Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



27. Kapitel



        27.     Basket case

19 Uhr. 21 Stunden und 756 Kilometer bis St. Peter Ording.

Es ist dunkel geworden, und nur der Stadtwald liegt wie im Sonnenlicht da, beschienen von den Scheinwerfern der Stadt.

Paul und ich arbeiten den Zeitplan für die letzten Stunden aus. Es ist nämlich so, daß der Stadtrechner eine gewisse Zeit vor dem Auflaufen abgeschaltet werden muß. Wenn nämlich die Navigationstask merkt, daß die Stadt dabei ist, sich selbst in den Strand zu rammen, dann wird sie etwas unternehmen. Schon das kann zur Katastrophe führen, da wir nicht wissen, was passiert, wenn die Navigationstask sich an die anderen Tasks wendet, die mit der Steuerung der Vortriebsmaschinen beschäftigt sind.

Was wir also tun müssen ist, morgen eine weite Kurve einzuleiten, die den Strand von St. Peter Ording schneidet. Kurz vor dem Zeitpunkt, wo man einfach etwas unternehmen muß, um die Strandung noch zu verhindern, werden wir den Rechner abschalten müssen, in der Hoffnung, daß bis zur Strandung selbst die Schäden durch die fehlende Lastverteilung nicht allzuweit anwachsen.

Die Navigationstask, die nichts von der blockierten Task, die den Vortrieb abschalten könnte, weiß, wird noch bis wenige Kilometer vor dem Strand annehmen, daß die Stadt noch rechttzeitig abgebremst werden könnte. Allerdings werden wir schon lange vorher mit Warnungen beharkt werden. Paul schätzt, daß man den Stadtrechner etwa um 15 Uhr abschalten sollte, vielleicht auch später. Danach wird die Stadt nur noch ein hirnloser, motorisierter Blechkasten sein, der auf den Strand zu eilt.

Wir sprechen dieses Vorgehen mit Vetretern von GENERAL CRAFTS ab. Das heißt, absprechen ist bei der langen Laufzeit der Signale vom und zum Saturn, wo GENERAL CRAFTS die Hauptverwaltung hat, nicht der richtige Ausdruck. Wir setzen kurz vor 19 Uhr eine Botschaft ab, und wenn sie gleich antworten würden, dann ist um 21 Uhr die Antwort da. Sie werden aber nicht gleich antworten.

Hoffentlich stört der erwartete Orkan unsere Pläne nicht allzusehr. Ich weise die meteorologische Abteilung an, mich von jeder Änderung des erwarteten Wetters sofort zu unterrichten. Wahrscheinlich wird die Stadt nicht allzusehr beeinflußt. Aber bei Seegang und Wind in Orkanstärke müssen die Stadtbewohner zunächst an Bord bleiben. Wenn die Stadt schnell sinkt, dann wird es eng.

Unser Kurs steht jetzt also fest. Kurz vor 11:30 Uhr morgen werden wir, noch auf hoher See und auf fast genauem Südkurs befindlich, die Kurve einleiten. Sie hat einen Radius von 108 Kilometern, und St. Peter Ording wird zu diesem Zeitpunkt 153 Kilometer südöstlich von uns sein. Der Kurvenbogen, dem wir bis zur Strandung folgen werden, hat aber eine Länge von 170 Kilometern. Dafür brauchen wir dann noch 4 Stunden und 43 Minuten. Kurz nach 16 Uhr ist es dann soweit.

Dann kommt eine Nachricht von der ISAAC ASIMOV. Sie haben Haarrisse im Landefahrwerk gefunden. Wahrscheinlich war der starke Seitenwind bei der Landung auf der Stadt und beim Start daran schuld. Deshalb sind sie nicht noch einmal gekommen, eine Ladung Stadtbewohner abzuholen. Jetzt erst denke ich daran, daß das ja für heute vorgesehen war. Ich hatte es völlig vergessen.

Sie sagen, daß sie sich um 18 bis 24 Stunden verspäten. Das hieße, daß noch einmal eine Landung des Raumschiffes morgen stattfinden würde - mit dem Orkan im Nacken, einer sich ständig verändernden Position der Stadt, falls wir schon im Endanlauf auf den Strand sein sollten, und dann diese ungenaue Terminangabe. Nein, das ist mir zu riskant. Ich lehne jede weitere Landung ab. Es ist mir völlig klar, daß ich auch für diese Entscheidung noch Prügel beziehen werde. Aber noch einmal achttausend Menschen sicher - oder ziemlich sicher - wegbringen und dafür über eine Million gefährden - nein. Besser nicht. Das Manöver schmeckt mir nicht.

Paul stimmt meiner Entscheidung zu. Ob aus Überzeugung oder nur in der Absicht, mir den Rücken zu stärken, das kann ich nicht unterscheiden. Für beides bin ich dankbar.

Dann nehme ich von mir aus noch einmal Verbindung mit der ISAAC ASIMOV auf. Ich frage nach, ob sie für die Landung die Sandbank vor St. Peter benutzen können. Wenn das der Fall wäre, dann könnte man schon bald nach der Strandung der Stadt die ersten Stadtbewohner von der Erde wegschaffen. Sie legen sich noch nicht fest. Raumschiffe der Größe der ISAAC ASIMOV brauchen im Prinzip eine ebene Start- und Landebahn. Sie versprechen, zu untersuchen, ob schnelle Modifikationen am Fahrwerk dieses Vorhaben in den Bereich der Machbarkeit rücken können. Für alle Fälle sollen wir detailierte Luftaufnahmen der Sandbank erstellen, um ein dreidimensionales Rechnermodell der Sandbank und des angrenzenden Wattenmeeres erstellen zu können. Dann erst können sie überhaupt entscheiden, ob eine Landung überhaupt möglich ist, ohne sich die Fahrwerke in einem kleinen Priel zu brechen.

Und kurz nach 19 Uhr passiert etwas ganz Erstaunliches. Das Visiophon meldet sich. Mit bleichem Gesicht und einer Halskrause erkenne ich sie zunächst nicht. Einen Moment überlege ich verblüft, wieso so viele Schläuche und Drähte in einen Menschen hinein- und hinausgehen können.

Es ist die Straub. Sie hat von sich aus die Verbindung aufgenommen. Also hat sie ihren Selbstmordversuch soweit überlebt, daß sie noch in der Lage ist, zu denken. Dann wird sie auch wieder auf die Beine kommen. Meine durch diese Erkenntnis bedingten Gefühle sind sehr zwiespältig.

"Techniker Pemberton?" fragt sie, mit krächzender Stimme.

Paul ist schnell aus dem Sichtfeld des Visiophons herausgegangen. Er hört unserer Unterhaltung aufmerksam zu. Die Straub kann jetzt nur mich sehen.

"Techniker Pemberton, was ist passiert?"

Durch diese bloße Anrede kommt man sich wieder degradiert vor. Verdammte, antrainierte Autoritätsgläubigkeit. Ich weiß nicht, was ich von ihr und ihrem Zustand halten soll.

"Wir befinden uns in der Nordsee. Wir werden morgen nachmittag an der deutschen Nordseeküste landen." sage ich in einem neutralen Ton.

Ich gebrauche das Wort 'landen', statt 'stranden'. Blödsinn auch das. Eine Stadt wie diese kann man nirgends 'landen'.

Straub denkt angestrengt nach.

"Hieß es nicht, daß die Stadt sinken würde?"

"Ja. Das ist der Fall. Wenn wir nicht landen, dann wird die Stadt sinken."

"Und warum verhindern sie es nicht?"

Wie soll man es ihr klarmachen? Sie hat doch schon Mühe, diesem Gespräch zu folgen.

"Es geht nicht. Es ist technisch unmöglich."

"Ich werde Cammaroto sprechen."

"Das geht auch nicht. Cammaroto ist tot. Er starb beim Kampf um Sektor C7."

Sie überlegt, wer wann worum gekämpft haben könnte, und warum sie nichts davon weiß. Wahrscheinlich ist sie erst vor kurzem aus der Narkose aufgewacht. Wahrscheinlich hat sie nicht einmal etwas von dem Umzug aus den hinteren Stadtteilen bemerkt. Wieso ihre Ärzte sie schon ein so langes Visiophongespräch führen lassen? Ich vermute, daß sie so lästig geworden ist, daß man ihr den Willen gelassen hat.

"Dann will ich den Stadtkommandanten sprechen. Verbinden sie mich mit dem Stadtkommandanten. Machen sie schnell."

Denn Wunsch kann ich ihr erfüllen.

"Ich bin die Stadtkommandantin."

Mit sturem Basiliskenblick sehe ich sie an. Ein Häuflein Elend. Sie versucht, die Lage zu erfassen, ich sehe es ihr an. Und von sowas hat man sich rumkommandieren lassen. Empfinde ich Triumph? Nein. Die Straub ist zu unwichtig, als daß man den 'Sieg' über sie feiern könnte, nachdem sie jetzt 'kaltgestellt' worden ist. Es warten wirkliche Probleme. Was sind dagegen jetzt noch persönliche Reibereien der Vergangenheit?

Wieviele Menschen, überlege ich, kommen nur deshalb nicht zur Blüte ihrer intellektuellen und kreativen Leistungsfähigkeit, weil sie sich durch inkompetente Vorgesetzte und Kollegen eingeengt fühlen? Wieviel Motivation und Begabung wird unter dieser Decke der Mittelmäßigkeit erstickt? Und doch empfinde ich eine Art gemessenes Mitleid - nicht viel - so, wie sie jetzt daliegt, und nicht nur wegen ihres physischen Zustandes, sondern auch wegen ihrer Verfassung, aus der heraus sie diesen Selbstmordversuch gemacht hat.

Aber ein freundliches Wort mag ich ihr auch nicht sagen. Ich sehe das Bild auf dem Visiophongerät an wie ein Chiurg in ein Endoskop hineinsieht. Oder so, wie man ein entferntes Geschwür ansieht, ein Präparat der Pathologie. Mit klinischem Interesse.

"Techniker Pemberton. Bringen Sie mir das Logbuch zur Einsicht." sagt sie. Ich sage nichts. Nach weiteren vierzig Sekunden kann sie meinem Blick nicht mehr standhalten und schaltet mit einer offenbar anstrengenden Bewegung ab.

"Verrückt. Was denkt sie sich dabei?" fragt Paul.

"Sie kann die Entwicklung der Dinge nicht verstehen, glaube ich. Verstehst du - sie hatte nichts mehr außer ihrem Vorgesetztenposten als Schichtleiterin. Sie begann, alt zu werden. Dann hatte sie verschiedene gesundheitliche Probleme - keine Behinderung, aber immer gerade soviel, daß sie sich daran erinnert fühlte, auf dem Wege zu sein, ein Wrack zu werden. Die technischen Belange ihres Berufes haben sie überfordert, und das konnte sie niemandem eingestehen. Sie hatte, ich meine, sie hat eigentlich sehr wenig von dem, was das Leben lebenswert macht.

"Und noch etwas anderes kommt hinzu. Sie hat keine Hochschulausbildung, sondern sich eben so emporgearbeitet. Das führt zu einem ständigen Komplex gegenüber Akademikern. Und wo immer sie Akademikern Fehler nachweisen konnte, hat sie es mit besonderen Vergnügen getan. Ich war ihr liebstes Opfer."

"Aber Stadttechniker sind doch im engeren Sinne keine Akademiker?" wundert Paul sich.

"Nein. Es ist ja kein wissenschaftliches Studium, das wir hatten, sondern eine sehr vielseitige technische Ausbildung. Aber das war für sie eine zu feine Unterscheidung. Dazu kommt, daß auch einige der Kollegen von technischen Dienst der Stadt tatsächlich eine richtige Hochschulausbildung haben. Du, zum Beispiel."

"Naja," meint Paul, "für nur angelernte Informatiker oder gar Hobbyprogrammierer dürfte der Umgang mit diesen großen Systemen wirklich ein bißchen viel sein."

"Das mag sein. Aber auch unter den nautischen Stadttechnikern gibt es zum Beispiel Kollegen, die Physiker sind. Es ist einfach angemessen. Man muß über sehr viele Dinge gut Bescheid wissen, von Meteorologie bis zur Reaktortechnik."

"Wie ist sie denn überhaupt soweit gekommen, mit diesen Charaktereigenschaften und dieser mäßigen Vorbildung?"

"Genau weiß ich das nicht. Energie, Vorspielen eines falschen Egos - manche Leute kommen mit sowas ja sehr weit. Und je weiter man in der dispositiven Ebene des Managements vorrückt, desto unwichtiger wird wirkliches fachliches Können. Das ist bei Organisationen, die eine tiefer gestaffelte Hierarchie haben, noch schlimmer. Der Verwaltungsapparat der Weltbevölkerungskonferenz zum Beispiel ist doch ein richtiger Elefantenfriedhof!"

"So spricht man nicht über den eigenen Dienstherren. - Aber du hast natürlich recht!"

"Noch etwas kommt bei der Straub hinzu," sage ich nach einer Überlegungspause, "die mangelnde akademische Ausbildung hat bewirkt, daß ein ganz wesentliches Ideal der Naturwissenschaftler an ihr spurlos vorbeigegangen ist. Die Einsicht, daß es in der wirklichen Welt Zusammenhänge gibt, deren Richtigkeit völlig unabhängig davon ist, ob man sie für richtig hält oder ob man sie versteht. Für einen Naturwissenschaftler ist es nicht ehrenrührig, zuzugeben, daß er etwas nicht versteht oder daß er sich geirrt hat. Das ist für die Straub eine völlig fernstehende Auffassung. Sie scheint tatsächlich der Meinung zu sein, daß mit gesellschaftlicher Position auch die Weisungsbefugnis über richtig und falsch in technischen Zusammenhängen verbunden ist. Ich weiß, das hört sich für uns mehr technisch orientierte Mitarbeiter sehr seltsam an. Aber solche Menschen gibt es. Eine für uns kaum nachvollziehbare, geistige Verarmung. - Ich glaube, eines der wenigen Vergnügen, die sie sich geleistet hatte, war, ihre Leute herumzuscheuchen. Ein Vergnügen, das in ihren geistigen Horizont paßte. Und daß das jetzt wohl auch nicht mehr sein wird, das wird sie so schnell nicht fressen."

"Bleibt sie Schichtleiterin? Ich meine, das mußt du jetzt doch entscheiden."

"Stimmt. Da hast du recht, das muß ich entscheiden. Nein. Es geht nicht. Ich versuche, jetzt nicht aus Gefühlen der Antipathie heraus zu urteilen, die ja zweifellos da sind. Aber diese Frau ist mit dem Beruf einer Schichtleiterin völlig überfordert. Das darf sie nicht mehr machen."

Und dann fällt mir noch was ein:

"Was überlegen wir da überhaupt - ich brauche das ja gar nicht zu entscheiden! Morgen abend gibt es die Stadt nicht mehr und damit auch keine Schichtleiterin!"

"Wo du recht hast hast du recht!" lacht Paul, fast erleichtert, "Jetzt machen wir auch schon solche Denkfehler!"



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite

Sie sind Leserin dieser Seite Nummer


This page hosted by GeoCities Get your own Free Home Page