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26. Kapitel



        26.     Die Weltbevölkerungskonferenz

16 Uhr. 24 Stunden und 864 Kilometer bis St. Peter Ording.

Die Besatzungen der drei Flugzeuge haben keine außergewöhnlichen Vorkommnisse berichtet. Allerdings verhalten sie sich seit einer Stunde ziemlich inaktiv.

Ich hätte gerne noch einige zusätzliche Lotungen vor der Küste von St. Peter vornehmen lassen. Aber ich will nichts mehr riskieren. Das, was wir haben, muß genügen.

Dann ruft zum soundsovielten Male die Fernsehstation an und will wissen, wie ich die Ereignisse interpretiere, und ob für die Menschen nach der Strandung eine Gefahr besteht. Ich möchte mal wissen, was sie mit diesen Fragen erreichen wollen. Wenn ich einen Urwald mit einem Tiger, der in jüngster Vergangenheit nachweislich Menschen gefressen hat, betrete, dann frage ich ja vorher auch niemanden, ob das gefährlich werden könnte. So ein paar Dinge sollte man sich doch selbst zusammenreimen können.

Vielleicht diskutieren wir etwas zu viel über die Vorkommnisse, Michelson, Paul und ich, und manchmal reden wir auch mit den Leuten in der Leitwarte. Das ist natürlich unlogisch, denn unser Hauptproblem bleibt die Strandung. Eine falsche oder schlechtüberlegte Entscheidung kann da Tausende von Menschenleben kosten, während ein schießwütiger Eingeborener auf St. Peter wohl nicht soviel Unheil anrichten kann. Aber über letzteres wissen wir nichts genaues. Viele Theorien sind schon vorgebracht worden. Vom Kugelblitz bis zur Vergaserexplosion reichen die Erklärungsversuche, die sich auf nicht durch Menschen verursachte Absturzursachen beziehen. Paul ist genötigt, sein Wissen über Explosionsmotoren und kleine Kernsprengkörper wiederholt von sich zu geben.

Ich bin sicher, auch dieser Vorfall wird im ganzen Sonnensystem heiß diskutiert. Endlich passiert mal wieder was, in dieser langweiligen, sicheren Zivilisation! Seit den Ökokriegen war ja nichts wirklich Aufregendes in den Schlagzeilen. Allein, mir fehlt die Zeit, jetzt noch einige von den Außenwelten heruntergefaxten Blätter oder Fernsehsendungen anzusehen. Michelson hat sich da etwas mehr Zeit genommen. In einer ruhigeren Minute erzählt er mir, daß mein Zuschalten der Vortriebsmaschinen vor dem Hochfahren der Reaktoren Gegenstand einiger öffentlicher Erörterungen in den Medien ist. Das kann ja noch heiter werden. Sie suchen einen Schuldigen. Und wenn sich ein Fehler in der Software des Stadtrechners nicht sicher genug finden läßt, dann muß es eben die Stadtkommandantin, damals noch diensthabende nautische Stadttechnikerin sein.

Jedenfalls: In 24 Stunden bin ich diesen Job offiziell los - dann gibt es diese Stadt nicht mehr. Allerdings wird es noch viel zu tun geben, bis die Stadtbewohner nach Hause gebracht worden sind.

Einen kurzen Moment denke ich auch daran, daß ich in einem weiteren Punkt Glück habe: Der Papierkrieg, den ein Stadtkommandant führen muß, wird mich für die Zeit, wo ich diese Rolle ausfülle, verschonen. Ich habe ja einfach nicht die Zeit für diesen Pipifax. - Wahrscheinlich hat sich die WBK-Verwaltung auch noch gar keine passenden Formulare für Notfälle dieser Art ausgedacht. Das werden sie noch, da bin ich sicher. Die ganzen Schadensersatzregelungen, zum Beispiel - eine Spielwiese für Bürokraten.

Das Visiophon meldet sich. Die meteorologische Abteilung ist dran.

"Kann ich den Stadtkommandanten Pemberton sprechen?" fragt ein langhaariger Mann, nicht älter als der Michelson. Noch einer, der nicht auf dem laufenden ist.

"Das bin ich."

"Ah. Sind Sie in der Stimmung für schlechte Nachrichten?"

"Ja. Besonders, wenn sie schnell und präzise vorgetragen werden."

Es ist nicht zu erkennen, ob das gesessen hat.

"Wir sind durch unseren Südkurs zwar einer Reihe von Zyklonen über dem Nordatlantik ausgewichen. Deshalb das vergleichsweise ruhige Wetter. Aber morgen wird über die Britischen Inseln ein Ding rüber kommen, sage ich ihnen, ein Ding!"

"Was für ein Ding?"

"Eine Zyklone, ein Orkan."

"Ach so. Das ging aus dem vorher gesagten nicht so genau hervor. Sie sprachen von einem 'Ding'."

Vielleicht findet er seine Art komisch. Ich nicht. Ich frage nach:

"Wann ist die Front bei St. Peter? Welche Spitzenwindgeschwindigkeiten? Welche Windrichtung? Ist mit Gewitter zu rechnen? Nebel? Welche Niederschläge? Temperaturen? Wie schnell ist die Zyklone durchgezogen? Wie sind die Auswirkungen auf den Wasserstand?"

"Morgen um vierzehn Uhr. 190 Kilometer pro Stunde aus West bis Südwest, in Böen bis 230 Kilometer pro Stunde. Keine Gewittertätigkeit, aber massive Niederschläge. Temperatur fallend, um den Gefrierpunkt. Vorbeizug einige Stunden. Wegen der relativen Kürze des Orkans bleibt das Hochwasser im Bereich üblicher Sturmfluten."

Sieh da. Er kann es ja.

"Okay. Danke. Wie ist Ihr Name?"

"King Kong." Das Visiophon verblaßt. Wie ich sie liebe, diese aufgeblasenen Halbwüchsigen mit ihren Allüren. Wahrscheinlich ein Werkstudent. Oder hat sich jemand einen Scherz erlaubt? Ich bitte Paul, in der Meteorologischen anzurufen und diese Voraussage zu verifizieren.

Dann klingelt der Zentralschacht, und Rodrigo Sanchez betritt den Kontrollraum des Turms.

"Wo kommst du denn her?"

"Arbeiten," sagt er, "fast ununterbrochen. Sieht man's mir nicht an?"

Man sieht es ihm an. Er hat Schürfwunden an beiden Unterarmen.

"Warst du in den hinteren Sektoren?"

Er läßt sich mit der Eleganz eines Mehlsackes in einen der Sitze fallen.

"Natürlich. Wo sonst? Mein Gott, was haben wir geschuftet, um diese Schotts festzukeilen. Es ist doch alles umsonst. Du weißt nicht, was dahinten los ist, Joycelyn!"

"Natürlich weiß ich es: Die Stadt bricht auseinander."

"Die Stadt bricht auseinander. Das ist schön gesagt. Wie 'Der Zug fährt in zwei Stunden ab.' Es ist ein Chaos!"

"Habe ich was falsch gemacht?"

"Du? Nein. Wie kommst du darauf?"

"Ich dachte, dein Ton wäre irgendwie vorwurfsvoll?"

"Bist du auch übermüdet? Nein, ich meine, es ist das genuine Chaos. Du solltest da mal hingehen, Joycelyn! Ach Moment, du bist jetzt ja Chef, habe ich gehört, nicht wahr? Dann hast du wohl keine Zeit dafür. Also, die Stadt schreit richtig."

"Die Stadt schreit?"

"Ja. Es ist die langsame, mechanische Verformung, die durch die vollaufenden Abteilungen hervorgerufen wird. Dauernd biegen sich Metallwände, dauernd reißen welche, dauernd wird irgendwo eine Stahlbetonwand gesprengt. Das geht ununterbrochen so, den ganzen Tag. Dauernd hört man irgendwo das Poltern einstürzender Betonmauern und anderer, schwerer Gegenstände, die irgendwo herunterfallen. Dauernd kreischt Metall, reißend oder schleifend. Dazu der Geruch durchgeschmorter Kabel und brennender Isolationen, dazu etwas Stickoxid aus Kurzschlußlichtbögen und Chlor aus der Elektrolyse von Seewasser. Und dauernd ist man auf der Flucht, weil man plötzlich bis zu den Knien im Wasser steht - wenn es nicht gleich sehr viel heftiger dahergeschossen kommt, aus einer ganz unvorhergesehenen Richtung. Dabei sind schon einige umgekommen."

"Ich weiß."

"Joycelyn," unterbricht Paul, der am Visiophon steht, "Ich habe in der Meteorologischen nachgefragt. Es stimmt, der Sturm kommt wirklich. Und unser Schimpanse heißt wirklich King Kong."

"Welcher Schimpanse?" fragt Rodrigo verwirrt.

"Vergiß es. Wie weit von C7 entfernt ist denn dieses 'Schreien der Stadt' spürbar?"

"Weit, weit. Die Stahlkonstruktionen tragen den Körperschall effektiv durch die Stadt. Das merkt man normalerweise nicht, weil es solche Schallquellen nicht gibt. Höchstens, daß man bei schwerem Wetter manchmal, in sehr stillen Winkeln der Stadt, das Dröhnen der Wellen hört, die auf die Stahlplatten des Stadtrandes aufschlagen. - Gibt's einen Kaffee?"

"Michelson wird sich drum kümmern."

"Danke. Diese Erscheinungen sind überall dort spürbar, wo sich die mechanischen Parameter der Stadt schon ganz geringfügig verändern. Das ist schon einen Kilometer von dort entfernt spürbar, wo das Seewasser nachweislich durch Undichtigkeiten eindringt. Mit bloßem Auge sieht man nichts, es sei denn, man findet eine Stelle, wo Wände aus der Nähe sichtbar auseinanderfugen - einen millimetergroßen Spalt, vielleicht. Aber man hört es. - Da sieht man erst einmal, wie wir von der rechnergesteuerten Stadtstabilisierung abhängen. Es ist irgendwie nicht das richtige Konstruktionsprinzip."

"Es ist auch nicht die richtige Situation für die Stadt." entgegne ich.

"Ach nein? Das kann man doch wohl nicht sagen."

Rodrigo scheint ärgerlich zu werden. Wird er eigentlich selten.

"Das kann man sogar überhaupt nicht sagen. Das ist doch keine Situation, die uns von außen irgendwie aufgezwungen wurde! Wir haben schon schlimmere Stürme ausgeritten! Das allein hätte der Stadt noch überhaupt nichts gemacht! Die Stadt hält jeden Sturm aus, jeden! Das sind doch knallharte technische Fehler in der Konstruktion der Stadt! Und die Konstruktion der Stadt läßt ja nicht einmal zu, daß gemachte Fehler durch geeignete Maßnahmen kompensiert werden können!"

Schimpft er jetzt über die Systemsoftwareprogrammierer, die an der Steuersoftware des Stadtrechners gearbeitet haben, oder über die Gesamtkonstruktion der Stadt ganz allgemein, oder über mich?

"Zum Beispiel. Ein klitzekleines Beispiel, ja? Wieso ist es nicht möglich, durch eine manuelle Schaltung alle Auftriebszellen simultan abzuriegeln, für den Fall, daß der Stadtrechner Mist baut? Was wäre denn daran so entsetzlich teuer gewesen? Ein paar tausend Kilometer Kabel mehr, ein paar tausend Leistungsrelais oder Thyristoren, ein paar Tausend Stellmotoren für die Ventile der Auftriebszellen. Eine Handvoll Schalter, in jedem Kontrollraum. Es wäre alles wunderbar gewesen. Die gerade noch bestehende hydrostatische Regelung wäre eingefroren und damit noch eine ganze Zeit gültig gewesen. Man hätte vielleicht Zeit genug gehabt, den Stadtrechner herunter- und wiederhochzufahren, mit konsistenten Daten!"

Der Zentralaufzug klingelt, und ein Mädchen bringt Kaffee und Gebäck. Sie sieht uns ehrfürchtig an, als ob wir Zauberer wären. Natürlich hat sie alle TV-Übertragungen gesehen. - Dabei werden wir für ihr Überleben auch nichts wesentlich Raffinierteres unternehmen können als das, was ihr im Moment der Strandung selbst einfallen wird. Das ist auch so ein Punkt: Diese unbegründete Autoritätsgläubigkeit. So, wie dieses Mädchen von den Verpflegungsdiensten auf uns vertraut, so haben wir den Herstellern der Stadttechnologie vertraut. Bloß, weil sie sich selbst 'Fachleute' nennen. Was ist denn ein Fachmann? Jemand, der die allergröbsten Fehler auf seinem Spezialgebiet mit größerer Wahrscheinlichkeit vermeiden kann als der blutige Laie. Aber wegen dieser Autoritätsgläubigkeit wird ein Fachmann auch viel weniger am Fehlermachen gehindert.

"Mit dem Vortrieb ist es ganz genau dasselbe. Und mit den Reaktoren. Warum gibt es keine zentrale Notabschaltung? Die Problematik mit der Lastverteilung war den Konstrukteuren der Stadt doch bekannt, sonst wäre der Rechner doch gar nicht mit dieser Funktionalität installiert worden! Wieso gehen sie davon aus, daß der Rechner immer und immer funktioniert? Wie kann man nur so behämmert sein?"

"Reg' dich ab, Rodrigo. Paul ist schon ganz deprimiert. Er hat ja mitgearbeitet, an dem System."

Paul grinst schief. Ich weiß nicht, inwieweit er die Vorwürfe als auch an sich gerichtet auffaßt. Rodrigo sieht ihn kaum an.

"Es ist ja noch viel mehr. Zum Beispiel die Struktur der Stadt. Wir wissen ja, daß sie seinerzeit fast organisch gewachsen ist - immer ein Blechkasten nach dem anderen wurde angebaut, Wände durchbrochen, Verbindungsleitungen gelegt. Gerade, daß sich ein Plan durchsetzen ließ, der die äußere Form der Stadt festlegte: Ein Rechteck von 5 mal 25 Kilometern, und das ganze vierzig Meter dick, im Durchschnitt. So kommt es, daß da gar keine 'Fail-Safe-Strukturen' sind. Schotts zum Beispiel, die so stark angelegt sind, daß die Zerstörung der Stadt da zum Stillstand kommt. Sollbruchstellen. Vielleicht die Möglichkeit, sich von ganzen Sektoren zu trennen. Ist das denn soweit hergeholt? Stellt euch doch mal vor: Die Stadt bestünde aus 125 quadratischen Sektoren von je einem Quadratkilometer. Also so, wie sie jetzt aus simplen organisatorischen Gründen benannt sind. Diese Sektoren ließen sich aber völlig von den anderen abriegeln und mechanisch trennen. Jeder Sektor wäre in der Lage, an der Außenseite zu liegen, mit jeder seiner vier Seiten. Wenn das so wäre, dann könnten wir jetzt im Stadtinneren etwa neun Sektoren schon abgekoppelt haben und zusehen, wie sie absaufen. Der Rest der Stadt wäre zumindestens davon nicht bedroht. Statt dessen müssen wir zusehen, wie ein Defekt, der eine gewisse Größenordnung erreicht hat, schön langsam aber unaufhaltsam die ganze Stadt zerreißt."

"So ist es aber nicht," sage ich, "die Stadt ist eben nicht so gebaut, und wir müssen uns damit abfinden. Deshalb werden wir sie ja auch stranden."

"Genauso wird es geschehen, genauso." Rodrigo schlürft seinen Kaffee zwischen den Redepausen. "Noch ein Beispiel, wie wenig Planung in diese Stadt eingeflossen ist, ja?"

"Nämlich?"

"Weißt du, daß nicht einmal die Baustoffe der verschiedenen Sektoren aufeinander abgestimmt wurden? Die Außenwände, die dirrekt mit dem Meerwasser in Kontakt sind, sind nicht alle aus der gleichen Legierung hergestellt worden. Weißt du, was dann passiert? Große Teile der Stadtaußenwände und des Stadtbodens bilden so riesige Batterien. Ständige elektrochemische Zersetzungsvorgänge. Ständig werden bestimmte Wände abgebaut, schneller, als es allein durch die korrosive Wirkung des Meerwassers sowieso schon der Fall wäre."

"Das stimmt nicht ganz - es gibt Opferelektroden ..." wende ich ein.

"Ja uns? Heißt das nicht, eine Batterie durch die andere zu ersetzen? Die Stadt hat einen immensen Ionenverlust, soviel ist sicher. Für die Ewigkeit ist sie nicht gebaut."

Ich könnte einwenden, daß wir auch nicht für die Ewigkeit gebaut sind, aber ich glaube kaum, daß er das hören will.

"Anstriche und Rost dämmen den Ionenstrom ein." sage ich.

"Sag jetzt bloß noch, daß du Rost für ein wesentliches Baumaterial der Stadt hälst! Und Anstriche - du weißt genau, daß es heute Anstriche gibt, die die Oberfläche eines Satelliten tausend Jahre lang gegen Sonnenwind und Mikrometeoriten schützen können. Aber ein Anstrich, der so lange Nordseewasser von einer Metalloberfläche fernhält - da müssen sie noch lange hinforschen."

Will er mich jetzt eigentlich überzeugen, daß die Stadt nur aus Schrott besteht?

"Joycelyn," fährt er fort, "weißt du eigentlich, ich meine, hast du darüber nachgedacht, daß du, in der gesamten Geschichte der Menschheit im Moment das größte Schiff hast, das je gebaut wurde, und daß du im Begriff bist, es zu verlieren? Das größte Schiff unter allen Seeschiffen und Raumschiffen zusammen?"

"Soll ich jetzt vor Stolz erschauern? Natürlich weiß ich es. Ändert das etwas an der Situation? Ändert es etwas an dem, was getan werden muß?"

"Außerdem," fährt Rodrigo nach einer längeren Pause fort, "sind wir als Stadttechniker nicht nur für die Stadt, sondern auch die Ökoreserve Erde verantwortlich. Beide Verantwortungen gehen immer zusammen. So steht es in unserem Dienstvertrag."

"Ja und? Das weiß ich auch. Worauf willst du hinaus?"

"Man wird dir die Hölle heiß machen, wenn du diese fünf Milliarden Tonnen Schrott vor St. Peter Ording deponierst."

Paul mischt sich ein: "Ich verstehe nicht, was diese ganze Unterhaltung soll! Irgendwo MUSS sie die Stadt deponieren - darüber, ob das geschieht, haben wir keine Macht mehr. Nur noch darüber, wo es am besten geschehen sollte."

Ich werfe ihm einen dankbaren Blick zu. Rodrio muß sehr erschöpft sein, wenn er so redet.

"Ich habe mir schon überlegt, daß die Weltbevölkerungskonferenz auf die Idee kommen könnte, euch einen Kurs zurück auf den Atlantik zu befehlen, damit die Stadt in tiefem Wasser versinkt."

"Jetzt spinnst du wirklich, Rodrigo! Warum sollten sie das tun? Das wäre das sichere Ende für alle Menschen an Bord!"

"Joycelyn, du weißt ganz genau, wie wenig zimperlich sie waren, als die Erde von Menschen geräumt wurde. Und davor, zu Zeiten der Halbflächenregelung, sind sie doch auch nie besonders rücksichtsvoll gewesen, wenn es darum ging, ökologische Ziele durchzusetzen."

"Aber nicht nur die WBK, da hat es noch andere gegeben ..."

"Ja. Schon. Aber erst in den Ökokriegen haben sich die Völker mit hehren ökologischen Zielen zu hundert Millionen abgeschlachtet, oder sie haben dabei wenigstens ökologische Gründe vorgeschoben - die WBK ist die historische Konsequenz dieser Ereignisse. Denk daran, wie sie schrottreife Tanker versenkt haben! Die Bombardierungen von ökologisch schädlichen Industrieanlagen und Kraftwerken! Denk an die Pronatalistenverfolgungen! In der Gründungszeit der WBK war es eine absolut tödliche Angelegenheit, mehr als zwei Kinder gezeugt oder geboren zu haben! Sogar heute noch, wo wir überall Grenzwerte für Bevölkerungsdichte haben und wo diese auch überall eingehalten werden, gilt es immer noch als asozial, mehr als zwei Kinder in die Welt zu setzen. Das haben die erreicht! Und sie würden das, was damals geschehen ist, wieder tun, wenn es notwendig wäre! - Brutale Verfolgung aller Ökoschädlinge, egal, woraus ihr Verbrechen nun besteht - ob es Kinderkriegen ist oder eine andere Form der Umweltverschmutzung - die WBK ist nicht nur das Schild der Ökologie - sie ist ihr Schwert! Das ist kein Mädchenpensionat, Joycelyn! Das ist noch nie eins gewesen!"

"Nein, das ist die WBK nicht. Das ist wahr. Aber das ist lange her. Jetzt ist die Situation doch völlig anders. Wir werden den Strand von St. Peter doch nicht absichtlich verschmutzen. Wir sind dazu gezwungen. Und dafür kann uns niemand zur Rechenschaft ziehen."

"Hoffentlich sehen sie das auch so!"

"Sonst hätten sie doch schon längst etwas unternommen! Außerdem sieht die Öffentlichkeit der gesamten Welt zu - alle Außenwelten hängen doch an uns dran, medienmäßig!"

"Seit wann scheren sie sich um die öffentliche Meinung, wenn es um Ökologie geht. Joycelyn, du weißt doch so gut wie ich, in was für einer seltsamen Gesellschaft wir leben. Wahrscheinlich ist die freiheitliche und demokratische Grundordnung, die wir zu genießen das Privileg haben - wie es immer so schön formuliert wird - eine der freiheitlichsten und demokratischsten, die es je gegeben hat, in der ganzen Geschichte der Menschheit. Der Pluralismus in unserer Gesellschaft ist historisch wirklich beispiellos - bis auf eine Ausnahme: In Sachen Ökologie. Da herrscht Diktatur. Eine Diktatur, die keine Spur einer Opposition duldet."

"Das siehst du zu eng."

"So, tue ich das? Angenommen, die Bevölkerung der Außenwelten käme jemals mehrheitlich auf die Idee, die Erde wieder bewohnen zu wollen. Auf welchem Wege kann das erreicht werden?"

Ich brauche nicht lange nachzudenken: "Das kann überhaupt nicht erreicht werden. Die Ökoreserve Erde ist Treuhandgebiet der gesamten Menschheit. Das ist verfassungsmäßig genauso festgeschrieben wie die Meinungsfreiheit, das Recht, Parteien zu bilden, zu wählen, jede oder keine Religion auszuüben, und was weiß ich noch, was wir so an expliziten und impliziten Rechten haben. Das Recht, auf der Erde wohnen zu dürfen, sogar es zu wollen, gehört nicht dazu. Genausowenig wie das Recht, aus Spaß zu töten."

"Nicht einmal mit einem Plebiszit?"

"Natürlich nicht! Mord kannst du ja mit einem Plebiszit auch nicht legal machen!"

Rodrigo steht auf: "Sie haben dich gut indoktriniert: Du wirfst beides in einen Topf."

"Nein," widerspreche ich, "es ist einfach nicht richtig, was du sagst. Die WBK ist keine Diktatur. Genausowenig wie ich es als Beschneidung meiner persönlichen Rechte empfinde, nicht töten zu dürfen, genausowenig nehme ich daran Anstoß, nicht auf der Erde leben zu dürfen. Wir brauchen die Erde nicht mehr! Wir haben die Technologie, uns für alle Zeiten auf den Außenwelten heimisch fühlen zu können! Es entgeht uns nichts dadurch! Wir sind, als Spezies, gewissermaßen erwachsen geworden! Dann heißt es, raus aus der Krippe! Das ist doch ganz natürlich. - Und außerdem - diese Stadt war ja ein Beweis dafür, daß man wenigstens zeitweise die Erde besuchen darf. Gerade so häufig und in solchen Mengen, daß die Erde keinen Schaden nimmt. Was wir mehr wollen, müssen wir uns auf den Außenwelten künstlich schaffen. Und das können wir. Sie doch die schwebenden Gärten in den Saturnstädten an! So etwas hat es auf der Erde nie gegeben! Wird es auch nie geben."

"Sie haben dich gut indoktriniert," wiederholt Rodrigo, "gut genug jedenfalls, daß du vorbehaltlos der WBK alles abkaufst, was sie argumentativ jemals aufgefahren hat oder auffahren könnte. Andererseits kannst du dir offenbar nicht vorstellen, daß sie nichts dagegen unternehmen werden, daß du einen Teil Europas so nachhaltig verschmutzen wirst."

"Das werde ich nicht. In dieser Stadt sind, erstens, keine problematischen Stoffe verbaut. Nicht in nennenswerten Mengen. Es ist viel Material, aber es ist kein Problemmaterial. Es wird zerschlagen werden, vom Sturm und von den Wellen, es wird korrodieren und sich zerstreuen. Es gibt fast nichts, womit die Zeit nicht fertig wird, nichts, was auf Dauer seine Eigenschaft als Umweltverschmutzung beibehält."

"Damit kannst du ja jede Umweltverschmutzung rechtfertigen oder verharmlosen!"

"Versteh mich nicht absichtlich falsch!"

"Wieso? Selbst das schlimmste Giftgas wird von der ultravioletten Strahlung im Laufe der Zeit zerlegt!"

"Es gibt Unterschiede in der Zeit, die benötigt wird, bis etwas folgenlos in einer Ökosphäre aufgegangen ist, und da ist schon ein Unterschied zwischen zehn Jahren und zehntausend oder gar zehn Millionen. - Kann ich weiterreden? - Danke. Zweitens ist die Erde nicht der große, reine Garten, so wie du das jetzt darstellst. Warum wohl stranden wir nicht in Jütland? Frag Paul, wenn du nicht auf dem Laufenden bist. Und deshalb, drittens, wird niemand etwas dagegen unternehmen, daß wir morgen bei St. Peter wie geplant auflaufen werden. Nicht einmal unser schießwütiger Freund. Außerdem, wie sollte uns, zum jetztigen Zeitpunkt die WBK noch an der Strandung hindern? Die wenigen militärischen Verbände, die sie unterhalten, sind zu weit weg, die können bis morgen die Erde nicht erreicht haben. Noch hat die WBK keine Jurisdiktion über die Himmelsmechanik. Also wird die Strandung ablaufen wie geplant, und damit basta. - Im übrigen glaube ich, daß du Ruhe brauchst. Grundlagendiskussionen können wir später führen, gerne. Jetzt ist noch Zeit, wenn du ..."

"Welcher schießwütige Freund?" fragt Rodrigo verblüft.

"Hast du vielleicht keine Nachrichten gehört?"

"Wann denn? Wir waren beschäftigt, weißt du."

In Kürze erzähle ich ihm von dem Schicksal der beiden Flugzeuge bei St. Peter.

"Also doch. Geht schon los. Alles paßt zusammen." sagt Rodrigo, als ich geendet habe.

"Was paßt zusammen?"

"Was glaubst du, warum die WBK die Erde so eifersüchtig hütet? Hast du schon jemals in der Geschichte eine Organisation erlebt, die unerschütterlich und verbissen Jahrzehnt für Jahrzehnt dasselbe idealistische Ziel verfolgt, ohne jede Abweichung?"

"Ich habe nicht den Überblick ..."

"Ich auch nicht. Aber den braucht man auch nicht. Um Geschichte zu verstehen reicht eine gehörige Portion Zynismus aus. Oder eine Grundausbildung in Psychiatrie. Eines von beiden. Am besten beides."

"Ist das nicht zu sehr vereinfacht?" fragt Paul dazwischen. Er ist eigentlich mit anderen Dingen beschäftigt und kann sich nur gelegentlich in unsere Diskussion einmischen.

"Ich darf das. Ich bin müde, und für einen müden Kopf darf man Dinge vereinfachen."

"Ein müder Kopf darf auch schlafen ..." versuche ich, das Thema abzubremsen. Aber irgendwie muß der vergebliche Kampf um die Stadt Rodrigo ganz schön in Fahrt gebracht haben.

"Es ist ganz einfach. Es gibt so viele Theorien, Ideologien und religiöse Auffassungen über die wahre Natur des Menschen. Die Wahrheit ist aber doch: DER MENSCH HAT KEINE WAHRE NATUR. Der menschliche Geist ist so unglaublich flexibel, daß er sich in jede mögliche Richtung entwickeln kann, wenn ihn nicht die Opposition der Wirklichkeit daran hindert. Die Opposition der Wirklichkeit, das ist es letztlich, was uns überhaupt etwas über die Wirklichkeit lernen läßt. Die Opposition der Wirklichkeit macht uns zu geistig gesunden Menschen."

Rodrigo zeigt auch mich, als ob er mich mit dem Finger erdolchen wollte:

"Ein Beispiel, Joycelyn! Hast du schon einmal von den unglücklichen Menschen gehört, die von Natur aus kein Schmerzgefühl haben? Es kommt ab und zu vor. Weißt du, was mit denen passiert?"

Ich vermute es, aber er wird es mir sowieso sagen.

"Sie werden Krüppel, im Alter von wenigen Jahren. Weil sie nicht die Fähigkeit haben, die Wirklichkeit als potentiell schmerzhaft zu erleben, lernen sie nicht, Schmerzen zu vermeiden. Damit vermeiden sie nicht solche Situationen, in denen man sich ernsthaft verletzen kann. Das meine ich, wenn ich sage, daß die Wirklichkeit vermöge der durch unter Umständen schmerzhaft wahrgenommenen Opposition uns das Denken beibringt. Ist ein Beispiel von vielen."

Ich hatte gar nicht gewußt, daß Rodrigo eine philosophische Ader hat, aber ich halte erstmal den Mund, weil mich interessiert, worauf er hinaus will. Außerdem geht er wahrscheinlich wirklich schlafen, wenn er sich ausgesprochen hat.

"Wenn die Wirklichkeit aber keine Opposition bietet," fährt er fort, "dann stoßen wir - erkenntnismäßig nach. Das hört sich hochtrabend an, hat aber viele andere Namen. Ideenfindung gehört genauso dazu wie Kriminalität. Auslotung der Möglichkeiten, bis man eben doch wieder auf schmerzhafte Opposition trifft.

"Im Falle des Schmerzunempfindlichen bedeutet das ganz konkret, sich Handlungsmuster anzueignen, die ein anderer sich nicht aneignen würde, weil man sich dabei weh tut. Hand ins Feuer halten, zum Beispiel. Es ist derselbe psychische Prozeß. Cortikale Muster werden entwickelt, die geeignet sind, uns in die Lage zu versetzen, mit der realen Welt besser umzugehen. Experimentieren, wirklich alle Möglichkeiten auszuloten, zurückgeschlagen werden, wo nötig. Die Kenntnis eines neuen Naturgesetzes führt dazu, es schon bald auszubeuten, die Kenntnis einer Möglichkeit, sich ungerechtfertigt zu bereichern führt dazu, daß man dies über kurz oder lang tut ..."

"Nicht alle ..." fahre ich dazwischen.

"... wenn man nicht durch Erziehung oder eine andere Art der Abschreckung solche cortikale Muster aufgebaut hat, die geeignet sind, bei einer unrechten Tat ein Unlustgefühl zu bewirken, das einen von dieser Tat abhält. Man spricht dann auch von 'schlechtem Gewissen'."

"Und was hat das jetzt mit den beiden Flugzeugen zu tun?"

"Ist das nicht klar?" wundert sich Rodrigo, "Ich dachte, ich hätte es schon klar ausgedrückt. Was für den Geist eines einzelnen Menschen gilt, das gilt auch für den Geist, oder wie immer man es nennen möchte, einer ganzen Organisation: Behörde, Vereinigung, Firma, Familienclan, Mafia. Wo immer diese keine Opposition finden, stoßen sie nach, um auszuloten, in wieweit sich die Wirklichkeit noch den eigenen Wünschen gemäß umformen oder manipulieren läßt. Und die WBK hat keine Opposition."

"Die WBK ist demokratisch legitimiert!" unterbreche ich.

"Ist sie das, Joycelyn? Bloß, weil du deinen Stadtrat wählen darfst, oder den regionalen Sprecher für die einzelnen Planeten, oder den Solartag, glaubst du, daß du Einfluß auf sie hast? Ja, natürlich, ein bißchen Einfluß hast du sogar, wo immer in der Gesellschaft noch Handlungs- und Gestaltungsbedarf ist. Aber schon das zentrale Dogma, die Unantastbarkeit der Verfassung, die beständige Trennung der vier Gewalten: gesetzgebende Gewalt, ausführende Gewalt, Rechtssprechung und Ökologie, die darfst du nicht antasten. Die Weltbevölkerungskonferenz hat die Ökologie über die drei anderen Gewalten gesetzt, wenn es um ökologische Fragen geht, und diese Vierteilung der Gewalten ist für alle Zeiten festgeschrieben worden. Diese vier Gewalten dürfen sich nicht gegenseitig in ihre Belange einmischen. Eigentlich. Aber die Ökologie darf es unter Umständen eben doch. Und sie stellt selber fest, wann sie das darf! Und dann gibt es kein Mittel, sie zu bremsen! Die demokratische Legitimation der WBK ist eine demokratische Legitimation von ihren eigenen Gnaden!"

"Aber die Weltbevölkerungskonferenz kontrolliert doch die Ökologie!"

"Falsch. Die Weltbevölkerungskonferenz IST die Ökologie. Die Weltbevölkerungskonferenz darf alles."

"Das verstehe ich nicht."

"Als die Weltbevölkerungskonferenz vor langer langer Zeit ihre Tätigkeit als permanente Einrichtung beendet hatte, nämlich zu dem Zeitpunkt, an dem die Erde von Menschen geräumt war, da hat sie für sich selbst dezentrale Nachfolgeorganisationen geschaffen, in jeder Nation jeweils eine, und sie den jeweils vorhandenen drei Gewalten zur Seite gestellt. Aus drei Gewalten wurden vier. Die Weltbevölkerungskonferenz blieb danach lediglich eine Institution, die die Koordination aller für den Planeten Erde ökologisch relevanter Aktivitäten sicherstellen sollte. Sicher, du darfst wählen - sogar die Vertreter der Ökologie. Nur das, was sie tun, darauf hast du keinen Einfluß. Denn wenn du andere wählst, dann tun sie genau dasselbe. Nämlich das, was die WBK ihnen sagt. Es sieht demokratisch legitimiert aus, ist es aber nicht. Das meine ich, wenn ich 'von eigenen Gnaden' sage. Und die Öffentlichkeit ist darauf reingefallen."

"Außer dir!"

"Naja, nicht nur. Es gibt auch andere Leute, die nachdenken können. Die Kritik an der WBK wird mit den Jahren langsam stärker."

"Siehst du, da hast du es: Die Kritik wird stärker. Und sie lassen euch gewähren. Ist das nicht Demokratie?"

"Sie lassen uns gewähren, weil sie zu fest im Sattel sitzen. Das ist es. Es gibt zur Zeit noch keine gesellschaftliche Instanz, die in der Lage wäre, der WBK ernsthaft Paroli zu bieten. Wer immer es versuchte, müßte sich vorhalten lassen, an allem, was seit der Existenz der WBK erreicht worden ist, zu sägen und zu kritisieren. Und das ist zweifellos ja eine ganze Menge."

"Allerdings, das ist es!" sage ich, und zähle auf: "Es gibt keine Kriege mehr, und keine Armut, und die Erde ist auf dem Wege, sich ökologisch von der Menschheit zu erholen. Jeder hat überall, in allen Nationen, die gleichen Rechte und Pflichten, niemand ist arbeitslos, niemand ist ohne Hilfe, wenn Hilfe notwendig ist." Zu spät merke ich, daß ich den Satz brav wie ein Schulmädchen aufgesagt habe. Wenn Rodrigo amüsiert ist, dann läßt er es sich jedenfalls nicht anmerken.

"Darauf werden sie sich noch Jahrhunderte berufen. So wie damals die Kirchen sich auf Christus und die Bergpredigt beriefen, zwei Jahrtausende lang, zur Zeit der Borgia-Päbste und später, sogar dann noch, als sie die Scheiterhaufen brennen ließen und noch später, als sie wehrlose Frauen und ihre Gynäkologen wegen verunglückter Familienplanungsversuche für ein ganzes Leben ruinierten."

"Das war im zwanzigsten Jahrhundert! Das waren barbarische Zeiten! Das kann man nicht vergleichen!"

"Und ob man das kann! Es geht doch nicht um den Inhalt! Es geht darum, daß eine gesellschaftliche Kraft eine idealistische Ideologie an sich reißt und sie als Herrschaftsinstrument mißbraucht! So wie früher die Kirchen die christliche Lehre, und heute die WBK die ökologische Erhaltung der Erde! Wo steht denn geschrieben, daß man nicht auch ohne die WBK eine ökologisch verantwortungsbewußt handelnde Gesellschaft aufbauen oder erhalten kann? So, wie eine Religion auch ohne einen organisatorischen Verwaltungsüberbau existieren kann!"

"Es steht - was weiß ich - wahrscheinlich wäre das nur möglich, wenn man die WBK neu erfinden würde! Es ist eben eine solche Institution notwendig! - Der Vergleich mit den Religionsorganisationen hinkt außerdem, weil Religion wirklich eine absolute Privatangelegenheit ist, Ökologie aber nicht!"

"Joycelyn, du bist unverbesserlich! Du siehst nicht ein, daß es noch andere Wege gibt, die Welt zu organisieren."

"Ach ja? Und welche?"

"Das weiß ich doch nicht. - Ich weiß nicht, wie es aussehen könnte. Vielleicht wäre das sogar mit einem gewissen Risiko verbunden, daß ökologische Gesichtspunkte wieder unter den Tisch gekehrt werden. Mag sein. Aber, und darauf will ich die ganze Zeit hinaus, es ist nicht so, daß die WBK aus Heiligen besteht. Sie sind nicht Garant einer ökologischen Politik in allen Bereichen!"

"Wieso denn?"

"Weil sie aus Menschen bestehen und damit in etwa so funktionieren wie Menschen. Sie brauchen die Opposition, und die haben sie nicht überall. Ihre bloße Existenz wird ja zum Beispiel von niemandem in Frage gestellt, egal, was sie tun! Regierungen können abgewählt werden, die WBK nicht. Und deshalb können sie alles tun - eine ökologisch klingende Begründung findet sich immer. Es gibt keine Grenzen des politischen Handelns für sie! Die WBK hat immer recht."

"Ne, ne. Wenn das so wäre, dann hätten sie längst die Freiheit und Demokratie in allen Nationen zerstört. Haben sie aber nicht!"

"Weil es geschickter ist, das nicht zu tun. Gib jemandem hier mehr Freiraum, um dort selber den Weg zu bestimmen, ohne daß jemand merkt, daß du die ganze Zeit nur dort Interessen hattest. Laß dir die Dinge abhandeln, die du sowieso zugestehen wolltest. Das sind doch nun wirklich die allerältesten Tricks. Hast du nie Machiavelli gelesen? Platon? Von Clausewitz? Rousseau? Kant? Schopenhauer? Orwell? Vandigborg? AllGambo?"

"Ne."

"Solltest du aber. Es gibt noch weitere Spielregeln der Macht, von denen diese alten Autoren noch nichts gewußt haben. Ein moderner Industriestaat hängt in seiner industriellen Fähikeit zur Effizienz und Innovation ganz erheblich von der Motivation seiner Bewohner ab, und dort gerade von der Motivation der fähigsten, intelligentesten und begabtesten Bewohner. Denen darfst du nicht mit einer Gesellschaftsordnung kommen, wo sie auch nur im entferntesten mutmaßen könnten, es würde an ihnen vorbeientschieden. Nein, für einen modernen Staat reicht die Illusion der Freiheit und Demokratie nicht aus. Das ginge nicht lange gut. Es funktioniert nur, wenn diese Freiheit auf großen gesellschaftlichen Gebieten tatsächlich existiert. Auf den allermeisten, sozusagen. Und das hat die WBK geschafft. Sie hat es auf diese Weise geschafft, ihre Macht auf den Schultern der Bürger von leistungsfähigen Industriestaaten zu etablieren, und das unter den schwierigen Bedingungen der gleichzeitigen Kolonisation der Außenwelten."

Rodrigo goß sich die dritte Tasse Kaffee ein. "Du wirst schlecht schlafen, wenn du so weitertrinkst!" sagte ich, in der schwachen Hoffnung, daß Rodrigo sein Thema fallen lassen würde oder endlich damit herausrückte, was er eigentlich sagen wollte.

"Mag sein. Also: Es gibt keine Grenzen des politischen Handelns für die WBK, und sie stützen sich auf Menschen, die sich für frei halten und in vielen Bereichen auch sind, um in gewissen anderen Bereichen ohne Opposition Dinge durchzusetzen, die sie uns nicht erzählen."

"Und was setzen sie deiner Meinung nach durch?"

"Denk doch mal nach, Joycelyn! Was ist in unserer Gesellschaft schwer zu bekommen, selbst für erhebliche Geldsummen nicht?"

"Ich weiß nicht." zuckte ich mit den Schultern, "Eigentlich - man kann sich zwar nicht alles leisten, aber das, was man unbedingt und um jeden Preis haben möchte, das kann man bekommen. Eigentlich jeder. Also mir geht es jedenfalls so, daß mir für die meisten Dinge die Zeit fehlt, und nicht das Geld! - Die Zeiten, wo materielle Güter Mangelware waren, sind eigentlich schon lange vorbei."

"Und doch gibt es Dinge, die bekommst du nicht für alles Geld der Welt!"

"Wenn du jetzt mit dem dummen Spruch von dem idealen Ehemann, der mir noch fehlt, kommst, dann schicke ich dich kraft meiner Autorität als Stadtkommandantin sofort und unwiderruflich ins Bett!"

"Nein. Potentielle Ehemänner gibts viele, vielleicht sogar einige, die einer Ehe mit dir gewachsen wären! Aber was ist mit einem Häuschen im Grünen? An den Stränden einer Südseeinsel? In den Bergen? Eine Datscha in der Tundra oder selbst die bescheidenste Hütte in den Regenwäldern?"

Jetzt begreife ich:

"Das meinst du also? Politiker der Ökologischen Ministerien und der Weltbevölkerungskonferenz LEBEN AUF DER ERDE?"

"Lange hat's gedauert!" nickte Rodrigo und stand wieder auf, "Weißt du was? Du hast recht. Ich habe meinen Schlaf verdient."

"Morgen brauche ich dich!" rufe ich ihm nach, als er zur Tür geht, "Es wird ein harter Tag!"

"Es ist schön, wenn man in meinem Alter noch gebraucht wird." höre ich noch, bevor die Tür sich schließt.

"Was hältst du davon?" frage ich Paul, der die ganze Zeit wenigstens zugehört hat.

"Er denkt an eine Bonzensiedlung. Eine Bonzensiedlung in St. Peter Ording. Mmh. Schon möglich. Ich hatte die Idee schon früher, flüchtig. Aber dann frage ich mich: Wieso glauben diese Leute, mit dem Schießen auf unsere Flugzeuge etwas zu erreichen? Sie können doch nicht die ganze Stadt aufhalten, und morgen um diese Zeit werden wir uns anschicken, das Festland zu überfluten! Und das vor den Augen der Öffentlichkeit des gesamten Sonnensystems!"

"Und deshalb glaubst du nicht daran?"

"Eine Möglichkeit unter vielen. Mehr nicht. Gesetzt den Fall, daß er Recht hat, dann steht aber eines fest."

"Was?"

"Wer immer den Absturz der Flugzeuge zu verantworten hat, muß blöd sein. Denn derjenige kann nichts erreichen - das müßte aus allen Sendungen klar hervorgehen."

"Großer Trost," sage ich, "Vor einem Idioten mit einer Waffe hätte ich mehr Angst als vor einem, der noch logisch denkt. Bei letzterem würde ich denken, daß der auch noch an seine eigene Sicherheit und sein eigenes Überleben denkt. Aber ich habe noch eine Theorie."

"Welche?" fragt Paul.

"Wer immer da in St. Peter geschossen hat, hat vielleicht ein Lasergeschütz. Aber etwas anderes hat er nicht."

"Nämlich?"

"Fernsehen."



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