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25. Kapitel



        25.     Absturzanalyse

15 Uhr. 25 Stunden und 900 Kilometer bis St. Peter Ording.

Ich berate mich mit den Besatzungen der Flugzeuge in St. Peter und mit Paul. In drei Stunden wird es dunkel. Die letzte Nacht vor der Strandung. Neun Menschen, die sich die ganze Nacht in ihren drei Flugzeugen, eines auf der Sandbank und zwei in der Bucht zwischen Sandbank und Festland, verkriechen werden, nicht wissend, ob vom Lande her sich etwas Bedrohliches nähern wird. Ich überlege, ob ich noch weitere Flugzeuge hinschicke. Aber sie würden erst ungefähr zum Dunkelwerden ankommen, oder sogar noch etwas später. Es wäre schwierig, dann noch eine sichere Landung durchzuführen. Und was könnten sie schon ausrichten? Es hat keinen Zweck.

Und wenn etwas diese neun Menschen bedroht, dann denke ich mir, daß es besser ist, wenn nur diese neun draufgehen als noch ein paar weitere. Morgen, da werden die Stadtbewohner das Land betreten wie eine alles überrollende Flut. Dann werden die Würfel anders verteilt sein. Das Ganze ist eine unmenschliche Arithmetik: Neun Menschen mal eine große Wahrscheinlichkeit, Schaden zu nehmen, ein paar mehr Menschen mal eine vielleicht etwas geringene wahrscheinlichkeit, oder 1.25 Millionen Menschen mal eine ganz geringe Wahrscheinlichkeit, Schaden zu nehmen. Wie groß sind die Wahrscheinlichkeiten? Die müßte man kennen, um ethisch vertretbare Entscheidungen zu machen.

Und Ethik und Wahrscheinlichkeitsrechnung gehen sowieso nicht gut zusammen. Was ist ethisch vertretbar: Eine Entscheidung, die einen Menschen mit Sicherheit das Leben kostet, oder 10 Menschen jeweils mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent, oder eine Million Menschen mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Millionstel? Die Erwartungswerte der Todesfallverteilung sind gleich. Die Bewertung durch einen Staatsanwalt würde aber sehr unterschiedlich ausfallen. In früheren Zeiten ist man das Risiko solcher 'statistischen Erwartungstoten' sehr leichtherzig eingegangen: Bei einer Million handgefällter Bäume gibt es im Durchschnitt einen Toten. Hat man je gehört, daß einer Forstverwaltung deshalb wegen Mordes der Prozeß gemacht wurde?

Bäume werden heute geschickter gefällt, abgesehen davon, daß es eine seltene Tätigkeit ist. Aber was ist mit anderen Risiken und deren Abwägen? Die Strandung der Stadt wird hunderte von Menschenleben fordern. Hunderte von Trivialunfällen. Vielleicht sogar viel mehr - Statistiken gibt es nicht, denn so oft ist noch keine Stadt dieser Größe gestrandet. Eigentlich noch nie. Die Tätigkeit der drei Flugzeuge und ihrer Besatzung auf der Sandbank kann die Zahl der Unfälle günstig beeinflussen. Darf ich ihnen deshalb das größere Risiko so einfach überlassen?

Und wenn ich Skrupel hätte, weil ich mich nicht zur Herrin über Leben und Tod aufspielen möchte, und deshalb den Job einer anderen überlasse? Einer anderen, die vielleicht völlig unfähig ist und viel mehr Unfälle zuläßt? - Man kann mir nicht unbedingt Eingebildetsein vorwerfen, aber ich weiß, was ich kann. Zeigt mir diejenige, die es besser kann, und ich gebe den Job ab! Liebend gerne. Dann trifft es mich ja nicht mehr, wenn denen auf der Sandbank etwas passiert.

Aber sie sind auf ihrer Sandbank ja auch weit weg von der Stelle, wo es die beiden Flugzeuge erwischt hat. Vielleicht sind sie ja gar nicht in Gefahr. Jedenfalls versuche ich, mich selbst durch diese Argumentation zu beruhigen.

Wir gehen die letzten Einzelbilder der Übertragung aus Limberts Flugzeug durch, sowie diese zur Verfügung stehen. Das beschäftigt und hält vom Grübeln ab. Außerdem wollen wir ja etwas rauskriegen, und eventuell finden wir etwas, das unsere Chancen dieser Bedrohung gegenüber gewaltig verbessert. Bei den Truppen der WBK gibt es, wie ich gehört habe, einen Spruch bei der Infantrieausbildung: 'Deckung nehmen spart Blut.' Bei uns ist es jetzt anders: 'Denken spart Blut.' Dann tun wir das doch.

Die Folge der Ereignisse ist diesmal etwa sieben Sekunden lang. Ich stelle ein Protokoll auf, damit wir alle interessanten Details in Schriftform haben:

-7.202 Sekunden

Die Unterhaltung der Flugzeuginsassen wird von einem Zischen überlagert. Zu diesem Zeitpunkt sind die beiden Kameras jeweils aus den Seitenfenstern hinausgerichtet und zeigen nur den Sumpf- und Krüppelwald.

-7.040 Sekunden

Das Bild der linken Kamera wird verschleiert, so als ob links, außerhalb der Bildfläche, eine intensive Lichtquelle entstanden ist. Das Zischen verstärkt sich.

-6.950 Sekunden

Die übertragenen Bilder beginnen sichtlich zu driften, und zwar so, daß der Schluß naheliegt, daß die linke Tragfläche des Flugzeuges ihren Auftrieb verloren hat. Die Verschleierung auf dem Bild der linken Kamera geht zurück.

-6.750 Sekunden

Die Unterhaltung der Flugzeuginsassen, die unter dem lauten Zischen sowieso kaum zu verstehen ist, scheint jetzt, nach der Schrecksekunde, abzubrechen. Das Zischen beginnt, in ein Krachen überzugehen.

-6.700 Sekunden

Der Winkel, den die beiden Kameras miteinander bilden, wird nun deutlich größer. Offenbar fällt die Flugzeugkabine jetzt definitiv. Das Zischen ändert seine Charakteristik sehr deutlich.

-6.500 Sekunden

Ein lauter Schrei einer weiblichen Stimme setzt an.

-6.435 Sekunden

Am oberen Bildrand der linken Kamera tauchen helle Leuchtpunkte auf. Es handelt sich um schnellfliegende, brennende Metallsplitter.

-6.350 Sekunden

Die beiden anderen Flugzeuginsassen schreien jetzt auch.

-6.200 Sekunden

Die glühenden Metallsplitter beherrschen das Bild der linken Kamera so, daß vom Hintergrund nichts mehr zu sehen ist. Die rechte Kamera scheint aufwärtsgeschleudert zu werden.

-5.850 Sekunden

Der erste Funkenschauer im linken Bild ist vorbei. Rechts erscheint der Horizont in der rechten oberen Bildecke.

-5.800 Sekunden

Auf dem rechten Bild kommt die rechte Tragfläche in Sicht. Sie ist unbeschädigt, aber ihre Lage deutet eine Schräglage der Flugzeugkabine von 38 Grad an, außerdem dürfte die Längsachse der Maschine um etwa acht Grad abwärtsgerichtet sein.

-5.720 Sekunden

Die rechte Kamera schlägt offenbar an der Kabinendecke an. Die linke Kamera rotiert inzwischen auch heftig nach oben. Ihrer Lage nach sollte sie inzwischen einen Teil der linken Tragfläche zeigen. Das ist nicht der Fall.

-5.200 Sekunden

Die rechte Kamera fliegt offenbar haltlos durch die Kabine. Mayomas schwarzer Haarschopf kommt ins Bild.

-5.150 Sekunden

Mayomas Haarschopf ist bildfüllend. Offenbar schlägt die rechte Kamera, die von Ugawe geführt wurde, mit dem Objektiv Mayoma auf den Schädel.

-4.900 Sekunden

Die linke Kamera zeigt fliegende Trümmerstücke außerhalb der Kabine. Man kann aber nicht genau erkennen, wie groß diese sind und worum es sich handelt. Am plausibelsten ist die Vermutung, daß es sich um Teile der linken Tragfläche handelt.

-4.650 Sekunden

Die rechte Kamera hat sich von Mayomas Kopf wieder entfernt. Sie bewegt sich offenbar nach vorne, bezogen auf die Kabine. Ob Mayomas Schrei jetzt als Schmerzschrei zu interpretieren ist kann man nicht sagen. Die linke Kamera zeigt ein Stück Himmel. Offenbar rotiert das Flugzeug jetzt um seine Längsachse.

-4.300 Sekunden

Pamela Ugawe kommt ins Bild der rechten Kamera. Sie schreit, ist aber offenbar zu diesem Zeitpunkt noch unverletzt. Draußen, in vielleicht siebzig Metern Entfernung vom Flugzeug, ist der größte Teil der linken Tragfläche zu erkennen.

-3.500 Sekunden

Die rechte Kamera zeigt jetzt zwischen die Sitze. Es ist überhaupt nichts zu erkennen. Die linke Kamera zeigt nur Himmel. Die Schreie der Flugzeuginsassen verraten größtes Entsetzen.

-2.950 Sekunden

Pamela Ugawes Kopf driftet wieder in das Blickfeld der rechten Kamera. Ihr Kopf wird heftig hin- und hergeschüttelt, vermutlich durch die unkontrollierte Rotations- und Trudelbewegung des Flugzeuges. Es kann sein, daß sie zu diesem Zeitpunkt durch die Schleuderbewegung ihres Kopfes einen Genickbruch erleidet, oder wenigstens einen Riß der verschiedenen Bänder am Hals.

-2.600 Sekunden

Die rechte Kamera schlägt gegen das Kabinendach. Die Schreikomponente von Pamela Ugawe nimmt an Lautstärke, verglichen mit den anderen beiden, ab.

-2.300 Sekunden

Die Rotationsbewegung ist so heftig geworden, daß Konturen außerhalb des Flugzeuges überhaupt nicht mehr erkennbar sind.

-1.940 Sekunden

Pamela Ugawe schreit nicht mehr.

-1.700 Sekunden

Die rechte Kamera schlägt gegen die Frontscheibe. Es kann sein, daß sie beim Zurückprallen Limbert trifft.

-1.250 Sekunden

Nun zeigt die linke Kamera kurzzeitig in das Kabineninnere. Es ist aber außer heftig bewegten Flecken nichts zu erkennen.

-0.900 Sekunden

Pamela Ugawe kommt wieder ins Bild der rechten Kamera. Sie hat definitiv einen Genickbruch. Zu diesem Zeitpunkt kann sie das Bewußtsein allerdings noch nicht verloren haben, und wahrscheinlich hat sie ihre Lage auch noch nicht erfaßt.

-0.720 Sekunden

Die Lautstärke von Mayomas Schrei nimmt ab.

-0.350 Sekunden

Auch Mayoma schreit nicht mehr. Im Moment zeigen beide Kameras, die jetzt wild in der Kabine umherfliegen, zwischen die Sitze.

-0.100 Sekunden

Mayomas und Ugawes Kopf kommen wieder ins Bild, diesmal von der linken Kamera aus gesehen, die sich zwischen den Sitzen verkeilt.

-0.040 Sekunden

Die Bilder beider Kameras werden weiß und restlos überbelichtet. Man kann nichts mehr sehen.

-0.035 Sekunden

Das Rauschen, das diese Lichterscheinung begleitet, erreicht die maximale Amplitude, die überhaupt noch übertragen werden kann.

-0.000 Sekunden

Innerhalb bloß drei voller Schwingungsperioden des Hochfrequenzträgers fällt die Intensität des Sendesignals auf Null. Diese starke aperiodische Dämpfung läßt auf Zerstörung der Bordantenne schließen. Die Sendung bricht ab.

Das ist alles. Protokoll einer Hinrichtung. So kommt es mir vor. Es ist doch eigentlich völlig klar: Zwei Treffer, im Abstand von ungefähr sieben Sekunden, vielleicht durch ein Lasergeschütz, wie Paul sagt, vielleicht durch etwas anderes. Diesmal hat der erste Treffer nur eine Tragfläche abgesäbelt. Erst der zweite hat gesessen.

Paul, du hattest recht. Das Flugzeug mit Limbert, Mayoma und Ugawe ist abgeschossen worden. Genau dasselbe ist Schöttke und seiner Besatzung zuvor passiert. Du hattest recht und ich unrecht.

In St. Peter warten noch einige Probleme mehr auf uns.



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