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Welthöhle - Die Granitbeißerinnen

Josella Simone Playton

0.1 PROLOG

Die folgenden Ereignisse sind nicht erfunden. Sie entwickelten sich aus einer harmlosen Wochenendwanderung, die eigentlich nur eine Besteigung der Zugspitze durch das Höllental werden sollte. Der 19. August 1995, ein Samstag, ließ zunächst nicht erkennen, daß er meine Frau und mich in die fremdartigste Welt entführen würde, die Menschen je gesehen haben und je sehen werden.

Weil es nicht mehr möglich ist, diese Ereignisse nachzuprüfen oder den Weg, den wir genommen haben, nachzuvollziehen, ist die einzige Überlieferung, die ich der Nachwelt geben kann, eine minutiöse Erzählung der Ereignisse. Ich glaube, daß es mir dabei am besten gelingt, in der beim Schreiben notwendigen Wiedererweckung aller Erinnerungen auch Unwichtiges nicht auszulassen. Die Intensität, mit der sich die Erinnerungen in mein Gedächtnis eingebrannt haben, wird mir dabei helfen. Und wer wollte denn schon beurteilen, welche der dargebotenen Informationen unwichtig sind und welche nicht?

Ich erzähle die gesamten Ereignisse in der grammatischen Form der Gegenwart. Vorwärts-Verweise, etwa von der Form '... das sollte uns noch viel Schwierigkeiten machen', unterlasse ich, da der handelnden Person in der Wirklichkeit auch niemand einen solchen Hinweis gibt. Ich verwende kein Mittel, die Spannung künstlich zu erhöhen. Dort, wo wir uns zeitweise langweilten, werde ich auch die Langeweile an den Leser weitergeben - warum sollte es dem Leser besser gehen als uns?

Dialoge in der Xonchen-Sprache werden selbstverständlich in Deutsch wiedergegeben. Wo es nicht aus dem Kontext ersichtlich ist, erwähne ich die verwendete Sprache. Wahrscheinlich habe ich aber in der Niederschrift an vielen Stellen Grammatik und Vollständigkeit des Satzbaues verbessert - niemand redet in der Wirklichkeit druckreif. Die Namen habe ich, so gut es geht, phonetisch korrekt aus dem Xonchen in das Deutsche übertragen.

Die Erzählung meiner rein subjektiven Gedankenwelt dient dazu, die Wirkung dieser fremdartigen Umgebung auf ein repräsentatives Gemüt (nämlich auf meines) zu demonstrieren. Ich glaube, es ist überall zu unterscheiden, was objektive Beobachtung und was subjektive Reflektion ist.

Vieles, was wir in der Welt der Granitbeißerinnen gesehen haben, kann nicht beschrieben werden, ohne sich dem Vorwurf des Verfassens von Pornographie oder des Verfassens von Darstellungen der Gewalt auszusetzen. Die Rechtsauffassung unseres Landes verbietet solche Darstellungen. Ich habe mich bemüht, solche Geschehnisse mit klinischer Unparteilichkeit zu schildern, auch wenn ich persönlich in den betreffenden Situationen gelegentlich parteiisch eingenommen oder sonstwie emotional erregt oder aggressiv eingestimmt war. Diese Emotionen werden nur erwähnt, wenn es im Erzählungskontext absolut notwendig ist.

Ich selber mußte Handlungen durchführen, die mich hier für lange Jahre in das Zuchthaus bringen würden. Der Leser wird einsehen, daß ich in den betreffenden Situationen gar keine Wahl hatte, etwas anderes zu tun. Trotzdem können Juristen immer noch auf Strafbarkeit erkennen. Da jedoch wird mir die schwere Beweisbarkeit der Ereignisse in dieser Erzählung zur Hilfe kommen. Sollte ich in derartige Schwierigkeiten kommen, dann werde ich alles abstreiten und behaupten, daß die Welt der Granitbeißerinnen ein Produkt meiner Phantasie ist. Für die Zeit unserer Abwesenheit wird mir dann schon eine plausible Begründung einfallen.

Keinesfalls möchte ich erleben, daß irgendwelche Sequenzen der Zensurschere zum Opfer fallen. Vieles, auch das Ekelhafteste und das Grausamste, was wir gesehen haben, hat Entsprechungen in unserer eigenen Geschichte. Wir sind nicht berufen, über die Granitbeißerinnen zu urteilen. Genausowenig, wie wir irgend etwas verschweigen dürfen. Die Granitbeißerinnen sind eine weitere Manifestation einer möglichen Form der menschlichen Existenz und der menschlichen Gesellschaft. Wir müssen diese Manifestation in allen Einzelheiten zur Kenntnis nehmen, denn auch dieses ist ein Baustein in dem Wissen, das wir über den Menschen überhaupt haben. - Es ist schlimm genug, daß so manche unschöne Einzelheiten unserer eigenen Geschichte im Geschichtsunterricht, wenn vielleicht auch nicht in der unvoreingenommenen Geschichtsforschung, immer noch und immer wieder unterschlagen wird.

Der Garten des Menschlichen ist groß. Wir haben in einige neue Ecken desselben hineinsehen dürfen, und wir haben dort sehr seltsame Dinge gesehen. Deshalb sind wir noch lange nicht berechtigt, zu entscheiden, wo gejätet werden muß, und wo nicht.

Und damit gar niemand erst in Versuchung kommt, zu jäten, habe ich an einigen wenigen Stellen Orts- und Zeitangaben gezielt gefälscht. So kann ich diese Ecke vor dem Einfluß unserer Zivilisation noch wirksamer zu schützen: Die Kolonisationsgeschichte soll sich in der Welthöhle nicht noch einmal wiederholen.

Die Tatsache, daß wir überhaupt noch leben, ist ein großes Privileg. Ich habe keinerlei religiösen Glauben, der mich dazu brächte, für diese im Nachherein recht unwahrscheinliche Tatsache irgendeiner höheren Macht Dank auszusprechen. Andererseits ist da immer dieses diffuse Gefühl, verpflichtet zu sein, unsere Erlebnisse weiterzuvermitteln, weil wir noch am Leben und eben dazu noch in der Lage sind.

Das werde ich jetzt tun.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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