18. Die Eiderstädter Halbinsel
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Es war erst traumlos, dann waren die Träume wirr. Ich leite eine endlose Menschenmenge über einen schmalen Saumpfad an einem glitschigen, senkrechten Felsenabhang. Dauernd rutschen welche ab. Dann ist die Straub da und stellt mich zur Rede. Warum ich die Leute nicht anseile. Ich antworte, daß dann alle abrutschen würden, weil der Felsen so wenig Halt bietet. Außerdem hat sie die Seile verräumt, aber das traue ich mich nicht zu sagen.
Dann heißt es plötzlich, ich hätte die Seile veruntreut, und ich muß mich für die Fehler meiner Vorgesetzten rechtfertigen. Und auf einmal hängt die Felswand schief, überhängend, und alle stürzen herunter. Hämisch lacht die Straub: Die Pemberton hat versagt. Und dann wird die Straub befördert. Ich sehe dann noch Paul, an ein Terminal gefesselt. Er macht eine Beschwörung, und auf dem Bildschirm erscheint ein Plan, wie man über die Felswand gelangen könnte. Darauf macht der Rechner eine Beschwörung, und Paul erstarrt zur Salzsäule. Er hat das Spiel verloren. Mein Gott, denke ich, zur Salzsäule, wo Salz doch im Meerwasser löslich ist. Ich schreie und wache auf.
Ich liege nicht auf dem Boden des Kontrollraums. Es dauert aber einige Sekunden, bis ich einsehe, daß es das ist, was ich eigentlich beim Aufwachen zu sehen erwartet habe. Ich liege auf einem der Betten, mit einem schweren Leinentuch zugedeckt. Mein erster Blick gilt der Uhr: Früher Nachmittag. Großer Gott, wie lange habe ich geschlafen? Im Augenblick bin ich aus dem Bett und rauf in den Kontrollraum. Wie gut, daß Paul nicht auf die Idee gekommen ist, mich nicht nur ins Bett zu bringen, sondern auch noch auszuziehen. Dann würde ich ihm jetzt aber etwas erzählen. Andererseits wäre eine Dusche nicht schlecht. Zu lange nicht aus den Klamotten rausgekommen. Und Hunger habe ich.
Paul sitzt im Kontrollsitz und hackt auf der Tastatur herum. Hoffentlich macht er nicht durch irgendwelche Experimente den Rechner ganz kaputt. Er dreht sich um:
"Ausgeschlafen?"
"Warum hast du mich nicht früher geweckt? Ich hatte doch gesagt, vier Stunden! Jetzt ist ja schon bald wieder Abend!"
"Es ist nichts passiert, wo du unbedingt hättest dabei sein müssen."
"Als stellvertretender Stadtkommandant wüßte ich schon gerne, was passiert!"
"Als Stadtkommandantin wirst du auch alles zur Zeit erfahren. Es war erst einmal wichtig, daß du wieder zu klarem Verstand kommst. Wenn du wüßtest, wie undeutlich du gestern artikuliert hast!"
"Ach ja?"
"Ja. Unter normalen Umständen könntest du dich krankschreiben lassen. Aber es sind keine normalen Umstände."
Ich erblicke eine Thermokanne und Kaffetassen. Daneben Marmeladenbrötchen. Das übliche einfallslose, himmlische Hotelfrühstück. Es hypnotisiert mich augenblicklich. Paul folgt meinen Blicken:
"Nur zu. Wir haben gute Verpflegungsdienste in der Stadt. Man muß ihnen natürlich Bescheid sagen, daß sie benötigt werden. Derweil gibt's meinen Bericht zur Lage."
Ich lasse mir das nicht zweimal sagen. Während ich mir den Kaffee eingieße, redet Paul weiter:
"Eine Neuigkeit habe ich dir eben schon gesagt."
"Was? Welche denn?"
"Du bist noch nicht ganz wach. Cammaroto ist seinen Verletzungen erlegen. Du machst jetzt den Chef. Wer sonst noch in Frage käme, ist nicht greifbar."
"Oh."
"Die ISAAC ASIMOV ist schon wieder weg. Sie haben 8250 Leute reingekriegt. Gestopft, muß man sagen. Morgen kommen sie wieder. Schneller geht's nicht. Übermorgen ist die Stadt hin - so oder so."
"Ging das problemlos? Das hätte ich sehen mögen!"
"Ich hätte es lieber verschlafen. Der Seitenwind war ihnen viel zu stark. Normalerweise dürfen sie unter diesen Umständen gar nicht landen. Dreimal haben sie durchstarten müssen. Einmal hätten sie fast diesen Turm mitgenommen."
"Hätte viele Probleme gelöst."
"Das meinst du nicht so. Für die Stadtbewohner hätte es überhaupt nichts gelöst."
"Und die Stadt?"
"Hält noch zusammen. Die ganzen Siebener Sektoren sind voll, Schäden jetzt auch in B5 bis D5 und B9 bis D9. Das einzige, was man machen kann, ist, alle Schotts, Wandlücken, Durchgänge und Türen abzuriegeln und zuzusehen, wie das Wasser einen Abschnitt nach dem anderen holt. In den abgesoffenen Sektoren kann man immer noch die zwei oder drei obersten Stockwerke begehen, ausgenommen in C7 und einigen Abschnitten drum herum. Da biegt sich das, was von der Stadt noch übrig ist, zu sehr durch. Das könnte übrigens ein Problem werden, weil dadurch unser Tiefgang an der Stelle deutlich erhöht ist. So tief ist die Nordsee schließlich auch nicht. Nicht überall."
"Wir versuchen, drumrumzusteuern. Verletzte und Tote?"
"Einige. Inzwischen können die Mitarbeiter vor Ort aber schon ganz gut abschätzen, wann sie die Beine in die Hand nehmen müssen. Übrigens - die Geschwindigkeit des Fortschreitens der Zerstörung scheint ziemlich konstant zu sein. Es muß irgendeine Gesetzmäßigkeit dahinterstecken. Das müßte man bei Gelegenheit mal untersuchen. Jedenfalls werden wir auf diese Weise sogar noch ein paar Tausend Kilometer schaffen - sogar mit dem hinterem Teil der Stadt."
"Glaube kaum. Im Süden grenzt die Nordsee an Land. Ich habe nicht die Absicht, zu kreuzen. Außerdem will ich das Stranden schon in Jütland machen - es müßten noch etwa 1400 Kilometer sein, nicht wahr?"
"Ja, ungefähr."
"Gut." Ich stehe auf und wandere mit der dampfenden Kaffeetasse im Kontrollraum auf und ab. "Wenn es so ist, daß die fortschreitende Stadtzerstörung uns bis dahin nicht mehr gefährlich werden kann, dann bleiben uns zwei Punkte zu klären: Welche Landungsstelle soll es sein, und wie bringen wir die Menschen an Land?"
"Mmh, hellwach, so schnell!" grinst Paul.
"Schichtroutine. Wenn nichts los ist, dann wird öfter mal auf dem Turm geschlafen - im Dienst. Wenn dann jemand auftaucht, dann sieht man in Sekunden so ausgeschlafen aus, daß niemand auf die Idee kommen könnte, der oder die Diensthabende hätte noch vor Sekunden geträumt. Jeder im Schichtdienst kann das. Aber das bleibt unter uns!"
"Von mir erfährt die Straub nichts!"
"Das ist eine Bemerkung zum Thema: Um die Kranken und Behinderten müssen wir uns auch kümmern."
"Ja," sagt Paul, und schielt auf den Bildschirm, "Um die auch. Und um die Küsten. Da."
Ich sehe jetzt erst, daß auf dem Bildschirm Karten zu sehen sind, Seekarten.
"Du traust dich aber was!" tadele ich, "Wenn du am Stadtrechner rumspielst, dann kannst du doch leicht einen neuen Deadlock auslösen!"
"Im Prinzip ja. In der Praxis - nein. Jeder, der längere Zeit in der Software-Branche tätig war, hat da so seinen Instinkt. So wie in jedem anderen Beruf auch. Die reinen geographischen Abfragen sind von der Steuerung getrennt. Das sind Tasks, die sich zwar um dieselben Prozessoren mit den Steuerungs- und Navigationstasks streiten, aber sonst keinerlei Schnittstellen untereinander haben. Insbesondere keine Entry-Calls und keine Datenstrukturen im gemeinsamen Zugriff. Da kann eigentlich nichts passieren. Ich mache im Moment einen nur-lesenden Zugriff auf die geographischen Informationen."
Ich entschließe mich, ihm zu glauben. "Und hast du etwas herausgefunden, in deinen Seekarten?"
"Allerdings. Jütland ist passe. Wir müssen weiter nach Süden."
"Warum?"
"An der Küste von Jütland liegen Überbleibsel aus den Ökokriegen. Einige abgeschossene Kampfmaschinen."
"Und warum sind die nicht längst geräumt worden, damals, als die Erde noch bewohnt war?"
"Weil man sich nicht getraut hat."
"Mach's nicht so spannend! Was haben diese Wracks an Bord? Nervengifte?"
"Auch. Und auch bakteriologische Waffen. Etwas wenigstens muß seinerzeit davon ins Freie gelangt sein. Deshalb gehört Jütland auch nicht zu den Gebieten, wo Touristen hingeflogen werden dürfen. Das Land darf bis heute nicht betreten werden. Es ist völlig verseucht."
"Womit?"
"Das hat man uns - oder den Programmierern dieser Seekarten - nicht verraten. Wahrscheinlich, weil man sonst eine spezifische Adresse für Schadenersatzforderungen hätte."
"Seltsam. Und ich dachte, die Erde wäre von solchem Zeugs völlig befreit. Jedenfalls ist es das, was man sich unter einer Ökoreserve vorstellt."
"Aber du müßtest als Stadttechnikerin doch wissen, daß es viele Gebiete gibt, die für Landexkursionen tabu sind?"
"Weiß ich auch. Ich dachte, es hat in den meisten Fällen nur ökologische Gründe. Ich dachte, es handelt sich um besonders sensible Gebiete, in ökologischer Hinsicht. Eine absolute Ökoreserve eben."
"Früher," erinnert sich Paul an seinen Geschichtsunterricht, "war es das auch. Solange das Konzept der Ökoreserven so definiert war, daß jedes Land mindestens die Hälfte seines Territoriums aus jeglicher zivilisatorischer Nutzung freizustellen hatte, solange durfte auch nur Gelände ohne solche Altlasten in eine Ökoreserve miteinbezogen werden - oder die betreffende Fläche wurde nicht als Ökoreserve gerechnet. Seit aber die ganze Erde eine Ökoreserve ist, sieht das anders aus. Da stehen noch viele Schweinereien aus der Zeit der industriellen und militärischen Zerstörung der Erde herum. Die Kampfmaschinen an der Küste von Jütland gehören dazu."
"Und wie stark ist das Land vergiftet?"
"Willst du es ausprobieren? Ich weiß es nicht. Vielleicht kann man stundenlang herumlaufen, ohne etwas zu merken, vielleicht spürt man schon ein Brennen auf der Haut sowie man nur den Boden betritt, und nur Minuten später pellen sich Haut, Muskulatur und innere Organe in stinkenden Blasen von den Knochen. Ich weiß es wirklich nicht, und ich will es nicht ausprobieren."
"Jütland ist also tabu?"
"Ja. Weiter im Süden, da geht es wieder. Ich habe an die Eiderstädter Halbinsel gedacht. Da liegen mächtige Sandbänke, die uns auffangen können, und vor der Küste sind einmal Deponiegrabungen vorgenommen, aber nicht beendet worden. Das ist günstig, um nahe an das Land heranzukommen, ohne aufzulaufen."
"Und was spricht noch für diese Stelle?"
"Daß sonst nichts dagegen spricht. Mehr können wir uns im Moment nicht wünschen."
Einen Moment Schweigen.
"Es sind dreihundert Kilometer mehr - etwa. Das ist drin." überlegt Paul.
Ich überlege auch: "Das hieße, daß der Zeitpunkt so etwa übermorgen, am Mittwoch, gegen 16 Uhr liegt. Das ist schlecht. Ich wollte einen ganzen Tag nach der Strandung haben. Es wird viel zu tun geben."
Und wieder denken wir, jeder für sich, eine Weile nach.
"Langsamer fahren geht nicht ..." stelle ich das offensichtliche fest, und
"Rumkurven geht auch nicht." sagt Paul. Er studiert die Karte, zoomt sie ran, schiebt sie wieder weg und verschiebt sie. Ich sehe, wie sich Symbole in Abhängigkeit vom Maßstab verändern, auftauchen oder verschwinden.
"Die ganze jütländische Küste bis zu diesem Kap hier - es heißt Blavands Huk - geht nicht. Dann kommt das Gebiet der ehemaligen nordfriesischen Inseln. Nicht gut. Wattenmeer, bis weit hinaus. Und wenn man sich auf die Inseln gerettet hat, oder das, was von ihnen noch übrig ist, dann sitzt man da auch fest. Sie sind klein und haben keine Festlandsverbindung, wie man auf diesen Karten deutlich ..."
"Das haben Inseln so an sich!" werfe ich ein, aber Paul fährt fort:
"Es gab mal welche, die einen Fahrdamm zum Festland hatten. Davon ist nichts mehr übrig. Nein, das geht nicht. Stell dir eine Million frierender und hungernder Menschen auf ein paar Quadratkilometern Sand und Dünen vor. Raumschiffe können nur auf dem Festland landen, oder weit draußen, auf dem Meer, wo dann noch das Wrack der Stadt im Wege liegen wird. Also auf jeden Fall weit weg. Nein. Es muß schon die Eiderstädter Halbinsel sein."
"Und weiter südlich?" frage ich.
"Wolltest du nicht die Dunkelheit vermeiden?"
"Wenn da irgendeine ganz ideale Stelle ist?"
"Mal sehen." Paul schiebt seine Karten weiter über den Bildschirm. Als ich ihm zu nahe über die Schultern sehe, beugt er sich reflektorisch weg von mir. Wahrscheinlich rieche ich etwas streng, nach so langer Zeit ununterbrochenen Dienstes. Ich achte darauf, etwas mehr Abstand zu halten.
"Draußen auf dem Meer gibt es eine Felseninsel, etwa auf gleicher Höhe wie die Eiderstädter Halbinsel. 'Helgoland' heißt sie. Sagt die Karte. Ein paar Quadratkilometer. Küste zu steil für eine Strandung. Außerdem sagt die Karte, daß da Munition aus den Ökokriegen rumliegt."
"Auch sowas wie bei ..."
"Nein. Dieses Zeichen heißt Sprengmunition."
"Naja, bei der Größe der Stadt ..."
"Du weißt nicht, was du sagtst. Die Karte unterscheidet nicht chemische Sprengkörper von nuklearen. Ich glaube es zwar nicht, aber man muß mit allem rechnen."
"Also, diese Felseninsel nicht. Sag es doch gleich."
"Dann gäbe es noch die Möglichkeit, in die Elbmündung einzufahren, oder in die Wesermündung, oder in den Jadebusen - ne, letzteres nicht. Die Karte sagt, der ist völlig verlandet."
"Also diese Flußmündungen."
"Wie du hier siehst, liegen diese Flußmündungen voll von Wracks. Viele unter der Wasseroberfläche. Darunter viele Kriegsschiffe aus den Ökokriegen."
"Ja mei."
"Ja mei." äfft Paul nach. "Da man diese Hindernisse sowieso nicht sieht und auch gar nicht umfahren kann, bei der Größe unserer Stadt und so dicht, wie diese Wracks liegen, kann man da natürlich auch bei Dunkelheit einfahren. Einige dieser Kriegsschiffe haben übrigens mit Sicherheit nukleare Munition an Bord gehabt."
"Würde die denn noch nach solanger Zeit funktionieren?"
"Nicht alle Typen. Aber die katalytisch gezündeten Thermonuklearköpfe schon. Die gehen nicht kaputt. Da sie kein spaltbares Material brauchen, kann man sie nicht einmal richtig aufspüren. Du mußt bedenken, daß diese Schiffe bei Kampfhandlungen versenkt wurden. Bei Kampfhandlungen liegen einige Bomben gelegentlich in scharfgemachtem Zustand bereit."
"Woher weißt du das eigentlich alles?"
"Oh, Joycelyn! Ich habe eine lange, finstere Vergangenheit."
"Wie gut, daß ich dich nicht so gut und schon so lange kenne! Ich hätte gegebenenfalls ein langes Gedächtnis!"
"Gut," sagt Paul. "Wenn du ein langes Gedächtnis hast, dann wirst du also die Übersicht über alle Landepunkte, über die wir gesprochen haben, noch im Kopf haben. Es kommt eigentlich nur die Eiderstädter Halbinsel in Frage."
"Du hast recht."
"Und du hast keinen Kaffee mehr. Wenn du jetzt runter gehst, um zu duschen, dann lasse ich neuen holen."
Das war deutlich. "Ich weiß schon," sage ich, "Madame stinken zum Himmel."
"Das habe ich nicht gesagt. Aber es stimmt - wer täte das nicht. Aber denke dran und genieße es - diese Dusche könnte für lange Zeit die letzte sein."
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