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22. Kapitel



        22.     Geographische Merkwürdigkeiten

Dreizehn Uhr - 27 Stunden und 972 Kilometer bis St. Peter.

Paul und ich haben eine kurze Mahlzeit eingenommen, während wir uns die Übertragungen ansehen. Eine halbe Stunde lang war es ziemlich langweilig. Wolken von oben. Wegen des starken Westwindes sind die Flugzeuge langsamer vorangekommen als geplant. Aber jetzt haben sie nach Osten abgedreht und befinden sich im Sinkflug. Im Moment sind sie mitten drin in den Wolken, und man sieht überhaupt nichts. Mit halben Ohr lauschen wir dem Fernsehkommentator, der es fertigbringt, aus diesem absoluten Mangel an Informationen der angebotenen Bilder noch etwas zu machen. Wir haben vereinbart, daß ich jederzeit direkt in die Sendung hineinsprechen kann.

Wolkenlücken, Sonnenflecke, dann wieder Wolken. Schließlich ist erst eines, dann alle fünf Flugzeuge unter den Wolken. Wir sehen das Meer, die Flugzeuge filmen sich gegenseitig, und am Horizont ist deutlich Land zu sehen - eine helle Linie. Die Sandbänke. Langsam ziehen sie näher. Dort ist die Wolkendecke vielfach durchbrochen, so daß der Sonnenschein stellenweise den Boden ereicht. Irgendwie kommt mir das näherrückende Land wie der Boden eines fremden Planeten vor. Ist es eigentlich auch.

Minuten später sind die Maschinen über dem Zielgebiet. Die beiden Landflugzeuge kurven sofort zur Landung auf den Sandbänken ein. Diese sind so groß, daß sogar ein Kind dort Starten und Landen könnte - Naja, auch diese Sandbänke waren seinerzeit von Menschen übervölkert. Im späten zwanzigsten Jahrhundert hätte man hier in den Sommermonaten kein Flugzeug runtergekriegt, ohne wenigstens ein paar sonnenbadende und Sandburgen-bauende Familien zur Seite zu scheuchen.

Die beiden Flugzeuge landen weit genug jenseits der Hochwasserlinie. Die Besatzungen sollen sofort mit der Markierung für die zu erwartenden Schiffbrüchigen - oder Stadtbrüchigen? - beginnen. Vorher jedoch gibt es noch einige Kameraschwenks über den Sandstrand.

Wir wissen noch nicht genau, in wieweit dieser Sandstrand sich noch an derselben Stelle befindet wie etwa im zwanzigsten Jahrhundert. Einerseits ist der Meeresspiegel seither gestiegen und das Meer hat sich immer mehr Land geholt. Andererseits sind große Landgewinnungsprojekte noch aus der Zeit bis kurz vor der Räumung der Erde bekannt. Es kann durchaus sein, daß diese beiden Flugzeuge jetzt in der Ortsmitte des ehemaligen St. Peters stehen. Bei dem Gedanken wird mir unwohl: Wenn das so ist, dann hätten die Flugzeuge durch Mauerreste bei der Landung beschädigt werden können.

Aber die beiden Piloten sind routiniert und hätten solche Hindernisse schon aus der Luft gesehen.

Die drei Wasserflugzeuge drehen zunächst weiter ihre Runden über dem Gebiet. Die ganze Eiderstädter Halbinsel wird in Augenschein genommen, und das Meer rundum.

Zunächst stellt sich heraus, daß die Bezeichnung 'Halbinsel' schon fast nicht mehr zutrifft. Die Eidermündung hat sich mit der Zeit zu einer flächenfordernden Bucht entwickelt, die nahezu die ganze Halbinsel vom Land abgetrennt hat. Nur dort im Norden, wo Husum gelegen haben muß, ist noch eine enge Landbrücke vorhanden.

Dann zeigt das Gebiet deutliche Anzeichen des Einwirkens zurückliegender Sturmfluten. Der größere Teil der Halbinsel, die ungefähr so groß ist wie unsere Stadt, ist definitiv sumpfig. Deiche kann ich keine mehr erkennen, aber im Westen gibt es Dünengebiete, die größer sind als im zwanzigsten Jahrhundert. Außerdem kann man stellenweise die ehemaligen Wohndämme erkennen - jene Aufschüttungen, mit denen man noch bis kurz vor der Räumung der Erde versucht hatte, Felder und Wohngebiete höherzulegen, um den ständig steigenden Meeresspiegel zu kompensieren. Diese Dämme stammen teilweise auch noch aus den Zeiten der Ökokriege. Jetzt ist natürlich weder von der einen noch von der anderen Nutzung etwas zu erkennen.

Weiter im Osten, in einem Gebiet, das ehemals Schleswig-Holstein oder so ähnlich geheißen hat, gibt es ebenfalls große Inkonsistenzen zwischen Kartenmaterial und neueren Satellitenaufnahmen. Überschwemmungsbuchten und Sumpfwälder bis weit in das Land hinein. Unwegsam überall. Selbst die Aufnahmen aus den Flugzeugen, die das nur aus größeren Entfernungen zeigen können, erwecken den Eindruck von 'Fiebersümpfen', ein Ausdruck, den ich eigentlich eher mit tropischen Gebieten verbinden würde.

Wir sind uns einig: Der Aufenthalt auf der Eiderstädter Halbinsel wird ungemütlich. Und völlig unklar ist mir, wo die Raumschiffe landen sollen, um die Menschen wieder wegzubringen. Ich sehe schon: Die Aktion wird noch um einiges größer als ich es mir bisher vorgestellt habe.

Eines der Flugzeuge dreht jetzt ab, um ausgewählte Stellen vor der Küste durch Lotung zu vermessen. Das zweite wird dieses Vorhaben aus der Luft unterstützen. Das ist nötig, wenn man mit so einem tiefgängigen Fahrzeug wie dieser Stadt die Nordsee befahren will. Wahrscheinlich wäre das ganze Strandungsvorhaben sowieso weit jenseits jeder Machbarkeit, wenn nicht große Erdmengen aus den küstennahen Grundregionen der Nordsee seinerzeit ausgebaggert worden wären, um diese an Land zur Niveauhebung des Bodens zu verwenden und um irgendwelche Untersee-Deponien vor der Küste vorzubereiten.

"Weiß jemand, was das für Deponien waren?" frage ich, "Und ob diese in Betrieb gegangen sind?" Keiner weiß es.

Nur das dritte Flugzeug wird zunächst weiterhin die Halbinsel selber überfliegen. Unten, in der Leitwarte, wird zu dieser Zeit eine provisorische Karte neu erstellt. Ich hoffe, daß wir bis morgen genügend davon gedruckt haben.

Dann meldet sich Herr Michelson bei mir - genau jener, der einen Hang zum Alkohol hat. Er ist jetzt aber nüchtern, und er teilt mir folgende erstaunliche Tatsache mit:

Während die ganze jütländische Küste große Landverluste erlitten hat und im Süden sogar die meisten Nordfriesischen Inseln sich verkleinert haben oder sogar verschwunden sind, hat die Eiderstädter Halbinsel ihre Position ungefähr behalten. Das heißt, daß es hier Küstenlinien gibt, die seit fast zweihundert Jahren unverändert sind, trotz des Ansteigens des Meeresspiegels.

Ich erfahre, daß der Herr Michelson sich hobbymässig sehr für die irdische Geographie interessiert. Er wird mir gleich wieder etwas sympathischer. Jedenfalls hat es ihn gewundert, daß wir vor St. Peter stranden wollen. Seiner Meinung nach hätte von der ganzen Eiderstädter Halbinsel kaum noch etwas übrig sein dürfen. Dann habe er sich aber unser Kartenmaterial im Rechner angesehen und festgestellt, daß dem nicht so sei. Und die Luftaufnahmen bestätigten das.

"Warum haben Sie uns denn nicht gewarnt, daß wir ihrer Meinung nach eine nicht mehr existierende Halbinsel anzusteuern im Begriff sind?" frage ich ihn. Er schüttelt den Kopf:

"Hätte ich wahrscheinlich getan. Aber vorher habe ich eben einen Blick auf die Karten geworfen. Und dieser Blick hat mich beruhigt. Zunächst. Aber jetzt, wo ich die Bilder sehe, kommt mir die Halbinsel viel zu gut erhalten vor."

"Diese Salzsumpfwiese?"

"Nein, Frau Pemberton," widerspricht Herr Michelson, "da weiß ich besser Bescheid. Die Veränderung von Landschaften unter natürlichen und künstlichen Einflüssen fasziniert mich. Das war immer schon so. Ich habe es im Gefühl, was möglich ist und was nicht. Sehen Sie: Wir haben seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts einen Anstieg des Meeresspiegels um 1.20 Meter gehabt. Dazu ist diese Halbinsel ja schon seit über hundert Jahren nicht mehr durch Deiche geschützt. Meiner bescheidenen Meinung nach hätte da nur noch Wattenmeer sein dürfen. - Sehen Sie sich doch die Landstriche weiter im Osten an!"

Paul sieht mich an: "Daran habe ich auch schon gedacht, Joycelyn." sagt er, "Komisch, wie man das naheliegende immer wieder verdrängt, wenn es nicht ins momentane Konzept paßt. Es ist tatsächlich merkwürdig, daß die Halbinsel noch da ist.

Ich frage Herrn Michelson: "Und was meinen Sie, woran das liegen könnte?"

"Keine Ahnung. Wenn ich eine Idee hätte, dann wäre das Problem für mich schon gelöst. Ob da wirklich so große Mengen an fremdem Erdmaterial aufgetragen wurde? Bei den anderen nordfriesischen Inseln hat man sich nämlich nicht so viel Mühe gegeben, die sind alle verschwunden."

"Wollen Sie sich mit Herrn Schöttke darüber unterhalten?"

"Wer ist das?"

"Das ist der Pilot, der uns gerade die Bilder von ... wo ist er denn?"

Paul dreht sich auch zu den Bildschirmen um, die die Übertragungen aus den Flugzeugen zeigen. Zwei zeigen die Markierungsarbeiten auf der Sandbank, von der wir nun wissen, daß sie nicht über dem alten Ortskern von St. Peter liegt, einer zeigt die schwankende Aussicht von dem Wasserflugzeug, das dabei ist, die Lotungen vorzunehmen, und eines der Bilder zeigt das letzte Wasserflugzeug aus der Luft, weit vor der Küste von St. Peter. Der Bildschirm, der die Aufnahmen aus Schöttkes Flugzeug zeigen sollte, ist dunkel, bis auf eine von einem Computer eingeblendete Schrift:

VHF SIGNAL AND CARRIER 918.375 MHZ SUB DETECTABILITY, RETUNE?

"Hat der Schöttke etwas gesagt, warum er nicht mehr senden will?" frage ich Paul.

"Nein. Es war abgemacht, daß ununterbrochen übertragen werden soll."

Einige Sekunden Schweigen. Auf dem Visiophonbildschirm sehe ich, daß Michelson die Bildschirme in der Leitwarte studiert. Er wird dort genau den gleichen dunklen Bildschirm sehen. Mit halbem Ohr höre ich, daß auch der TV-Kommentator darauf eingeht.

"Michelson? Kommen Sie bitte rauf in den Turm. Ich muß mich mit Ihnen etwas über Geographie unterhalten." Dann schalte ich das Visiophon ab.

Über Geographie. Und was das damit zu tun haben könnte, daß bei vergleichsweise gutem Wetter Flugzeuge plötzlich verschwinden.



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