36. Der Läufer und die Läuferin
15 Uhr. Eine Stunde und 36 Kilometer bis St. Peter Ording. 36 Kilometer für die vordere Stadtkante, heißt das.
Nein, es ist schon später. Ich sehe über die zahllosen Bildschirme und Anzeigegeräte der verwaisten Leitwarte. Überall schreit die Stadt ihren technischen Schmerz und ihre zahllosen Leiden heraus. Überall müßte massiv repariert oder auf irgendeine andere Weise eingegriffen werden. Und das wird nicht geschehen, nie mehr.
In etwas über einer Stunde werden die vielen Geräte mangels Strom verlöschen. Den genauen Zeitpunkt weiß ich nicht. Und ebenso weiß ich nicht, wann das Wasser diesen dann verdunkelten Raum erreichen wird. Und genau so wird dieser Raum dann bleiben, für sehr lange Zeit.
Hat es nicht ein Schiff eines dänischen Königs gegeben? Die 'Wasa'? Sie ist gehoben worden, nach langer Zeit unter Wasser. Diese Stadt wird niemand heben können. Es gibt auch keine Museen dieser Größe - nebenbei, was hat man mit jenem Schiff gemacht, als die Erde endgültig geräumt wurde? Was hat man mit den Museumsinhalten gemacht, die auf der ganzen Welt verstreut waren, und die man nicht mitnehmen konnte? - Ich stelle fest, daß ich es nicht weiß. Soviel über diesen Planeten weiß ich nicht, obwohl ich den wesentlichsten Teil meines Lebens hier verbracht habe. Dabei war das doch eigentlich auch ein Grund, diesen Beruf zu wählen! Aber die tägliche Routine, die Müdigkeit nach Dienst. Keine Lust mehr, sich mit ernsthaften Dingen zu beschäftigen. Eine ganze Kultur, eine ganze Geschichte - für mich folgenlos vorbei. Dabei war ich doch an der Quelle - erstens Bewohner des Planeten Erde selbst, und zweitens über die elektronischen Medien in der Lage, mir jedes und alles an Information zu verschaffen, was je geschrieben oder sonstwie niedergelegt wurde. Alle Zeit nicht genutzt. Einfach nur gelebt. Was habe ich falsch gemacht? Was machen die anderen falsch - niemand, den ich kenne, benutzt sine Zeit dazu, sich intensiv mit dem, was die Menschheit an Kultur gemacht hat, intensiv zu beschäftigen. Ist die ganze Kindheit der Menschheit auf der Erde umsonst gewesen? Diese Kindheit, die jetzt definitiv zu Ende gehen wird?
Ich schüttele die Gedanken ab. Ich bin zu pessimistisch. Es ist ja nicht so, daß sich niemand mehr mit diesen Dingen beschäftigt. Aber man kann sein ganzes Leben nicht damit verbringen, indem man in die Vergangenheit schaut. Und die Zukunft zu bewältigen, das heißt auch, das Tagesgeschäft zu bewältigen. Das hast du doch getan, Joycelyn. Kein Grund für übertriebenen Kulturpessimismus. Die Museumsschätze. deren Original noch in verschiedenen Ruinen auf diesem Planeten verfallen mögen, sind nicht umsonst geschaffen worden. Hast du das nicht verstanden, in deinen technischen Anfangsvorlesungen? Bei jeder Berechnung geht Information verloren. Entsteht Entropie. Und die ganze Geschichte ist ein gigantischer Berechnungsvorgang, von dem wir noch nicht wissen, was dabei rauskommen wird, und wozu es gut sein wird. Aber die Zwischenergebnisse waren nicht umsonst. - Ich versuche, mich zu erinnern, wer von meinen Lehrern mir diese Sache so dargestellt hat. Es fällt mir nicht mehr ein. Auch ein Zwischenergebnis, das verschwunden ist.
Cheer up, Joycelyn! Sei stolz darauf, daß du dieses gigantische Spiel des Lebens, der Evolution und der menschlichen Geschichte mitspielen darfst. Das heißt leben. Dieses Leben gilt es, zu retten, dins und das von anderen. Es ist sinnvoll, was du machst.
15:05 Uhr. 55 Minuten und 33 Kilometer bis zur Strandung.
Ich rechne mir eigentlich gute Chancen aus. Wenn die Stadt aufläuft, werden zwar überall neue Lecks durch die globale Verformung auftreten und zahllose neue Salzwasser-Quellen im Stadtboden entstehen. Aber ein Volumen von einigen Kubikkilometern vollständig zu füllen kostet schon seine Zeit. Die Korridore werden sich wahrscheinlich nicht bis zur Unbenutzbarkeit verwinden, und ich hoffe, daß ich einstürzenden Mauern noch ausweichen kann.
Wie ein Schloßgespenst gehe ich durch die Reihen mit den vielen Schaltkonsolen, Anzeigeskalen und Bildschirmen. Da ist die Verbindungskonsole zur Funkstation. Ich könnte jetzt die Orbitalstationen anrufen, wenn ich wollte. Will ich aber nicht.
Da sind auch Geräteschränke. Ich gehe hin und nehme mir eine handliche Stablampe heraus. Dabei fällt mir ein, daß ich für mich selbst überhaupt nicht vorgesorgt habe, was die Zeit nach der Strandung berifft. Die Temperaturen draußen sind nicht das, was man komfortabel nennen kann.
15:10 Uhr. 50 Minuten und 30 Kilometer bis zur Strandung.
Ich sichte den Geräteschrank weiter. Da sind noch viele nützliche Dinge, aber die Tragekapazität einer Läuferin ist natürlich beschränkt. Ich würde sogar auf die Lampe verzichten, wenn ich überzeugt wäre, daß überall Notbeleuchtung vorhanden sein wird. Aber da in dieser Stadt schon lange nichts passiert ist, was zu einem Test der Notfalleinrichtungen Anlaß gegeben hätte, will ich mich darauf lieber nicht verlassen.
Wenn ich in meinem Leben noch einmal Stadtkommandantin einer anderen solchen Stadt werden sollte, dann werden regelmäßige Notfallübungen alltäglich werden. Vielleicht kann man das sogar in eine aufregende Veranstaltung für die zahlenden Touristen umfunktionieren. Wenn und vielleicht. Das Versprechen ist billig: Wahrscheinlicher wird es ja nie wieder eine solche Stadt geben.
Ich versäume auch nicht, auf die Toilette zu gehen. Nach 15:30 werde ich dazu keine Zeit haben, und vermutlich bleibt das so bis nach der Strandung. Das sind diese Kleinigkeiten, die einem das Leben etwas leichter machen, wenn man nur rechtzeitig daran denkt.
Mit was substituiert man in freier Natur eigentlich Toilettenpapier? In 24 Stunden werde ich das gelernt haben.
15:15 Uhr. 45 Minuten und 27 Kilometer bis zur Strandung.
Die Kollegen müßten teilweise schon die vordere Stadtkante erreicht haben. Leider bietet die Leitwarte keine mir bekannte Möglichkeit, nachzusehen, ob noch Menschen in den Zügen sind, und es ist niemand mehr hier, den ich fragen könnte.
Über den vielfachen elektronischen Geräuschen liegt das Grollen des Sturmes über mir. Ich würde mich wesentlich wohler fühlen, wenn ich an der Oberfläche laufen könnte, und bei gutem Wetter hätte ich das auch getan. Aber es muß ja immer alles zusammenkommen. Bei einem Roman würde man sagen: Typisch: Die Autorin hat wieder keine andere Idee gehabt, um Spannung zu erzeugen, als die, möglichst viele unglückliche Umstände in unwahrscheinlicher Weise zusammentreffen zu lassen.
Aber dieses ist kein Buch. Dieses ist die Wirklichkeit, und ich bin mitten drin. Ein Buch ist nur spannend. Man kann es zuschlagen und etwas anderes machen. Die Wirklichkeit kann man nicht zuschlagen. Dafür kann die Wirklichkeit zuschlagen. Ich weiß, das ist kein Grund, zu hadern. Ohne die Möglichkeit des intensivsten Kontaktes mit der Wirklichkeit hätte sich unser Geist nicht entwickelt, weder evolutionär noch bei jedem einzelnen im Laufe seines Aufwachsens. Trotzdem, die Schläge der Wirklichkeit können gnadenlos sein: Leben ist, dasselbe verlieren zu können.
15:20 Uhr. 40 Minuten und 24 Kilometer bis zur Strandung. Und der Rechner hat jetzt noch zehn Minuten zu leben.
24 Kilometer. Ein bißchen mehr als ein Halbmarathon. Da fühlt man sich noch wohl. Für eine gesunde Läuferin sind 24 Kilometer nichts. Allerdings nicht bei diesem Wetter. Normalerweise laufe ich immer durch den Stadtwald - dieses Mal wird es das erste Mal sein, daß ich in den Korridoren laufe. Und natürlich auch das letzte Mal.
Die meteorologische Station ist jetzt auch nicht mehr besetzt. Ob sie daran gedacht haben, weitergehende Voraussagen anzufertigen und mitzunehmen? Joycelyn, du hast ja auch nicht daran gedacht. Erwarte nicht zuviel.
Jetzt fällt mir auch wieder ein, daß wir ja eigentlich noch die Sandbank aus der Luft genau vermessen wollten, damit die ISAAC ASIMOV landen kann. Hoffentlich haben wir noch ein paar Flugzeuge übrig, wenn der Orkan vorbei ist. Was haben wir denn noch alles vergessen? Was habe ich alles vergessen?
Einen Moment kommt mir die Idee, ob es an der Zeit wäre, berufliche Planungen für die Zukunft zu machen. Dann scheint mir das absurd. Allerdings sieht der Arbeitsmarkt für Stadtkommandantinnen, Schichtleiterinnen und Technikerinnen des nautischen Dienstes schlecht aus.
15:25 Uhr. 35 Minuten und 21 Kilometer bis zur Strandung. Weniger als ein halber Marathon. Noch fünf Minuten für den Rechner.
Fasziniert sehe ich den Schalter an. Wie viele komplexe Vorgänge werden jetzt abgewürgt, wenn ich ihn drehe. Die Regelung des Zuflusses der Auftriebszellen, zum Beispiel. Jede wird mit maximaler Rate vollaufen, ohne Rücksicht auf statischen Randbedingungen. Jetzt spielt das keine Rolle mehr. Dadurch, nämlich durch die unkoordiniert vollaufenden Auftriebszellen und durch die ungeregelt laufenden Vortriebsmaschinen wird die Stadt in der verbleibenden Zeit keinen wesentlichen zusätzlichen Schaden mehr erleiden.
Und natürlich, jedem Blödsinn, den der Rechner noch anstellen könnte, wird auf diese Weise auch vorgebeugt. Auch dem vorhersehbaren sinnvollen Blödsinn, der dadurch eintreten wird, daß die nautischen Funktionen die drohende Strandung schon längst zur Kenntnis genommen haben. Mit Sicherheit werden oben, im Turm und wahrscheinlich auf einigen Bildschirmen hier in der Leitwarte schon die Warnhinweise zu lesen sein. Ich mache mir aber nicht mehr die Mühe, nachzusehen.
Jetzt müssen meine Kollegen an der vorderen Stadtkante angekommen sein. Die Tunnelbahnen sind schnell genug, aber ohne die Rechnersteuerung werden sie festsitzen. Eigentlich kann ich keine Rücksicht mehr darauf nehmen, daß etwas dazwischen gekommen sein könnte. Aber was sollte schon passiert sein? Der vordere Teil der Stadt ist immer noch relativ unbeschädigt.
15:30 Uhr. 30 Minuten und 18 Kilometer bis zur Strandung. Es ist Zeit. Ich gebe dem Rechner noch dreißig Sekunden mehr, bis ich den soliden Griff umdrehe. Er rastet vertrauenerweckend ein. Vielleicht hat irgendjemand diese dreißig Sekunden noch dringend benötigt. Aber dieses Argument kann man auch für jede andere Zeitspanne formulieren.
Nichts geschieht, wenn man davon absieht, daß sich auf einigen Bildschirmen Inaktivität ausbreitet und auf anderen Warnungen erscheinen. Alle möglichen intelligenten Peripheriegeräte und sekundären Computer in der ganzen Stadt werden an der Demission des Stadtrechners Anstoß nehmen. Niemand hat Übersicht darüber, was alles an Funktionalität am Stadtrechner hängt. Das kann man auch von einer Stadtkommandantin nicht verlangen. Ein Wikingerboot war einfacher zu steuern.
Jedenfalls ist die Beleuchtung unverändert. Auch das hätte passieren können und kann auch immer noch passieren: Irgendeine Wechselwirkung der Funktionen des Stadtrechners mit der allgemeinen Brauchenergieversorgung, die sich jetzt in allgemeinem Blackout ausgewirkt hätte.
Ein kurzer Blick in die Runde. Dann bewege ich mich zur Tür und verfalle sofort in den Laufschritt. Diese Fortbewegungsart ist in der Leitwarte eigentlich unüblich. Es ist vielleicht noch nie vorgekommen, und es wird auch nie wieder vorkommen.
Wenig später renne ich über einen der zentralen Korridore. Wahrscheinlich mit meiner üblichen Laufgeschwindigkeit von 11 bis 12 Kilometern in der Stunde. Links und rechts ziehen Parks vorbei. Später werden die Korridore von Geschäften gesäumt sein, aber hier, im Zentrum der Stadt, liegen viele Verwaltungseinrichtungen, und die pflegt man immer durch ansprechende parkartige Anlagen aufzuwerten.
Aus einem dichten, undurchdringlichen Rhododendrongebüsch fegt ein Schatten hervor. Sekunden später läuft Paul neben mir.
"Was machst du denn hier?" fahre ich ihn an.
"Ich hatte einen Sohlenabriß. Deshalb bin ich weiter vorne in ein Schuhgeschäft eingebrochen und habe mir neue Schuhe besorgt. Dann war nicht mehr genug Zeit für die Tunnelbahn."
Er lügt. Zum Tunnelbahnfahren hätten auch defekte Schuhe genügt, und er hätte sich später woanders neue Schuhe besorgen können, noch vor der Strandung der Stadt.
Er lügt, aber die Erklärung ist zunächst plausibel und ich kann ihn nicht direkt rügen. Dieses alberne Bedürfnis der Männer, gelegentlich den Beschützer spielen zu wollen, ist manchmal sehr lästig. Und wer wen beschützen wird, das wird die Zukunft zeigen: An seinem Laufstil sehe ich, daß er vielleicht Leichtathletik getrieben hat, aber vom Langstreckenlauf ist er reichlich unbeleckt. Er wird ganz schön fertig sein, nach den zwölf Kilometern, die wir vor uns haben. Wahrscheinlich schon früher.
"Hättest du nicht auch noch eine Lampe stehlen können? Ich weiß nicht, wie lange die Beleuchtung noch funktioniert. Und wenn ich nicht diesen Korridor entlanggekommen wäre, dann sähest du alt aus!"
"Soviel Zeit war nicht!" verteidigt er sich. Das glaube ich. Insbesondere auch deshalb, weil dieser Korridor auch weiterhin zunächst noch von exotischen Parkpflanzungen gesäumt ist. Bin neugierig, was er sagt, wenn sich herausstellt, daß wir in nächster Zeit an gar keinem Schuhgeschäft vorbeikommen sollten.
Ein kurzer Blick auf seine Füße belehrt mich allerdings darüber, daß er in der Tat andere Schuhe hat. Laufschuhe. Na warte. Nagelneue, nicht eingelaufene Laufschuhe und keine Lauferfahrung. Hoffentlich muß ich ihn die letzten fünf Kilometer nicht schleppen. - Ach was, das muß ich nicht. Und wenn sein Blut seine Sohlen tränkt, ich werde ihn vorwärts jagen. Niemand stirbt an Wund-Blasen.
15:35 Uhr. 15 Kilometer bis zur Strandung. Wir müßten etwa einen Kilometer hinter uns haben. Hinter einigen im Gebüsch versteckten Sportplätzen tauchen die ersten Geschäfte auf. Schon in einem der allerersten, einer Pizzeria, sehe ich eine Bewegung.
"Du dickes Ei," sage ich, "lauf weiter! Ich seh mal nach. Da ist ja noch jemand drin!"
Paul läuft nicht weiter, sondern folgt mir in den Gastraum, wahrscheinlich dankbar für die Laufpause. Dieser Heuchler. Als wir zwischen den leeren Tischen und Stühlen auf den Mann zugehen, der hinter der Theke sitzt und uns gar nicht beachtet, schnauft er immer noch. So ist es mit seiner Kondition bestellt. Na Prost Mahlzeit!
Der Mann hinter der Theke macht einen biederen und definitiv betrunkenen Eindruck. Er ist unrasiert und paßt so hervorragend in die unaufgeräumte Kulisse. Vor sich auf dem Tisch steht eine kalte, noch nicht angebrochene Pizza und verschiedene Flaschen. Es stinkt, aber ich weiß nicht, wonach.
"Warum sind sie nicht zur vorderen Stadtkante gegangen? Haben Sie die allgemeinen Aufforderungen nicht gehört?" frage ich den Mann, der uns bis jetzt immer noch nicht angesehen hat. Er muß etwa fünfzig sein. Statt einer Antwort hebt er die eine Flasche, die er in der Hand hat, und trinkt direkt daraus mit langen Zügen. Die Flasche sieht teuer aus - vermutlich ein alkoholisches Getränk.
"Sie werden eine Alkoholvergiftung bekommen, wenn sie das Zeug so pur trinken!" stellt Paul fest.
"Ach was? Werde ich das?" Mit unstetem Blick nimmt er uns endlich zur Kenntnis.
"Sehe ich vielleicht betrunken aus? - Ach was. Bin ich doch schon längst. Aber ich muß noch viel betrunkener werden."
Er nimmt eine andere Flasche. Sieht aus wie Whisky, soweit ich das beurteilen kann. Steht auch drauf. Auch hier nimmt er nicht den Umweg über ein Glas.
"Bah. - Wissen Sie, was ich bin? Ein Feigling bin ich, das ist es, was ich bin. Meine Frau - die war anders. Das Zeug, das wir gegen die Insektenlarven in den Vorratskisten haben, hat sie in eine Pizza gemischt, hat es den Kindern gegeben und selbst gegessen. 'Was ist das noch für ein Leben?' hat sie gesagt und recht hat sie. Das ganze Leben haben wir uns dieses Geschäft aufgebaut, und jetzt wird alles zu Schrott gefahren. Was ist denn das noch für ein Leben?"
"Es wird Schadenersatz geben, für alles in der Stadt!" werfe ich ein.
"Schadenersatz. Wird es eine neue Stadt geben? Hat sich was mit Ihrer schönen Stadt. Ich kann da nicht leben, nicht auf den Außenwelten. Immer in Plastikkuppeln. Ich brauche den Himmel. Den Sturm. Das haben sie uns doch schon so lange weggenommen. Scheiß-Welt-Entvölkerungskonferenz. Ein Mensch braucht seine Erde unter den Füßen, sonst ist er kein Mensch."
Ich habe den Eindruck, daß es jetzt nicht an der Zeit ist, die Politik der WBK zu diskutieren.
"Ich bin hier aufgewachsen." fährt er fort. "Meine Frau ist hier aufgewachsen. Unsere Kinder. Wir haben die Illusion einer richtigen Welt noch gehabt. Alles kaputt." Noch ein Zug aus der Flasche. Sollte ich versuchen, ihm die vergiftete Pizza wegzunehmen? Ich habe das Gefühl, er würde mich nicht lassen.
"Joycelyn, wir müssen gehen. Du kannst hier nichts mehr tun!" flüstert Paul mir zu.
Der Mann fixiert mich genauer. Erkennt er mich?
"Alles kaputt," wiederholt er, "bloß, weil so eine großkopferte Göre nicht weiß, wie man eine Stadt steuert. Alles kaputt."
Dann stiert er wieder vor sich hin und fängt an, mit bloßen Händen, Stücke von der Pizza abzureißen und in den Mund zu stopfen. Paul zieht mich energisch hinaus. Von der Tür aus sehe ich noch, wie der Mann aufsteht, immer noch die Pizza in sich hineinstopfend, und durch die Küche nach hinten geht.
"Marreiken ... jetzt komme ich. Ich komme! Marreiken!"
Das ist das letzte, was ich von ihm höre und sehe.
Als wir Minuten später wieder über den Korridor laufen, habe ich noch öfter den Eindruck, als ob hier und dort noch Menschen in der Stadt sind. Manchmal ist es ein Schatten in einem der Geschäfte, manchmal auch nur ein unbestimmtes Gefühl einer Gegenwart. In keinem Falle sehen wir noch einmal nach.
15:50 Uhr. Noch zehn Minuten und sechs Kilometer bis zur Strandung. Es kann natürlich sein, daß wir eine tiefere Sandbank bei unseren Lotungen übersehen haben. Dann wird es noch schneller passieren. Während wir laufen, versuche ich, den Ausdruck 'Großkopferte Göre' aus meinem Bewußtsein zu verbannen. Es gelingt sehr schlecht. Eigentlich gelingt es gar nicht. 'Großkopferte Göre, die nicht weiß, wie man eine Stadt steuert.' Scheißgefühl.
Im Moment laufen wir durch ein Stadtviertel mit Farmbetrieben. Die Geschäfte sind wieder dünner gesäht, dafür sind die Seiten des Korridors wieder durch exotische Pflanzen gesäumt. Dann führt der Korridor über eine Brücke, und unter uns zieht ein weiter Schwimmbadteich vorbei. Normalerweise würde das Zwitschern von hunderten von Kinderstimmen zu uns hinaufdringen. Jetzt liegt der Teich leblos da, und die Wälder mit den eingestreuten Liegewiesen an seinem Ufer schweigen. Ein Teich auf einem fernen Planeten, unter einem leuchtstoffarbenen Himmel. Noch stehen sie im Lichte der zahllosen Lampen, die eine möglichst natürliche Beleuchtung erzeugen sollen. Noch laufen die Reaktoren, die diese Lampen versorgen. Natürlich ist es Blödsinn, aber mir kommt der Gedanke, ob dieser Wald weiß, daß seine künstlichen Lichtquellen bald verlöschen werden.
Bevor der See aus unserem Blickfeld verschwindet, sehe ich in einiger Entfernung etwas auf dem See treiben, das unverkennbar die Umrisse eines menschlichen Körpers hat. Eine mit einem Badeanzug bekleidete weibliche Leiche. Oder, aus unserer Entfernung ist es ja kaum zu entscheiden, jemand, der sich in Verkennung der bedrohlichen Situation das Vergnügen gönnt, sich auf dem jetzt menschenleeren Teich treiben zu lassen.
Ich weiß nicht, ob Paul es gesehen hat, und ich ignoriere es auch. Wir können uns nicht um jeden Menschen kümmern, den wir jetzt noch vorfinden.
Auch um den nächsten nicht. Er liegt mitten auf dem Korridor. Dem Aussehen und der Kleidung nach ein Geschäftsmann. Sein Kopf ist deformiert und liegt in einer Blutlache, die schon eingetrocknet ist. Da hat irgendjemand noch das Durcheinander der Evakuierung für eine spontan ausgeführte Straftat genutzt. Ich kann es nicht ändern, daß auch diese Stadt ihren sozialen Bodensatz hat, für den eine Stadtkommandantin auch ihre Arbeit tut, genau wie für jeden anderen. Und der Täter wird unter den Geretteten sein ...
Paul und ich halten nicht einmal an. Und keiner von uns hat angenommen, daß der andere anhalten würde.
Gerade noch denke ich während des Laufens darüber nach, wie unbeschädigt die Stadt in diesem Viertel ja noch aussieht, und wie leicht einfache, zur Abstraktion weniger gut befähigte Gemüter daraus schließen könnten, es sei ja noch alles in Ordnung, da reißt uns ein grollendes Knirschen aus unseren Gedanken. Nach wenigen Sekunden kommt das deutliche Geräusch zerreißenden Metalles hinzu, und das Rauschen eindringenden Wassers.
Das nach kurzer Zeit alles übertönenden Geräusch kommt von links, soweit wir blicken können, gibt es aber keine sichtbare Veränderung, auch in den abbiegenden Seitenkorridoren, an denen wir von Zeit zu Zeit vorbeilaufen, ist nichts zu sehen.
Wir legen einen Schritt zu. Für eine Hobby-Läuferin, für die 12 Kilometer pro Stunde schon schnell ist, ist ein längerer Lauf mit 13 oder 14 Kilometern pro Stunde zwar schon eine starke Belastung, aber es sind ja auch außergewöhnliche Umstände, und der Adrenalinspiegel ist die ganze Zeit sowieso höher als gewöhnlich. Ich werde meine Gelenke am Ende dieses Tages spüren.
Dieser Korridor befindet sich etwa zwanzig Meter über dem Stadtboden. Es können also ganz erhebliche Schäden am Stadtboden durch Grundkontakt entstehen, ohne daß wir hier in Gefahr sind. Aber genauso wahrscheinlich können sich größere strukturell zusammenhängende Baueinheiten so verkanten, daß die ganze Stadt durchstoßen wird.
Ich vermute, daß das Geräusch dadurch verursacht wurde, daß Vortriebsmaschinen Grundkontakt hatten. Vielleicht hat die Stadt soeben eine Antriebsschraube verloren.
Währen wir uns langsam wieder von dem Geräusch entfernen, spüre ich in den Sohlen das Zittern des Bodens. Und irgendwo aus der Richtung, in die wir laufen, kommt das deutliche Geräusch entweichenden, hochgespannten Dampfes.
Dann ist plötzlich Wasser auf dem Boden des Korridors. Es wird tiefer, je weiter wir laufen, und irgendwo da vorne ist das Geräusch fallenden Wassers zu hören. Dann sehen wir auch schon die Wasserfäden, die aus der Installationsetage über dem Korridor fallen. Wenig später müssen wir an ordentlichen Sturzbächen vorbeilaufen, und das Wasser ist etwa einen Fuß tief.
Ich sehe organische Reste - Blätter, Aststücke, Erde - die vom Wasser mitgespült werden. Es muß von der Oberfläche kommen, vielleicht durch nachlässig geschlossene Zugänge zum Stadtwald an der Oberfläche. Diese Hypothese wird auch verstärkt durch einen kühlen Wind, den wir eine ganze Zeitlang spüren. Dann nimmt die Wassertiefe auf dem Korridorboden wieder ab.
Die Illusion einer möglicherweise unbeschädigten Stadt kann man sich aber nun nicht mehr machen. Die Anzeichen mehren sich von Minute zu Minute.
Rechts und links sind wieder Geschäfte und Straßencafes. Stellenweise ist der Bewuchs mit exotischen Pflanzen so dicht, daß man sich hier an der Seite des Korridors niederlassen und einen Kaffee bestellen könnte, ohne etwas vom Korridor selbst zu sehen. Allerdings würde uns zur Zeit wohl kaum jemand bedienen.
Als der Korridorboden wieder entgültig trocken ist, wird es 16:03. Die Strandung müßte eigentlich schon längst erfolgt sein. Oder die Anzeichen sind hier unauffällig. Es kommen zwar aus den verschiedensten Richtungen Geräusche, die man in der intakten Stadt üblicherweise nicht gehört hat, aber keines davon deutet definitiv auf die Strandung hin. Uns kann es nur recht sein. Je weniger Hindernisse bei unserem Lauf, desto sicherer werden wir die vordere Stadtkante erreichen.
Allerdings habe ich in meinen Fußsohlen den Eindruck, als ob der Boden ständig zittert. Normalerweise ist der Stadtboden bewegungslos, wie festes Land, selbst bei Sturm und nahe den Außenwänden. Eine Auswirkung der bloßen Größe der Stadt. Als ich Paul bitte, für einige Sekunden anzuhalten, spüre ich es in der Tat deutlich: Der Boden zittert andauernd.
Als wir gerade weitertraben wollen, ruckt der Boden deutlich. Gleichzeitig treibt uns ein betäubendes Krachen die Ohren in den Kopf. Weit vor uns fällt eine einzelne Lampe aus, aber sonst ist nichts zu sehen. Das explosionsartige Krachen geht in ein Brausen über, begleitet von dem Knirschen aufeinandergleitender Metallteile. Immense Mengen Heißdampf, vermute ich - einbrechendes Wasser hört sich anders an. Wie gut, daß wenigstens noch ein paar Wände zwischen der Ursache dieser Explosion und uns sind. Heißdampf könnte uns sehr rasch das Lebenslicht ausblasen.
Wir reden nicht, aber wir laufen so schnell, wie wir können. Ob es ein Fleischmann-Pons-Reaktor war?
Als wir uns von der Geräuschquelle weiter entfernen, wird in der Ferne vor uns wieder das Kreischen von zerreißendem Metall hörbar, gedämpft und dumpf durch vielerlei Wände zwischen dort und hier. Von rechts dröhnt dumpf ein Grunzen herüber, als ob ein gigantisches Wildschwein den Stadtboden aufgrübe. Auch von dort ist das Gurgeln und Rauschen eines großen Wasserstromes zu hören. Hinter uns röchelt und stöhnt etwas. Dann flackert die gesamte Beleuchtung, bleibt dann aber doch noch stabil. Da war wohl noch ein funktionsfähiger Ersatzstromkreis.
Und dann gibt es weitere, dumpfe Explosionen - alle weiter weg, aber in kurzer Abfolge. Hörte es sich so an, als Städte bombardiert wurden, in den beiden Weltkriegen und in den Ökokriegen? Die Stadt scheint jetzt nicht mehr zur Ruhe zu kommen. Zuviel Energie ist noch in den verschiedensten Aggregaten gespeichert, allen voran in den Heißwasser und Heißdampf-Inventar der Fleischmann-Pons Reaktoren. All diese Energie neigt dazu, Schäden anzurichten, wenn sie nicht mehr durch eine funktionierende Maschinerie gebändigt wird.
Wir halten beide das maximale Tempo, das unsere Kondition uns gerade noch erlaubt. So ungemütlich es auf der sturmumtosten Vorderkante der Stadt jetzt sein mag, es ist auf jeden Fall sicherer als hier. - Durchatmen, denke ich, im Laufrhythmus, nicht stolpern, präzise und konzentriert bewegen, auf Hindernisse achten - jetzt bloß keinen Sturz.
Dann, es fährt uns durch Mark und Bein, dringt aus einem der Seitenkorridore zur Linken das ferne aber gellende Schreien einer menschlichen Stimme. So schreit man nur, wenn es unmittelbar ans Leben geht - wenn sich einem ein Stahlträger durch den Bauch bohrt oder wenn man durch plötzlichen Heißdampf gesotten wird.
Paul berührt mich an der Schulter. Jaja, natürlich. Keinen Umweg. Wir laufen weiter. Die Zeit der Samariter ist vorbei. Denk an etwas anderes, Joycelyn - wenn du es wärest, die da jetzt ihren letzten Schrei ausstieße, niemand käme, um deine Hand zu halten, und niemand wüßte je um deine letzte Ruhestätte. Der Tod in der Stadt, die selber ihren Todeskampf führt, ist nicht heroisch - er ist elendiglich. Vielleicht bleibt nur ein beschmierter Stahlträger, oder blutfleckiges Betonmehl, und wenig später wird das Salzwasser alles durchwaschen, und gar nichts bleibt mehr übrig.
Nach vielleicht zwölf Sekunden verstummt das Schreien und kommt nicht wieder. Dafür grollt und schleift es jetzt direkt unter unseren Füßen. Ein Poltern, als ob schwere Aggregate umfallen, dann das unvermeidliche Rauschen einstürzenden Wassers. Als ob es nur auf dieses Signal gewartet hätte, kommt plötzlich wieder Wasser aus dem Installationsdeck über dem Korridor, erst tröpfelnd, dann Sturzbäche. Mit lautem, scharfen Knall funkt es hinter uns in der Decke, weißes, blendendes Licht wirft unsere Schatten nach vorne. Die gesamte Korridorbeleuchtung verlöscht und flammt wieder auf. Erneute Funken.
Ich sehe mich kurz um. Da fallen zwischen den Sturzbächen des Wassers glühende Metallteile von der Korridordecke herunter. Es sieht nicht so aus, als sei es ungefährlich, jetzt dort hindurch zu laufen. Gottseidank sind wir schon einige hundert Meter weiter.
Ein erneuter Blitz brennt sich in meine Netzhaut ein. Danach sehe ich nichts mehr. War es so hell, daß es mir das Augenlicht ...
"Mach die Lampe an, Joycelyn! Nun mach schon!"
Verglichen mit der reichlichen Normal-Beleuchtung des Korridors ist die Stablampe trüb. Ich schalte sie vorübergehend auf die maximale Lichtstärke. Trotzdem tanzen mir noch bunte Flecken vor den Augen, die der Orientierung nicht gerade förderlich sind.
So laufen wir weiter durch die sterbende Stadt. Jetzt, ohne die allgemeine Beleuchtung, scheinen überall Gefahren zu lauern, und die akustischen Mitteilungen darüber treffen aus allen Richtungen ein. Die Insel aus Licht, die wir uns selbst schaffen und in der wir uns bewegen, gibt vielleicht die Illusion der Sicherheit - gleichzeitig scheinen wir aber von übelwollenden Mächten umzingelt zu sein. Das Rauschen unter unseren Füßen scheint mir besonders bedrohlich. Wie lange noch, bis das Wasser das Korridorniveau erreicht hat?
Immerhin kann ich mich zu einer richtigen Entscheidung beglückwünschen: Keine Spur irgendeiner Notbeleuchtung. Ohne die Lampe wäre es jetzt sehr schwierig für uns.
Ein Blick auf die Uhr. 16:15 Uhr. Das vordere Ende der Stadt muß sich schon fest in die Sandbank gegraben haben. Ein Landemanöver, bei dem die Stadtkommandantin nicht zugesehen hat. Aber wie hätte ich das denn tun sollen?
Wir müssen noch etwa zwei bis drei Kilometer bis zum vorderen Ende der Stadt zurücklegen. Ich überlege mir, daß es vielleicht einfacher wäre, jetzt an der Oberfläche der Stadt weiterzulaufen. Aber vielleicht auch nicht: Wenn die Stadt durch ihre erheblichen Bodenbeschädigungen soviel Wasser aufnimmt, daß sie teilweise schon unter Wasser liegt, dann liegt in diesem Korridor unsere einzige Chance. Denn dann hätten wir über unseren Köpfen bereits Nordseewasser. Kein angenehmer Gedanke. Dann müßte man allerdings auch bemerken, daß der Korridor leicht bergauf führt. Davon kann ich jetzt nichts feststellen. Wir haben allerdings auch keine Zeit für systematische Experimente.
Einige Minuten lang geschieht nichts. Einige Minuten heißt für uns: ein weiterer Kilometer. Wir überlaufen eine Zone, in der kein Wasserrauschen aus der Tiefe zu vernehmen ist, und dann sind wir wieder über einer anderen Quelle, die uns bedrohlich aus der Tiefe zugurgelt.
Dann ist plötzlich Schlamm auf dem Korridorboden. Es wird sehr schnell so tief, daß an ein Laufen nicht mehr zu denken ist. Soweit der Strahl der Stablampe reicht, hört der Schlamm nicht auf. Vermutlich, das heißt, ganz sicher ist er von der Stadtoberfläche hierher gespült worden, aber wie, das können wir nicht erkennen.
"Durch oder drüber?" frage ich Paul. Das ist mehr als eine rhetorische Frage. Wir könnten uns wahrscheinlich auch in höheren Stockwerken vorarbeiten, aber ohne diesen Hauptkorridor kann man eventuell die Orientierung verlieren. Ich habe überhaupt keine Lust, wieder in das Stadtinnere zu marschieren. Wir haben auch keinen Kompaß, und selbst wenn wir einen hätten, ein magnetischer Kompaß ist im Inneren oder sogar nur in der Nähe der Stadt zur Richtungsfindung etwa so nützlich wie Monatsbeschwerden.
"Ganz rauf," entscheidet Paul, "das muß noch möglich sein."
Es ist ein bißchen schwierig, die Hinweisschilder auf den nächsten Aufgang in den Stadtwald zu finden. Wir müssen in einen Seitenkorridor einbiegen - der wieder völlig ungeschädigt und sauber aussieht - und der führt in ein Treppenhaus. Hier können wir das erste Mal den Strahl der Stablampe zwischen den Treppen nach unten richten und das eingedrungene Wasser sehen, das träge um die unteren Stufen schwappt. Vielleicht dreißig Meter unter uns scheint eine zweite, zappelnde Lampe im Wasser zu schwimmen - das Spiegelbild unserer eigenen Lampe. Dann stürzen wir die Treppe hinauf.
Die Stadtoberfläche ist noch nicht unter Wasser. Das wenigstens sehen wir erleichtert schon bevor wir die Wettertüren öffnen. Aber ungemütlich ist es doch.
Inzwischen scheint der Wind etwas an Kraft verloren zu haben, aber es reicht immer noch, einen umzuwerfen. Es ist auch salziger Gischt in der Luft, und ich nehme an, daß die Randgebiete der Stadtoberfläche schon ganz ordentlich von den Wellen mit Salzwasser zugeworfen werden. Dafür ist nasser Schnee gefallen, der im Schmelzen begriffen ist, und ein weiterer Blick zeigt uns, was vom Stadtwald übriggeblieben ist: Ein Dschungel gestürzter, geborstener und gebogener Stämme. Wie sollen wir da durch kommen? Ein alter Spruch kommt mir in den Sinn: Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch. Häuptling Seattle. Wer immer das war. Nicht sehr motivierend, im Moment. Wo geht's jetzt weiter? Das ist wichtig.
Paul errät, was ich denke: "Vielleicht durch den Binnensee!"
Gute Idee. Wo ist der denn?
Bevor wir uns auf den Weg machen, winke ich Paul jedoch noch einmal in den Schutz des Aufgangs zurück. Hier, in der obersten Etage der Stadt, sind teure Luxuswohnungen. Diesem Wetter muß ich mich bekleidungsmäßig etwas anpassen, und Paul auch. Sonst leben wir nicht allzulange. Wir haben noch keine Zeit dafür gehabt. Ich gedenke, zu stehlen. Irgendwo, in einer dieser Wohnungen, muß noch etwas geeignetes sein. Paul findet die Idee nicht schlecht und schließt sich meinem Raubzug an.
Das Unternehmen kostet uns 15 Minuten. Als wir uns kurz vor 17 Uhr wieder am Aufgang treffen, haben wir beide dicke Pelzjacken an. Gewissensbisse haben wir deshalb nicht, weil die eigentlichen Eigentümer sich ja entschlossen haben, diese zurückzulassen und nicht einmal ihre Wohnungen abgeschlossen haben. Ich denke flüchtig daran, daß man einem Politiker ohne weiteres auch daraus einen Strick drehen kann. Sollte ich einmal Memoiren schreiben, dann werde ich diesen Punkt doch etwas umdichten. Andererseits - meine Politikerkarriere ist ja eigentlich mit der Strandung der Stadt schon wieder beendet.
Wir finden den Binnensee. Aber schon die hundertfünzig Meter, die wir über Baumstämme balancierend und unter anderen hindurchkriechend zurücklegen müssen, fordern uns einiges ab. Dazu kommt, daß immer noch die wenigen, stehengebliebenen Bäume jederzeit durch eine Bö umgeworfen werden können. Es wäre ein jämmerliches Ende für uns, in der hölzernen Umarmung einer Eiche oder einer Fichte zerquetscht und festgenagelt zu werden.
Auf dem breiten, trockengefallenen Uferstreifen des Binnensees kommen wir gut in die Richtung, die wir für Osten halten, vorwärts. Allerdings ist ein Laufen hier kaum noch möglich. Da hätten wir schon mehr Glück haben und auf den Landestreifen des Raumhafens treffen müssen. Ich glaube, Paul ist ganz glücklich darüber, daß wir nicht mehr gezwungen sind, zu laufen!
So um 17:15 Uhr erreichen wir das Ende des Sees. Wir müssen etwa fünfhundert Meter von der vorderen Stadtkante entfernt sein. Hier finden wir auch das erste Mal Menschen.
Es sind nicht wenige. Langsam kommen wir durch den zertrümmerten Wald weiter voran. Jeder freie Platz ist durch ein provisorisches Zelt belegt, Bäume sind beiseitegeräumt, schon zersägt und umgeschichtet worden, um zusätzlichen Windschutz zu schaffen, es haben sich schon Pfade ausgebildet, die matschig und eng sind. Dauernd müssen Entgegenkommende und wir einander ausweichen. Rauch steigt uns in die Nase, trotz des durchnäßten Holzes ist es verschiedentlich gelungen, Feuer zu entflammen.
Manche erkennen mich. Ich werde gefragt, was jetzt geschieht, und ob die Strandung gelungen sei. Gute Frage - das interessiert mich auch. Ich weiß doch genausowenig wie diese Leute. Ich muß ihnen merkwürdig vorkommen, in meiner Unkenntnis.
Immerhin erfahren wir auch etwas. Vor der Stadt ist Land sichtbar, auch wenn die Menschen hier es mit eigenen Augen noch nicht gesehen haben. Ich muß es sehen. Energisch marschieren wir weiter, nach Osten. Es sind ja nur noch ein paar hundert Meter.
Und dann sind wir da. Es gibt noch Reste des Geländers, das überall dort an der Stadtkante zu finden war, wo die Bordwand senkrecht oder wenigstens steil genug ist, um gefährlich zu sein. Vielleicht acht oder neun Meter unter uns ist ein Chaos: Breiig dünendes Wasser, übersät mit Gerümpel, schwimmendem Strauchwerk und zahllosen Bäumen, soweit das Auge reicht. Es sind tatsächlich Boote im Wasser, und ich nehme an, daß das bißchen Windschatten der Stadt und die Dämpfung durch das schwimmende Holz die Wellen soweit abgeschwächt haben, daß man deshalb ohne allzugroße Gefahr für Leib und Leben übersetzen kann. Trotzdem sieht es gefährlich aus - schwere Stämme schaukeln auf und nieder, manchmal haarscharf an Booten vorbei.
Land kann ich nirgends erkennen. Vielleicht bin ich da vorhin falsch informiert worden. Bei dieser Sturmflut sollten die Sandbänke ja auch überspült worden sein, und dann kann man in den bis zu siebenhundert Metern, die man von hier überblicken kann, nichts erwarten.
Über das Heulen des Windes höre ich meinen Namen:
"Joycelyn! Paul! Seid ihr's tatsächlich?"
Rodrigo kommt auf uns zugelaufen, an der Kante der Stadt entlang. Sekunden später steht er neben uns.
"Wie war die Strandung?" frage ich ihn, "Wir haben da unten kaum etwas mitgekriegt, außer, daß immer mehr kaputtging."
"Kommt erst mal unter Tage, hier kann man sich ja nicht denken hören!" überredet Rodrigo uns.
In den nächsten Minuten ersetzen wir die nasse Kälte an der Stadtoberfläche durch die schwüle Nässe eines überbevölkerten Raumes. Wenigstens ist hier nicht soviel Krach. Aber es stinkt. Natürlich, denke ich, Toiletten gibt es jetzt nicht mehr genug. Wo sollen die Leute dann noch hinscheißen? Ab einer gewissen Dichte an Menschen gibt es keine Möglichkeit mehr, sich menschenwürdig zu verhalten. Gelegentlich bekommt man das auf diese Weise deutlich demonstriert.
Der Raum wird vom trüben Licht einer Notbeleuchtung erhellt - so unangebracht die Assoziation 'hell' bei der Funzel ist. Immerhin gibt es in der Stadt funktionsfähige Notbeleuchtungen, stelle ich fest. Die Menschen im Raume reden und warten - auf was auch immer. Wahrscheinlich darauf, daß sie übersetzen können, wann immer das sein wird.
"Also, von der Strandung haben wir auch kaum etwas gemerkt. Es muß so ungefähr passiert sein, als wir hier angekommen sind, oder kurze Zeit später - also zum vorherberechneten Zeitpunkt. Die Vorderkante der Stadt hat sich weiter aus dem Wasser gehoben, das Holz, das schon die ganze Zeit vor der Stadt trieb, wurde sichtbar zusammengedrängt, und dann fielen alle Beleuchtungen aus. Ich fürchte, da hat es in der Nähe einige Reaktoren zerrissen."
"Verletzte?"
"Weiß ich nicht, aber ich fürchte, ja. Sieh dich doch um: Alles ist hier überfüllt. In den unteren Stockwerken steigt das Wasser, und bald wird der Hauptteil der Stadt sinken. Naja, ein Vorteil hat das ja."
"Ach ne! Welchen?" frage ich verwundert.
"Die Wälder! Es wird noch mehr Holz an Land getrieben. Vielleicht gibt es hier bald einen solchen Holzstau, daß wir trockenen Fußes das Land erreichen können."
"Das würde einige Probleme lösen!" überlegt Paul laut.
"Das würde es," fährt Rodrigo fort, "aber ein bißchen weniger Wind wäre dann schon sinnvoll."
"Weißt du was über den hinteren Teil der Stadt?" frage ich.
"Nein. Sowie wir wieder einige Funkgeräte in Betrieb haben, werden wir in den Orbitalstationen nachfragen können. Im Moment wissen wir ja überhaupt noch nichts. Nicht einmal, wieweit das Land nun entfernt sein wird, wenn das Wasser abläuft. Und die nächste Wetterentwicklung weiß ich auch nicht."
"Das wird heute wohl noch nicht wesentlich besser. Ich fürchte, wir werden uns auf wenigstens eine Nacht unter diesen Bedingungen gefaßt machen müssen."
Das heißt, es wird eine schlaflose Nacht. Ich glaube kaum, daß sich da ein geeignetes Plätzchen finden wird. Ob es aber denen besser gehen wird, denen es heute schon gelingt, an Land zu gehen?
Rodrigo, Paul und ich reden noch einige Zeit weiter, aber es stellt sich eigentlich heraus, daß wir nichts tun können, überhaupt nichts. Es gibt ja kaum Nachrichtenmittel, um irgendwelche Aktivitäten koordiniert in die Wege zu leiten, und wenn es welche gibt, dann wissen wir nicht, wer sie hat.
Wenn Rodrigo also recht hat, und es sich morgen herausstellt, daß man über das zusammengeschobene Treibholzgebirge an Land turnen kann, dann wird jeder für sich seinen Weg suchen. Von einer planvollen Aktion kann dann nicht mehr die Rede sein.
Wir trennen uns dann, ich mit dem Ziel, 'mich umzusehen'. Das ist das wenige, was ich tun kann.
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