31. Südkurve
11 Uhr, Mittwoch. 5 Stunden und 180 Kilometer bis St. Peter Ording.
Ich betrete wieder den Kontrollraum. Ich weiß nicht, was Paul den Fernsehleuten erzählt hat, und ich will es auch nicht wissen. Sie sind jetzt weg, und ich will keine Interviews mehr. Paul ist da, Rodrigo und Michelson. Das Team ist vollständig. Mehr will ich nicht hier oben haben.
Es ist immer noch makelloser Himmel da draußen. Wenn jemand mit Raketen nach uns schießt, dann wäre aber der erwartete Orkan durchaus von Nutzen.
Ein Arzt war da und hat mir etwas gegeben. Danach habe ich eine Stunde im Aufenthaltsraum geschlafen. Als ich erwachte, muß wohl noch etwas von dem Zeug in meinem Blut gewesen sein. Ich dachte: Jetzt fahren wir die Stadt noch an Land, und dann ist Feierabend für heute. Wir setzen die Menschen morgen über. Wird schon klappen, mit ein bißchen Umsicht. Hoffentlich wird es nicht zu windig. Ruhig Blut von Gnaden einer Chemikalie.
"Die Kurve, die Einleitung der Kurve in einer halben Stunde - wie geplant?"
"Ja," antwortet Rodrigo, obwohl ich die Frage eigentlich mehr in Richtung Paul gestellt habe.
"Was gibt es sonst neues?"
"Da war noch eine Cruise Missile, vor einer halben Stunde," antwortet Paul jetzt, "aber die war noch schlechter gezielt. Ging nicht einmal in unsere Richtung."
"Aha."
Ich setze mich an einen der Arbeitstische. Der Tisch ist leer. So leer wie mein Kopf.
"Was neues von Hufner?" Nicht, daß es mich interessiert. Aber sie erwarten, daß ich mich reihum über alles wieder informiere, nach dieser einen Stunde Abwesenheit.
"Nein." sagt Michelson. "Sie hocken in ihrer Maschine und beobachten die anderen beiden Flugzeuge - der Bodennebel ist jetzt weg. Niemand läßt sich blicken - nicht die Besatzungen der beiden anderen Flugzeuge und auch sonst niemand."
"Die hocken da doch wie auf dem Präsentierteller!"
"Sie wollen aber nicht weg. Sie hatten es ihnen freigestellt."
"Ja natürlich."
Aus der Höhe des Turmes kann man kaum sehen, wie bevölkert der Stadtwald da unten ist. Manchmal bewegt sich etwas zwischen den Bäumen. Es müßten jetzt so ziemlich alle oben sein. Im Moment grenzt das ja noch an Urlaubsstimmung - Sonne, wenn auch kühl und windig. Wenn der Orkan kommt, dann sieht es schon anders aus.
Außerdem ist das Gros der Stadtbewohner inzwischen in den vorderen Quadratkilometern angekommen. Von hier aus, von der Höhe des Turmes, müßte man ja noch zwölf Kilometer marschieren, und wenn man damit erst anfängt, wenn die Stadt strandet, dann ist es zu spät.
"Die ISAAC ASIMOV läßt fragen, wo die Luftaufnahmen der Sandbank bleiben."
"Zur Zeit." sage ich.
"Sie brauchen sie aber, um ..."
"Zur Zeit!"
Ich springe auf.
"Erst müssen alle Stadtbewohner an Land gebracht worden sein. Dann müssen alle die Sandbank und den Strand in Richtung Festland verlassen haben. Dann muß der Orkan vorbei sein, der sowieso die Sandbank verändern wird. Dann erst machen wir Luftaufnahmen - wenn wir dann noch ein Flugzeug haben. - Außerdem - können sie nicht aus dem Orbit ein paar Aufnahmen machen?"
"Die Luftunruhe und die Wolken ..."
"Trotzdem. Eins nach dem anderen!" Ich bleibe stehen, weil ich gemerkt habe, daß ich dabei bin, wie eine gefangene Tigerin im Käfig auf und ab zu laufen, immer an den Gitterstäben entlang. Es muß lächerlich aussehen. - Und es muß verdammt egal sein, ob es lächerlich aussieht.
Hast du wirklich ein Recht, so selbstsicher Entscheidungen zu treffen, Joycelyn? Aber diese Entscheidung ist doch eigentlich ganz klar. Das ist doch eine völlig andere Situation als die Sache mit der Cruise Missile vorhin.
"Elf Uhr Fünfzehn," sagt Rodrigo, "in zehn Minuten fangen wir an."
"Ich übernehme das Situation Board." sage ich und setze mich auf den Kontrollsitz, "Ich will wissen, wo und was kaputt geht. Ich will alles wissen."
"Das tun die in der Leitwarte schon. Ich meine, man sollte sich nicht mehr als notwendig an den Stadtrechner wenden." sagt Paul und setzt sich neben mich, "laß mich das bitte machen, Joycelyn. Es ist mein Job!"
Ich lasse ihn machen. Was bleibt mir anderes übrig? Wenigstens die elementarsten Fehler der Straub will ich nicht nachmachen. Kompetenz von Vorgesetzten heißt, die Kompetenz von Mitarbeitern zum Zuge kommen lassen.
Die Minuten verrinnen. Ich nehme ein Glas und sehe mir den Westhorizont an. Nichts. Noch nichts.
Paul beugt sich zu mir rüber: "Da ist in der Leitwarte ein junger Mann zusammengebrochen, einer der Radaroperatoren. Die Anspannung, ob er der Stadtkommandantin die anfliegende Cruise Missile melden sollte oder nicht, das war zuviel für ihn."
"Das sagst du nur, um mich emotional zu stabilisieren. Das hast du dir ausgedacht."
"Hätte ich tatsächlich, wenn es nicht wirklich passiert wäre. Es ist aber passiert."
"Wieso macht einer mit so einem schwachen Nervenkostüm Radaroperator?"
Kaum gesagt hätte ich mich am liebsten auf die Lippe gebissen. Wieso macht eine mit so einem schwachen Nervenkostüm Stadtkommandantin?
"Wir sind kein Kriegsschiff. Von Feindeinwirkung steht in unseren Verträgen nichts drin."
Nett von ihm, daß er so drüber hinweggeht.
"Elf Uhr fünfundzwanzig," sagt Rodrigo, "es geht los."
Von jetzt an werden wir wie geplant in einer weiten Kurve mit dem Radius 108 Kilometer fahren, bis wir in St. Peter sind.
Sekunden vergehen, dann Minuten. Es kommt keine Alarmmeldung, weder direkt vom Stadtrechner noch von der Leitwarte.
"Ich wollte nichts versprechen," sagt Paul, "aber es ist möglich, daß die Vorschädigung der Stadt um Sektor C7 weitere Beschädigungen verhindert. Außerdem ist der Kurvenradius ja etwas größer als der, den du im Nordatlantik gefahren hast."
Vorwurf oder nicht? Ich fürchte, ich bin auf dem Gleis jetzt sehr empfindlich. Aber daß uns jetzt nicht die Meldungen von Wassereinbrüchen aus weiteren Stadtbezirken jagen ist ja auch sehr schön.
Um 11:50 stehe ich aus meinem Sitz auf.
"Meine Herren, dieses wenigstens wird keine weiteren Aufregungen bringen. Ich glaube, ich lasse die Verpflegungsdienste uns das Mittagessen bringen."
"Ich glaube," unterbricht Michelson, "wir werden vielleicht noch nicht ans Essen denken."
"Wieso denn nicht?"
"Hufner meldet sich nicht."
Paul steht auch auf: "Hufner meldet sich nicht? Das gibt's doch nicht! Versuch's doch nochmal. Vor kurzem hat er uns doch noch mitgeteilt, wie menschenleer und einsam der Strand und die Sandbank aussehen!"
Michelson beschäftigt sich mit dem Funkgerät. Außerdem fragt er in der Leitwarte nach, ob es dort einem der Funker gelingt, mit der Gruppe Hufner Kontakt aufzunehmen.
Es gelingt nicht.
Zurück zu meiner Hauptseite
Sie sind Leserin dieser Seite Nummer