35. Zielgerade
14 Uhr. 2 Stunden und 72 Kilometer bis St. Peter Ording.
Miriam Ugawe hat sich gemeldet und gesagt, daß sie in einer Lichtung gelandet ist, um vor dem Sturm Schutz zu suchen. Ob und welchen Schaden sie unserem geheimnisvollen Raketenschützen zugefügt hat sagt sie nicht.
Die Flugzeuge, die wir losgeschickt haben, stehen alle auf der Sandbank und sind vertäut, so gut es eben geht. Trotzdem gibt es erste Berichte von zerstörten Flugzeugen. Ganz besonders macht mir Michelson Mut:
"Die müssen da weg. Das wird Hochwasser geben. Unvermeidlich, bei diesem Sturm."
"Und wie?"
Weiß er nicht. Ich auch nicht. Ich setzte mich ans Funkgerät und veranlasse die Besatzungen der Flugzeuge auf der Sandbank, so schnell wie möglich das Festland aufzusuchen. Vielleicht schaffen sie es noch. Von den Flugzeugen wird dann wohl nicht viel übrig bleiben. Ich befrage Michelson, was er alles über das Hochwasserverhalten in dieser Gegend weiß. Was ich erfahre, macht mir wirklich wenig Mut: Westwinde und ganz besonders Nordwestwinde können in dieser Bucht ganz erstaunliche Hochwasserstände erzeugen. Michelson meint, daß bei diesem starken Wind die ganze Eiderstädter Halbinsel überflutet werden wird, und sogar weite Teile der anderen küstennahen Regionen.
Wenigstens haben wir von der Rakete nichts mehr gehört. Aber auch das war doch nicht unsere Leistung! Vielleicht hat sie die Stadt überquert, vielleicht ist sie durch den Wind irgendwohin abgetrieben worden, und wenn sie einen nuklearen Sprengkopf oder eine Nervengiftbombe hatte, dann ist diese nicht losgegangen - zu altes Gerät, Programmierfehler, Bedienungsfehler derjenigen, die die Rakete abgeschossen haben. Jedenfalls wird bei diesem Wetter wohl kein weiterer Anschlag auf uns unternommen werden.
Inzwischen kommen die Schadensmeldungen herein. Wie erwartet sind Menschen umgekommen. Sechs Tote und über zweihundert Verletzte, dazu noch einige hundert Vermißte. Ob das nun unter diesen Umständen als wenig oder als viel einzuschätzen ist, darüber denken wir nicht nach. Ich hätte die Menschen früher in die Stadt runter schicken sollen. Joycelyn, noch fast zwei Stunden bis zur Strandung - bis dahin wird der Sturm vielleicht wieder abflauen. Dann hätte es keine Tote gegeben.
Ich muß mich einfach einen Moment an dem Gedanken hochziehen, was die Straub alles falsch gemacht hätte, sowenig das eine Entschuldigung ist.
Paul meldet sich. Die Virusprogrammierung ist schwerer als erwartet. Wir sollen keinesfalls auf ihn warten, egal, was passiert. Er wird bis zum Schluß alle Hände voll zu tun haben. Dann schaltet er das Visiophon wieder aus.
Der Orkan wirft sich heulend gegen den Turm. Manchmal fliegen Gegenstände gegen die Scheiben, Holzstücke, Blätter. Da bleibt ein Blatt kleben, vom Wind an die Scheibe gedrückt, zwei Sekunden lang, gerade können wir die Äderung erkennen, dann wird es vom Regen wieder weggewaschen.
Die Leitwarte meldet sich wieder. Inzwischen sind so viele Antennen kaputt, daß die direkte Kommunikation mit den Außenwelten nicht mehr möglich ist, nur noch mit den Orbitalstationen. Naja, solange die Relais spielen können, reicht das ja. Außerdem verspreche ich mir von der Kommunikation mit den Außenwelten nicht mehr besonders viel. Die sehen interessiert zu. Das ist doch alles. Wann kriegt man schon einmal solch authentische Unterhaltungssendungen geboten?
Die Zeit vergeht, und wir können kaum etwas anderes tun als zuzusehen, wie der Sturm an der Stadt zerrt und dreht. Jeder hockt in seiner eigenen mehr oder weniger guten Deckung und wartet auf die Strandung. Was jetzt nicht an Vorbereitungen getroffen worden ist, das wird auch nicht mehr gemacht. Vielleicht ist es auch deshalb relativ ruhig in diesem Kontrollturm und in der Leitwarte. Abgesehen von dem Wind, der überall herumtobt.
In einer Nebellücke erhasche ich einen Blick auf die Stadtoberfläche und auf das Meer. Inzwischen haben sich schon wieder große, gischtbedeckte Wogen gebildet und es wird viel Wasser auf die Stadtoberfläche geworfen. Überall rund um die Stadt herum schwimmt Geäst und anderes Holz im Wasser. Das heißt aber auch, daß die Wellen in der Lage sind, die Außenwand der Stadt mit harten Gegenständen zu malträtieren. Es gibt sicher schon Lecks, um die man sich normalerweise kümmern müßte, ganze Ströme, die sich stellenweise in das Stadtinnere ergießen.
Um 14:17 Uhr meldet sich die Leitwarte. Eine der Vortriebsmaschinen weit vorne im Sektor C25 scheint beschädigt. Die Schraube hat eine Unwucht. Wahrscheinlich Bodenkontakt. Wir können natürlich nichts tun als warten, bis diese Vortriebsmaschine ganz auseinanderfällt. Unter normalen Umständen würde man eine defekte Schraube ja nicht weiter betreiben. Aber wer macht das dem Stadtrechner klar?
Nur eine Minute später melden sie eine weitere gestörte Vortriebsmaschine, auch in Sektor C25. Und um 14:20 ist eine im Sektor C24 dran.
"Da fahren wir über irgendwas drüber." knurrt Rodrigo.
"Untiefe oder Wrack? Was meinst du?" frage ich. Michelson fühlt sich angesprochen:
"Untiefen sind ausgedehnter, und sie wären aus genau diesem Grunde bei den Lotungsarbeiten gefunden worden. Es muß ein Wrack sein. Die ganze Nordsee ist doch voll davon, und nicht alle stehen in den Karten. Nach den Ökokriegen hat sich niemand mehr die Mühe gemacht."
Das ist eine schlechte Nachricht. Ein Wrack könnte sich so zwischen der Stadt und dem Meeresboden verkannten, daß es von der vorbeidriftenden Stadt aufgestellt wird und dabei den Stadtboden massiv beschädigt. Nicht nur den Stadtboden - im Vergleich zu ihren horizontalen Abmessungen ist die Stadt ja nicht dicker als eine dünne Holztür. Eine dünne Holztür, durch die man hindurchschlagen kann.
Weitere Minuten vergehen. Es kommen keine Meldungen herein. Als um 14:22 keine weitere Schadensmeldung hereingekommen ist, wissen wir, daß Sektor C23 davongekommen ist. Aber das Glück hält nicht an. Um 14:28 - wir sind schon dabei, das Problem zu vergessen - kommt die nächste Meldung aus Sektor C19. Die Leitwarte teilt den Totalausfall einer Maschine in C19 mit, und wenig später stellen sie Wassereinbrüche fest.
Es ist niemand direkt dadurch bedroht, weil die tiefen Stockwerke, besonders diejenigen, die weiter von der vorderen Stadtkante entfernt sind, schon längst menschenleer sind. Aber genau in der Mitte der Stadt gibt es eine Unzahl wichtiger Datenleitungen.
In den nächsten Minuten häufen sich die Meldungen. Bis 14:33 entwickelt sich eine lange Schneise der Vortriebsmaschinenschäden und Wassereinbrüche in C18, C17 und C16.
Mir wird klar, daß sowohl die Leitwarte als auch die Programmierzentrale für den Stadtrechner in C13 liegen - in der geometrischen Mitte der Stadt, auf gleicher Höhe mit diesem Turm. Sie sind zwar in den mittleren Stockerken etwa zwanzig Meter vom Stadtboden entfernt, aber das ist keine Lebensversicherung. Sie sind genau auf dem Pfad der Schäden, und sie haben noch 5 Minuten Zeit. In fünf Minuten legt die Stadt drei Kilometer zurück - drei Sektoren.
Ich rufe beide Abteilungen an. Sie sollen sofort an die Oberfläche der Stadt und da für zehn Minuten bleiben, auch, wenn sie danach keinen trockenen Faden mehr am Leibe haben werden. Ich sehe widerstrebende Gesichter. Komisch, daß, bei der Abwägung von Naßregnen gegen einen anderen möglichen Schaden für Leib und Leben das Naßregnen immer noch so abschreckt. Ich formuliere den Befehl etwas deutlicher und setze noch einige Worte hinzu, die ich irgendwann Rodrigo abgehört habe. Das verstehen sie, auf diese Weise die klare Überlegenheit der Fäkalrhetorik demonstrierend. Das Visiophon wird dunkel.
Um 14:38 Uhr muß es soweit sein. Die Spannung ist unerträglich, denn ohne die Leitwarte erfahren wir überhaupt nicht mehr, was wann kaputt geht. Was werden sie mich jetzt verfluchen, wenn sie beim Zurückkommen merken, daß die Leitwarte und die Stadtrechnerzentrale keinen Schaden genommen haben. Es gibt da eine Dienstanweisung, daß man mit triefend nassen Klamotten nicht Räume mit elektronischer und datentechnischer Ausrüstung betreten soll. Das gilt also für die Leitwarte genauso wie für die Programmierzentrale des Stadtrechners. Aber da die zu erwartende Lebensdauer beider Einrichtungen schon deutlich unter zwei Stunden liegt, ist es egal.
Um 14:41 meldet sich Paul. Ich erkenne am Visiophon, daß seine Klamotten offenbar nicht durchgeregnet sind. Interessant.
Er sieht mich und sagt:
"Scheißwetter. Der Rechner tut es noch. Sagt er jedenfalls."
Ich sage nichts. Auch, als sich wenig später einer der Mitarbeiter der Leitwarte zurückmeldet. Deutlich erkennbar: Pudelnaß.
Wie erwartet sind viele Vortriebsmaschinen in C15, C14, C13, C12 und C11 beschädigt oder ausgefallen. Außerdem gibt es in allen dieser Sektoren massive Wassereinbrüche. Die Lebensdauer der Stadt wäre damit jetzt auf wenige Stunden beschränkt, insbesondere auch deshalb, weil einige der Vortriebsmaschinen, über die ganze Stadt verteilt, keine Verbindung mehr mit dem Stadtrechner haben. Das heißt, sie arbeiten noch, nehmen aber nicht mehr am Lastausgleich teil. Die mechanische Beanspruchung würde sich sogar schon bei einer unbeschädigten Stadt über kurz oder lang bemerkbar machen.
Ich rufe Paul wieder an:
"Paul, wie geht's deinem Virus?"
"Schlecht. Ich glaube, ich schaffe es nicht. Das Betriebssystem wehrt sich verbissen."
"Nimm's nicht so schwer. Kannst du von da aus den Stadtrechner abschalten?"
"Stromversorgung? Das kann nur die Leitwarte. Aber es ist noch ein bißchen früh dafür. Wir hatten es geplant für ..."
"Ich weiß, was wir geplant hatten. Wir haben schon vieles geplant. Die Stadt hält sich nicht dran, und das Wetter auch nicht. Hier regiert der Mitarbeiter Murphy."
"Der mischt immer mit." Paul's Tonfall klingt resignierend.
"Ich schlage vor, du kommst rauf. Wir schalten um 15:15 Uhr ab, dann werfen wir uns alle in die Tunnelbahnen, und ab nach vorne."
"Und wer steuert die Tunnelbahnen?"
"Scheiße, du hast recht." Daran hatte ich nicht gedacht. Die Verkehrssysteme der Stadt werden auch durch den Stadtrechner koordiniert.
Es ist 14:45 Uhr. Zu Fuß braucht man bis zur Vorderkante der Stadt eine Geschwindigkeit von genau zehn Kilometern pro Stunde, wenn man sofort losläuft und auf den durchgehenden Korridoren um 16 Uhr da sein will.
"Paul, wer ist noch bei dir?"
"Niemand."
"Geh in die Leitwarte. Ich komme auch. Dort zeigst du mir, wie man dem Rechner den Saft abschneidet. Oder du zeigst mir den, der es weiß. Oder weißt du es?"
"Ja, schon, aber ..."
"Das ist ein Befehl."
Ich schalte ab und rufe die Leitwarte an. Sie sollen sofort in die Tunnelbahnen und zur Vorderkante der Stadt fahren. Um 15:30 sollen sie unter allen Umständen die Tunnelbahnen wieder verlassen haben. Ebenso informiere ich noch besetzte technische Kontrollräume im vorderen Teil der Stadt.
Dann wende mich den beiden anderen zu:
"Habt ihr das mitgekriegt?"
Sie nicken.
"Ihr fahrt auch. Gehn wir."
Ich werfe noch einen Blick in die Runde. Der Sturm rüttelt am Turm. Ob er stehen bleiben wird? Der Strandungsstoß wird ihn kaum umwerfen, aber die Verformungen der sinkenden Stadt werden es möglicherweise schaffen. Dieser Teil der Stadt wird ja vollständig unter Wasser zu liegen kommen.
Außerdem ist der Turm funktionslos, wenn wir erst gestrandet sind. Noch trägt er funktionierende Scheinwerfer, aber denen wird die Energie dann auch über kurz oder lang wegbleiben.
Das war also mein Arbeitsplatz - so viele Jahre lang. Und nur ein paar Tage lang als Stadtkommandantin. Keine Sentimentalitäten, Joycelyn. Hau ab. Man ist an jedem Platz irgendwann ein letztes Mal.
Im Lift denke ich kurz daran, daß der Strom schon jetzt wegbleiben könnte. Dann säßen wir in der Falle. Aber die Treppe dauert zu lange.
Als ich in der Leitwarte ankomme - Rodrigo und Michelson sind vorher zu den Tunnelbahnhöfen abgebogen, ist Paul da und sonst niemand. Er steht vor einem geöffneten Schaltschrank.
"Soll ich dir diesen Schalter anmalen?"
"Ein Schalter? Ist das alles?" frage ich.
"Es sind mehrere. Der Rechner hat eine redundante Stromversorgung. Ich habe alle bis auf eine abgeklemmt, und das ist dieser Schalter. Das heißt, dieser Schalter schaltet den Strom für einen stärkeren Schalter ein, der wiederum ..."
"Ich habe über Elektrotechnik schon einmal etwas gehört!"
"Na gut. Dann weißt du ja Bescheid."
"Ja. Mein Dank wird triefend dir auf ewig nachschleichen. Aber jetzt haust du ab. Da ist die Tür."
"Und du?"
"3 Stunden und 28 Minuten auf der Marathonstrecke. Dann schaffe ich das Stückchen bis vorne wohl auch."
"Du läufst?"
"Hast du eine bessere Idee?"
"Die Stadt wird stranden, wenn du auf halbem Wege bist, ich meine, wenn du genau um 15:30 Uhr abschaltest!"
"Richtig!"
"Und was willst du dann tun?"
"Weiterlaufen."
"Und wenn der Korridor ..."
"Dann werde ich mir etwas einfallen lassen! Kannst du laufen?"
"Nein. Ich meine, nicht so."
"Dann hau endlich ab. Bald fahren keine Züge mehr."
Er steht da wie ein dummer Junge. Ob es seinen männlichen Stolz trifft, jetzt nicht den Helden spielen zu können, weil der Langstreckenlauf zufällig nicht zu seinen Passionen gehört?
"Worauf wartest du? Ich werde mich hier nicht langweilen! Ich werde es genießen, diesem Blechkasten das Lebenslicht abzudrehen!"
Paul geht langsam zur Tür, unsicher.
"Im Laufschritt!" rufe ich ihm nach. Es wirkt tatsächlich - er geht etwas schneller. Dann schlägt die Tür hinter ihm zu.
Joycelyn, hast du dir das gut überlegt? Paul könnte jetzt der letzte Mensch gewesen sein, den du in deinem Leben, das vielleicht in einer Stunde zu Ende ist, gesehen hast.
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