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30. Kapitel



        30.     Der Tod und das Mädchen

09 Uhr, Mittwoch morgen. 7 Stunden und 252 Kilometer bis St. Peter Ording.

Wir liegen voll auf dem berechneten Kurs. Inzwischen sind sich die Fernsehgesellschaften einig geworden, wen sie heraufschicken wollen. Ich lege mir derweil mein Programm zurecht, was ich der Stadtbevölkerung noch alles mitzuteilen habe.

Der Interviewer hat natürlich auch so seine Fragen, aber sowie die Kamera läuft - es ist natürlich eine Live-Übetragung - nehme ich die Gesprächsleitung selbst in die Hand.

Zunächst mal ist damit zu rechnen, daß es mit Einleiten der Kurve um 11:30 wieder zu Schäden in der Stadt kommt. Deshalb möchte ich, daß alle unteren Stockwerke der Stadt bis dahin geräumt sind. Damit muß man rechtzeitig anfangen. Nämlich jetzt. Die Nacht zum Ausschlafen ist vorbei. Dieser Tag wird kein Feiertag. Ich sorge dafür, daß das allen Zuschauern restlos klar wird.

Dann weise ich auf die ungeklärten Vorfälle in St. Peter hin. Zusammen mit den Polizeikräften müssen eigentlich noch mehr Streitkräfte aufgestellt werden, das heißt Leute, die auskundschaften können und auch bewaffnet sind. Allerdings sehe ich nicht, daß dieses Konzept besonders viel bringen wird. Da eher schon die Ermahnung, daß nach dem erfolgreichen Stranden der Stadt niemand alleine Exkursionen in das Inland unternehmen soll, bis wir rausgekriegt haben, was mit unseren Flugzeugen passiert ist.

Nächster Punkt ist das zu erwartende Wetter. Die gestrandete Stadt wird zwar einen gigantischen Wellenbrecher bilden, aber der Wind wird über sie hinwegfegen. Man muß damit rechnen, noch eine Nacht in der vollaufenden Stadt auszuharren, und das in einem Bruchteil des Stadt-Volumens, das jetzt noch begehbar ist.

Zum wiederholten Male beschreibe ich, was ein Wattenmeer ist. Ich weiß, daß das zu diesem Zeitpunkt im ganzen Sonnensystem interessant ist. Während das Thema für die Bewohner der Außenwelten mehr theoretischer Natur ist, werden die Stadtbewohner demnächst ein Wattenmeer aus eigener Anschauung kennenlernen. Und es soll natürlich niemand ins Watt - das habe ich das letzte Mal zwar schon gesagt, aber es schadet nicht, es noch einmal zu wiederholen: Die Wiederholung ist die Mutter des Lernens, wie ein altes, russisches Sprichwort sagt: Pavtarenije matj isuschtschenija.

Das Auflaufen wird bei Hochwasser geschehen. Wegen des großen Tiefganges der Stadt ist es jedoch auch bei Ebbe nicht möglich, trockenen Fußes an Land zu gelangen. Ich hoffe, daß auch dieses jetzt dem letzten klar ist.

Dann sage ich dem Journalisten, daß er jetzt noch Fragen stellen darf, was immer er auf dem Herzen hat. Wenn er jetzt aber wieder damit anfängt, nachzufragen, warum ich nicht verheiratet bin, dann ist das Interview beendet.

Der Journalist hat eine ganze Menge Fragen, die die Zuschauer an die TV-Anstalten gerichtet haben. Und was für Fragen!

Nicht wenige wollen wissen, wie mit Haustieren verfahren werden soll. Wüßte ich auch gerne. Insbesondere, da zu den Haustieren ja auch Pferde zählen - es gibt in der Stadt ja sogar eine Trabrennbahn.

Die Versorgung der Kranken und Behinderten nach der Strandung ist ein weiterer Punkt - erstaunlich, daß das in der Wichtigkeit nach den Haustieren kommt! Ich enthalte mich jeden wertenden Kommentares.

Die bisherigen Vorfälle in St. Peter sind natürlich auch interessant. Hunderte von Zuschauern wollen wissen, warum die WBK nicht schon längst einige Divisionen dort abgesetzt hat. Und so bin ich gezwungen, einige Erklärungen zu den Entfernungen im Sonnensystem und zur Himmelsmechanik zu geben. Ich dachte wirklich, daß heutzutage jeder diese Grundkenntnisse der Astronomie mit der Muttermilch einsaugt.

Was passiert mit den Reaktoren? Schön, daß einige Zuschauer auch daran denken. Es wäre wirklich ein großes Problem, wenn wir Fissionsreaktoren verwendeten, etwa Leichtwasserreaktoren oder Hochtemperaturreaktoren oder schnelle Brüter oder heiße Fusionsreaktoren. Aber so einen gefährlichen Schrott stellt heute ja niemand mehr her - trotzdem ist das Wort 'Reaktor' immer noch mit einem unheimlichen Nimbus belegt - Tschernobyl, Greifswald, Lobotown, Likasi und Jamshedpur haben ihre Spuren in den Gedächtnissen auch nach dieser langen Zeit hinterlassen.

Fleischmann-Pons-Reaktoren werden, wenn sie nicht ordnungsgemäß heruntergefahren werden und jede Regelung versagt, verschiedene Schicksale erleiden, die ich alle den Zuschauern aufzähle: Einige werden sich überhitzen. Die Kristallfehlstellen im aktiven Material heilen aus, und dann kühlt der Rest einfach ab. F-P-Reaktoren, die nicht den Hitzetod sterben, werden an Heliumvergiftung verenden und ebenfalls abkühlen. Außerdem werden zahllose Pumpen und Sicherheitsventile, die nicht mehr angesteuert werden, ermöglichen, daß der Druck in den Druckbehältern sinkt. Dann erlischt die Reaktion sowieso. Was immer passiert, ein F-P-Reaktor stirbt einen unauffälligen Tod. Er explodiert nicht und er verseucht nichts. Das allerschlimmste, was passieren kann, ist eine Art Dampfkesselexplosion - dann müßten aber auch alle Sicherheitsventile versagt haben.

Ein Zuschauer will wissen, was mit seinem Steinweg-Flügel passiert. Ein uraltes Instrument aus dem zwanzigsten Jahrhundert, und entsetzlich wertvoll. Ich kann ihm nichts versprechen. Im Gegenteil benutze ich die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß niemand mit dem Versuch, materielle Werte zu retten, die Rettung von Menschenleben gefährden darf.

Ein anderer Zuschauer hat die glänzende Idee, alle Bäume des Stadtwaldes zu fällen und zu Einbäumen umzuarbeiten. Hätte der Interviewer mich nicht vor so weit hergeholten Ideen abschirmen können? Ich schlage dem betreffenden Zuschauer, der wohl irgendwo in der Stadt zusieht, vor, schon mal mit einem Baum anzufangen und sich wieder zu melden, wenn der Einbaum fertig ist.

Fehlt nur noch, daß irgendjemand daherkommt und allen Ernstes vorschlägt, aus dem Holz des Stadtwaldes große Segelschiffe zu zimmern!

Als der Interviewer die nächste Frage vorlesen will, unterbricht Michelson, der bis dahin ruhig an einem Schaltpult gearbeitet hat:

"Frau Pemberton, die Leitwarte ist dran."

"Ja und?"

"Sie haben etwas auf dem Radar, das auf uns zufliegt."

"Hufner?"

"Nein. Die Gruppe Hufner ist immer noch auf der Sandbank. Das Objekt ist schneller. Etwa 720 Kilometer pro Stunde, und es ist noch hundertzwanzig Kilometer weit entfernt."

Einen Moment Stille. Dem Interviewer fällt auch nichts ein, und der Kameramann hält seine Kamera starr auf mich gerichtet.

"Das heißt," sage ich, "es ist in zehn Minuten da. Keine Idee, was es sein könnte? Hat Hufner etwas bemerkt?"

"Das letzte weiß ich nicht. Das vorletzte: es ist ein schwaches Echo, erfahre ich gerade, aber die Geschwindigkeit ist eindeutig 720 km pro Stunde. 735, erfahre ich jetzt."

Wieder einen Moment Pause.

"Eine Cruise Missile." sagt Paul. "Fliegt es hoch?"

"Ich frage mal nach." erwiedert Michelson und wendet sich wieder seinem Gespräch mit der Leitwarte zu. Ich nicke Paul zu:

"Kannst du den Zuschauern mal kurz erklären, was eine Cruise Missile ist? In weniger als zehn Minuten? Ich weiß es nämlich auch nicht."

Paul bewegt sich zu mir, um ins Blickfeld der Kamera zu kommen. Schließlich sollen die Zuschauer ihn ja sehen, wenn er was sagt. Gleichzeitig macht der Kameramann einen Schwenk, um Paul ins Blickfeld seiner Kamera zu kriegen. Dann steht Paul neben mir und der Kameramann hält seine Kamera auf den Platz gerichtet, wo Paul noch eben stand. Der Interviewer grinst zufrieden - solche Patzer mögen die Zuschauer.

Als der Kameramann und Paul sich schließlich aufeinander eingeschossen haben, erklärt Paul:

"Eine Cruise Missile ist ein Begriff, der schon im zwanzigsten Jahrhundert geprägt wurde. Es handelt sich um ein kleines, unbemanntes, automatisiertes Strahltriebwerksflugzeug, das eine Waffe beförderte. Im zwanzigsten Jahrhundert waren es nukleare Waffen, in den Ökokriegen zunehmend Nervengifte."

Jetzt begreife ich erst: "Das ist eine Waffe? Das heißt, die Stadt wird angegriffen?"

"Kann ich mal ausreden?" sagt Paul, "Wir haben noch neun Minuten."

"Ja."

"Eine Cruise Missile eignet sich ganz hervorragend, um Radar zu unterfliegen, in Baumwipfelhöhe oder tiefer. Im Landesinneren geht das auch ganz gut, aber über offenem Meer und bei unseren modernen Radars müßte die Cruise Missile schon tauchen, um nicht bemerkt zu werden. - Manchmal haben diese Cruise Missiles auch rein defensiven Charakter, etwa den, Kameras zu tragen. An letzteres glaube ich allerdings nicht, denn Bilder von dieser Stadt sind im Moment auf allen Fernsehkanälen zu empfangen."

"Du denkst also an eine Waffe?" frage ich. Michelson unterbricht uns:

"Sie sagen, es fliegt zwischen drei und fünfundzwanzig Meter hoch."

"Wechselt es die Höhe zwischen drei und fünfundzwanzig Meter, oder kann man es nicht genauer messen?"

"Letzteres. Daß heißt, vielleicht auch ersteres. Sie arbeiten dran."

Scheiße. Was jetzt? Ist es etwas harmloses, oder wenn nicht, was ist es? Bei Nervengiften müßte ich die Menschen in das Innere der Stadt zurückschicken und alle Ausgänge zur Stadtoberfläche wenigstens eine Zeitlang verriegeln lassen. Wenn es eine Bombe ist, dann sind die Chancen vielleicht auf der Oberfläche besser. Oder? Ich weiß es nicht.

"Paul, ich schlage ein Gespräch unter vier Augen vor!"

Wir gehen auf die andere Seite des zentralen Liftschachtes.

"Was soll ich tun? Wenn ich jetzt die Leute in die Stadt runter hetze, gibt es wieder Tausende von Verletzten. Und den Vorbereitungen zur Strandung ist es auch nicht förderlich. Ist es wirklich eine Waffe?"

Paul hat auch einiges von seiner Sicherheit verloren.

"Woher soll ich es wissen? Joycelyn, ich bin kein Hellseher! Ich kann es auch nicht glauben, aber wenn die Leitwarte sagt, da kommt so ein Ding auf uns zu, dann stimmt das! Das haben sie geübt, darin sind sie ausgebildet!"

"Haben sie das? Sie können sich doch irren! Diese Stadt ist doch noch nie beschossen worden!"

"Das ist kein Argument. Die Stadt ist auch noch nie ihrer eigenen Strandung entgegengefahren. - Die Radarfachleute in der Leitwarte würden eine solche Behauptung nur machen, wenn mehrere Geräte eine anfliegende Rakete zeigen. Ein einzelnes Gerät kann immer noch fehlerhaft sein."

Ich zähle meine Finger, als ob davon eine Erleuchtung kommen könnte. Es sind zehn. Es hat keinen Zweck, sie nocheinmal durchzuzählen.

"Es ist schwer zu glauben," fährt Paul fort, "daß jemand sich den ganzen technischen Overhead leistet, bloß um Cruise Missiles startbereit zu halten."

"Es sind noch sieben Minuten. Paul, da drüben steht der Kameramann! Die Sendung läuft noch! Die Zuschauer warten! Was soll ich ihnen sagen?"

Paul denkt laut nach: "Es könnte auch eine Subroc sein. Sie taucht vor der Stadt ins Wasser ein und bringt einen Sprengkörper unter der Stadt zur Explosion. Dann wäre es wieder besser, wenn zu dem Zeitpunkt alle Bewohner der Stadt an der Stadtoberfläche sind."

"Ach ja, und was hast du noch zu bieten?"

"Leise!"

"Wieso kennst du dich überhaupt so gut in antiker Militärtechnik aus, Paul?"

"Ausgeburt maskuliner Aggressivität! Alle Jungen spielen gerne mit Spielzeug, das knallen kann!"

"Mach keine Witze!"

"Du hast mich gefragt." sagt er. Er ist aber nicht eingeschnappt. Aber beunruhigt ist er auch, er versucht bloß, es nicht zu zeigen. Gelingt ihm nicht richtig.

Noch sechs Minuten. Was fliegt auf uns zu? Ein geflügelter Giftkanister, der die ganze Stadt in ein Heerlager von zuckenden Sterbenden verwandeln kann, oder eine Bombe? Jetzt fragen sich die Zuschauer schon, warum die Stadtkommandantin sich nicht äußert. Sie dürfen das erwarten, daß die Stadtkommandantin etwas tut. Aber sie kann nichts tun. Diese Stadt hat keine Waffen, deren Einsatz sie befehlen kann, und sie weiß nicht, was in den nächsten Minuten passieren wird. Und deshalb weiß sie auch nicht, was jetzt, auch für jeden einzelnen, zu tun das Beste wäre. Sie kann nicht einmal Ratschläge geben. Wie kann man kompetent über den Umgang mit einer Waffe reden, von deren bloßen Existenz man bis vor wenigen Minuten selbst noch nichts gewußt hat?

"Wenn ich die Stadt angreifen wollte, und ich könnte es mir aussuchen - ich würde Nervengifte nehmen." murmelt Paul.

Er ist jetzt kreidebleich. Er weiß ja auch keine Antwort. Muß sie nicht wissen. Ist dazu nicht verpflichtet. Aber was nützt das? Ich muß sie wissen. Auch, wenn es die falsche Antwort ist.

Nervengifte. Beliebteste Waffe in den Ökokriegen. Ohne große Materialschäden eine große Menge von Menschen umzubringen, zum ökologischen Wohle des Planeten. Da müssen noch viele Geschosse rumliegen, in vergessenen Depots, auf der ganzen Erde. Dann spricht die Wahrscheinlichkeit für eine Nervengiftwaffe.

Aber sich einem solchen Depot in der Absicht, eine solche Waffe zu reaktivieren, zu nähern ist reiner Selbstmord. Eine Fleischmann-Pons-katalysierte Bombe ist viel einfacher und sicherer in der Handhabung. Wer immer sich widerrechtlich in den Besitz solcher Waffen bringt, muß so etwas wissen. Schließlich wurde es oft genug in den Medien durchdiskutiert, aufgrund der Fragestellung, ob man die Erde noch weiter von solchen Relikten, die in zahllosen vergessenen Depots rumliegen müssen, reinigen sollte.

Noch fünf Minuten.

Der Interviewer drüben spricht nichts. Die Zuschauer sehen nur ratlose Gesichter auf den Bildschirmen, und meins ist nicht darunter. Was für eine jämmerliche Show führen wir vor, was für ein Schmierentheater. Eine klitzekleine Schwierigkeit, und schon wissen wir nicht mehr weiter!

Das ist die Wahrheit, Joycelyn, die ganze Wahrheit. Ein glänzender Zylinder mit Flügeln fliegt auf dich zu, sonst nichts, und du möchstest unter die Bettdecke kriechen und hoffen, daß schon nichts passieren wird. Das ist es, was du bist, Joycelyn: ein verängstigtes Kind, ein dummes, kleines Mädchen.

Ein glänzender Zylinder, der trägt den Tod. Ist das eine Entschuldigung? Der Tod hockt doch überall, an allem technischen Gerät. Auf einer Treppe kann man sich zu Tode stürzen, den Schädel einrammen, auf den Bahnsteigen der Tunnelbahnen bedeutet ein Fehltritt, daß man zwischen Zug und Bahnsteig zerquetscht wird. Warum denn die Angst vor diesem Zylinder, der dir doch ganze zehn Minuten Zeit läßt, etwas zu unternehmen? Du hast doch eine Chance!

Hat nicht ein Philosoph gesagt, in der Stunde der Geburt eines jeden Menschen wird ein Pfeil abgeschossen, der fliegt und fliegt und fliegt, und in seiner Sterbestunde erreicht er sein Ziel. Nichts kann ihn ablenken. Er ist die einzige, verlässliche Sicherheit. Ist das dein Pfeil, Joycelyn? Ist das unser aller Pfeil, fleischgeworden durch die Wahnsinnstat eines Unbekannten, dessen Motivation wir dann nicht mehr erfahren werden?

Michelson kommt um den Zentralschacht herum. Er sieht mich entsetzt an. Mache ich einen so derrangierten Eindruck? Es sind noch vier Minuten, oder? Habe ich die Zeit verschätzt? Passiert es jetzt?

"Frau Pemberton? Es ist weg. Sie sagen, es ist abgestürzt. Glauben sie jedenfalls."

Dann geht er wieder um den Zentralschacht herum und ist außer Sicht. Nur Paul sieht, daß mich eine Art Heulen überkommt. So ähnlich muß sich eine Schraube vorkommen, die schon beim ersten Eindrehen ihr Gewinde ruiniert hat.

"Geh rüber, Paul! Erzähl ihnen irgendetwas. Mir ist schlecht."



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