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39. Kapitel



        39.     Aufbruch ins Hinterland

Es ist natürlich eine Schnapsidee - im wahrsten Sinne des Wortes. Aber man muß ja alles durchdenken, um wenigstens die naheliegenden Optionen zu finden. Ich denke im Zusammenhang mit dem bewachten Voratslager von alkoholischen Getränken auch daran, dieselben zu vergiften. Auch das ist auf den ersten Blick eine glänzende Idee. Auf den zweiten Blick nicht. Können wir ein geeignetes Gift auftreiben? Löst sich das in diesen Getränken? Ist es geschmackslos? Was machen wir, wenn das Problem mit den Cruise-Missile-Schützen gelöst ist, mit den übriggebliebenen Getränken? Können wir die gefahrlos entsorgen?

Und sollten wir gleich mit Gift loslegen? Das ist eine starke Maßnahme gegen jemanden, der einerseits zwar auf uns schießt, andererseits aber noch nicht getroffen hat. Reichen die Toten, die wir bis jetzt hatten, zur Rechtfertigung solcher Maßnahmen aus? Reichen die Beweise? Und dann gibt es noch die mehr theoretische Möglichkeit, daß wir es mit mehreren voneinander unabhängigen Gruppen zu tun haben. Was, wenn wir gerade die vergiften, die uns nicht angegriffen haben? - Nein, von Gift will ich nichts wissen.

Ich nehme im Laufe des Abends noch einmal Verbindung mit Miriam Ugawe auf, die sich immer noch in ihrem Duocopter aufhält. Sie hat immer noch keine weiterführenden Beobachtungen gemacht. Allerdings hat sich noch niemand von der Stadtbevölkerung in der Nähe ihres Landeplatzes blicken lassen, obwohl schon viele Exkursionen ins Hinterland gemacht haben müssen. Sie muß wohl auf einem besonders unzugänglichen Stück Land gelandet sein.

Nach den Karten und ihren Beschreibungen zu urteilen, ist ihr Landeplatz in dem Ortsteil St. Peter Böhl. Oder sagen wir einmal, der Platz, der St. Peter Böhl hieß, als es diese Ortschaft noch gab. Es liegt am südwestlichen Strand der Eiderstädter Halbinsel, und um dorthin zu gelangen, muß man auf der Sandbank einen weiten Umweg nach Norden machen, weil sich da ein Priel zwischen Sandbank und Festland befindet. Deshalb haben sich noch nicht allzuviele Stadtbewohner dorthin verirrt.

Nach dem Gespräch mit Miriam Ugawe sitze ich eine Weile reglos da und überlege. Die Nacht wird kalt, und das Feuer sinkt allmählich zusammen. Ich habe immer noch keinen überzeugend angenehmen Platz zum Schlafen, und bevor ich eine weitere Nacht improvisieren muß, erscheint mir plötzlich die Vorstellung der Kabine von Miriam Ugawe's Duocopter sehr verlockend. Das ist natürlich egoistisch, weil es keine Lösung für die anderen 1.25 Millionen Stadtbewohner ist. Oder 1.24 Millionen Stadtbewohner - nach pessimistischen Schätzungen könnte bereits jeder hundertste Stadtbewohner ums Leben gekommen sein, ohne daß das im Verlauf der Ereignisse groß aufgefallen wäre. Die meisten davon lägen dann da draußen, im Innern der untergegangenen Teile der Stadt. Ertrunken, langsam von der Garotte des steigenden, kalten Wassers erwürgt, sich in die letzte Luftblase an der Decke hineinschiebend, mit kalten Fingern Halt suchend, und doch lassen die Kräfte nach, und niemand hört das Schreien und Klopfen, und es ist völlig dunkel ... Joycelyn, denk an etwas anderes. Das hat jetzt keinen Zweck. Denk an die Kabine in Ugawe's Duocopter.

Also, wenn ich den Wunsch, dahinzugelangen, als Motivation nehme, mich durch den Wald durchzukämpfe und dabei vielleicht etwas herausfinde, dann ist es eigentlich doch entschuldbar, wenn ich das tatsächlich tue. Wie ein Omen erscheint es mir in dem Zusammenhang, daß sich meine Stablampe bei näherem Hinsehen als druckwasserdicht erweist. Die Luftansaugschlitze sind von der Art, die sich im Wasser schließen.

Ich nehme die etwa ein halbes Kilogramm schwere luftoxidierende Brennstoffzelle heraus und prüfe den Ladungsindikator. Sie ist noch fast voll - von zwei Kilowattstunden sind noch neunzig Prozent übrig. Außerdem - ich verschließe die Zelle wieder in der Lampe und wiege sie in der Hand - ist die Lampe ziemlich stabil. Im Notfall kann man damit zuschlagen, ohne daß sie kaputtgeht. Auch der Einstellring, mit dem man die Mikroleuchtstofflampe in ihrer Helligkeit zwischen 20 Milliwatt und 50 Watt variieren kann, sieht solide aus. Es war eben doch ordentliches Gerät, das in den Schränken der Leitwarte zu finden war. Genauso hätte ich eine Acculampe in die Hand bekommen können, die schon längst verbraucht wäre.

Ich sehe in Richtung Land. Trotz der Dunkelheit kann man erkennen, wo die Hochwasserlinie der Sandbank ist - von da an gibt es Lagerfeuer. Im Watt oder gar auf dem Wasser hält sich natürlich keiner mehr auf. Es ist eine mondlose Nacht, gegen Morgen wird der abnehmende Mond erscheinen, der nicht mehr viel Licht gibt - wenn bis dahin der Himmel überhaupt klar bleibt.

Wie sollte ich es tun? Einen Kompaß habe ich nicht, und ihn abzulesen hieße, ihn kurz mit der Lampe anleuchten zu müssen. Dann wäre die Dunkeladaption der Augen wieder für eine halbe Stunde zum Teufel, und man würde sich auch leicht verraten. Das gleiche gilt für das Lesen von Karten. Das Einzige, was ich tun könnte, wäre, die Bucht mit dem Priel zu umwandern bis ich Ugawe's vermutlichen Landeplatz am nächsten stünde. Schon das wäre mehr eine Instinkt- als eine Navigationssache. Und dann quer durch den Wald, die Richtung mit Orientierung nach den Sternen haltend. Ein schwachsinniges Vorhaben. Und ich dürfte Ugawe nicht einmal Bescheid sagen, weil wir im Moment keine Möglichkeit haben, verschlüsselte Nachrichten auszutauschen.

"Wo schläfst du denn heute nacht?" fragt Paul beiläufig.

"Erstmal schlafe ich überhaupt noch nicht," sage ich und stehe auf. "Ich gehe an Land und sehe mich ein bißchen um."

Als ich wenig später konzentriert und leichtfüßig von Stamm zu Stamm springe und mich der Sandbank nähere, geht mir Pauls letzte Frage durch den Kopf. War da eine implizite Anfrage? Männer sind kompliziert. Warum können sie nicht gerade heraus sagen, was sie wollen?

Wahrscheinlich hätte ich mich auch in seinem Interesse gesperrt. Eine streßgeplagte Stadtkommandantin ist in einem Bett, das aus Fichtenreisig in einer nur wenig windgeschützten Ecke besteht, nicht sehr leidenschaftlich. Andererseits - wärmemäßig wäre es gar keine schlechte Idee gewesen.

Das heißt, eine Leidenschaft hätte ich schon. Ich kann mich noch gut an meinen Fernsehauftritt erinnern, als die erste Cruise Missile auf die Stadt zuflog. Diese Schmach muß noch abgewaschen werden. In schlechten Abenteuerromanen würde man schreiben 'mit Blut abwaschen'.

Soweit muß es nicht kommen. Aber ich wüßte, für wen ich es täte, wenn es doch soweit kommen sollte.



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