20. Trautes Heim, laß dich allein ...
Als ich in dem geräumigen Wohnraum stehe, wird mir schlagartig klar, daß auch die Tage dieses meines Domizils gezählt sind. Die eine Längsseite des Wohnraumes hat große Fenster, durch die man in einen der hydrophonischen Gärten hineinsehen kann. Obwohl diese Anlagen unter der Oberfläche der Stadt in erster Linie intensiv landwirtschaftlich genutzt werden, hat man es verstanden, diese Hydrokulturen mit ihren verschiedenartigen Pflanzen sehr aufgelockert aussehen zu lassen. Da die Erntemaschinen heute über genug Intelligenz verfügen, ist es nicht mehr notwendig, Pflanzungen in Reih und Glied auszurichten - der flüchtige Betrachter könnte tatsächlich die Aussicht aus meinem Wohnzimmer für einen Blick in eine Art Urwald halten. Der flache Bach unter den Obstbäumen, der Teil der Wasserökologie dieser Anlage ist, bestärkt diesen Eindruck noch. Hier sieht man nichts begradigtes. Von der künstlichen Beleuchtung aus der Decke einmal abgesehen könnte dieses tatsächlich fast ein natürliches Biotop sein. Allerdings würde ein geübter Biologe mir wahrscheinlich sofort in Sekunden mehrere Merkmale zeigen können, die belegen, daß dieses Biotop keines durch natürliche Evolution entstandenes sein kann. Die meisten Pflanzen sind irgendwie nützlich. Die Bäume sind zum Beispiel alle Obstbäume - um eine Eiche zu sehen muß man den Stadtwald an der Oberfläche aufsuchen.
Einen Moment sitze ich am Ufer des murmelnden, künstlichen Baches, bevor ich meine Wohnung durch die Terassentür wieder betrete. Ich habe meine Zeit selten in den Hydrofarmen verbracht: der Wald oben, unter offenem Himmel, ist mir lieber. Aber für kurze Augenblicke oder bei schlechtem Oberflächenwetter sind die Hydrofarmen eine brauchbare Alternative, insbesondere auch deshalb, weil sich wenig Menschen in ihnen aufhalten.
Ich sehe mich um. Was ist denn da überhaupt, was ich an wirklich persönlichen Gegenständen mitnehmen muß? Es ist erstaunlich wenig. Dokumente, Diplome, Urkunden, Belege aller Art sind alle in zentralen Archivierungsrechnern gespeichert, hier in der Stadt und auf den Außenwelten. Mehrfach. Nichts davon geht verloren.
Das gleiche gilt für Photos und Videos aus meiner Kindheit und aus der Jugend, Urlaubserinnerungen und aufbewahrte Privatpost aus Jahrzehnten. Alles digitalisiert, auch alles schon auf Archivierungsrechnern auf den Außenwelten sichergestellt. Nicht, daß ich jemals mit einer Katastrophe gerechnet hätte, die mir meine Wohnung mit allem, was darinnen ist, zerstört. Aber man ist einfach unabhängiger, wenn man beim Umziehen nicht soviel Dinge mitschleppen muß, darunter Dinge, die unersetzlich sind.
Ich muß gar nichts sicherstellen, gestehe ich mir ein. Ich wollte einfach nur noch einmal meine Wohnung sehen, in der ich doch immerhin einige Jahre schon verbracht habe. Nein, es ist schon mehr als ein Jahrzehnt. Wie die Zeit verging. Ein Jahrzehnt ist schon ein ordentlicher Teil eines Menschenlebens. Und eine Wohnung ist immer ein wichtiger Teil davon. Rückzugssphäre und private Festung. Ich habe nie verstanden, daß viele Leute, kaum, daß sie dem Elternhaus entwichen sind, nichts Eiligeres zu tun haben als in eine Wohngemeinschaft zu ziehen oder mit einem Partner zusammenzuwohnen oder gar zu heiraten. Heiraten! Die schlimmste Form von gegenseitiger Freiheitsberaubung, gemeinsam ritualisierter offener Strafvollzug. Nein - nicht für mich. Das Leben ist zu wertvoll und zu kurz, als daß man es mit häuslichem Streit verbringen sollte. Ob das daran liegt, daß bei den meisten Menschen die Angst vor dem Alleinsein so groß ist, daß man dafür das alles in Kauf nimmt?
Ich habe nie Angst vor dem Alleinsein gehabt. Außerdem - wer lesen und schreiben kann, ist nicht allein. Wer hat das gesagt? 'Der Weise ist nie allein. Hat er doch um sich all die, die etwas wesentliches zu sagen hatten, ob sie noch leben oder schon tot sind. Seinen freien Geist versetzt er, wohin er will. Was er körperlich nicht erreichen kann, das erfaßt er mit dem Denken. Und wenn es ihm an Menschen fehlen sollte, dann spricht er mit Gott. - Nie ist er weniger allein, als wenn er einmal allein ist.'
Ich ziehe Schubladen auf, öffne Schranktüren. Nur so. In einer Schublade finde ich eine Muschel. Habe ich damals von einer Touristenexpedition an die Goldküste mitgenommen. Das ist natürlich verboten. Deshalb wird diese Muschel auch wieder mit der Stadt versinken. Sie ist natürlich nicht digitalisiert, wenn man von Videoaufnahmen absieht, auf denen sie zufällig zu sehen ist.
Dann finde ich ein Buch, ein uraltes Buch. Ein richtiges Buch. "Die Ginsterhexe". Ich schlage auf. Die Ginsterhexe und andere Sommermärchen. Ein gewisser Hanns Heinz Ewers hat es geschrieben. Leibzig, Verlag von Johannes von Schalscha-Ehrenfeld, 1905. Es ist schwer zu lesen, in deutscher Schrift, die Seiten sind gelb und brüchig, der Einband fällt auseinander, wenn man nicht aufpasst.
Das Buch ist seit vielen Generationen in unserer Familie, mein Vater hinterließ es mir mit der Bemerkung, es sei 'ungeheuer wertvoll', ein Relikt aus der Zeit vor den Ökokriegen, sogar noch vor den beiden Weltkriegen. Das wird diesem Buch nicht viel helfen - wie sollte ich es transportieren? Natürlich wird der Inhalt nicht verloren gehen. Auch den habe ich längst digitalisiert, und meine Vorfahren haben es auch schon getan. Aber von dem allerersten materiellen Träger dieser Märchen, die mich nie besonders angesprochen haben, wird sich die Welt nun trennen müssen. Ist es ein Verlust, wenn es das letzte Exemplar sein sollte? Der Inhalt bleibt doch.
Ich lege es mit Sorgfalt in das Regal zurück. Wie pervers diese Sorgfalt ist, wo dieses Buch nach über zweihundert Jahren geglückter, zufälliger Fortexistenz schon in wenigen Tagen durch Seewasser aufgeweicht und zersetzt werden wird.
Bevor ich das Buch hinlege, finde ich darunter einen flachen Gegenstand, den ich herausnehme. Es ist ein vergilbtes Schild:
+-----------------------------------------------------+ | | | BETTING & GAMING | | ACT 1960 | | | | With the consent of the Licensee the following | | games may now be played for small stakes in those | | parts of Licensed Premises open to the Public:- | | | | DARTS SHOVE HA'PENNY | | BILLIARDS BAGATELLE | | BOWLS SKITTLES | | CHESS CRIBBAGE | | DOMINOES DRAUGHTS | | | | The playing of ANY OTHER GAME for stakes is illegal | | | +-----------------------------------------------------+
Auf der Rückseite ist eine schwer leserliche, handschriftliche Eintragung, die besagt, daß dieses Schild im August 1974 in einer Bar in Coventry gestohlen wurde, von einem meiner Vorfahren auf einer Reise durch England. Außerdem steht da, kaum erkennbar, 'unverkaeuflich'. Auch dieses Schild ist über Generationen in unserer Familie weitervererbt worden - soweit man, juristisch gesehen, Diebesgut vererben kann.
Eine Botschaft aus einer Zeit, wo der Staat noch meinte, seinen Bürgern gewisse Verhaltenscodices bindend vorschreiben zu können, etwa sich nicht durch Glücksspiele ins Unglück stürzen zu dürfen. Das steht in krassem Gegensatz zur heutigen Rechtsauffasssung, die jedem Bürger gestattet, sich zu ruinieren, sei es durch Glücksspiele oder durch Drogen, wenn nur nicht Dritte dadurch geschädigt werden.
Wenn ich dieses Schild sehe, denke ich manchmal, daß da doch ein historischer Fortschritt in Richtung von mehr Rationalität unter den Menschen sein muß, auch, wenn einige Historiker anderes behaupten. Schließlich, noch einige Jahrhunderte weiter zurück als dieses Schild konnte man sogar für seine Überzeugungen auf einem Scheiterhaufen landen, selbst, wenn es sich um Überzeugungen handelte, die objektiv nachprüfbare, naturwissenschaftliche Tatsachen betrafen. Und die Organisation, die dieses über Jahrtausende betrieben hatte, die hatte es zu der Zeit, als dieses Schild gestohlen wurde, ja immer noch als gesellschaftlich einflußreiche Kraft gegeben. Sie dachten nicht daran, ihre Opfer zu rehabilitieren - Gallilei, Jan Hus, und wie sie alle hießen. Sie dachten nicht daran, sich für Millionen verbrannter Inquisitionsopfer auch nur zu entschuldigen, oder für ihre Kooperation mit den Nazis. Erst die Ökokriege haben auch die Kirchen als selbstständige Organisationen weggefegt, wie so vieles. Nicht das Christentum, wohlgemerkt. Christentum und Kirche haben ja nichts miteinander zu tun.
Da fällt mir ein, daß ich auch noch eine gedruckte Bibel haben muß. Ich kann sie im Moment nicht finden, ein Hinweis, daß ich meine Wohnung nicht gründlich genug durchsuche. Nun ja, das ist kein unersetzlicher Verlust, es handelt sich um eines der Exemplare, das während der Ökokriege gedruck wurde. Mit überarbeitetem Text und Auslassungen. Dieses Buch ist sowieso schon in den Jahrtausenden ständig verändert, ungenau übersetzt und verfälscht worden, so daß diese zusätzlichen Veränderungen die Botschaft praktisch zur Unkenntlichkeit verändert haben.
Meine Großgroßväter haben dieses Exemplar als historisches Dokument behalten, weil darinnen Christus in der Bergpredigt seine eigene Unfehlbarkeit behauptet. Das ist eine neuere Fälschung, die durch ein Konzil des Vatikans in das Evangelium eingebracht worden ist. Es ist damals dem Kardinalskollegium aufgefallen, daß der Unfehlbarkeitsanspruch des Pabstes wohl doch nur eine lächerliche Farce ist, wenn die letzte Autorität des Christentums, nämlich Christus selbst, niemals seine eigene Unfehlbarkeit behauptet hat. Im Gegenteil. Des Menschen Sohn war fehlbar, wie jeder Mensch, und seine Selbstzweifel sind ebenfalls teilweise überliefert. Also hatte diese Überlieferung gemäß den Anforderungen des päbstlichen Machtanspruches modifiziert werden müssen. Die Zensur der Bibel fand statt.
Nachdem, was die Historiker belegen, war es diese Entmündigung der Christenheit, die die Kirche mindestens ebenso destabilisiert und ihr Ende besiegelt hat wie ihr verhärteter Standpunkt in Sachen Bevölkerungskontrolle.
Deshalb hätte ich diese Bibel als Kuriosum gerne gerettet, wenn es mir möglich gewesen wäre. Aber es ist nicht möglich, selbst, wenn ich sie jetzt fände.
Ich erinnere mich noch, wie ich sie von meinem Vater zu meinem vierzehnten Geburtstag erhalten habe. Ich sei alt genug, hat er gesagt, daß ich lernen müsse, die vielfältigen Wege, in denen Menschen sich gegenseitig etwas vormachen, zu erkennen und zu durchschauen. 'Das kann man gar nicht früh genug lernen!' sagte er. Und dabei, erinnere ich mich, sah er kummervoll aus.
Das hat mich damals allerdings überhaupt nicht interessiert, und das Buch war sowieso über alle Maßen langweilig, genau wie der ältere Originaltext. Letzten Endes ist das Politik, und dafür interessiert man sich mit vierzehn noch nicht so. Ich jedenfalls nicht. Erstmal muß man lernen, die reale Welt zu beherschen. Technologie und Ökologie. Dann, wenn man ein bißchen weiß über die Bühne, auf der sich alles menschliche abspielt, und wenn man das Denken gelernt hat, dann kann man daran gehen, sich mit der Geschichte und der Zeitgeschichte zu beschäftigen.
Leider ist man dann schon so alt, daß die Lernfähigkeit für Fakten schon sehr abgenommen hat, und außerdem lassen einem der Beruf und andere Interessen wenig Zeit. Ein Bankier, der im zwanzigsten Jahrhundert von politischen Wirrköpfen umgebracht wurde, hat wenige Wochen vor diesem Attentat gesagt, wenn er sich etwas wünschte, dann dieses, daß er mehr Zeit hätte, sich mit dem, was die Menschheit kulturell schon hervorgebracht hat, wenigstens ein bißchen zu beschäftigen.
Ich hab noch nie jemanden getroffen, der diesen Mangel auch bemerkt und der genug Zeit hat. Dabei geht man ja eigentlich davon aus, daß einem noch mehr Zeit bleibt als jenem Bankier.
Also, ich finde diese Bibel nicht. Kein Verlust. Aber es gibt da noch ein Fach mit Spielzeug im Schrank. Das ist unersetzlich. Das sind die Dinge, mit denen man in allerfrühester Zeit die ersten Erfahrungen mit den Eigenschaften der physikalischen Welt gesammelt hat. Für einen Außenstehenden mögen alle Bauklötze gleich aussehen, aber die Bauklötze, mit denen man gelernt hat, daß man durch Übereinandersetzen von Bauklötzen keinen beliebig hohen Turm bauen kann, weil ein so schlanker Turm einfach nicht stabil ist, diese Bauklötze bleiben für alle Zeit ganz besondere Bauklötze.
Solche Bauklötze finden man woanders niemals wieder, auch wenn alle anderen Bauklötze schöner, größer und bunter sein sollten!
Ein Elektromotor. Ob er noch geht? Was denkt sich ein Elektromotor, mit dem ein Kind spielt, ihn an eine Batterie anschließt, sich freut, daß er sich dreht, und dann Jahrzehnte in einem Schrank? Ich werfe den Anker von Hand an, das Geräusch kenne ich genau, und die schweren Polschuhe wiegen vertraut in meiner Hand. War er nicht viel schwerer, früher?
Dann dieses Schlauchboot. Mein Schlauchboot! Mein Kreuzfahrtschiff, mein Piratenschiff, meine Karavelle!
Es ist sicher nicht mehr dicht, nach jahrzehntelanger Aufbewahrung in Schränken. Wie oft bin ich damit während der Schulzeit an die Stadtseen gezogen, um weit hinauszufahren, bis ich an Land keine Menschen mehr erkennen konnte und allein war mit den Wäldern über mir und den Sternen unter mir. Meine Eltern sahen das nicht besonders gerne. Sie sagten, daß ich da draußen, mitten auf den Seen der Stadt, keine Überlebenschance hätte, wenn die Stadt beschädigt werden sollte. Sie hatten einfach wenig Vertrauen zur Technik und malten mir in den leuchtensten Farben aus, wie man bei einem Platzen der Stadt zu Tode kommen würde: Durch Ersticken, Verdampfen der Körperflüssigkeiten, Erfrieren und Erschlagenwerden durch umherfliegende Trümmerstücke. Zerfetztes, gefrorenes Fleisch und Eingeweide, die eins werden mit den Ringen des Saturn.
Mir schien das damals alles sehr weit hergeholt. Die Saturnstädte waren doch sicher, immer schon! Ich träumte von den Ozeanen der Erde. Nicht die nur meterdicke Wasserschicht, die die quadratkilometergroße Fenstern der Stadt bedeckte und die Stadtbewohner zusätzlich vor UV-Strahlung und schnellen Partikeln aus dem All schützte. Nein, ich wollte auf die kilometertiefen Ozeane der Erde, durch die Wellen wandern so groß wie Berge, und über die ein Sturm geht, der reißt dich von den Beinen. Da ist Gefahr, Abenteuer, Aufregung. Da toben die Elemente. So etwa stellte ich mir das jedenfalls vor. In den Saturnstädten verläuft das Leben ja nur in seinen gleichmäßigen Bahnen, und die Sterne sehen immer gleich aus. Gerade die mächtigen Wirbelstürme auf der Saturnoberfläche, die man mit bloßem Auge gut sehen kann, lassen etwas von der Wildheit einer richtigen Welt erahnen.
Aber auf der Erde, da ist alles das passiert, wovon man uns immer wieder erzählt, die ganzen Ereignisse, die die Menschheit dahin gebracht haben, wo sie jetzt ist - nämlich auf die Außenwelten. Die Erde, das verbotene Land. Eine Stadttechnikerin auf der einzigen Stadt. Es war die einzige Möglichkeit, ein bißchen von dem vergangenen Glanz und ein bißchen von der gegenwärtigen Wut und Vitalität dieses Planeten zu erfahren.
Deshalb bin ich hier. Bis jetzt hielt sich das Abenteuer in Grenzen. Aber nun? Joycelyn, das ganze Leben bist du auf diese Ereignisse zumarschiert. Was kümmerst du dich um die paar Reliquien deiner Jugend, die du hier zurücklassen mußt? Da oben ist deine Aufgabe, da oben im Turm. Das hast du doch immer gesucht, das Abenteuer. Jetzt hast du es. Laß die Spielsachen hier liegen. Keine Sentimentalität.
Ich gebe mir einen Ruck und verlasse meine Wohnung, ohne mich umzusehen. Überall ist man irgendwann zum letzten Male.
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