19. Erste Vorbereitungen
Mag sein, daß Paul mit dieser Bemerkung recht gehabt hat. Deshalb lasse ich mir mit dem Duschen Zeit. Gerade bei diesen 'nutzlosen' Zwischentätigkeiten kann man so schön die Gedanken schweifen lassen. Manchmal kommt dabei mehr raus als bei gezielten Überlegungen.
Ich überlege mir, warum Paul dies alles mitmacht. Daß er mitmacht ist nicht selbstverständlich - sein jetziger Einsatz geht weit über das hinaus, was seine Rolle als ehemaliger Softwareingenieur an den Systemen dieser Stadt und sein Arbeitsvertrag erfordert. Er könnte sich ebenso gut hinstellen und sagen: 'Macht, was ihr wollt, macht es gefälligst richtig und laßt mich in Ruhe. Ich bin inzwischen in anderen Projekten und kann ja sowieso nichts ausrichten.'
Aber das tut er nicht. Er hilft mir mit vollem Einsatz, und ich weiß, daß ich diese Hilfe brauche. Und wahrscheinlich weiß er, daß ich diese Hilfe brauche. Naja, es kann Egoismus sein. Sein Leben und sein Eigentum stehen schließlich auch auf dem Spiel. Aber Egoismus ist nicht die schlechteste aller menschlichen Eigenschaften. Und vor allen Dingen: Sie ist unbedingt glaubwürdig. Die Erfahrung zeigt doch immer, daß altruistische und idealistische Motive in Wirklichkeit vorgeschoben sind. Meistens steckt da etwas anderes dahinter.
Flüchtig kommt mir auch die Idee, daß ich ihm sympathisch bin. Aber da will ich mir keine großen Rosinen einbilden. So, wie er aussieht und wie er sich gibt, kann er mit Leichtigkeit jüngere und hübschere Frauen haben. Gerade unter den Touristinnen in dieser Stadt gibt es genügend naive Kücken, die nur darauf warten, aufgerissen zu werden. Das kann es wohl kaum sein.
Und sonst? Verspricht er sich für die Zeit später irgendetwas für seinen Einsatz? So naiv kann er eigentlich nicht sein. Das erste, was uns später blühen wird, wird ein Hagel von Kritik sein. Was man alles hätte besser machen können. Das muß er wissen.
Vielleicht kriege ich noch mehr über seine Motivation heraus. Irgendwann. Jedenfalls bin ich froh, daß er da ist.
Nach dem Duschen arbeiten wir weiter. Die Evakuierung aus der Stadt muß organisiert werden. Dazu muß zuerst sichergestellt werden, daß möglichst viele Flugzeuge und Beiboote den Aufprall überleben. Es ist Montag abend, und wir haben weniger als 48 Stunden Zeit.
Ich lasse einen weiteren Rundruf los. Wer kann ein Flugzeug steuern, wer wenigstens ein Boot? Der Wind ist zwar immer noch steif, aber in Lee der Stadt können Wasserflugzeuge durchaus schon starten und landen. Wir müssen erstens alle Fahr- und Flugzeuge aus der Stadt herausholen, ganz besonders dringend aus den absaufenden Sektoren, und wenn wir schon dabei sind, dann kann man auch gleich die ersten Ladungen von Material und Personen vorausfliegen und an der Eiderstädter Halbinsel absetzen.
Dann lasse ich die Empfehlung verbreiten, alles, was vor, während und nach der Strandung nützlich sein könnte, nach oben zu bringen, an die Oberfläche der Stadt, und im Wald zu stapeln - um Gotteswillen aber nicht auf den Landestreifen für das Raumschiff. Wenigstens einmal noch wird die ISAAC ASIMOV hier landen.
Paul und ich machen einige TV-Interviews. Es ist vielleicht ganz nützlich, wenn man in der allgemeinen Hektik die Organisatoren aller Maßnahmen ganz ruhig die Fragen der Journalisten beantworten sieht. Es gibt sogar eine größere Pressekonferenz mit Durchschaltungen zu den Außenwelten. Ich werde mir erst jetzt bewußt, daß wir ja schon seit einigen Tagen die Schlagzeilen im ganzen Sonnensystem füllen. Es ist irgendwie merkwürdig, wie oft von und über die Stadtkommandantin Pemberton gesprochen wird. All die Zitate, die mir zugeschrieben werden, kann ich in der letzten Zeit unmöglich alle gesprochen haben - solange währt die Krise noch nicht.
Die Hilfsbereitschaft in den Außenwelten ist natürlich groß, aber deshalb werden die Raumschiffe nicht schneller. Bis mindestens einige Tage nach der Strandung werden wir allein sein - soweit man bei 1.25 Millionen Menschen von 'allein' reden kann.
Dann wollen einige Herren im Direktorium der Betreibergesellschaft der Stadt mich per Exklusivleitung sprechen. Als ich die Wichtigtuer auf den Bildschirmen sehe, steigt in mir der Ärger auf. Er ist berechtigt: Eine der ersten Fragen ist, ob ich weiß, wieviel die Stadt gekostet hat. Meine sofortige Gegenfrage ist, ob sie einen wirklich konstruktiven Vorschlag haben. Da das nicht der Fall ist, schalte ich die Leitung ab, nicht ohne erwähnt zu haben, daß eine weitere Behinderung unserer Aktivitäten hier als Sabotage aufgefaßt werden müßte.
Das Gespräch war zwar exklusiv, aber wir haben es trotzdem mitgeschnitten. Es wird sofort an die TV-Gesellschaften der Stadt überspielt. In ein paar Stunden weiß man im ganzen Sonnensystem Bescheid, was für Sorgen gewisse Kaufleute noch haben, wenn das Leben von über einer Millionen Menschen auf dem Spiel steht. Eigentlich haben wir für einen solchen Firlefanz ja überhaupt keine Zeit, aber Paul sagt, ich müßte auch an die Zeit nach der Strandung der Stadt denken, wenn alle Leute daheim und in Sicherheit sind. Wahrscheinlich, sagt Paul, gibt es sogar Ärger mit der Weltbevölkerungskonferenz, unter deren Fittichen die Ökoreserve Erde ja immer noch steht. Schließlich werden wir einen der makellosesten Strände Europas mit einigen Milliarden Tonnen Eisen- und Betonschrott zieren. Wenn das keine Umweltverschmutzung ist, dann muß man diesen Begriff wohl neu überdenken.
Die Suche - stadtweite Suche, muß man sagen, denn per Aufruf beteiligt sich fast jeder daran - nach Hilfsmaterial, wie es früher in der Seefahrt für Notfälle überall auf einem Schiff zu finden war, also Rettungsboote, Schwimmwesten, Rettungsringe und dergleichen, bleibt zwar nicht ganz erfolglos, aber das Ergebnis ist dürftig. Natürlich gibt es für Techniker, die etwa tauchend die Außenwände der Stadt inspizieren müssen, alles mögliche. Aber die Menge reicht nicht. Ein paar tausend Schwimmwesten in der ganzen Stadt, ein paar zehntausend Rettungsringe - die meisten von den öffentlichen Badeanlagen, davon wieder die meisten von den Binnenseen - und sonst nichts. Seile lassen sich in ausreichender Menge finden, noch mehr Stahltrossen, mit denen man aber nichts anfangen kann, wenn man nur mit seinen bloßen Händen zupacken kann.
Dann habe ich mal wieder eine Idee: Spielzeugläden. Gibt es massenhaft in der Stadt - viele Besucher bringen ja ihre Kinder mit. Der entsprechende Aufruf hat Erfolg - mit diesen Mengen an aufblasbaren Gummitieren und Spielzeugschlauchbooten können weit über zweihunderttausend Menschen über Wasser gehalten werden. Es werden sogar noch mehr gefunden, im Laufe der Zeit. Paul gratuliert mir zu dieser Idee, aber ich bin deprimiert:
"Ist dir aufgefallen, Paul," frage ich, "daß von diesen vielen Geschäftsinhabern sich kein einziger mit dieser Idee bei uns gemeldet hat? Sind die alle so phantasielos, oder sind ihnen ihre Lagerinhalte zu schade?"
Paul weiß es nicht, und ich ziehe es vor, nicht mehr darüber nachzudenken. Ein Verdacht, den ich habe, ist ganz trivialer Natur: Versicherungen werden für alles zahlen, was in und an der Stadt zerstört wird. Aber wenn jemand den Inhalt seiner Materiallager kurz vor der Katastrophe zu sinnvoller Verwendung herausgibt, dann könnte sich eine Versicherung auf den Standpunkt stellen, daß das Material nicht beim Untergang der Stadt abhanden gekommen sei, sondern vorher ordnungsgemäß verkauft oder verschenkt worden sei. Dafür ist eine Versicherungsleistung aber nicht vorgesehen. - Vielleicht sollte ich eine offizielle Beschlagnahmung anordnen, um diesen Leuten den Standpunkt gegenüber ihren Versicherungen zu stärken. Bechlagnahme und Enteignung. Wahrscheinlich gerechtfertigt. Die rechtlichen Konsequenzen kann ich aber nicht überblicken. Wenn dies alles vorbei ist, werden viele Leute ihre Rechtsanwälte auf mich hetzen, um mich für alles haftbar zu machen, was sie während der Strandung der Stadt verloren haben. Das kann man gar nicht verhindern, sagt Paul, als ich ihn daraufhin anspreche.
"Weißt du, Joycelyn, daß Wissenschaftler für ihre Versuche in Verhaltensforschung in letzter Zeit vermehrt dazu übergegangen sind, nicht mehr Ratten, sondern Rechtsanwälte zu benutzen?" fragt er mich.
"Tatsächlich?" frage ich ungläubig.
"Ja. Man hat rausgefunden, daß es Dinge gibt, die nicht einmal Ratten tun würden!"
Lieb von ihm, zu versuchen, mich aufzuheitern. Trotzdem: Irgendwann muß ich vielleicht noch einmal auf die Beschlagnahme wichtigen Materials zurückkommen. Aber im Moment bleibt natürlich die Idee hängen: Was gibt es vielleicht sonst noch in Massen in der Stadt, was uns eminent wichtig sein könnte, was vielleicht die ganze Zeit vor unseren Augen herumliegt, herumhängt oder herumsteht, und was wir in seiner Wichtigkeit und Nützlichkeit nicht erkennen, bloß, weil vielleicht 'Spielzeug' drauf steht, oder 'Keep Fingers off!'?
Noch ein Punkt erfordert Aktionen. Diejenigen unserer Stadtbewohner, die permanent in der Stadt wohnen - manche können sich eben so etwas leisten - haben auch viele ihre wirtschaftlichen Verbindungen in der Stadt. Bankkonten zum Beispiel. Sämtliche Filialen von Banken und Versicherungen müssen sofort aufgefordert werden, ihren Datenbestand zu ihren Zentralen zu überspielen. Eigentlich könnten sie von selbst auf diese Idee kommen, aber ich traue der Kreativität von Bänkern nicht allzuviel zu. Die Straub soll, so die Gerüchteküche, auch einmal in einer Bank gearbeitet haben - vielleicht daher meine Abneigung gegenüber allem, was mit dem Bankgeschäft zusammenhängt. Es würde auch ihre fachliche Ahnungslosigkeit in allen technischen Dingen erklären.
Dann muß ich aber auch an die Bandbreite der verfügbaren Sendekanäle denken. Es geht nicht an, daß uns irgendjemand mit dem Überspielen gigantischer aber vielleicht nicht allzuwichtiger Dateien die Kommunikation zu den Außenwelten zustopft. Ich setze mich deshalb mit der Kommunikationszentrale der Stadt in Verbindung und frage nach. Sie klagen tatsächlich über eine Überlastung ihrer Kanäle. Nun gut, dann setzen wir eben die Gebühren rauf, damit nur noch wirklich wichtiges übertragen wird. Ob meine Vollmachten dazu ausreichen, weiß ich nicht. Sie sollen alle Benutzer anrufen und nachfragen. Schließlich kann ich auch den privaten Datenverkehr ganz unterbinden - dazu jedenfalls reichen meine Vollmachten aus.
Draußen wird es dunkel, und ich habe das Gefühl, daß wir noch gar nichts rechtes geschafft haben. Noch einen ganzen und einen halben Tag, Joycelyn, und dann wird sich zeigen, aus welchem Holz du geschnitzt wurdest.
Am späten Abend gelingt es mir, Paul wieder für eine gute Stunde Vertretung zu gewinnen. Ich verlasse den Kontrollturm und suche mein Apartment auf. Ich sollte alle wichtigen Dinge zusammenpacken.
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