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******** 001. Tag: Samstag 95-08-19 ********
1.1 Wetterwechsel
"Das hat man davon, wenn man sich auf 'Ortskundige' verläßt! Du und deine 'eben-nur-mal-gucken-Umwege'!"
Die Irene ist ernsthaft sauer. Und ich fühle mich ungerecht behandelt. Was kann ich für das Wetter? So schön, wie es vor kurzem noch war, und jetzt diese Waschküche.
Der Nebel ist perfekt. Nur Grau, wo man noch vor wenigen Minuten da unten im Tal die Höllentalangerhütte hat sehen können. Der Weg nach oben wurde nur wenige Minuten früher unsichtbar, gleichzeitig mit der Sonne. Angefangen hat es mit einer Wolke, die wie eine harmlose Feder am Zugspitzgipfel hing. Jetzt ist die Wolke überall. Die Idee, sich am Bach, der aus dem Höllentalferner kommt, zum Rasten und zum Sonnen niederzulegen, scheint jetzt sehr weit hergeholt. Und damit auch der Grund für unseren Umweg. - Konnte ich wissen, daß das Wetter sich so rasch ändert? Weder der Wetterbericht noch die Wetterlage heute morgen, auf der Herfahrt, haben dieses vermuten lassen. Garmisch lag im postkartenreifen Sonnenschein, und Ströme von Bergwanderern haben sich, gleich uns ohne jeden Argwohn bezüglich der Wetterentwicklung, aus den Zügen ergossen.
"Wir sind nicht in Gefahr," versuche ich ihr zu verkaufen, "weil wir genau wissen, wo wir sind. Wir müssen nur dort hinüber, um den Weg zum Gletscher wiederzufinden."
Komisch, wie das Wort 'Gletscher' automatisch kälter klingt, wenn es tatsächlich kälter geworden ist! Noch vor einer halben Stunde wäre uns die Kühle am Höllentalferner gerade recht gewesen.
"Kehren wir dann um?" fragt Irene.
"Das ist eine sehr gute Frage." Ist es auch. Ich glaube zwar kaum, daß die Temperaturen so fallen werden, daß der Klettersteig durch die Höllentalwand vereist, aber den Weg dahin gar nicht erst zu finden wäre genauso unangenehm.
Und der Rückweg? Noch einmal das Drama, Irene über das 'Brett' zu schleusen? Vielleicht hilft uns da der Nebel, so daß sie den Abgrund unter ihren Füßen auf den kurzen Stahlstiften, die aus der steilen Wand herausragen, überhaupt nicht sieht.
Daran, daß wir Schwierigkeiten haben könnten, den Abstieg am Brett überhaupt zu finden, denke ich gar nicht. Wir müssen es finden. Wie sollten wir sonst über diese Steilwände, die das ganze Tal abschließen, nach unten gelangen? Wir sind keine Alpinisten oder technische Kletterer.
Was erwartet uns denn auf dem Weg vorwärts, weiter nach oben? Der Klettersteig durch die Höllentalwand dauert drei Stunden. Unter guten Bedingungen. Wenn Wetter und Irene nicht mitspielen, dann können daraus auch leicht sechs oder acht Stunden werden. Dann wird es schon bald dunkel, und die letzten Bahnen sind auch schon ins Tal abgefahren. - Wir haben zwar alles mit, Karten, Kompaß und Höhenmesser. Aber trotzdem, unter diesen Bedingungen in die Wand einzusteigen hieße um die eigene Lebenserwartung zu pokern.
"Wir kehren um." entscheide ich. Man muß wissen, wann man geschlagen ist.
Wir gehen nach Norden. Das weiß ich ohne Kompaß, da die unebene Fläche des Höllentalplatts nach rechts abfällt. Keine Möglichkeit, sich zu verirren. Wir werden erst auf den Bach und dann auf den Weg stoßen.
Der Wind weht heftiger und zerrt an unseren Parkas, die wir jetzt angezogen haben.
Nachdem wir dreißig Minuten über das Geröll gestolpert sind, bleibe ich stehen.
"Wir müßten längst da sein," gebe ich zu, "hast du etwas einem Weg oder einem Bach ähnliches gesehen?"
"Nein." Auch bei Irene bewirkt die Erschöpfung des langen Anstieges bis jetzt eine gewisse Wortkargheit. Ich denke daran, daß 'Weg' vielleicht eine übertriebene Bezeichnung ist. 'Pfad' wäre besser. An manchen Stellen, wo es eigentlich klar ist, wo man zweckmäßigerweise gehen sollte, ist überhaupt nichts zu sehen, kein Pfad, keine Wegemarkierung, gar nichts.
"Mmh. Gehen wir weiter. Notfalls können wir bergab gehen und werden über kurz oder lang auf die Steilwände stoßen. Denen können wir dann bis zum Brett folgen."
Kein Kommentar von Irene. Vorschlag angenommen.
Noch ein paar Minuten schält sich eine Felswand aus dem Nebel.
"Mist. Das müßten die Riffelköpfe sein. So weit wollten wir aber nicht gehen. Wir MÜSSEN den Weg verpaßt haben."
Wir gehen zurück, etwa den Weg, den wir gekommen sind. Dabei halten wir uns allerdings etwas bergabwärts. Unsere teuer erstiegenen Höhenmeter werden nacheinander wieder verschenkt.
Es dauert wieder eine halbe Stunde bis wir wieder gestoppt werden. Diesesmal benutze ich den Kompaß. Die Felswand, die hinter einer Geröllhalde aufsteigt, steht in einer unmöglichen Richtung. So etwas gibt es am ganzen Höllentalplatt nicht. Oder stehen wir schon wieder unter den Höllentalspitzen? Aber um das ganze Platt überquert zu haben, dazu war die Zeit eigentlich zu kurz.
Das ist vielleicht eine Folge des Abstraktionsvermögens des Menschen. In erster Näherung merkt man sich, zur Orientierung, eine ganz einfache Beschreibung des Höllentalplatts: Es ist einfach eine ziemlich steil nach Osten geneigte Fläche, die im Norden, Westen und Süden von steilen Felswänden umstellt wird. Im westlichen, oberen Teil dieser Fläche liegt der Gletscher, der Höllentalferner. Klein zwar, aber seine Spalten sollen immer noch lebensgefährlich tief sein. Was heißt 'lebensgefährlich tief'? Ein Loch von drei Metern Tiefe mit glatten Wänden ist für einen Menschen ohne weitere Hilfsmittel eine tödliche Falle.
Nach Osten ist diese Fläche von der steil abfallenden Wand begrenzt, die den Zugang vom unteren Höllental versperrt. Nur am Nordende dieser das ganze Tal durchquerenden Barriere gibt es diese Steiganlage, die dem Nicht-Kletterer den Zugang zum Höllentalplatt ermöglicht, das 'Brett'.
So einfach diese Beschreibung ist, so viele wesentliche Einzelheiten läßt sie aus. Die Rinne, durch die der Bach vom Gletscher fließt. Die Erhebung in der Mitte des Platts, 'Bergl' genannt, die, verglichen mit den umstehenden Gipfeln, absolut unbedeutend ist, aber auch ihre steilen Felswände hat. In der Lüneburger Heide wäre das 'Bergl' eine absolute Sensation und ein starker Touristenmagnet, so etwa wie der 'Himmelberg' in Jütland, den Alpenländer nicht so ohne weiteres als Berg erkennen würden. Zahllose Geröllhalden, Einzelfelsen, Furchen und Gruben, die das ziellose Gehen hier so verlangsamen und die Orientierung bei Nebel schwierig machen.
Wir könnten überall sein. Die Felswand vor uns, wer weiß, wie hoch sie ist? Sie kann schon wieder nach wenigen Dutzend Metern zu Ende sein.
"Zurück. Wir gehen bergab. Wenn es zu steil wird, dann müssen wir uns nach Norden halten. Einverstanden?"
"Wenn du meinst ..." sagt Irene müde. Kein Wort des Protestes, kein Vorwurf. Sie muß schon sehr müde sein.
Nach einer Viertelstunde ist es wieder vorbei. Nach Osten hin steigt das Gelände plötzlich wieder an, und wieder versperrt uns eine Felswand den Weg. Ich verstehe die Geographie nicht mehr. Oder ist der Kompaß gestört? Zu allem Überfluß fängt es an, leicht zu regnen.
"Wir müssen eine Pause machen. Ich muß die Karte studieren."
Das machen wir. Irene sucht eine Stelle zum Sitzen, findet natürlich keine, weil es inzwischen überall naß ist, und ich versuche die Karte so auszupacken und zu entfalten, daß sie im Regenschatten meines Oberkörpers bleibt. Die Karte, meine ich, nicht Irene. Leider gelingt es nicht, die Karte trocken zu halten, da der böige Wind dafür sorgt, daß es gar keinen definierten Regenschatten gibt. Mit einem Gegenstand hantieren und ihn dennoch trocken zu halten, das kann man nur in einem windstillen Schnürlregen zustandebringen.
Eigentlich ist die Erfahrung, daß Landkarten, die man wirklich im Freien benutzt, nach einer gewissen Zeit zerfallen, recht nützlich: Schließlich ist auf diese Weise sichergestellt, daß man nie mit veraltetem Kartenmaterial herumläuft. Allerdings veralten Karten auf dem Höllentalplatt nur langsam und könnten deshalb lange benutzt werden. Wenn Regen und Wind nicht wären.
Ich stelle fest, daß mir das passiert ist, was mir bei der Orientierung im Freien eigentlich immer passiert: Es hat sich ein zu schnell erfaßtes und deshalb zu stark vereinfachtes Bild der Umgebung in meinem Kopf festgesetzt.
Das Höllentalplatt endet nicht nach Osten mit dem Steilabfall, sondern fast genau nach Norden. Genaugenommen handelt es sich um den östlichen Teil der Nordkante. Genau nach Osten liegt eine Wand, hinter der irgendwo das Mitterkar ist, eine fast unzugängliche Geröllschlucht, und dahinter ist dann das Matheisenkar, durch dessen düstere Einsamkeit ein Klettersteig führt. Südöstlich über uns ist die Höllentalgrathütte. Wie kann man sich nur so vertun!
Ich packe die Karte rasch wieder ein. Mitten durch das Höllentalplatt geht ein Falz hindurch, und dort wird die Karte demnächst auseinanderreißen, wenn ich nicht aufpasse. Das ist aber gerade der für uns wichtige Teil der Karte.
Es wird deutlich dunkler. Da es noch mitten am Tag ist, bedeutet das, daß sich über uns weitere Wolkenschichten türmen. Wenn man überhaupt bemerkt, daß die Helligkeit unter einer Wolkenschicht schwankt, dann handelt es sich bereits um erhebliche Faktoren in der physikalisch messbaren Helligkeit. Weil das menschliche Wahrnehmungsvermögen sich solchen Veränderungen ganz hervorragend anpaßt, merkt man eine langsame Helligkeitsänderung um den Faktor zwei oder fünf im allgemeinen überhaupt nicht. Erst, wenn der Helligkeitsabfall wesentlich größere Werte erreicht oder sehr rasch passiert, dann fällt es auf. Bei einem Gewitter um die Mittagszeit hatte ich einmal nachgemessen. Es kam als unheimlich dunkle Wolkenwand heran, scharf kontrastierend mit dem immer noch hellen Sonnenschein rundherum. Ich hatte den Fotoapparat dabei und machte einfach mal einige Vergleichsmessungen. Als wir eine Viertelstunde später vollständig drin waren, war die Umgebungshelligkeit um den Faktor 1200 gefallen! - So etwas sieht von außen, wenn man sich selbst noch im hellen Sonnenlicht befindet, natürlich schwarz aus.
Ganz so stark ist der Helligkeitsabfall jetzt nicht, aber mit etwas mehr Regen werden wir doch noch rechnen müssen.
Um den Steilabfall sicher zu umgehen müßten wir jetzt zunächst etwas nach Westen gehen, um uns dann später im großen Bogen wieder nach Norden zu bewegen, um dort den Weg wiederzufinden. Ich erläutere Irene diese Strategie.
"Sind wir da nicht schon gewesen? Da war doch auch kein Weg!" Große Erkundungsgänge liegen ihr nicht.
Ich versuche, ihr zu erläutern, wo wir meiner unmaßgeblichen Meinung nach ungefähr gewesen sind, aber außer in dem Gebrauch des Wortes 'unmaßgeblich' stimmt sie mir in nichts zu.
Nun ist der Regen mit den ersten Schneeflocken vermischt. Es wird unangenehm. Wir sollten so schnell wie möglich das Brett erreichen. Unter der Steiganlage führt dann ein immer bequemer werdender Weg zur Höllentalangerhütte. Dort können wir bleiben, oder auch durch die Höllentalklamm absteigen und wieder nach Hause fahren, je nachdem. - Vielleicht, denke ich, sollten wir wirklich in der Höllentalangerhütte übernachten. Ich weiß nicht, wie schnell sich heftige Regenfälle dahingehend auswirken, daß man überhaupt nicht mehr trocken durch die Klamm kommt - die Höllentalklamm ist für Sturzbäche aus unerwarteten Richtungen bei feuchterer Wetterlage bekannt.
Zunächst steigen wir parallel zur Felswand auf, in einer Richtung, die ungefähr südlich sein muß. Ein paar Meter Höhe gewinnen und ein paar Dutzend Meter mehr zwischen uns und dem Steilabfall zu legen, das kann nicht schaden.
Die Böen fassen uns so hart an, daß wir stellenweise stolpern. Ihre Stärke scheint minütlich zuzunehmen. Das erste Mal denke ich daran, daß wir das Brett erst erreichen, wenn der Wind so stark ist, daß wir uns da nicht mehr festhalten können.
Ich muß häufiger stehen bleiben und auf Irene warten. Der Boden wird weiß, von nassem Schnee, und das Gehen wird immer schwieriger und anstrengender. Die Sicht ist nur wenige Dutzend Meter - wenn man die Augen überhaupt dem Wind und dem fliegenden Naßschnee aussetzen und woanders hinschauen möchte als auf die eigenen Füße.
"Wollen wir da nicht Unterschlupf suchen und den Sturm abwarten?" ruft Irene und deutet an mir vorbei. Sie muß tatsächlich rufen, so laut heult der Wind schon. Ich folge ihrem Blick. Tatsächlich ist in der Felswand zu unser Linken eine Nische.
Ist das eine gute Idee? Da wir absteigen, haben wir noch einige Stunden Reserve. Wenn das Unwetter nicht von Dauer ist, dann könnten wir in ein oder zwei Stunden bei gutem Wetter und vielleicht bei guter Sicht weitermarschieren. Und wenn der Schnee bis dahin zwei Meter hoch liegt? Blödsinn, denke ich. Nicht um diese Jahreszeit.
Wenigstens kann man sich die Nische einmal ansehen. Ich krabbele, Hände und Füße gebrauchend, die Geröllhalde hinauf. Irene kommt langsam hinter mir her.
Tatsächlich. Die Nische führt tief in den Berg. Der hintere Teil ist trocken, wenn auch eng. Aber vor dem Regen könnten wir beide Schutz finden. Aber ist das noch sinnvoll? Wir sind beide schon ziemlich naß.
Einige der Felsflächen sehen frisch abgebrochen aus. Vielleicht irre ich mich, aber in ungeprüften Felshöhlungen Zuflucht zu suchen könnte durchaus nicht ungefährlich sein. Man muß die Gefahr abwägen. Unterkühlung und Erschöpfung sind in den Bergen auch eine reale Gefahr. Ich wäge ab.
Minuten später steht Irene neben mir, dann geht sie auf die Nische zu. Sie hat schon entschieden - das Abwägen war überflüssig. Also warten wir das Unwetter hier ab. Wir machen es uns zwischen den überhängenden Felswänden der Nische so bequem wie möglich, ich weiter drinnen, Irene vor mir. Sogar die nassen Klamotten können wir aus- und die Reservepullover anziehen. Allerdings bezweifle ich, daß die Luft trocken genug ist, um irgendwelche Textilien nachhaltig zu trocknen. Jedenfalls können wir es hier eine Weile aushalten.
Während Irene eines ihrer Aufstiegsbrote auspackt und schweigend zu verzehren beginnt, sehe ich mich um. Da der Ausblick in das wirbelnde Grau da draußen zu deprimierend ist, interessiere ich mich mehr für den hinteren Bereich der Höhle.
Sie scheint kein sichtbares Ende zu haben. Ein Spalt, sechzig Zentimeter an der Basis durchmessend, in Kopfhöhe jedoch nur noch dreißig Zentimeter und in drei Meter Höhe zusammenlaufend, der Boden des Spaltes mit Geröll bedeckt und nach hinten, wie der ganze Spalt, ansteigend. Dabei scheint der Spalt sich ein wenig zu verengen. Wie hätte mich so etwas als kleiner Junge fasziniert! Tut es eigentlich immer noch.
"Ich guck es mir mal an!" sage ich, als ich bemerke, daß Irene mein Interesse für die Höhle bemerkt hat, "keine Angst, das Gestein in den nördlichen Kalkalpen ist nicht brüchig! - Kann eine Weile dauern."
Sie sagt nichts, nicht aus Mangel an Opposition, sondern weil sie erschöpft ist. Außerdem kann sie mir durchaus vertrauen. Wenn ich sage, 'der Fels ist nicht brüchig', dann stimmt das. Auf Lanzarote bin ich einmal zu einer Klettertour durch die Risco de Famara aufgebrochen. Nach einigen Stunden ging es mitten in der Wand einfach nicht weiter, obwohl da die Reste eines Weges sein sollten. Alles wegerodiert, und der Fels war zu brüchig. Zuviel Geröll. Keine sicheren Tritte. Also gab ich mich geschlagen und kehrte um. Seither weiß Irene, daß ich keine unnötigen Risiken eingehe. - Was sie nicht weiß ist, daß es mir damals auf Lanzarote einfach zu heiß zum Weiterklettern war. Dieses Problem haben wir jetzt nicht.
Der Spalt geht tatsächlich weit in den Berg. Fünf Meter hinter unserem Rastplatz wird der Boden steil, ist aber kaum noch mit Geröll und Sand bedeckt. Außerdem ist der Spalt völlig trocken. Nachdem ich ein paar Schritte gestiegen bin, sehe ich den Spaltausgang und Irene nicht mehr direkt, sondern nur noch etwas verirrtes Tageslicht auf den Felswänden rundherum und schräg unter mir. Noch ein Schritt, und es ist zu dunkel, um weiterzuklettern. Schade. Man kommt immer noch gut vorwärts, und der Spalt scheint nicht enger zu werden.
In wenigen Sekunden bin ich wieder bei Irene. Für den Notfall haben wir Dynamotaschenlampen mit. Ich packe meine aus und krieche wieder nach hinten. Irene hält sich immer noch mit Kommentaren zurück.
1.2 Der Einstieg
Die Kletterei im hinteren Teil des Spaltes ist, nach alpinen Maßstäben, einfach. Wäre es anders, dann käme ich auch nicht weiter, weil man ja mit einer Hand dauernd die Taschenlampe betätigen muß.
Als ich meiner Schätzung nach mich sowohl horizontal als auch vertikal zwanzig Meter von Irene und dem Höhleneingang entfernt habe, wird der Boden plötzlich wieder eben. Die Höhle weitet sich auf über einen Meter und ist groß genug, daß man darinnen stehen kann. Das tut gut nach der Kletterei.
Ohne die Taschenlampe zu betätigen horche ich in die schwarze Stille. Nichts. Kein Sturm, keine Irene - wenn sie jetzt etwas sagen würde. Die Schallwellen laufen sich auf der kurzen Strecke zwischen dem Eingang und hier tot.
Dann betätige ich die Taschenlampe wieder und sehe mich genau um.
Die Höhle ist immer noch nicht zu Ende. Von hier an ist sie aber einfacher zu begehen. Der Boden ist so eben, daß man fast nicht schauen muß, wo man hintritt, auch wenn man gut beraten ist, das denoch zu tun. Die Höhe und die Weite des Spaltes berechtigen fast, von einem Gang zu sprechen. Und dieser Gang geht weiter in das Innere des Berges, jetzt allerdings mit leichtem Gefälle. Sehr vorsichtig, aber ohne Schwierigkeiten gehe ich ihn entlang. Ich will keine Abzweigung übersehen. Aber es gibt auch keine, und bis jetzt könnte ich den Weg schlimmstenfalls auch im Dunkeln zurücklegen, auch wenn der Spalt am Eingang dann sehr schwierig werden dürfte. Aber da ist ja auch noch eine Reservebirne in der Dynamotaschenlampe.
Überraschenderweise sind die Felswände trocken. Auch das vereinfacht das Vorwärtskommen, das sonst in eine Rutscherei ausarten würde.
Obwohl der Weg durchaus nicht schwieriger wird, werde ich zunehmend unruhig. Nun müssen es schon hundert Meter sein. Hat man denn eine so große Höhle im Zugspitzgebiet bis jetzt noch nicht entdeckt? Über hundert Meter vom Eingang entfernt, das heißt ja, daß sich über meinem Haupte schon viele hundert Meter Fels türmen, die jahrmillionenalte, hundertmillionen Tonnen schwere Last der Höllentalspitzen.
Zweihundert Meter. Dem Gefälle nach müßte ich jetzt tiefer als der Höhleneingang sein. Wieviel Zeit ist schon vergangen? Wird Irene schon unruhig? Schließlich hört und sieht sie von mir nichts.
Das Licht der Dynamolampe ist schwach. So richtig gut ausgeleuchtet ist immer nur eine Fläche so groß wie eine Hand. Deshalb muß ich, um mir Übersicht zu verschaffen, hierhin und dorthin leuchten. Da ich das häufiger tue, komme ich nicht allzuschnell vorwärts. Trotzdem habe ich nie erwartet, so leicht und so schnell so tief in den Berg vorzudringen.
Das Gefälle wird stärker. Nicht, daß das hinderlich wäre, denn man muß sowieso aufpassen, wo man hintritt. Andererseits beruhigt mich das auch wieder, denn sonst wäre ich versucht gewesen, an einen künstlichen Gang zu denken. Von einer solchen Anlage hätte man aber etwas wissen müssen. Für eine künstliche Anlage ist aber alles zu unregelmässig. Der Gang, dessen Breite zwischen einem und zwei Meter schwankt, der nie eine Decke hat, sondern sich immer spaltartig in der Höhe verliert, oft wesentlich weiter, als das Licht reicht. Ein Stollen, den man aus dem Fels herausschlägt, sähe doch anders aus. Also jedenfalls kein Bergwerksstollen. Auch die Theorie, daß dieses ein Stollen sein könnte, der etwas mit dem Bau der Zugspitzbahnen zu tun haben könnte, erscheint mir jetzt weit hergeholt, nicht nur, weil die Zugspitzbahnen von diesem Punkt sehr weit entfernt sind.
Nach einigen weiteren Minuten - ich denke daran, daß ich dringend umkehren muß, weil Irene inzwischen sicher schon ganz schön unruhig wird - fällt die rechte Wand des Spaltes zurück und entfernt sich immer mehr. Gleichzeitig stürzt der Boden in die Tiefe und geht in eine unwegsame Scharte über, die sich da unten in der Dunkelheit verliert. Allerdings stelle ich fest, daß man der linken Wand der Spalte immer noch weiter folgen kann, weil da ein gut begehbarer, etwa einen Meter breiter Sims ist. Das tue ich. Es sieht völlig ungefährlich aus.
Bald bin ich in einer seltsamen Umgebung: Die gegenüberliegende Spaltwand kann ich nicht mehr erkennen. Das Licht reicht da nicht hin. Ebenso scheint der Abgrund vor meinen Füßen grundlos, und nach oben sieht man auch nur undurchdringliche Schwärze. Nur der abschüssige Sims, auf dem ich stehe und die Felswand, an der er entlangführt, sind sichtbar. Es ist somit völlig unklar, welches die Abmessungen der Höhle, in der ich mich befinde, sind. Ich höre auf, die Lampe zu betätigen und horche.
Absolute Stille. Inzwischen bin ich überzeugt, daß ich hier etwas entdeckt habe, daß die Öffentlichkeit noch beschäftigen wird. Eine neue touristische und geologische Sensation: Die Höllentalhöhlen!
"Hallo!"
Das Echo kommt von den Wänden zurück, verliert sich nach Sekunden in der Ferne. Vielleicht eine drittel Sekunde bis zum ersten Echo. Heißt das, daß die gegenüberliegende Wand des Spaltes schon 50 Meter von hier entfernt ist? Ich fürchte, eine andere Interpretation bleibt kaum übrig.
Was ist das für eine riesige Höhle? Wo bin ich da reingeraten? Warum haben alle Geologen, die sich je im Wettersteingebirge herumgetrieben haben, diese Höhle nicht gefunden?
Ich steige noch einige weitere Minuten auf dem Sims ab. Es wird noch steiler, und bald schon muß ich wieder die Hände zu Hilfe nehmen. Gerade, als mein Entschluß reift, sofort umzukehren, sehe ich vor mir im schwachen Licht der Lampe eine ungewöhnlich gerade Linie. Ich komme näher.
Der Sims geht in eine Treppe über!
1.3 Stufen, Neugier und Glühbirnchen
Es will mir nicht in den Kopf, aber meine Augen sehen es. Eine Treppe. Schmal, sehr schmal. Sechzig Zentimeter. Man schleift beim Abwärtsgehen entweder mit der linken Schulter an der Wand enlang, oder man geht gefährlich nahe auf der äußeren Kante der Treppe. Es sind nur acht Höhenmeter, die man auf diese Weise herabsteigt, dann geht die Treppe wieder in den unbearbeiteten Sims über. Aber wenige Dutzend Meter weiter ist schon wieder eine Treppe, genauso schmal und ausgesetzt. Es scheint, daß nur an solchen Stellen, die anders nicht zu bewältigen sind, eine Treppe aus dem Fels geschlagen wurde.
Nach der vierten Treppe, die über hundert Stufen hatte, ist es sicher: Diese Treppe ist tatsächlich in den Fels hineingearbeitet worden. Entweder wurde der schräge Sims bearbeitet, oder, wo dieser in der Breite nicht ausreichte, ist der Fels ausgehöhlt worden. Man sieht sich an solchen Stellen dicht unter einem Überhang in Kopfhöhe - gerade so hoch, daß man nicht geduckt gehen muß.
Die Wand des Riesenspaltes scheint Biegungen zu machen. Ich weiß meine Richtung nicht mehr. Außer der Taschenlampe habe ich ja nichts mitgenommen - konnte ich wissen, daß hier eine so große Höhle auf mich wartet? Auch ein Höhenmesser wäre jetzt praktisch. Außer dem lahmen Gefühl in meinen Kniemuskeln habe ich keinen Hinweis darauf, wie weit ich schon abgestiegen bin.
Ich müßte eigentlich sofort zu Irene zurück. Was wird sie machen, wenn ich so lange nicht zurückkomme? Werde ich sie überreden können, mit mir noch einmal in diese Höhle vorzustoßen? Wohl kaum. Würden wir später diese Höhle noch einmal wiederfinden können? Diese Höhle, die vor uns offenbar noch niemand gefunden hat? Oder niemand, der auch nachher darüber hat berichten können? Warum wohl hat niemand darüber berichten können? Wann habe ich überhaupt das nächste Mal Zeit, allein oder mit Irene eine Bergwanderung zu machen? Wie bringe ich sie dazu, hier einzusteigen? Sollte ich ihr vorher sagen, was ich gefunden habe, oder sollte ich behaupten, der Spalt wäre nach kurzer Zeit zu Ende? Aber wie erkläre ich dann meine lange Abwesenheit?
Ich steige mit energischen, sicheren Schritten weiter ab. Die Dynamotaschenlampe wandert von einer Hand zur anderen. Auch das lahme Gefühl in den Fingern zeigt, wieviel Zeit schon vergangen ist.
Es gibt verschiedene Methoden, die Lampe zu pumpen. Man kann sie so anfassen, daß die Finger die Hauptarbeit machen, oder so, daß im wesentlichen der Daumen pumpt. Zusammen mit der Möglichkeit, die Lampe in die jeweils andere Hand zu wechseln oder auch mit beiden Händen gemeinsam zu pumpen, sollte ich eigentlich in der Lage sein, die Lampe stundenlang zu betätigen, wenn notwendig.
Da schält sich ein Vorsprung aus dem Dunkel. Die Treppe ändert ihre Richtung. Während ich bis jetzt beim Absteigen die Felswand zur Linken hatte, so habe ich sie jetzt zur Rechten. Und, von diesem Vorsprung, der auch nicht viel breiter als etwas mehr als ein Meter ist, nach unten schauend kann ich nichts erkennen. Ebenso bleibt die gegenüberliegende Wand immer noch unsichtbar.
Ich könnte einmal wieder einen Echoversuch machen, aber irgend etwas hält mich davon zurück, meine Anwesenheit akustisch zu verraten. Das ist natürlich eine ganz dumme Regung. Wer sollte hier schon sein? Und wenn schon, wer sollte mir etwas Böses wollen? Hier gibt es konkrete Gefahren, aber das sind die Gefahren, die man aus dem Hochgebirge eben kennt: Verirren, Abstürzen, Erschöpfung. Ich paß schon auf. Und ganz besonders passe ich auf, daß mir die Dynamolampe nicht aus den Händen fällt.
Dann passiert es. Von einer Sekunde zur anderen: Dunkelheit. Die Dynamolampe wird geringfügig leichtgängiger. Die Birne ist hin. Scheiße.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Rechts ertaste ich immer noch die vertrauenerweckende Härte der Felswand.
Sorgsam hocke ich mich auf die Stufen und befühle sie. Man muß die Lampe öffnen. Dabei darf mir auf keinen Fall irgendein Einzelteil herausspringen. Hier finde ich nichts wieder. Flüchtig denke ich auch daran, daß ich im Dunkeln ganz einfach die Oben-Untenorientierung verlieren und bei meinen Reparaturen, ohne es gleich zu bemerken, einfach über den Rand der Treppe hinauskippen könnte. Herwig, denke ich mir, da hast du etwas Dummes gemacht. Niemand hat dich gezwungen, in diese Höhle einzusteigen.
Ich finde eine Treppenstufe, die meinen Ansprüchen an Ebenheit genügt. Während ich beginne, die Lampe auseinanderzunehmen, lehne ich mit dem Kopf am Fels direkt über meinem Sitzplatz. So kann nichts passieren.
Einen Moment finde ich die Ersatzbirne nicht. Als ich sie schließlich doch in die Finger bekomme, überfällt mich ein anderer, panischer Gedanke: Was, wenn ich schon einmal eine kaputte Glühbirne hatte und dann damals diese Birnen einfach vertauscht habe? Ist mir ein solcher Fall in Erinnerung? Ich glaube nicht. Aber ich merke mir doch solche unwichtigen Dinge nicht. Außerdem hätte ich bei nächster Gelegenheit die nun kaputte Ersatzbirne sofort wieder gegen eine funktionsfähige eingetauscht. Wenn nicht irgend etwas dazwischen gekommen wäre. Ist etwas dazwischen gekommen?
Jedenfalls gehe ich erst einmal von einer funktionsfähigen Birne aus. Ich baue die neue Birne ein und stecke die alte in die Tasche. Nachdem die Lampe wieder zusammengebaut ist, halte ich mir die Lampe vor das Gesicht und betätige zögernd den Pumphebel. Ein rotes Glühwürmchen entsteht im Nichts. Sie funktioniert!
Ich leuchte den Platz ab, wo ich gesessen habe. Kein Teil liegengeblieben. Die Tiefe jenseits der Treppe unergründlich wie eh und je. Okay. Bloß zurück. Wenn die zweite Glühbirne versagt, dann sehe ich alt aus.
Dann hole ich die kaputte Glühbirne aus meiner Tasche und lege sie auf eine Treppenstufe, um den Punkt meines weitesten Eindringens in die Höhle zu markieren. Falls ich demnächst hier wieder vorbeikommen sollte.
Aufsteigen ist noch einfacher als absteigen. Allerdings bin ich in Gefahr, aus übergroßer Schonung für die Glühbirne die Lampe zuwenig zu pumpen und deshalb zuwenig Licht zu haben. Bloß nicht deshalb einen Fehltritt riskieren! Ich habe doch früher versucht, aus Spaß mit der Dynamolampe ein Glühbirnchen durch Überspannung zum Durchbrennen zu bringen. Es geht nicht. Die Mechanik der Lampe ist dafür einfach nicht geeignet.
Nun, wo ich den doch nun ziemlich bekannten Weg so schnell wie möglich hinter mir bringen will, merke ich erst, wie lang er ist. Als ich im Gang ankomme und die Gefahr des Abstürzens vorerst gebannt ist, ist mir wohler. Trotzdem scheint sich auch der Gang endlos hinzuziehen. Plötzlich höre ich etwas. Ich halte an und lasse die Lampe verlöschen.
"Herwig!"
Es hallt hohl den Gang entlang. Irene! Ruft sie in den Spalt hinein oder ist sie schon eingestiegen?
"Hier! Irene! Bleib, wo du bist!"
Ich haste weiter. Da sehe ich plötzlich einen fernen Lichtschimmer. Sie ist tatsächlich in die Höhle hineingeklettert!
Sekunden später stehe ich neben ihr.
"Herwig! Was hast du dir dabei gedacht? Ist dir was passiert?"
Ich versuche, ihr so schnell wie möglich zu erklären, was ich gefunden habe, schon um weiteren Vorwürfen vorzubeugen. Sie sieht ungläubig drein, soweit man das bei der Beleuchtung erkennen kann.
"Wir müssen nocheinmal hierherkommen, mit besseren Lampen, vielleicht mit einigen anderen zusammen! Jetzt müssen wir erstmal nach Hause!"
"Geht nicht," sagt Irene, "du hast keine Vorstellung davon, wie es draußen aussieht. Das Wetter! Es ist fast ein Meter Schnee gefallen!"
"Soviel, tatsächlich?"
"Ja. Ich weiß nicht, ob wir da durchkommen."
"Und die Sicht?"
"Dichtes Schneetreiben."
Wir klettern gemeinsam durch den Spalt am Höhleneingang herab. Sie hat recht: Da draußen ist eine weiße Wüste, und der Schnee fällt immer noch in dichten Flocken, durcheinandergewirbelt von einem kräftigen Wind. Höllentalplatt im August! - Irene hat unsere Rucksäcke höher in den Spalt hinaufgezogen, um sie vor der Feuchtigkeit zu schützen.
"Du hast recht. Das sieht übel aus." sage ich, "Ich habe nicht gewußt, daß ich so lange da drinnen war."
"Und was jetzt?"
"Mmh. Mal sehen. Notfalls können wir hier übernachten. Metallfolien für die Wärmedämmung haben wir dabei. Das ist natürlich kein Schlafsack-Ersatz, dazu sind die zu instabil. Zu Futtern haben wir noch für zwei Tage."
Ich sehe Irene an, daß die Aussicht, hier zu übernachten, ihr ganz und gar nicht behagt.
"Vielleicht sollten wir weiter drinnen ..." schlägt sie vor.
Ich denke nach. Wir haben zwei Dynamotaschenlampen, mit insgesamt drei funktionsfähigen Birnchen. Das heißt, daß der Aufenthalt im ersten waagerechten Teil der Höhle ohne Risiko ist. Man müßte sich einfach nur an die völlige Dunkelheit gewöhnen, da man nicht dauernd die Lampe betätigen kann.
Ich sehe die Uhr an: 17 Uhr. Noch knapp dreieinhalb Stunden Tageslicht. Genug, um bei günstigem Wetter von jeder Stelle des Höllentalplatts zu Tale zu gelangen. Aber unter diesen Umständen hätte ich gerne mehr Zeit. Wer weiß, in was für einem Zustand das Brett ist.
"Warum bist du mir überhaupt nachgestiegen?" frage ich. Dumme Frage.
"Weil es so lange gedauert hat! Außerdem war da ein Zug durch den Höhleneingang, und das kam mir komisch vor."
"Tatsächlich? Ist mir gar nicht aufgefallen!"
Hätte mir aber auffallen sollen. Selbstverständlich ist ein Zug in eine Höhle hinein oder heraus ein Hinweis auf eine größere Ausdehnung der Höhle. Schließlich muß bei einer äußeren Luftdruckänderung ja irgendein Ausgleich erfolgen.
"Also, mir ist es unsympathisch, in der Höhle zu übernachten. Wenn uns da etwas passiert, dann findet uns keiner!"
"Du mit deinen Katastrophen! Was soll uns denn im Schlaf schon passieren? - Außerdem ist es hier draußen jetzt kälter."
Sie hat ja recht. Minuten später haben wir aufgepackt und steigen wieder in die Höhle ein.
1.4 Übernachtung
Wenn man still liegt, kann man das Heulen des Sturmes draußen hören. So eine absolute Sperre gegen akustische Signale sind die ersten paar Dutzend Meter der Höhle nicht.
Bequem ist das Lager auch nicht. Dazu die Dunkelheit. Eigentlich schlafen wir ganz gerne bei diffuser Beleuchtung. Man weiß beim Aufwachen nämlich immer gleich, wo man ist. Aber hier? Hinausstarren in die Dunkelheit, auf die tanzenden Figuren, die die unterreizten Augen und die neuronale Restaktivität im Ozipitallappen erzeugen. Keine optischen Reize. Wie gut, daß der Sturm draußen und Irene's ungleichmäßiger Atem wenigstens einen akustischen Reizhintergrund erzeugen. Sonst kämen akustische Halluzinationen hinzu.
"Schläfst du?" frage ich so leise, daß es sie nicht aufwecken würde, wenn sie tatsächlich schliefe.
"Nein." murmelt sie verschlafen.
"Dein Kopf drückt eine Arterie auf meinem linken Rippenbogen ab."
"Da ist keine Arterie!" erwidert sie.
"Kann sein. Aber du drückst sie trotzdem ab!"
Wir schlichten unsere Gliedmaßen neu ein. Dann ist wieder einige Minuten Ruhe. Vielleicht schlafe ich kurz, vielleicht auch nicht. Gedanken kommen und gehen. Wenn sie das in etwas unvorhersehbarerer Weise tun, dann sind es Träume, und man ist dabei, einzuschlafen. Ich sehe Abgründe und träume, zu stolpern. Dabei zucke ich zusammen und bin wieder wach. Irene auch, weil ich bei solchen Gelegenheiten mich kurz und ruckartig bewege.
"Was das wohl ist?" fragt sie.
"Was?"
"Diese Höhle. Wo kommt die her?"
"Weiß ich nicht. Es gibt viele Höhlen auf der Welt. Denk an die Karsthöhlen in Jugoslawien, die teilweise gigantisch ..."
"Ja. Aber Karsthöhlen? Hier?"
"Mmh. Immerhin, heißt dieses Gebiet nicht auch 'Nördliche Kalkalpen'? Geologie müßte man studiert haben, dann wüßte man so etwas."
Da keiner von uns Geologie studiert hat, halten wir wieder eine Weile den Mund. Vielleicht schlafen wir auch. Sowie einer von uns einschläft, fängt der andere an, sich wieder umzulagern.
"Ich kann nicht schlafen!" sagt Irene, als es mir gerade gelungen ist, trotz allem eine relative Tiefe des Schlafes erreicht zu haben. Meine schmerzenden Glieder kehren wieder zurück.
"Wie spät ist es?"
Einer der vier kleinen Knöpfe an meiner Armbanduhr schaltet eine kleine Leuchtdiode ein. Normalerweise vermeide ich das, weil die Leuchtdiode um Größenordnungen mehr Strom zieht als die Uhr und ihre Anzeige. Jetzt bleibt mir aber kaum etwas anderes übrig.
"Kurz nach 21 Uhr."
"Das ist ja noch früher Abend!"
"Weiß ich. Die Sonne ist draußen aber schon untergegangen!"
Wieder vergehen Minuten, in denen wir versuchen, einzuschlafen. Diesmal gelingt es uns, den als ich das nächste Mal zu klarem Bewußtsein hochkomme, ist es kurz nach Mitternacht. Irene wird gleichzeitig mit mir wach, wie ich an ihren Bewegungen merke.
Der Sturm draußen dröhnt noch hörbarer als zuvor. Ob wir da bei Anbrechen des Tageslichtes durchkommen ist doch sehr zweifelhaft.
"Und es geht wirklich so tief da runter? Wie tief?" fragt Irene, wacher, als es der Uhrzeit entspricht.
"Ich hatte keinen Höhenmesser mit. Aber einige hundert Meter werde ich etwa hinuntergestiegen sein. Denke ich."
"Jetzt haben wir einen Höhenmesser!"
"Mmh." bemerke ich. Hört sich so an als ob Irene Interesse an einer weitergehenden Erforschung der Höhle hat, und wenn vielleicht auch nur als eine interessantere Alternative zu unserem unbequemen Schlafplatz.
Ich spüre einen Hauch, zum wiederholten Male. Die Höhle atmet, wie es ja eigentlich auch sein muß, bei den mit Sicherheit wechselnden Luftdrucken.
"Wir haben nur die zwei Dynamolampen, und die sind nicht besonders hell. Bei meiner ist schon die Ersatzbirne dran, weil die andere kaputt ist. Irgendwie ist mir das zuwenig Sicherheitsspielraum!" sage ich abwehrend.
"Dann habe ich Neuigkeiten für dich. In der letzten Woche habe ich eine Packung Ersatzbirnen gekauft. Fünf Stück! Allerdings war ich zu faul, sie ganz auszupacken!"
"Das nützt uns gar nichts, wenn die Packung zu Hause ..."
"Ich habe die ganze Packung im Rucksack!"
"Wirklich?"
"Ja. Es war so bequem: Hop und rein damit! Wiegt ja nicht viel."
"Du bist ein Goldmädchen!"
"Weiß ich," sagt sie, "außerdem kann ich nicht schlafen. Vielleicht gibt es da unten irgendwo einen Ausgang aus dem Berg heraus?"
"Glaube ich nicht," sage ich, "das wären dann ja schon zwei Ausgänge dieses Höhlensystems, die man noch nie entdeckt hätte."
Wieder vergehen Minuten des Schweigens. Hat sie recht, wenn sie noch einmal da runter will? Aber eigentlich will ich ja auch. Lebensmittel reichen für 48 Stunden, dann ist Schluß. Bis dahin müßten wir wieder hier sein, und dann MÜSSEN wir über das Platt nach Hause.
Außerdem: Karsthöhlen und deren Entstehung sind mit fließendem Wasser verbunden. Das muß ja am tiefsten Punkt der Höhle irgendwie raus. Allerdings: selbst, wenn das der Fall ist, dann kann das etwa in Form einer niedrigen Spalte geschehen, die permanent unter Wasser ist, wie die Rohrkrümmung in einem Abfluß.
"Wenn wir bis zum Morgen hier liegen, dann sind unsere Gliedmaßen durchgebogen und vielleicht unbrauchbar." vermute ich.
"Ja worauf warten wir dann noch?"
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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