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34. Kapitel



        34.     Der Sturm

13:30 Uhr, Mittwoch. 2 Stunden 30 Minuten und 90 Kilometer bis St. Peter Ording.

Der ganze westliche Horizont ist eine einzige Wolkenwand, während bei uns der Himmel noch völlig klar ist. Aber man sieht von Minute zu Minute, wie sich die Luftmassen aufeinander werfen und näherrücken. Noch etwas anderes sieht man: Der Meeresarm, der den hinteren Stadtteil von uns trennt, weitet sich zusehends. Die Stadt hat keinen echten Zusammenhalt mehr und bricht tatsächlich auseinander. Wir merken hier noch nichts davon, aber in den Siebener- und Achter-Sektoren muß die Stadt recht chaotisch aussehen. Dort dürfte kein Stahlträger mehr unverbogen sein und keine Mauern noch aufeinander stehen. Bald wird es ein fünf mal sechs Kilometer großes Teilstück geben, das im wesentlichen unabhängig von uns seinen Kurs suchen wird, mit voller Maschinenleistung, aber ohne Rechnersteuerung.

Ich spreche mit Rodrigo darüber, ob das eine Gefahr für uns sein könnte. Schließlich könnten sich die beiden Teile der Stadt ja rammen.

"Ich glaube nicht," sagt er, "weil wir schneller sind. Der andere Stadtteil ist strömungsdynamisch ungünstiger geformt, weil er sein zerstörtes Gebiet vorneweg schiebt. Deshalb wird uns der Stadtteil erst rammen können, wenn wir schon gestrandet sind. Dann kann es uns aber egal sein."

Er nimmt das Glas und beobachtet das hintere Stadtstück in seiner ganzen Breite.

"Wahrscheinlicher ist aber, daß der andere Stadtteil an einer anderen Stelle der Küste aufläuft. Das hieße für uns im schlechtesten Falle nichts, im günstigsten Falle eine weitere Wetterbarriere. - Vielleicht blockiert sich der andere Stadtteil aber auch selbst, weil das Wasser hier nicht mehr so tief ist. Es gibt in dieser Gegend Untiefen von bloß 36 Metern, die wir so gerade eben vermeiden. Wir steuern mitten durch. Der andere Stadtteil ist aber steuerlos."

"Mmh. Ich lasse mich gerne überzeugen. Im Moment beunruhigt es mich aber schon."

"Das da beunruhigt mich!" Er deutet auf die näherrückende Wolkenwand. Die Trennlinie von Wasser und Himmel im Westen verschwimmen nebelig.

"Ich fürchte, wir kriegen nicht alle Flugzeuge raus. Wir hätten früher anfangen sollen. Hoffentlich sind sie so intelligent und wissen, wann sie aufhören müssen." sage ich mehr zu mir. Rodrigo kommentiert es nicht.

Auf den hinteren Stadtteil fällt bereits der Schatten, der rasch näherrückt. Das, was den Horizont im Westen verschmiert hat, ist wohl eine Regenwand, die dem Schatten auf dem Fuße folgt. Die Wolkenoberkante über uns marschiert zum Zenit. Gleich ist es soweit.

Das Visiophon schrillt. Rodrigo geht hin. Es ist die Leitwarte. Sie haben schon wieder eine Cruise Missile geortet. Es ist restlos klar, daß sie in St. Peter abgeschossen worden ist. Sie hält genau Kurs auf uns, ist noch achtzig Kilometer entfernt und genauso schnell wie die anderen.

Rodrigo sagt nach dem Gespräch zu mir:

"Wir können überhaupt nichts tun. Wir wissen nicht, was dieses Geschoß an Bord hat, oder ob es nicht vielleicht schon wieder zu früh abstürzt. Jeder Zirkus, den wir anstellen, würde die Strandungsvorbereitungen blockieren. Und das kann uns teuer zu stehen kommen."

Er hat eigentlich recht. Es gibt überhaupt keine Grundlagen, um irgendeine Entscheidung zu treffen. Vielleicht läßt sich das sogar objektiv feststellen. Aber der Betroffenen, die eine Entscheidung fällen muß, wenn überhaupt eine gefällt werden muß, wird der Blick durch diesen Zwang eingeengt und blockiert. Objektivität ist schwer, wenn man nachher die Schläge bekommt. Und wenn es keine mathematischen Gewißheiten gibt. Wäre das Leben einfach, wenn man sich richtige Entscheidungen einfach ausrechnen könnte! War das nicht Blaise Pascal, der seinerzeit seine Arbeiten mit solchen Hintergedanken gemacht hat?

"Sie braucht noch ungefähr sechs Minuten, nicht wahr?" versuche ich ruhig zu klingen.

"Ungefähr."

"Die Ugawe hat sich schon wieder gemeldet," ruft Michelson von seiner Konsole aus herüber, "sie hat schon wieder etwas gefunden und bombardiert."

"Was denn?"

"Genau weiß sie es nicht. Es ist jedenfalls kein Jeep gewesen und auch kein Gebäude. Ich habe auf der Übertragung kaum etwas gesehen. Sie weiß auch nicht, ob sie es getroffen hat. Sie macht jetzt einen neuen Anlauf."

"Dann interessiert es mich jetzt auch nicht." sage ich. Die Cruise Missile macht mir viel mehr Sorgen.

"Aber mich," unterbricht Rodrigo, "Joycelyn, wenn das etwas mit der Cruise Missile zu tun hat? Abschußanlage, oder Fernsteuerantenne?"

Ich hänge mich ans Visiophon und versuche, die Leitwartenbesatzung dazu zu bewegen, uns eine Zeitlupenaufnahme der Übertragung aus Ugawes Maschine zu überspielen. Wir kommen nicht dazu:

"Frau Pemberton! Sehen Sie sich's an! Die Ugawe geht noch einmal ran! Mann!"

Michelson scheint ein Jagdfieber gepackt zu haben.

Die beiden Bildschirme zeigen dicht unter dem Zweischrauber vorbeirasende Baumwipfel. Dann fällt der Wald plötzlich in die Tiefe zurück, der Horizont kippt, einen Moment blendet die Sonne durch das Blickfeld. Als der Wald das nächste Mal zu sehen ist, sehe ich es auch: zwischen den Bäumen liegen grüne, längliche Zylinder, etwa drei bis fünf Meter lang. Mehr ist in dem Bruchteil der Sekunde nicht zu sehen. trotzdem habe ich eine Idee. Mit einem Sprung bin ich bei Michelson:

"Dieses Mikrofon für die Ugawe?"

"Ja."

"Ugawe, wenn Sie mich hören: Das sind entweder Tanks oder verpackte Geschosse. Die kriegen Sie nicht kaputt! Sie müssen Fernsteuerantennen finden oder Abschußgeräte!"

Sie antwortet nicht. Natürlich hat sie alle Hände voll zu tun, außerdem ist das, was ich gesagt habe, ja eigentlich ziemlich naheliegend. Wahrscheinlich falle ich ihr auf den Wecker. Daß man als Vorgesetzter immer ein so schlechtes Bild machen muß! Gute Leute wissen schon, was sie tun müssen, und guten Leuten kann man eigentlich nur geben, was sie für ihre Arbeit brauchen: Die Resourcen und die Informationen.

Wieder huscht Himmel und Wald durch das Blickfeld. Sie fliegt halsbrecherische Manöver. Ob sie Beschuß ausweichen muß?

"Gibt's keinen Ton?" frage ich.

"Nur, wenn sie spricht." antwortet Michelson, "Eigentlich haben diese Kameras ein eingebautes Mikrofon. Aber ich weiß nicht, warum die Tonkanäle nicht zu uns raufgeschaltet sind."

Ich deute auf die Regler. Michelson schiebt sie hoch, und das dumpfe Dröhnen des Kabinenraums des Zweischraubers kommt aus den Lautsprechern.

"Oh, peinlich," sagt Michelson, "ich hatte es vorhin ganz leise gestellt. Man hört ja eigentlich immer das gleiche."

"Schon gut," sage ich, "dann lassen sie's ganz leise."

Dann spreche ich wieder mit der Leitwarte. Die Rakete ist noch 60 Kilometer entfernt. Fünf Minuten.

In einem richtigen 'Situation Room' eines Kriegsschiffes könnte man sich jetzt das Radarbild auf irgendeinen Bildschirm überspielen lassen. Aber dieses ist kein Kriegsschiff. Kriegsschiffe gibt es nicht mehr. Dieses ist eine friedliche Stadt, die eigentlich nur aufpassen muß, wo sie hinfährt. Das einem 'Situation Room' ähnlichste ist eigentlich die Leitwarte. Deshalb halten sich da auch die meisten Mitarbeiter des Technischen Dienstes auf. Und die sind wesentlich geübter, Störungen in der Abwasserentsorgung der Stadt zu beheben als etwas gegen feindlichen Beschuß zu tun: In dieser Stadt muß keine Toilette länger als fünf Minuten verstopft bleiben. So schnell kann ein Fachmann da sein. - Hilft uns jetzt aber gar nichts. Wir werden nicht von einer Toilette bedroht.

Eigentlich ist es für eine Stadtkommandantin anachronistisch, sich im Turm aufzuhalten, bloß, weil man von da optisch mit eigenen Augen über die Stadt hinwegsehen kann. Die elektronischen Sinne der Stadt reichen ja viel weiter. Aber es ist halt der Arbeitsplatz, an den ich gewöhnt bin. Und es sind nur wenige Leute hier. Ich habe etwas mehr Einfluß darauf, wen ich hier zu Gesicht bekommen will und wen nicht.

Auch eine Stadtkommandantin darf sich seelische Belastungen vom Leibe halten. Die anfliegende Rakete belastet mich schon genug. Noch vier Minuten.

Ich nehme mein Glas.

"Jetzt kannst du sie wohl noch nicht sehen!" meint Rodrigo.

"Weiß ich. Aber vielleicht das, was sie anrichtet. Wenn sie etwas anrichtet. Oder sag mir einen Grund, warum jemand eine Rakete zum Spaß abfeuern könnte - bloß, um mich zu beruhigen."

Es paßt alles nicht zusammen. Eine Bonzensiedlung, von hohen Funktionären der WBK, inoffiziell von der WBK geduldet? Dann könnten sie es nicht wagen, vor den Augen der Weltöffentlichkeit diesen Zirkus mit den Raketen und dem Abschießen unserer Flugzeuge zuzulassen.

Oder illegale Siedler, die es vor geraumer Zeit geschafft haben, sich ihren Traum von dem einfachen Leben auf der Eiderstädter Halbinsel wahrzumachen, wohl wissend, daß von der Stadt aus gerade dorthin keine Expeditionen durchgeführt werden? Woher sollten sie das überhaupt wissen, und wieso sollten sie den Aufwand getrieben haben, Raketen startklar zu machen? Wenn man in der Wildnis um die eigene Existenz kämpft, dann hat man anderes zu tun als mit militärischem Gerät herumzuspielen, auch, wenn man solches zufällig unbeschädigt und einsatzbereit vorfindet.

Noch drei Minuten.

Und überhaupt, wie sollten es illegale Siedler in letzter Zeit geschafft haben, auf die Erde zu kommen? Sie müßten ihren Weg über die Stadt genommen haben - das ist es!

"Rodrigo!" rufe ich, lauter, als es seiner Entfernung zu mir angemessen ist, "Haben wir jemals von der Stadt aus Exkursionen verloren?"

Er sieht einigermaßen verblüfft aus. Dann greift er rasch zum Visiophon und ruft Paul im Stadtrechenzentrum an.

Paul weiß es auch nicht. Solche Informationen sind sicher in der zentralen Datenbank der Stadt vorhanden, in der nachzusuchen er jetzt aber keine Zeit hat. Außerdem will er mit dem Stadtrechner nichts tun was nicht unbedingt getan werden muß. Das System ist ihm einfach zu instabil. Aus diesem Grunde wird sich auch niemand sonst damit beschäftigen.

Rodrigo hängt enttäuscht auf. Wir haben nicht die Zeit, langwierige Recherchen anzustellen, um herauszufinden, wo man sich diese Informationen sonst noch beschaffen könnte. So bleibt uns nur die Vermutung - eine unter mehreren.

Noch eine Minute. Die Rakete ist jetzt etwa 12 Kilometer vom vorderen Stadtrand entfernt und 24.5 Kilometer vom Turm. Vergeblich suche ich mit dem Fernglas den östlichen Horizont ab. Auf diese Entfernung ist natürlich von so einem kleinen Projektil überhaupt nichts zu sehen. Im Unterbewußtsein nehme ich eine helle Welle, die über den Stadtwald huscht, wahr - eine Bö reißt die Unterseite der Blätter nach oben. Dann fällt mir ein, daß es vielleicht nicht geschickt ist, mit einem Fernglas in eine Richtung zu schauen, aus der ein Geschoß ankommt, das, wenigstens im Prinzip, einen nuklearen Sprengkopf tragen könnte. Eine Explosion würde mich noch in weiter Entfernung erblinden lassen, ganz besonders, wenn ich mit einem Fernglas mitten hineinsehe: Der Lidreflex ist zu langsam für einen Nuklearblitz. Hat Paul mir das erzählt? Ich weiß es nicht mehr.

Von einer Sekunde zur anderen sind die Fenster naß und die Sicht ist Null. Ich lasse das Glas sinken. Regenschauer und Wolkenfetzen rasen waagerecht vorbei. Ein dumpfes Dröhnen erschüttert den Turm. Der Sturm ist da.

Ich hatte mir eingebildet, daß in diesen gemäßigteren Breiten ein Sturm nicht so heftig wird wie hoch oben im Nordatlantik. Nach wenigen Sekunden weiß ich, daß dies ein Irrtum war. Im Nordatlantik haben wir uns in einer Kette von 'routinemäßigen' Zyklonen befunden. Dieses hier scheint etwas anderes zu sein. In kurzen Momenten gibt der Nebel durch eine Lücke den Blick auf ein Stück Stadtwald unter uns frei. Kurz, aber lang genug, um das helle Holz zersplitterter Bäume zu sehen.

Und bei diesem Wetter befindet sich der größte Teil der Stadtbevölkerung schon oben im Wald, in Erwartung der baldigen Strandung!

Ich haste zum Mikrofon der Rundspruchanlage. Es gibt noch eine Chance: Der Orkan hat das vordere Ende der Stadt noch nicht erreicht. Und ein Problem: Die Rundspruchanlage ist überall in der Stadt gut zu hören, auf der Oberfläche jedoch weniger gut, da an eine direkte Beschallung des Stadtwaldes eigentlich nicht gedacht war. Die Menschen sollten sich ja eigentlich in der Stadt erholen und nicht durch dauernde Durchsagen genervt werden. Noch ein Denkfehler im Design der Stadt: Da aus diesen Gründen die Rundspruchanlage sowieso nur im Notfall benutzt wird, hätte man auch die Stadtoberfläche etwas reichhaltiger mit Lautsprechern ausstatten können.

"Achtung, an alle! Es spricht die Stadtkommandantin! Suchen Sie sofort eine Deckung auf! Es ist mit schweren Orkanböen zu rechnen, die auch Bäume umwerfen! Suchen Sie sofort eine Deckung auf, am besten in dem oberen Stockwerk der Stadt. Helfen Sie behinderten Mitbürgern! Ich wiederhole ..."

Ich wiederhole den Spruch einige Male. Dann hänge ich auf.

Inzwischen muß die Rakete die Stadt erreicht haben. Wenn sie tief genug geflogen ist, dann ist sie irgendwo eingeschlagen, sonst fliegt sie jetzt über der Stadt dahin und wird in einer weiteren Minute in etwa auf der Höhe des Turmes sein. Ich frage in der Leitwarte nach.

Es ist wie verhext. Es ist ihnen gelungen, die Rakete bis kurz vor die Stadt zu verfolgen. Dann hat der Sturm einige Radarantennen beschädigt, und es gibt da eine Menge zusätzlicher Reflexe durch Gegenstände, die chaotisch durch die Luft fliegen.

Radarantennen am vorderen Ende der Stadt sind in dieser Sekunde noch einsatzfähig, aber deren Überwachungsrichtung zeigt auf See hinaus. Die Rakete können sie nicht mehr erfassen. Das heißt: niemand weiß, wo die Rakete jetzt ist und was sie macht.

Der Turm wird erschüttert, als ob jemand mit einem Riesenhammer gegen den Turmschaft schlägt. Normalerweise, wenn solches Wetter zu erwarten ist, werden im Stadtwald Windbrecher aufgezogen, um den Wald vor Sturmschäden zu schützen. Das braucht aber etwas Zeit. Niemand hat daran gedacht. Es würde auch die Leute auf der Stadtoberfläche jetzt schützen.

Joycelyn, hast du wieder etwas falsch gemacht? Ließ sich aus der Beschreibung des Orkans durch die Meteorologen entnehmen, daß besondere Maßnahmen erforderlich sind? Besondere Maßnahmen, die du nicht getroffen hast? Oder ist dieser Orkan stärker als sogar von den Meteorologen erwartet? Böen von 160 Kilometern in der Stunde sind doppelt so kräftig wie solche von 120 Kilometer pro Stunde, und Böen von 200 Kilometern pro Stunde werfen im Stadtwald alles um. Die Meteorologen brauchen sich nur um ein paar Dutzend Kilometer pro Stunde in den Spitzenwindgeschwindigkeiten zu verrechnen - das macht einen gewaltigen Unterschied.

Ich warte auf Schadensmeldungen - von einem eventuellen Raketeneinschlag, von Menschenmengen, die im Wald von Sturm überascht und von zersplitternden Bäumen zerfleischt wurden.

"Rodrigo," sage ich, "bei diesem Wetter können wir nicht übersetzen. Wir bringen keinen Menschen lebend rüber."

Und nach einer Pause:

"Wenn wir dazu in der Lage wären, müßten wir die Strandung auf morgen früh verschieben."

Rodrigo sagt nichts. Er weiß genauso gut wie ich, daß das nicht geht.

Der Stadtrechner läßt es nicht zu.



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