23. Das plötzliche Verschwinden
Natürlich gibt es eine Aufzeichnung. Der Rechner - es ist nicht der Stadtrechner, gottseidank, soweit hat man die Zentralisierung denn doch nicht getrieben - hat bis zum letzten Einzelbild alles mitgeschnitten. Wir sehen uns, als Michelson im Kontrollraum des Turmes angekommen ist, die letzten Minuten der Aufzeichnungen an. Vorher nehme ich Kontakt mit den Besatzungen der anderen vier Flugzeuge vor Ort auf, um sie zu veranlassen, ihrerseits mit Schöttke Kontakt aufzunehmen. Wenn das nicht gelingt, soll eines der Landflugzeuge auf der Sandbank aufsteigen und nach ihm suchen. Bis dahin werden wir genau den Ort angeben können, von wo die letzte Sendung erfolgt ist.
Schöttke überflog ein küstennahes Stück der Halbinsel im Südwesten, in vielleicht nur dreihundert Metern Höhe, in Richtung landeinwärts, wahrscheinlich nicht einmal zum ersten Male. Die Aufnahme ist von hervorragender Qualität. Sandbänke, Sandstrand, dann versalzene Wiesen, spärlich bewachsene Dünen, dann Krüppelfichtenwälder, durchsetzt mit Sumpfwiesen und Sumpfseen. Nichts außergewöhnliches, wenn man davon absieht, daß dieses Gebiet nach Herrn Michelson eigentlich schon längst Wattenmeer sein sollte. Er sagt, eine Möglichkeit, die Immer-Noch-Existenz der Halbinsel zu erklären wäre, anzunehmen, daß sie sich als Ganzes um wenigstens eineinviertel Meter aus geologischen Gründen angehoben hätte. Aber wie sollte das in einem Gebiet wie Norddeutschland passieren? Wir haben auch geologische und tektonische Daten im Rechner. An der deutschen Nordseeküste hebt sich nichts um einen Meter pro Jahrhundert an - einfach so.
Eine andere Möglichkeit wäre die, daß die Niveauhebungsarbeiten seinerzeit wesentlich umfangreicher waren als er das jetzt in Erinnerung hat. Aber auch das ist schwer vorstellbar - es hätte Erdbewegungen im Bereich vieler hundert Millionen Tonnen erfordert.
Schöttke kommentiert seinen Flug gelegentlich. Mit ihm im Flugzeug sind noch zwei Leute, deren Namen ich zur Zeit nicht weiß. Man hört, wie sie sich leise im Hintergrund unterhalten. In einer zufälligen Gesprächspause bricht die Sendung ab. Die letzte halbe Millisekunde ist von einem immensen Krach erfüllt, so, als wären die Mikrophone restlos überlastet. Einige Hundert Zeilen des letzten Bildes sind weiß, etwa zwei Millisekunden vor diesem Geräusch beginnend, dann kommen noch einige Dutzend schwarze Zeilen, dann ist die Trägerfrequenz weg. Was immer Schöttkes Flugzeug und ihn und seine Passagiere ereilt hat - es kam schnell. Zwei oder drei Millisekunden.
Wir kämmen dann alle Bilder der Sekunde vor dem Ausfallen der Sendung durch, in der Hoffnung, etwas zu finden. Nichts.
"Lasergeschütz." sagt Paul.
"Ach ja? Das glaubst du doch wohl selbst nicht!" entgegne ich.
"Die anderen hätten den Blitz auch sehen müssen." wirft Michelson ein.
"Nicht unbedingt. Erstens sind sie alle intensiv beschäftigt, und zweitens kann es sich um einen Infrarotlaser gehandelt haben."
"Und wer soll dahinter stecken, deiner Meinung nach?"
"Weiß ich nicht." sagt Paul kurz. "Wirklich nicht."
"Und was macht dich so sicher? Wenn in St. Peter jemand mit Lasergeschützen rumschießt, dann sollten wir die Strandung woanders versuchen."
"Wohl kaum," sagt Paul, "was den Ort der Strandung betrifft, so haben wir keine Wahl. Das haben wir doch schon alles durchgesprochen."
"Das heißt," frage ich nach einer Pause, "daß ich die Stadt genau dort hinführe, wo etwas nicht stimmt, wohl wissend, daß es zusätzliche Schwierigkeiten geben kann, die den Bewohnern schaden können? Vielleicht sogar das Leben kosten?"
"Noch wissen wir nicht, ob es sich wirklich um einen Laser ..." versucht Michelson zu besänftigen.
"Ich weiß es." sagt Paul kurz. "Ich kann Physik. Ein bißchen. Dafür reichts."
Die ganze Planung wird damit über den Haufen geworfen. Wie soll denn da eine sichere Strandung durchgeführt werden, wenn man damit rechnen muß, beschossen zu werden?
"Was sollen wir tun?" Ich bin etwas ratlos. Paul auch. Er überlegt laut:
"Es kann nichts großartiges sein. Eine ganze Armee kann man nicht so einfach verstecken. Abgesehen davon, daß außer der Weltbevölkerungskonferenz niemand mehr über Armeen verfügt. Und die WBK würde es nicht zulassen."
"Kann es das nicht sein," frage ich, "eine Einheit der Weltbevölkerungskonferenz, die unerlaubtes Betreten des Landes verhindern soll, und die dort stationiert ist? Oder vielleicht eine automatisches Abwehrstellung?"
"Ne. Die WBK wird ja wohl noch Übersicht über den Verbleib ihrer eigenen Streikräfte haben, und mit ihnen in Kontakt sein. Diese Streitkräfte wären informiert, daß wir kommen, und wir wären informiert, daß es sie dort gäbe. Außerdem - seit den späten Tagen der Räumung der Erde waren fest stationierte Einheiten auf der Erde nicht mehr notwendig. Was sollten die denn da machen? Welche Aufgaben haben sie? - Und was die automatische Abwehrstellung betrifft, so ist man in Militärfachkreisen von derartigen Dingen wieder völlig abgekommen. Diese Anlagen können einfach nicht zuverlässig genug unterscheiden zwischen dem, worauf sie schießen sollen, und dem, worauf nicht."
"Welche Aufgaben die haben könnten, wenn es Soldaten sein sollten, das weiß ich auch nicht. Manövergebiet, vielleicht? - Jedenfalls werde ich beim Führungsstab der militärischen Einsatztruppen der WBK nachfragen. Selbst, wenn die es nicht selbst sind, vielleicht haben sie eine Idee."
"Tu das. Aber willst du wirklich ein zweites Flugzeug mit Besatzung riskieren?"
"Wir wissen noch nicht einmal definitiv, daß es sich tatsächlich um eine Art Waffenwirkung handelte. Vielleicht eine Fehlfunktion an Bord. Diese Flugzeuge haben doch noch Explosionsmotoren, oder?"
Paul schüttelt energisch den Kopf:
"Das hört sich nur so gefährlich an. Im zwanzigsten Jahrhundert waren auf der ganzen Erde Milliarden Exemplare dieses Motortyps in Betrieb, die meisten für den Straßenverkehr. Die Menschen sind jährlich zu hunderttausenden bei Unfällen umgekommen, und die Luft in manchen Städten war nicht mehr atembar. Es war ein ganz wesentlicher Faktor bei der Vernichtung der biologischen Umwelt. Aber so ein Motor explodiert nicht. Die Bezeichnung kommt daher, daß im Inneren dieses Motors eine Serie kleiner Explosionen eines Benzin-Luftgemisches die Umwandlung in mechanische Energie herbeiführt. Diese Motoren haben eben ein sehr gutes Verhältnis von Leistung zu Gewicht, deshalb verwendet man sie im Flugzeugbau immer noch ganz gerne - jedenfalls bei kleinen Flugzeugen."
"Ich weiß, wie so ein Motor funktioniert," sage ich beleidigt, "ich denke da mehr an den Benzinvorrat. Da sind doch ein paar hundert Liter dieses Stoffes an Bord eines jeden dieser Flugzeuge, oder? Und wenn ich mich richtig an den Chemieunterricht erinnere, dann fangen leichte Benzine doch schon Feuer, wenn man sie böse anguckt, oder?"
"Sauber in einem Tank abgefüllt, und darinnen noch in einer Plastikblase. Diesen Tank muß man schon mechanisch zerstören, um den Benzininhalt anzuzünden. Und dann gibt es zwar eine ordentliche Feuerwolke, aber das Eintreten der Schäden spielt sich auf Zeitskalen im Sekundenbereich ab, nicht in Millisekunden."
"Und Kernwaffen?"
"Joycelyn, woran denkst du? Hast du nie historische Aufnahmen gesehen? Kernwaffenexplosionen hat es doch in den Ökokriegen genug gegeben. So beschäftigt können die Besatzungen der anderen Flugzeuge ja gar nicht sein, als daß sie eine Kernwaffenexplosion in wenigen Kilometern Entfernung nicht bemerkt hätten!"
"Ich denke ja nur laut nach. Vielleicht - vielleicht waren es ganz kleine Kernwaffen."
Paul scheint amüsiert: "Das geht nicht," weiß er es besser, "Kernsprengkörper haben eine Mindestgröße, jedenfalls die klassischen Designs eines Fissionssprengkörpers. Unter einer Ausbeute von einigen Millionen Kilowattstunden geht das nicht. Das gleiche gilt für die Dreiphasenbombe, die Neutronenbombe und alle anderen Typen von Fusionsbomben. Einzig und allein die müonenkatalysierte Fusionsbombe und die Fleischmann-Pons-Effekt katalysierte Fusionsbombe erlauben Explosionen im Labormaßstab - beliebig klein. Aber der Aufwand lohnt nicht, weil die Präzisionsanforderungen zu groß sind und noch eine ganze Menge Zusatzgeräte benötigt werden. Das hätte man mit chemischen Bomben billiger."
Ich versuche noch einen Anlauf: "Vielleicht ist Schöttke mit seinem Flugzeug mit irgendetwas kollidiert?"
Paul zieht ein schiefes Gesicht. Ich kann mit die Antwort auch selber geben: Es sind wieder die Zeitskalen. Selbst, wenn dieses Flugzeug gegen eine unsichtbare Mauer in der Luft geflogen wäre, dann wären vom Zeitpunkt des ersten Kontaktes des Propellers mit der Mauer bis zur Zerstörung der Kamera im Passagierraum etliche Dutzend Millisekunden vergangen. Und es war ja nichts dergleichen in den Übertragungen zu sehen.
Paul erwähnt selbst noch die Möglichkeit eines Blitzes. Aber er ist nicht überzeugt. Es ist kein Gewitter in dieser Gegend aktiv. Das zum einen. Zum anderen sind solche Flugzeuge daraufhin konstruiert, im Notfall einen Blitztreffer auszuhalten. Das ist schließlich bei einem Gerät, das sowieso zum größten Teil aus Metall besteht, nicht schwer zu erreichen.
"Also, es hilft nichts," entscheide ich, "ob Unfall oder böser Wille. Im ersteren Fall müßten wir sowieso das Wrack von Schöttkes Maschine suchen. Ich schicke eine zweite Maschine hinterher. Wir müssen wissen, was da los ist."
"Du bist die Chefin." zuckt Paul mit den Schultern. Hat man es gut, wenn man nur Vorschläge machen darf aber die Entscheidung nicht mit tragen muß. Ich setze mich mit der Besatzung der beiden Flugzeuge auf der Sandbank in Verbindung. Paul sieht sich derweil noch einmal die letzten Einzelbilder der Übertragung an.
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