die erschöpfte Irene hierhergelotst. Wir sitzen auf den Treppenstufen und ruhen unsere Finger von der langen Pumperei und unsere Körper von dem Klettersteig aus. Das heißt, Dunkelheit. Aber hier kann nichts passieren, außer die gewundene Treppe hinunterzurollen. Ich überwinde mich noch, Höhenmesser und Uhr zu inspizieren. 22 Uhr und 200 Höhenmeter. Wir waren fast drei Stunden in der Wand.
Der Rückweg beginnt, unüberwindlich zu werden. Ich habe Angst. Kommen wir hier je raus, und wie?
Wir müssen jetzt rasten. Aber zum Schlafen ist diese Stelle immer noch zu ungemütlich. Keine genügend große, ebene Fläche. Ich werde noch etwas weitergehen und Irene dann holen, wenn ich etwas besseres finde. Sonst müssen wir uns in dem Stollen irgendwie verkeilen. Aber kann ich Irene alleine lassen, übermüdet, wie sie ist?
Ich nehme ihr das Versprechen ab, bis sechshundert zu zählen, ohne einzuschlafen. Damit habe ich zehn Minuten, in denen ich wenigstens die nächsten Teile des Stollens untersuchen kann.
Ich habe Glück. Schon nach etwa achtzig Stufen und etlichen Windungen des schmalen Stollens finde ich ein horizontales Stück ohne Treppe. Es ist nur etwa 2.5 Meter lang. Aber das reicht. Wenige Minuten später liegen wir bereits da, die Füße in Marschrichtung, die Köpfe und die Rucksäcke in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Käme jetzt jemand des Weges, dann würden wir ein ganz ordentliches Hindernis in diesem Stollen bilden. Aber damit rechnen wir am allerwenigsten.
Unsere Träume sind unruhig, meine jedenfalls, aber Irene wird es nicht anders gehen. Natürlich hängen wir wieder in dieser widerlichen Wand, natürlich stolpern wir und stürzen, fahren unruhig im Schlafe auf, betasten uns gegenseitig und die beiden Wände des Stollens.
Dann liege ich eine Zeitlang wach, bei klarem Bewußtsein, die momentane Sicherheit der Situation genießend, aber trotzdem mit Angst: Wie kommen wir hier jemals wieder heraus?
Der Wind geht abwärts, in Marschrichtung. Als wir hier ankamen, ging er in Gegenrichtung. Als ich mir darüber physikalische Gedanken mache, schlafe ich wieder ein.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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