38. Alkohol und alles andere
Gegen Abend sind die meisten der Stadtbewohner an Land. Das aufgestaute Holz hat uns wirklich sehr geholfen. Die einzige Methode des Übersetzens an Land, mit der diese Menschenmengen zu bewältigen waren. Und die einzige Methode, an die wir nicht gedacht und für die wir nicht geplant hatten. Merkwürdig - jetzt, wo es geschehen ist, ist es doch so einfach und naheliegend, einzusehen, daß der Stadtwald der sinkenden Stadt ja irgendwo bleiben und bei dem herrschenden Nordwestwind zwangsweise an die Küste getrieben werden muß. Kein Mensch ist auf diese Idee gekommen! Wie kommt das? Was gibt es noch an naheliegendsten Dingen, die wir nicht zur Kenntnis nehmen?
Das beißt sich auch wieder mit der Philosophie: Wieso übersieht unser 'Überlebenswerkzeug' Gehirn solche naheliegenden, zum Überleben relevanten Dinge? Ist das die Methode der Evolution, uns zu sagen: 'Ihr seid ja noch gar nicht fertig. Ihr seid noch nichts, gar nichts. Erst in einigen Milliarden Jahren ...'
Bis zum Abend ist es uns auch gelungen, Funkgeräte zu bekommen. Während die Sonne am immer noch klaren westlichen Himmel dem Horizont zustrebt, haben wir auf der vorderen Stadtkante eine provisorische Leitwarte eingerichtet. Die Kälte wird durch ein großes, prasselndes Feuer an unserer Seite gemildert, eine Idee, die auch andere gehabt haben: soweit man sehen kann, steigen überall an Land Rauchfahnen auf, die dann gleich wieder nach Osten gedrückt werden. An Brennmaterial ist ja kein Mangel. Aber weil alles feucht ist - frisches Holz, und das naß von Regen und Seewasser, kann man eigentlich nur große Feuer unterhalten. Und die machen einen fürchterlichen Rauch. Diese zahllosen Feuerstellen muß man noch hundert Kilometer landeinwärts riechen können.
Es turnen noch immer viele Menschen über die Stämme zwischen der Stadt und der Sandbank. Jetzt ist es aber ein Verkehr in beiden Richtungen: Es wird noch aus der Stadt weggetragen, was man nur brauchen kann. Auch der kleine Teil der Stadt, der noch zugänglich ist, gibt noch viel her.
Die Beobachtungen aus unserer Innenstadt-Expedition verdränge ich hervorragend. Was bleibt mir auch übrig? Depressionen nützen jetzt niemandem, und außerdem ist das Immer-noch-Leben ein gutes Aufmunterungsmittel.
Paul, Michelson und Lambert sind bei mir. Lambert war vor der Strandung in der Energiezentrale, die der Leitwarte zugeordnet ist, beschäftigt. Er ist natürlich auch quasi arbeitslos. Das heißt natürlich nicht, daß er nichts zu tun hat: Er hatte die glänzende Idee, ein noch erreichbares Materiallager plündern zu lassen, in dem sogar kleine, tragbare Fleischmann-Pons-Reaktoren zu finden waren. Wieder so ein Punkt: Davon hätten wir mehr gebrauchen können. Hätte man sich vor der Strandung drum kümmern müssen. Oder man hat auch: Hinten, in den Wäldern, sehe ich Anzeichen elektrischen Lichtes. Wenn man nur einen Überblick hätte, wo welche Hilfsmittel genau jetzt vorhanden sind!
Lambert ist alt, ein im Dienste der Stadt ergrauter Ingenieur. Wenn man ihn reden hört, dann denkt man, sein Glaube an die Unfehlbarkeit technischer Einrichtungen ist durch überhaupt nichts zu erschüttern. Eine etwas merkwürdige Einstellung, unter den obwaltenden Umständen. Ich frage ihn einmal, was er denn glaubt, wie das Unglück zustande gekommen ist.
"Das ist doch völlig klar!" erwiedert er, mit der Miene eines Schullehrers, der ein kleines Mädchen belehren muß, "Das sind Fehler im Stadtcomputer gewesen. Sabotage! Es hat doch geheißen, die Software ist fehlerhaft! Was kann es anderes sein?"
Er glaubt es tatsächlich. Im Hintergrund schüttelt Paul den Kopf, sagt aber nichts.
"Und wer hat, nach Ihrer Meinung, diese Sabotage ausgeführt?" frage ich.
"Unzufriedene, Querulanten, was weiß ich. Saboteure eben. Vielleicht Environmentalisten. Sie wollen damit etwas beweisen."
Es ist zwecklos. Ich wechsle das Thema. Ich habe jetzt nicht die Geduld, schon wieder die Politik der Weltbevölkerungskonferenz zu diskutieren. Und Environmentalisten, die einem noch radikaleren Umweltkurs folgen als die WBK es tut, kann man ja kaum noch finden. Vielleicht sind solche Ansichten Rudimente einer Zeit, in der es einfacher war, radikalen ökologischen Erneuerern alles mögliche in die Schuhe zu schieben.
Vielleicht liegt es auch daran, daß ein Ingenieur, der keine Ahnung von Softwaretechnologie hat, sich gar nicht vorstellen kann, daß ein größeres Stück Software niemals fehlerfrei sein kann. Wer nichts im Kopf hat als etwa die konstruktive Übersichtlichkeit des Druckbehälters eines F-P-Reaktors, dem fehlt wohl die Einsicht in die Komplexität eines Programmes von bloß mittlerer Größe. Was weiß ich. Soll sich Paul doch einmal mit ihm unterhalten.
Jetzt, wo wir wieder Funkgeräte haben, ist es auch möglich, sich wieder mit Miriam Ugawe in Verbindung zu setzen. Sie hat eine ganze Nacht an ihrem Landeplatz verbracht und in der Dämmerung so ein bißchen die Gegend erforscht. Sie hat tatsächlich Cruise Missiles gefunden - fabrikfrisch eingepackt und uralt, auf einer Lichtung im Wald und überwachsen mit allerlei Gesträuch. Die, die sie gefunden hat, sagt sie, sind in einem solchen Zustand, daß man sie unmöglich abschießen kann. Die müssen ein Jahrhundert im Regen gelegen haben. Welche Art von Gefechtsköpfen anmontiert ist, hat sie nicht herauskriegen können. Ich sage ihr, sie soll die Dinger nicht anfassen. Wenn da Nervengifte drin sind, dann sollen sie auch besser darinnen bleiben, bis die Stadtbewohner wieder alle in den Außenwelten sind.
Jedenfalls haben wir den Eindruck, daß die ganze Eiderstädter Halbinsel mit altem militärischem Gerät übersät ist.
Sie hat noch mehr gefunden. Da gibt es im alten St. Peter Ording Wälle, die sie sich nicht erklären kann. Es sind jedenfalls keine Deiche, die, wie Michelson mir erklärt hat, ja dazu dienten, das Meer bei Sturmflut vom Festland fernzuhalten. Die Deichreste sind auch noch da, aber die Wälle, die Miriam meint, sind breiter, flacher und höher. Es sieht so aus, so Miriam, als ob diese Wälle seinerzeit aufgeschüttet worden sind, um Gebäude oder andere Einrichtungen selbst bei Sturmflut über Wasser zu halten. Es sind so viele, und wahrscheinlich ist die ganze Eiderstädter Halbinsel voll davon. Da sie so überwachsen sind, sieht man sie aus der Luft nicht. Mir fällt ein, daß Michelson sich so darüber gewundert hat, daß die Eiderstädter Halbinsel überhaupt noch existiert, während so viele andere Inseln vor der nordfriesischen Küste nur noch auf alten Karten zu finden sind. Er hat auch schon etwas von solchen Wällen erwähnt. Ist da ein Zusammenhang?
Sie hat aber keinen Hinweis von menschlicher Aktivität aus jüngster Zeit gefunden. "Die haben sich in ihre Höhlen zurückgezogen!" bemerkt Paul, aber ich finde das gar nicht lustig. Höhlenbewohner schießen nicht mit Cruise Missiles.
Die erste wirklich gute Nachricht des Tages trifft ein, als es uns gelingt, wieder mit den Orbitalstationen Verbindung aufzunehmen. Die SKYSHARK V hat ihren Liniendienst zwischen den Jupitermonden und Mars eingestellt, Hilfsmaterial gebunkert und ist endlich auf dem Wege hierher. Sie wird in drei Wochen in die Erdumlaufbahn einschwenken. Es ist ein großes Schiff, und wenn man etwas enger aufeinanderhockt, dann können vielleicht fünfzigtausend Menschen an Bord genommen werden. Auch die vielen anderen Schiffe, die normalerweise routinemäßig die Stadt nach einem Linienfahrplan angesteuert haben, sind auf dem außerplanmäßigen Wege hierher. Es wäre schon möglich, innerhalb einiger Monate die gesamte Stadtbevölkerung abzutransportieren. Allerdings fehlen uns die Landestreifen der Stadt. Das kompliziert die Sache ein bißchen. Auch das Problem, die Menschen in den kommenden Monaten am Leben zu erhalten werden wir wohl oder übel lösen müssen.
Wir sitzen noch nach Sonnenuntergang an Feuer auf der Stadtkante und palavern. Wir haben bis jetzt das Glück gehabt, daß unsere schießwütigen Eingeborenen sich noch nicht wieder bemerkbar gemacht haben. Aber das kann sich sehr schnell ändern.
Lambert schlägt allen Ernstes eine schnelle, quasimilitärische Operation vor. Er scheint wirklich in sehr einfachen Kategorien zu denken. Wir haben zuwenig Waffen und keine ausgebildeten Leute. Sollen wir die wenigen Ordnungskräfte, die die Stadt hat, als Dschungel-Korps einsetzen? Abgesehen davon, daß sie dafür gar nicht ausgebildet sind, wissen wir ja noch überhaupt nicht, wo wir genau suchen müßten. Und Miriam Ugawe mit ihrem Duocopter weiter Luftaufklärung fliegen zu lassen, dazu fehlt uns über kurz oder lang der Treibstoff. Dazu kommt, daß sich unsere unbekannten Gegner mit Sicherheit in den geographischen Verhältnissen besser auskennen.
Ich schlage deshalb vor, auf der Sandbank wieder einen Landestreifen zu räumen, der hinreichend groß für kleine Raumschiffe ist. Die ersten Raumschiffe, die Stadtbewohner abholen kommen, könnten auch Waffen mitbringen - wenn es denn unbedingt sein muß. Mir schmeckt die Lösung aber nicht. Ich hoffe immer noch, daß die immense Zahl von Menschen, die sich jetzt hier aufhalten, den unbekannten Angreifer von weiteren Aktionen abhalten wird.
Während es ganz dunkel wird, sehen wir, daß im Norden, etwa in zweieinhalb Kilometern Entfernung, eines der zahllosen Lagerfeuer zu mächtiger Größe entfacht worden ist. Noch während wir zuschauen, scheint es sich auf das Land hin auszubreiten.
"Da scheint etwas außer Kontrolle geraten zu sein!" vermutet Paul, "Komisch, daß das Holz so gut brennt. Es muß doch naß von Seewasser sein! Die Leute haben doch überall Schwierigkeiten, ihre kleinen Lagerfeuer zu unterhalten!"
"Bei großen Feuern gelten andere Gesetze." stellt Lambert fest. Er sagt nicht, welche Gesetze gelten. Diese Art von Fachleuten 'liebe' ich - dieses blöde Hohepriester-Getue. Ich bemühe mich, meine Antipathie zu verbergen.
Ich setze mein Glas an. Tatsächlich scheint man dahinten auf die Idee gekommen zu sein, die weitere Ausbreitung des Feuers durch Freiräumen einer Schneise zu unterbinden. Soweit der Holzverhau auf dem Wasser schwimmt breitet sich das Feuer nicht aus. Das Ganze sieht also nicht besonders bedrohlich aus. Es zeigt nur mal wieder eines: Bei einer solchen Menge von Menschen läuft wenigstens irgendwo das schief, was überhaupt nur schieflaufen kann.
Dann sehe ich, wie Michelson einen Flachmann ansetzt. Er sieht, daß ich ihn fixiere:
"Ich bin nicht im Dienst, Frau Pemberton!"
"Ich habe ja überhaupt nichts gesagt!"
"Aber geguckt haben sie, als ob ich lebende Babies verspeise!"
"Das würde der WBK wahrscheinlich ideologisch weniger tadelnswert erscheinen," wehre ich ab, "aber im Ernst: Wo haben Sie das denn her?"
Er sieht sich die Flasche genauer an: "Da sind ganze Lebensmittellager diszipliniert und vollständig zum vorderen Teil der Stadt gebracht worden. Da waren auch genug alkoholische Getränke dabei, um die ganze Stadtbevölkerung vollzählig vollaufen zu lassen - bis alle dienstunfähig sind."
"Und um das zu verhindern trinken Sie vorher alles aus?" frage ich.
"Was halten Sie von mir? Glauben Sie, ich bin ein haltloser Trinker?"
"Nein. Aber eine Schwäche für Alkohol haben Sie!" Das sage ich ganz leidenschaftslos als eine neutrale Feststellung.
"Habe ich allerdings. Dazu bekenne ich mich. Alles zu seiner Zeit. Jetzt, am Lagerfeuer, in ach so romantisch verklärter Stimmung, den einfühlsamen Vorhaltungen meiner Stadtkommandantin lauschend, da bin ich in Stimmung, die Aussicht auf einige durchfrorene Wintermonate auf der guten alten Erde durch einen Schluck rosarot anzufärben."
"So habe ich das nicht gemeint ..."
"Sie haben noch nie Alkohol getrunken?" fragt Michelson mich.
"Eh ... nein." Ich blicke Paul an: "Du?"
"Ja, ich meine," sagt Paul, "daß man eigentlich wissen sollte, wovon man spricht, wenn man von Alkohol spricht. Vor Einführung der Drogenkliniken war gerade der Alkohol noch viel verbreiteter als heute. Im zwanzigsten Jahrhundert muß es ganz furchtbar gewesen sein."
"Du trinkst?" frage ich Paul entsetzt.
"Also, Joycelyn, das ist jetzt aber wirklich ... dieser Aspekt des Lebens scheint bis jetzt an dir vorübergegangen zu sein! Nein, keine Angst, ich trinke nicht. Aber natürlich habe ich es in meiner Jugend mal probiert. Bei unserem Kollegen hier" er deutet auf Michelson, der geradezu stolz grinst, "ist die Jugend eben noch nicht ganz vorbei. Alkohol ausprobieren ist eine pubertäre Randerscheinung, die häufig ist! - Das gehört zum Aufwachsen dazu, wie Masern und aufgeschlagene Knie!"
Die vorletzte Formulierung muß Michelson nicht ganz gefallen haben, denn er hat zu grinsen aufgehört.
"Ich hab's auch schon mal probiert. Wie Herr Michelson sagt ... alles zu seiner Zeit. Ich hätte auch jetzt nichts dagegen!" wirft Lambert ein, und
"Dann hole ich noch etwas!" springt Michelson auf, mit einer verblüffenden Behendigkeit. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, daß er im Dienst einen solchen Eifer an den Tag gelegt hat oder sich gar so schnell bewegen kann.
"Willst du damit andeuten, daß bei mir die Phase des Aufwachsens und der Pubertät noch nicht vorbei ist?" frage ich Paul, aber dieser faßt das so auf, wie es gemeint war: als rhetorische Frage. Er grinst nur schief: "Das hast du gesagt!"
Bin ich da wirklich etwas altmodisch? Mir ist natürlich die Geschichte des Drogenkonsums bekannt. Wir werden damit ja alle in der Schule damit geimpft.
Die ganze Geschichte der Menschheit wurde durch Drogen begleitet. Davon waren Alkohol und Nikotin die verbreitetsten und im Gegensatz zu vielen anderen Drogen nicht mal, zu keiner Zeit, gesetzlich geächtet. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert gab es in den damaligen Vereinigten Staaten von Amerika ein Versuch, der Bevölkerung den Alkohol per Gesetz zu entziehen - mit genau dem gegenteiligen Erfolg und einer beispiellosen Welle von Kriminalität, die sich um die verbotene Droge Alkohol herum entwickelte. Daß das Konzept nichts taugt, wurde eingesehen und das Alkoholverbot aufgehoben. Ähnliche gesetzliche Experimente in anderen Staaten schlugen ebenfalls fehl.
Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dann die ganze Welt von Drogen verschiedenster Art überschwemmt. Die kriminellen Organisationen, die sich am Drogenhandel bereicherten, stiegen zu ungeahnter gesellschaftlicher und politischer Macht auf, ja, in einigen Ländern Südamerikas war die politische Führungsschicht nur noch eine Marionettengarde der Drogenbarone. Es war abzusehen, daß diese Entwicklung sich über die ganze Welt ausbreiten würde.
Dann kamen jedoch die ökologischen Kriege. In den Neunziger Jahren beginnend und in den ersten beiden Jahrzehnten des einundzwanzigsten Jahrhunderts kulminierend, schlugen sie den Takt der politischen Entwicklung der Welt. Der Niedergang des Wohlstandes auf der ganzen Welt begünstigte den Drogenkonsum ungeheuerlich. Allerdings wurden auch die Organisationen, die vom Rauschgift profitierten, in den Ökokriegen zerschlagen.
Nachdem sich aber in dem Frieden von Neu-Nairobi von 2018 die Weltbevölkerungskonferenz etablierte, erinnerte man sich noch gut an die Rolle der Drogen, die die Kriege noch ein Stück barbarischer gemacht hatten. Es waren Fälle von Staaten bekannt, die ihre Streitkräfte systematisch mit Drogen versorgt hatten, um das Letzte aus ihren Soldaten herauszuholen. Es waren Fälle bekannt, wo durch Drogen erreicht wurde, daß die Bewacher von Konzentrationslagern auch nicht einmal ansatzweise von Skrupeln oder rudimentären Gewissensbissen geplagt wurden. Und da war natürlich auch noch das weite Gebiet der Designer-Drogen - wer immer deren Herstellung beherrschte, der konnte auch seine eigenen Kampfstoffe herstellen. Sarin, Tabun, Soman oder Lost waren da noch die einfachsten Übungen.
Das veranlaßte die Weltbevölkerungskonferenz, auch in der Drogenszene völlig neue, radikale Konzepte auszuprobieren. Sie nahm sich des Themas mit solcher Vehemenz an, daß kaum jemand auf die Idee kam, zu hinterfragen, wieso sich diese Organisation auch noch um Drogen kümmern sollte und was sie das überhaupt anginge. Aber so war es und so blieb es: Die WBK hatte in diesen Dingen das Sagen.
Drogen wurden freigegeben und durften in staatlich kontrollierten Apotheken verkauft werden - gegen Rezept. Das bekam man auf Verlangen von jedem Arzt. Jeder, der Drogen nehmen wollte, konnte das tun. Das wurde natürlich über den Hausarzt sofort aktenkundig. Es war eine 'Behandlung'. Auch Alkohol und Nikotin wurde wenigstens zeitweise den anderen Drogen gleichgestellt.
Während dieser Behandlung waren manche gefahrengeneigten Tätigkeiten untersagt. Man konnte aber immer noch, im allgemeinen, seinem Beruf nachgehen. Wurde diese 'Behandlung' wieder eingestellt, dann galt man wieder uneingeschränkt als unbescholtener und vollintegrierter Bürger.
Wer jedoch nicht von einer bestimmten Droge herunterkam, der mußte, und muß auch heute noch, in eine Drogenklinik. Dort hat man die Möglichkeit, sich entweder fachgerecht entziehen zu lassen oder auf beliebige Zeit weiter der Sucht zu fröhnen, ohne irgendjemandem Rechenschaft darüber zu geben. Als Patient einer Drogenklinik hat man allerdings die meisten der bürgerlichen Rechte an der Pforte abzugeben. Kein Wahlrecht, keine Geschäftsfähigkeit und so weiter. Praktisch eine selbstgewählte Entmündigung. Man ist 'zeitweise verstorben'.
Auch eine Drogenklinik kann man jederzeit wieder verlassen und fortan wieder als unbescholtener Bürger drogenfrei weiterleben. Der Aufenthalt in einer Drogenklinik gilt sogar in der Rechtssprechung als eine Art 'temporäres Totsein', mit allen Konsequenzen. Jedem Bürger steht das offen. Theoretisch ist sogar der Fall denkbar, daß man sich in eine Drogenklinik begibt, ohne wirklich drogenabhängig zu sein, einfach, um sich eine gewisse Weile aus der menschlichen Gesellschaft auszuschließen. Eine solche Entscheidung ist durchaus legitim und wird gesellschaftlich akzeptiert.
Das sind die beiden einzigen Möglichkeiten, Drogen zu genießen: In begrenztem Umfange auf Rezept, und aus vollen Zügen in den staatlichen, kostenlosen Kliniken.
Der Handel oder der Genuß von Drogen auf anderem Wege wird jedoch strengstens bestraft. Wenngleich die Weltbevölkerungskonferenz den Pronatalismus noch unnachgiebiger verfolgt, so kommen Drogenvergehen doch schon an zweiter Stelle. Für die reinen Drogenkonsumenten steht eine sofortige Zwangseinweisung in die Drogenkliniken an, und auf die Händler, selbst auf die kleinsten, wartet der Chirurg der Organbank oder sogar das Vollstreckungskreuz. Gerade in der Anfangszeit der Weltbevölkerungskonferenz war die barbarische Methode der öffentlichen Kreuzigung noch sehr beliebt und wurde über lange Jahre weltweit praktiziert.
Nur Alkohol und Nikotin nehmen seit einiger Zeit wieder eine Zwitterstellung ein: Der Handel damit wird streng überwacht und der Verbleib protokolliert. Aber es ist kein Rezept mehr notwendig - nach allem, was ich weiß.
Es ist nicht ganz einfach, in der Branche sein Geld zu verdienen.
Die WBK überwacht mit einer ihrer Unterabteilungen das gesellschaftliche Leben im Hinblick auf Drogen völlig. Droht in einer Region ein ausufernder Konsum, dann werden lokal Alkoholsteuer für Herstellung und Handel angehoben, nötigenfalls Konzessionen gestrichen, Überwachungsprozeduren verschärft. Sogar die Vernichtung von Lagerbeständen wird gelegentlich angeordnet.
Deshalb ist es verständlich, daß die drohende Vernichtung der Stadt die Möglichkeit geschaffen hat, Alkoholvorräte quasi aus der allumfassenden Überwachung des Staates herauszunehmen. In der jetzigen Situation kann man nicht für jede Pinte Bier eine Unterschrift leisten. Wenn das Bier und der Wein und der Cognac und der Whisky und der Cointreau und was weiß ich wie sie noch alle heißen, offiziell mit der Stadt untergehen, dann sind natürlich alle doch noch geretteten Vorräte quasi vogelfrei.
Ich kann verstehen, daß man die Gelegenheit jetzt nutzt, wen man so einen leichten Hang in dieser Richtung hat. Und wie gut die Gelegenheit genutzt wurde, sehe ich, als Michelson mit einigen Plastiktüten zurückkommt und sich ans Feuer setzt.
"Haben Sie so etwas schon einmal gesehen, Frau Pemberton?"
Die stabil aussehende Flasche, die er mir unter die Nase hält, sagt mir nichts. Trotz der immer noch oder schon wieder möglichen Verfügbarkeit der beiden Drogen Alkohol und Nikotin für jeden Bürger ist es der WBK doch gelungen, beide Drogen mit einem Makel zu belegen. Da haben die Psychologen der WBK lange überlegen müssen, bis sie das hingekriegt haben. Eine bis in das einundzwanzigste Jahrhundert verbreitete Haltung 'Nur, wer ordentlich etwas verträgt, ist ein richtiger Mann' gibt es nicht mehr. Alkohol und Nikotin sind eher mit Abhängigkeit und Charakterschwäche assoziiert. Deshalb kommen manche Menschen im Laufe ihres Lebens damit überhaupt nicht mehr in direkte Berührung. So ist es bisher auch mir ergangen. Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich eine Raucherin gesehen, und das einzige, woran ich mich erinnern kann ist, daß es widerlich gestunken hat. Alkohol trinkende Menschen habe ich öfter aus der Nähe gesehen, aber davon schmeckt man ja nichts. So ist mir diese Erfahrung bisher erspart geblieben.
"Krimskoje." sagt Michelson.
"Was?"
"Krimskoje. Krimsekt. Heißt so, weil er früher auf der Halbinsel Krim gemacht wurde. Das gibt es natürlich nicht mehr. Aber dieser schmeckt genauso gut. Und das hier, sehen Sie mal!"
"Ich kenne das alles nicht!" wehre ich ab. Diese zweite Flasche, die er mir zeigt, enthält ein undurchsichtiges, gelbes Zeug, ganz anders als die erste Flasche. Es scheint zähflüssig zu sein.
"Eierlikör!" Michelson zieht die Zunge über die Lippen: "Das ist etwas ganz Feines! Ein Getränk für Götter! Ist sehr viel drin, was ungesund ist - es wird Ihnen schmecken!"
"Ich habe überhaupt nicht gesagt, daß ich es probieren werde!"
"Aber ich!" erklärt Michelson. "Wissen Sie, wie teuer das normalerweise ist? - Die Gelegenheit muß man nutzen." Allmählich habe ich den Verdacht, daß es Menschen gibt, die der Strandung der Stadt positive Seiten abzugewinnen vermögen.
Eine weitere Flasche, die er auspackt, enthält eine leichtbewegliche, durchsichtige, blaue Flüssigkeit. "Curacao!" erklärt er. Ich habe es noch nie gesehen und die Bezeichnung noch nie gehört.
"Wahrscheinlich würde ich es für Parfüm halten, wenn ich es durch Zufall in die Hand bekommen hätte." sage ich.
"Aber nicht lange. Es ist klebrig, wenn es eintrocknet. Das liegt an dem Zuckergehalt."
"Zucker ist da auch noch drin? Reicht Alkohol nicht aus, um es ungesund zu machen?"
"Sicher ist da Zucker drin. Zur Geschmacksabrundung. - Ah, für das könnte ich jede Vorsicht vergessen!"
"Es wäre schön, wenn wir unsere schießwütigen Eingeborenen dazu veranlassen könnten, jede Vorsicht zu vergessen! Sie rollen hier Getränke an, als ob Sie es darauf anlegten, mich zum Trinken zu verführen?"
"So müssen Sie das nicht sehen, Frau Pemberton! Es ist gewissermaßen nur eine Vorführung der möglichen Genüsse, von deren Existenz Sie bisher offenbar noch gar nichts gewußt haben!"
"Joycelyn, du bist ein Genie!" schreit Paul dazwischen.
"Was?"
"Deine Idee, die du eben gehabt hast!"
"Ich habe eine Idee gehabt?" frage ich. Auch Michelson weiß im Moment nicht, wovon die Rede ist.
"Deine schießwütigen Eingeborenen!" hilft Paul weiter.
"Das sind nicht meine ... Ach so!"
Einen Moment Stille. Dann frage ich zurück:
"Und wie stellst du dir das vor? Wir legen Flaschen auf den Strand, und sie kommen aus dem Busch und holen sie sich?"
"Genauso sicher nicht, aber das Prinzip." Paul denkt laut nach: "Wer immer es ist, hat keine permanente Verbindung zu den Außenwelten. Keine permanente Versorgung. Wahrscheinlich nur von Vorräten lebend, und was das Land so hergibt. Also wohl keine Luxusgüter."
"Und warum sollten sie gerade scharf auf Alkohol sein?"
"Ich habe da so ein Gefühl."
"Ich nicht."
"Denk doch mal nach, Joycelyn! Es muß eine kleine Gruppe sein! Eine kleine Gruppe, die wir durch unser Ankommen gestört haben."
"Die wir aber noch nicht gefunden haben."
"Bist du sicher? Kannst du jeden Stadtbewohner verfolgen, der an Land durch das Unterholz streicht?"
"Du meinst, wir hatten schon weitere Verluste?"
"Ausschließen können wir es nicht."
"Und wo hilft uns da der Alkohol weiter?"
"Denk doch mal nach! In einer kleinen Gruppe, auf einem wilden Planeten - was hat man da vom Leben?"
"Wohl genug, denn sonst würden sie darum bitten, abgeholt zu werden. Den Wunsch würde die WBK jedem, der 'versehentlich' auf die Erde gelangt ist, sofort erfüllen. Kostenlos."
"Und wenn sie Grund haben, sich hier zu verkriechen?"
Ich schüttele den Kopf: "Spekulationen über Spekulationen. Wir wissen zu wenig. Und überhaupt, wie sollten wir plausibel Alkohol als Lockmittel auslegen? Wie sollten wir plausibel machen, daß wir ihn nicht selbst trinken wollen?"
"Weil wir das als brave Staatsbürger nicht dürfen. Deshalb sollten wir ein bewachtes Lager mit allen konfiszierten Alkoholvorräten machen, das so angelegt wird, daß ein Ortskundiger dort mit Leichtigkeit eindringen kann."
"Abenteuerlich. Das heißt also auch, daß du alle Alkoholvoräte, die schon im Umlauf sind, einsammeln willst?"
"Es muß plausibel und konsistent aussehen."
"Hmh. Und wie willst du unsere eigenen Stadtbewohner daran hindern, den Stoff bei Nacht und Nebel zurückzuholen?"
"Durch Wachen."
"Die unsere Eingeborenen absichtlich durchlassen?"
"Genau."
"Also, das muß ich mir überlegen. Michelson!"
"Ja?" fragt Michelson, Schlimmes ahnend.
"Packen Sie die Flaschen wieder ein und bringen Sie sie zurück. Sie haben's ja gehört: Ab sofort sind alkoholische Getränke kriegsentscheidendes Material. Organisieren Sie das Sammeln aller Vorräte an alkoholischen Getränken und die Einlagerung an Land. Ebenso sorgen Sie mir für die Bewachung. Verstanden?"
"Ja." sagt ein unglücklicher Herr Michelson.
"Und wenn Sie das zu sehr deprimiert, dann genehmigen Sie sich einen. Sie müssen ja, gewissermaßen, mit dem 'Kampfstoff' vertraut sein. - Sich einen genehmigen, so sagt man doch, oder?"
"Ja!" sagt Michelson, deutlich weniger unglücklich. Dann verschwindet er mit seinen Flaschen.
"Alle Achtung, Joycelyn! Hast du nicht gesagt, du betrachtest den Job der Stadtkommandantin als beendet, sowie erst die Strandung vorbei ist?"
"Organisiert eine Wahl und wählt jemanden anderes. Bis dahin tue ich noch, was ich für richtig halte!" stelle ich fest, vielleicht ein bißchen zu barsch im Tonfall.
Die Sache mit der Alkoholfalle gefällt mir eigentlich nicht. Das Problem mit den eingeborenen Cruise-missile-Schützen muß eine weniger skurrile Lösung haben. Man muß ja immer aufpassen, wie das von außen gesehen werden könnte, besonders bei böswilligen Unterstellungen. 'Stadtkommandantin vernachlässigt ihre Pflichten und verteilt kostenlos Alkohol an Kriminelle!' - so eine Schlagzeile hat mir gerade noch gefehlt.
Zurück zu meiner Hauptseite
Sie sind Leserin dieser Seite Nummer