Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



29. Kapitel



        29.     Rätselraten

08 Uhr, Mittwoch morgen. 8 Stunden und 288 Kilometer bis St. Peter Ording.

Als ich in den Kontrollraum komme, ist er strahlend hell erleuchtet. Der makellose Himmel verrät nichts von dem Orkan, der heute noch über uns herfallen soll.

Paul ist schon fünf Stunden auf, Rodrigo und Michelson sind auch da. Alle drei führen irgendwelche Gespräche - irgendwelcher organisatorischer Kleinkram, der bei dem Unternehmen, einen großen Metallkasten irgendwo auf den Strand zu setzen, beachtet werden muß.

Ich informiere mich, daß unser Tiefgang jetzt 32.46 Meter ist, das heißt, daß unsere Bordwand nur noch 7.54 Meter über die Wasserfläche ragt. Hier vom Turm kann man davon aber kaum etwas erkennen. Der Stadtwald sieht harmlos aus wie immer, wenn man von den hier und dort sichtbaren Sturmschäden absieht, und von den Schlammtümpeln, die von den Binnenseen übriggeblieben sind.

Die Wassereinbrüche um den Sektor C7 herum verändern den Tiefgang der Stadt dort, wo sie noch unbeschädigt ist, überhaupt nicht. Allerdings werden sich die Strukturen der Stadt in den paar Quadratkilometern um C7 herum weit nach unten durchbiegen. Kein Mensch weiß genau, wie weit. Durchaus möglich, daß jetzt schon Teile der Stadt über den Meeresgrund schleifen. Auch ein Punkt, auf den wir nicht den geringsten Einfluß haben. - Allerdings sehe ich auch, daß unsere Geschwindigkeit nicht abgenommen hat. So schlimm kann es also nicht sein. Da mögen zwar schon hundert Millionen Kubikmeter umbauter Raum völlig unter Wasser liegen, lichtlos und ohne menschliches Leben, aber das sind immer noch Bestandteile der Stadt.

Paul hat daran gedacht, ein Frühstück vorbereiten zu lassen. Jedenfalls nehme ich an, daß es Paul war. Da es aber schon fix und fertig auf einem der Arbeitstische vorbereitet steht, könnte es auch einer der beiden anderen gewesen sein. Ich entscheide mich dafür, daß es Paul gewesen ist.

Er steht auf und kommt herüber:

"Moin moin!"

"Was?"

"Das heißt 'Guten Morgen', in ostfriesischer Übersetzung."

Ich kann mich an ein Land namens Ostfriesien oder so ähnlich nicht erinnern. Vermutlich hat es irgendeinen lokalen Bezug. Ich erinnere mich dunkel, daß ähnliche Ortsbezeichnungen bei den ersten Besprechungen mit Cammaroto gefallen sind. Ich hoffe, daß Paul mich aufklärt, aber das tut er nicht. Noch während ich mir den Kaffee einschenke - er sieht freundlich zu, mit beiden Händen in den Taschen demonstrierend, daß er selbständige Frauen schätzt - fängt er schon mit dem Tagesgeschäft an:

"Haben wir Zeit für TV-Interviews?"

"Stehen die denn schon wieder auf der Matte?"

"Unten, am Fahrstuhl. Fast seit sieben Uhr. Ich habe gesagt, ich müßte erst die Chefin fragen!"

"Recht so. Sag ihnen: Um neun. Eine Kamera, ein einziger Moderator. Ich will die Bude hier oben nicht voll haben."

"Das wird ihnen nicht gefallen."

"Aber mir gefällt es. Jetzt laß mich doch erstmal zu Schlucke kommen!"

"Du hast eine diktatorische Ader!"

"Ich habe Kaffeedurst, das ist alles. - Wie unvorstellbar das früher war, im Kontrollturm zu frühstücken! Die Straub wäre im Sechseck gesprungen! Jetzt kann sie uns nicht mehr dazwischenfunken. Allein das macht den Job des Stadtkommandanten angenehmer."

"Sie hat schon dazwischengefunkt. Um etwa sechs Uhr dreißig."

"Ach ja?"

"Frag mich nicht, was sie wollte. Sie hat einige Sätze gesagt, lallend und unverständlich, und dann hat jemand anderes die Verbindung unterbrochen."

"Oh."

"Ich habe es ins Logbuch geschrieben - ohne jede Bewertung. Überhaupt habe ich das Logbuch auf den neuesten Stand gebracht!"

"Das verdient Anerkennung."

"Das weiß ich," sagt Paul selbstbewußt, "aber wir haben auch wirkliche Probleme."

"Welche?"

"Die Besatzungen unserer drei Flugzeuge in St. Peter."

"Großer Gott - meldet sich eins nicht?"

"Zwei melden sich nicht, zwei. Die beiden Wasserflugzeuge, die zwischen Sandbank und Festland festgemacht haben."

"Und das dritte?"

"Sie sind eigentlich in Sichtkontakt, aber es herrscht auf der Sandbank ein dicker Bodennebel, der sich noch im Laufe des Tages auflösen wird. Im Moment sehen sie nichts."

"Ich möchte mit ihnen sprechen."

"Du frühstückst erst zu Ende. Heute brauchen wir eine erholte Chefin. So schnell geht der Nebel auch nicht weg."

"Dann mach du es - ich möchte, daß sie aufsteigen und sofort hierherfliegen."

"Sollen sie nicht nachsehen, was in der Bucht passiert ist?"

"Paul, wir haben bis jetzt vier Flugzeuge verloren, vier!"

"Ich kann zählen."

"Das habe ich nicht bezweifelt. Aber ich will das fünfte nicht riskieren. Und laß mich nachdenken."

"Aber wir wissen doch gar nicht, ob diese beiden ..."

"Denkst du, daß in zwei modernen, aktiv gewarteten Flugzeugen gleichzeitig die Funkgeräte einfrieren?"

"Nein."

"Also her mit ihnen."

Während Paul zur Funkkonsole geht, überlege ich fieberhaft, ob es wohl die richtige Entscheidung ist. Wer vier Flugzeuge zerstören kann, egal, ob sie fliegen oder in einer Bucht hinter einer Sandbank schwimmen, der kann auch ein fünftes erledigen. Aber kann er es auch mit einer Million Menschen aufnehmen, die in acht Stunden an Land wollen? Siedendheiß fällt mir die ISAAC ASIMOV ein, für deren mögliche Landung noch eine Luftaufklärung notwendig ist. Ich denke, ich verschiebe das auf die Zeit nach der Strandung.

"Rodrigo, warum sagst du nicht 'Siehste!'?" frage ich Rodrigo. Er ist mit der Navigationsprogrammierung beschäftigt und sieht kaum auf:

"Ich kann immer noch unrecht haben."

"Aber du denkst doch an eine Bonzensiedlung, nicht wahr? So hast du es uns doch erklärt!"

"Kann sein, kann auch nicht sein. Daß sie so unvernünftig sind, das ist schwer zu verstehen. Zu verstehen wäre es, wenn sie genug Mittel hätten, mit mehr als nur ein paar Menschen fertig zu werden."

"Du meinst, sie handeln feindlich gegen unsere einzelnen Flugzeuge, weil sie auch gegen die ganze Stadt wirksame Waffen haben?"

"Vielleicht."

"Das paßt auch nicht zusammen. Die Weltbevölkerungskonferenz könnte in wenigen Wochen jede Menge Truppen hier landen."

"In wenigen Wochen kann man auch im Hinterland verschwinden. Übrigens, wenn das mit der Bonzensiedlung stimmt, dann muß die WBK nicht unbedingt davon wissen. In DEM Verwaltungsapparat weiß doch sowieso keine Hand, welche die andere wäscht. Obwohl - wenn es so ist - politisch verantwortlich sind sie auf jeden Fall."

Er grinst einen Moment in sich hinein: "Dann werden Köpfe rollen!"

Paul unterbricht unser Gespräch:

"Joycelyn, ich habe Hufner dran."

"Wer ist das denn?"

"Hufner, Ernst und Kufferath sind die Besatzung des Flugzeuges auf der Sandbank."

"Und was sagt er?"

"Er ist hinmarschiert, durch den Nebel, hat sich den anderen beiden Flugzeugen auf hundert Meter genähert. Er konnte sie sehen. Sie sind am festlandseitigen Buchtufer fest gemacht und offenbar völlig unbeschädigt."

"Und?"

"Es ist niemand da. Kein Mensch."

"Was hat er sonst noch gesehen?"

"Nichts. Sollen sie nun wegfliegen?"

Ich überlege kurz: "Sie sollen das tun, was sie selbst für richtig halten. Wenn sie aber doch da bleiben, dann sollen sie die Augen offenhalten."



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite

Sie sind Leserin dieser Seite Nummer


This page hosted by GeoCities Get your own Free Home Page