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33. Kapitel



        33.     Schrottbombardierung

13 Uhr, Mittwoch. 3 Stunden und 108 Kilometer bis St. Peter Ording.

Es hat doch noch ein Mittagessen gegeben. Es wäre zwecklos, sich jetzt schon kasteien zu wollen. Wir werden unsere Kräfte noch brauchen.

Während wir uns von verschiedenen Punkten der Stadt berichten lassen, wie die Vorbereitungen zur Strandung stehen, deutet Paul plötzlich nach Westen. Ich sehe es sofort: Ein feiner Wolkenstreifen, dicht über dem Horizont. Vor fünf Minuten, als ich zum letzten Male hingesehen hatte, war er noch nicht da. Man kann sich gerade eben noch einbilden, daß es sich vielleicht um eine optische Täuschung handelt. Nur eine Minute später kann man sich das nicht mehr einbilden.

Wir verfolgen nebenbei die permanente Übertragung aus der Maschine von Miriam Ugawe. Sie hat zwei Kameras fest in der Maschine installiert, die das ganze vordere Blickfeld überdecken. Sie hatte zunächst nur einen Überflug in einer Höhe von zweitausend Metern gemacht, dann, nach einer Wendung über der Eidermündung, ist sie auf zwanzig Meter runtergegangen. Im Moment sehen wir auf den Bildschirmen Buschwerk vorbeirasen - fünfzig Zentimeter unter dem Fahrwerk der Maschine.

Ihr Flugstil ist aggressiv. "Sie geht ran wie Büchler", sage ich, weil mir eine Redewendung aus alter Zeit einfällt.

"Ran wie Blücher." sagt Paul.

"Was?"

"Es heißt: 'Ran wie Blücher'. Nicht 'Büchler'."

"Ja? Wer war denn das?"

"Das weiß ich auch nicht."

Wir verfallen wieder in Schweigen. Ran wie Büchler oder Blücher - wer wollte es ihr verdenken? Wenn ich eine Schwester so verloren hätte, dann wäre mein liebstes Spielzeug jetzt wohl auch eine Bordkanone, unabhängig davon, ob das das weiseste Vorgehen wäre oder nicht. Aber haben wir denn angefangen, zu schießen?

Inzwischen läßt sich mit bloßem Auge vom Turm aus sehen, daß hinten, auf der Höhe von Sektor C7, ein Meeresarm die Stadt ganz überquert. Ohne Boot oder Flugzeug ist der hintere Stadtteil von hier nicht mehr zu erreichen. Ich hoffe, daß jetzt keine Menschen mehr da drinnen sind. Wir können nichts mehr für sie tun. Paul rechnet damit, daß durch die mechanische Belastung der Kurvenfahrt der hintere Stadtteil ganz von uns abbrechen wird, wie der Schwanz einer Eidechse.

Wir werden nichts davon merken. Die Zerstörungen der zerreißenden Stadt sind etwa bis zur Sektorreihe 10 fortgeschritten. Zwei weitere Kilometer, und wir müßten diesen Turm räumen, auch würden dann soviele Datenleitungen betroffen sein, daß die Steuerung der Stadt vielleicht nicht mehr möglich wäre. Aber lange vorher werden wir schon gestrandet sein.

Paul meint jetzt, daß das Abschalten des Stadtrechners etwa fünfzehn bis dreißig Minuten vor Auflaufen das geschickteste sei. Selbst, wenn dann alle Vortriebsmaschinen momentan ausfallen sollten, würden wir noch mit fast voller Geschwindigkeit den Strand erreichen. Außerdem meint er, daß der Sturm eigentlich ein Glück ist, weil er das Hochwasser noch weiter anhebt. Das wird uns dann, bei Niedrigwasser, zugute kommen, wenn wir die Leute an Land bringen.

So zwischen 14:30 und 15:30 sollten alle brauchbaren Boote und Flugzeuge, für die wir Piloten haben, die Stadt verlassen. Wegen des Sturmes mußte ich die Flugzeuge zeitlich vorziehen. Egal, was uns in St. Peter erwartet, vor Beginn des Sturmes sollten sie alle jenseits der Sandbank vertäut liegen. Ich hoffe, daß Miriam Ugawe genügend Ablenkungsmanöver fliegt. Das Ausbooten will ich vielleicht während des Sturmes riskieren, aber das kann jetzt noch nicht entschieden werden.

Wir schauen den startenden Maschinen nach, die dicht an dicht die vordere Runway verlassen. Die breite, eigentlich für Raumfahrzeuge gedachte Runway läßt es zu, zwei oder drei Flugzeuge parallel zu starten. Bis mindestens vierzehn Uhr wird es jetzt über der Stadt sehr laut. Und über der Sandbank vor St. Peter auch.

Ich diskutiere mit Rodrigo, Paul und Michelson, wann wir den Turm verlassen sollten. Eigentlich sollte er den Landestoß aushalten, aber man weiß es so genau auch nicht. Es könnte Verspannungen in der Struktur der Stadt geben, die sich plötzlich lösen und von heftige Beben auslösen könnten.

Nach dem Stranden werden auch die Tunnelbahnen nicht mehr funktionieren. Dann müßten wir auf der deformierten und sich weiter deformierenden Stadt 12.5 Kilometer laufen.

Wir entscheiden uns dafür, bis dreißig Minuten vor dem Auflaufen hierzubleiben. Dann schaffen wir es gerade noch. Aber wer stellt dann fünfzehn Minuten vor dem Auflaufen den Rechner ab? Alle Kontrollräume und Leitwarten werden bis dahin nicht mehr besetzt sein!

Paul springt auf:

"Ich bin unten, im Rechenzentrum. Ich baue einen Virus, der um 15:45 das gesamte System in die Knie zwingt. Ich wäre ein schöner Fachmann, wenn ich das nicht könnte!"

"Und das schaffst du bis dahin?"

"Ich gebe mir zwei Stunden. Ich kann ihn leider nicht testen, aber ich habe mir schon Möglichkeiten überlegt."

"Aber - ich habe gehört, daß ein modernes Großrechnersystem ziemlich immun gegen Virusbefall ist!"

"Solche Aussagen stammen von Politikern und Managern, die solche Maschinen verkaufen wollen. Seit solche Viren im zwanzigsten Jahrhundert zum ersten Male geschrieben wurden, hat es nie mehr Rechner gegeben, die immun gegen intelligent geschriebene Viren waren. Frage ist nur, kommt ihr ohne mich hier aus?"

"Wir müssen wohl."

"Gut. Wenn ich um 15 Uhr hier nicht mehr aufkreuze, dann wartet nicht auf mich."

Bevor er den Kontrollraum verläßt, nimmt er mich in die Arme und küßt mich auf die Stirn, gleichzeitig meinen Rücken klopfend. Rodrigo verzieht das Gesicht schief und Michelson grinst unverschämt. So geht man eigentlich mit einer Stadtkommandantin nicht um.

"Es wird schon alles gutgehen!" sagt Paul noch, dann ist er auch schon verschwunden.

"Treffer!" sagt Michelson.

"Was?"

"Die Ugawe! Das ist vielleicht ein gerissenes Biest! Darum hat sie niemanden mitgenommen! Sie hat einige Tonnen Eisenschrott in der Kabine des Zweischraubers geladen und wirft das Zeug mit einer Hand immer so durch die offene Kabinentür hinaus. Bombardierung wie im ersten Weltkrieg!"

"Kommt das Zeug nicht in die Rotoren?"

"Weiß ich nicht. Jedenfalls macht sie es."

"Und was hat sie getroffen?"

"Einen PKW. Altes Benzinmodell, vielleicht. Offenes Verdeck. Ich glaube, man nannte es einen Jeep."

"Waren Menschen dabei?"

"Weiß ich nicht. Das heißt, sie weiß es nicht."

"Mmh. Interessant. Was macht sie jetzt?" Ich sehe immer noch endloses Buschwerk auf den Bildschirmen vorbeirasen, dann wieder Wald, dann wieder Sumpf.

"Ich glaube," sagt Michelson, "sie sucht noch einen Jeep."



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