15. Das Feuer des Prometheus
Schon um 1989 wurde der Fleischmann-Pons-Effekt gefunden. Den beiden Entdeckern, Fleischmann und Pons, ist es jedoch nicht gelungen, ihre Versuchsbedingungen so präzise anzugeben, daß andere Autoren und später sie selbst die kalte Fusion von Deuteronen im Kristallgitter des Palladiums nachweisen geschweige denn die hohen behaupteten Leistungsdichten nachvollziehen konnten. Was man nachweisen konnte, waren einige - für Physiker und Chemiker unverzeihliche - Schlampereien im experimentellen Aufbau und in der Meßmethodik. In demselben Jahr, in dem die Schlagzeilen von der Kalten Fusion um die Welt rasten, ernüchterte sich die physikalische Fachwelt gründlich. Die einhellige Meinung war: Den Effekt gibt es nicht. Alles Plunder. Zu frühe Veröffentlichung. Unwissenschaftlich. So schafften es Fleischmann und Pons, einerseits bekannt zu werden und andererseits ihren wissenschaftlichen Ruf so gründlich zu ruinieren, daß man ihnen sogar eine Veröffentlichung einer Tabelle mit dem kleinen Einmaleins nicht mehr geglaubt hätte. Zu ihren Lebzeiten hatten sie den Effekt, den sie zu sehen geglaubt hatten, nicht einmal ansatzweise ein zweites Mal reproduzieren können.
Aber der Zweifel blieb. So, wie manche unverbesserliche Optimisten bis zum heutigen Tage dem Perpetuum Mobile zweiter Art nachjagen, so reizte der Gedanke an die Kalte Fusion jeden, der mit Fleisch und Blut Physiker war. War es nicht sehr plausibel, daß in einem Kristallgitter eindiffundierte Deuteriumkerne, ihrer elektrischen Abstoßung durch die Wechselwirkung mit dem Kristallgitter beraubt, durch quantenmechanische Effekte, also ganz besonders durch den Tunneleffekt, tatsächlich mit großer Wahrscheinlichkeit fusionieren konnten? Und mehr noch: War es nicht sogar denkbar, daß man mit reinem Deuterium sogar eine Fusion mit Helium als Endprodukt bekommen konnte? Reines, umweltfreundliches Helium, keine Neutronen, keine sonstige Radioaktivität, die Abgabe der erzeugten Energie direkt an das Kristallgitter des Palladiums? Schweres Wasser rein - Wärme raus. Was kann einfacher sein?
Die Suche ging weiter. Heute weiß man, daß geringe Fusionsraten sehr leicht zu erzielen sind, sogar mit dem Original-Versuchsaufbau von Fleischmann und Pons. Aber der Nachweis von Wärmemengen im Mikrowattbereich ist natürlich schwierig, und der Nachweis von Helium, das ausgerechnet sich in jenen Kristallfehlstellen festsetzen möchte, die die Kalte Fusion katalysieren, ist auch nicht einfach. Festkörpergebundenes Helium ist spektroskopisch nicht nachzuweisen. Wenn man jedoch die Elektrodenprobe in einem Lichtbogen verdampft, dann kann man eigentlich immer nachweisen, daß das Helium, das sich durch rudimentäre Spektrallinien verrät, sich noch auf anderem Wege in die Versuchsanordnung geschlichen haben könnte.
Nach den Ökokriegen, als sich die Weltbevölkerungskonferenz etabliert hatte, also um 2018, wurde Grundlagenforschung allmählich wieder möglich. Die zu diesem Zeitpunkt hochentwickelte Halbleiterschaltkreistechnologie ermöglichte auch, andere Metalle und Metallegierungen sehr gezielt zu manipulieren, und zwar im allerkleinsten, auf der Designebene der Kristallgitter und ihrer Defektstrukturen. Aufbauend auf Arbeiten, die bereits in den Siebziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts in einer kleinen Universität in Deutschland gemacht worden waren, gelang es, in Palladium-Titan-Mischkristallen Kristalldefekte zu erzeugen, die eingedrungene Wasserstoff- und Deuteriumkerne mit immensen, mikroskopisch kleinen Potentialwällen im Kristall komprimierten. Dabei stellte sich ein thermodynamisches Gleichgewicht zwischen dem Partialdruck des Wasserstoffes oder des schweren Wasserstoffes außerhalb des Kristalles und der Konzentration dieser Kerne in den besagten Fehlstellen im Kristall ein. Eine Änderung des Druckes außen bewirkte eine Änderung der Wasserstoff- und Deuteriumkonzentrationen im Kristall, bei höheren Temperaturen schneller, bei tiefen langsamer. Das war schon fast alles, was den Weg zur Konstruktion des F-P-Reaktors ebnete.
Es ist tragisch, daß weder Fleischmann und Pons noch die Mitarbeiter jener kleinen Universität in Clausthal im Oberharz jemals erfuhren, welche Ergebnisse ihre Arbeiten wenige Jahrzehnte später zeitigten. Aber welcher Zeitgenosse hätte um 1970 bis 1990 die richtigen der vielen verschiedenen Wege in der Forschung zu jener Zeit zusammenführen können? So hatte man in Clausthal niemals Energieerzeugung im Auge - die Intentionen, die hinter der Forschung in Sachen Kristallfehlstellen standen, bezogen sich ausschließlich auf die Mikroelektronik. Vielleicht aus diesem Grunde hat sich die Bezeichnung Fleischmann-Pons-Sarkowski-Labusch-Doeding-Seuter Reaktor, die eigentlich angemessen gewesen wäre, nie durchgesetzt - aber vielleicht liegt das auch an der Länge des Namens.
Nachdem die ersten Palladium-Titansplitter Leistungsdichten von mehreren Milliwatt pro Gramm erreicht hatten, begann sofort gezielt die Entwicklung der F-P-Reaktoren. Zunächst wurde die Anzahl der geeigneten Kristalldefekte stark erhöht, bis man bei achtzehn bis fünfundzwanzig Watt pro Gramm Palladium-Titan-Legierung anlangte. Es zeigte sich allerdings, daß die mögliche Dichte der Defekte mit steigender Temperatur wieder abnahm. Bei den für eine Energieerzeugung interessanten Temperaturen konnten pro Gramm aktives Material höchstens drei Watt erzeugt werden. Diese maximale Leistung nahm dann nur noch langsam im Laufe der Zeit ab - nach vielen Jahren kontinuierlicher Energieproduktion waren es noch zwei Watt, nach vielen Jahrzehnten nur noch ein Watt pro Gramm.
Kurzfristig sinkt die Energieproduktion allerdings aus einem anderen Grunde: Das erzeugte Helium besetzt die aktiven Kristalldefekte. Unternimmt man nichts, dann fällt die Leistung eines F-P-Reaktors nach wenigen Stunden auf unmeßbar geringe Werte. Die Deuteriumkerne gelangen nicht mehr dahin, wo sie fusionieren können, weil ihnen die Heliumkerne im Wege stehen.
Das Helium treibt man genauso aus den Kristalldefekten heraus wie man das Deuterium hineingetrieben hat: Man hält einfach die Außenkonzentration des Heliums so niedrig wie möglich. Um die Ausdiffusion von Helium aber noch zu beschleunigen, läßt man einen F-P-Reaktor in regelmäßigem Rhythmus etwas heißer arbeiten. Dies geht allerdings nur sehr kurzzeitig, da bei zu hoher Temperatur auch die Dichte der aktiven Kristalldefekte weiter abnimmt - die Kristalldefekte 'heilen aus'. Daraus folgt, daß die ideale Konstruktion des aktiven Palladium-Titan-Materials eine sehr dünne Folie ist, die das Ausdiffundieren des Heliums auch bei kurzzeitigster Temperaturerhöhung in den Ausheizungszyklen erleichtert. Deshalb besteht bei modernen F-P-Reaktoren das aktive Material, das bei großen Leistungsreaktoren ja einige hundert Tonnen umfassen kann, aus einem Gewebe feinster Palladium-Titan-Folien, die von schwerem Wasser mit hoher Strömungsgeschwindigkeit umspült werden. Dadurch ist die Temperatur über den gesamten Reaktorkern sehr konstant und läßt sich präzise und schnell regeln. Ein F-P-Reaktor verträgt schon wenige Grad Übertemperatur sehr schlecht, weil dann die Qualität des aktiven Materials schnell abnimmt. Deshalb kann man ihn auch nicht ohne leistungsfähige Computer bauen, insbesondere auch dann, wenn die Lastanforderungen häufig wechseln.
Die Notwendigkeit einer effektiven Regelung ist auch durch die starke Druckabhängigkeit eines F-P-Reaktors bedingt. Eine Erhöhung der Leistung führt zu einer Temperaturerhöhung, die, wenn man sonst nichts weiter unternimmt, auch den Druck ansteigen läßt. Das bedeutet aber, daß die Leistung sofort weiter steigt. Man hat blitzartig die Temperaturen erreicht, bei denen das aktive Material durch Ausheilung der Kristalldefekte seine Aktivität verliert. Praktisch von einer Sekunde zur anderen hat man nur noch ein Druckgefäß mit heißem Wasser drin, das langsam abkühlt. Schon dieser Effekt alleine bewirkt, daß man einen F-P-Reaktor ohne computergesteuerte Druckregelung gar nicht in Betrieb nehmen kann, ohne ihn sogleich zu zerstören.
Es gibt aber noch mehr konstruktive Schwierigkeiten. Wegen der Heliumvergiftung des aktiven Materials muß das Helium sehr effektiv aus dem Primärkreislauf entfernt werden. Und nicht nur das Helium. Es muß auch peinlich genau darauf geachtet werden, daß sich kein normalschwerer Wasserstoff in den Primärkreislauf verirrt. Der diffundiert nämlich auch sehr gerne in das aktive Material und geht mit Deuteriumkernen Fusionen ein. Es entsteht dann entweder Helium-3, ein Isotop des Heliums, oder Tritium unter Erzeugung eines Positrons. Das Positron reagiert mit irgendeinem Elektron und erzeugt dabei harte Gammastrahlen. Und der Tritiumkern verliert auch seine Unschuld: Unter den Bedingungen der Kristalldefekte fusioniert er auch mit einem anderen Deuteron. Dabei entsteht ein freies Neutron. Und das treibt in dem aktiven Material allerhand Unfug. Unter anderem können die Palladium- und die Titan-Atomkerne selbst dieses Neutron einfangen und dabei Kernreaktionen auslösen, die eine ganze Reihe neuer Stoffe erzeugt, die meisten davon radioaktiv. Auch das Helium-3, das bei der Anwesenheit von normalschwerem Wasserstoff entsteht, ist noch bei einer ganzen Reihe ungewollter und störender Nachfolgereaktionen beteiligt.
Unter dem Strich bewirkt also die Anwesenheit geringster Spuren von normalschwerem Wasserstoff eine radioaktive Verseuchung des aktiven Materials, das außerdem seine Eigenschaft als aktives Material verliert - die Kristalldefekte werden zerstört. Fremdatome haben in dem aktiven Material überhaupt nichts zu suchen. Das ist der Grund, warum der Primärkreislauf eines F-P-Reaktors reinstes Schweres Wasser - oder in einigen früheren Bauformen reinstes Deuteriumgas - enthalten muß und auch dauernd von allen neuentstandenen Fremdstoffen gereinigt werden muß. Auch die Anlage, die für die Abscheidung von Fremdatomen sorgt, ist rechnergesteuert - sie ist nämlich noch viel komplizierter als der eigentliche Reaktor.
Nichtsdestoweniger hat ein F-P-Reaktor auch sehr viele angenehme Eigenschaften. In früheren Modellen wurde die Deuteriumkonzentration im aktiven Material noch durch Elektrolyse künstlich erhöht. Das hatte den Vorteil, insbesondere bei kleinen Elektrodenabmessungen, daß die Leistung sehr rasch verändert und damit auch schnellstens abgeschaltet werden konnte. Eine solche Eigenschaft ist der Sicherheit durchaus förderlich.
Allerdings stellte sich dann heraus, daß Stromkonzentrationen an manchmal nur mikroskopisch kleinen scharfen Kanten des aktiven Materials die lokale Temperatur zu stark ansteigen ließen und auf diese Weise die Kristalldefekte ausheilten. Das aktive Material wurde gerade da inaktiv, wo durch hohe Stromdichten die höchsten Deuteriumkonzentrationen erreicht worden waren.
Außerdem mußte die Leitfähigkeit des schweren Wassers durch Zugabe von chemisch reinster Kalilauge oder einem anderen Elektrolyt erhöht werden. Das machte die Schwerwasserreinigung viel schwieriger und führte zu unübersehbar vielen chemischen Nebenreaktionen im Reaktor. Dazu kam, daß sich lokal doch immer wieder echte Elektrolyse-Reaktionen abspielten, so daß man auch dauernd freien Sauerstoff und freien Schweren Wasserstoff im System hatte. Das wiederum machte die Druckregelung aufwendig und den gesamten Betrieb gefährlich.
Deshalb ist man in modernen F-P-Reaktoren dazu übergegangen, die Eindiffusion von Deuterium in das aktive Material allein durch hohen Druck zu bewerkstelligen. Es hat sich herausgestellt, daß das die sauberste Lösung ist. Es ist immer noch möglich, die Energieerzeugung im Reaktor in Sekunden herrunterzufahren, indem man den Druck von weit über zweitausend Bar auf dreihundert Bar zurücknimmt.
Eine andere - die teuerste - Möglichkeit der Schnellabschaltung ist einfach die, den Reaktor heißlaufen zu lassen. Wenn das aktive Material nur für Minuten um fünfzig Grad heißer ist als die normale Betriebstemperatur, oder nur für Sekunden um achtzig Grad heißer, dann sind alle Kristalldefekte zerstört, beziehungsweise, der Kristall ist ausgeheilt. Es wird keine Energie mehr erzeugt. Der Reaktor kühlt aus - einfach so. Dann kann man das Schwere Wasser wieder in Vorratsbehälter umfüllen, das nicht mehr aktive Material ausbauen und als Rohstoff verwenden, für dieselbe Menge neuen aktiven Materials.
Das ist der Grund, warum ich keine Angst vor einer Explosion eines F-P-Reaktors habe. Ein F-P-Reaktor geht unauffällig kaputt. Eine Leistungsexkursion kann er nur haben, wenn diese vermehrte Leistung auch sofort abgeführt wird. Das hieße aber, daß alle beteiligten Regelsysteme völlig in Ordnung sind.
Es gibt allerdings eine Methode, einen F-P-Reaktor zu demolieren, indem man nämlich die Druckabhängigkeit der Reaktion ausnutzt: Man fängt mit einem kalten Reaktor an und setzt den Primärkreislauf unter den höchsten Druck, den die Zuführungspumpen aufbringen können. Das sind etwa dreitausendfünfhundert Bar. Dann schließt man alle Ventile und legt auf diese Weise die Druckregelung lahm.
Der Reaktor wird schnell seine Betriebstemperatur und etwas darüber erreichen. Dann wird das aktive Material zwar zerstört, aber der Druck steigt weiter auf über viertausendfünfhundert Bar. Und da liegt irgendwo die Grenze dessen, was der Primäre Druckbehälter aushalten kann. Bei einer gesunden Reaktorkonstruktion würden jetzt schon eine Vielzahl von Sicherheitsventilen den heißen, aber sonst harmlosen Schwerwasserdampf ins Freie gelassen haben. Wenn das aber nicht geht, dann bricht der Druckbehälter auseinander. Dann allerdings wird das überhitzte Schwerwasser explosionsartig verdampfen und alles in der unmittelbaren Umgebung zertrümmern - eine ganz normale Kesselexplosion eben. Wie bei einer Dampfmaschine.
Diese Situation ist aber bei dem Reaktor im Sektor C7 nicht gegeben. Erstens ist er nicht soeben aus dem kalten Zustand hochgefahren worden, sondern er läuft schon seit knapp drei Tagen. Zweitens gibt es keinen Grund, anzunehmen, daß seine Sicherheitsventile blockiert worden sind, auch wenn, was zu vermuten ist, ein Teil davon direkt durch den Stadtrechner gesteuert werden.
Wenn also dieser Reaktor mehr Leistung liefert als vorher, dann ist auch mehr angefordert worden. Aber warum? Und warum der Leistungseinbruch vorher? Und was ich auch nicht weiß ist, in wieweit der Stadtrechner bei der Regelung der Reaktorparameter mitmischt.
War also meine zugegebenermaßen emotionell gefärbte Reaktion, die Evakuierung des Sektors C7 auszulösen, etwas voreilig, oder ist mit dem Reaktor wirklich etwas nicht in Ordnung, das bedrohlich werden könnte? Ich wünschte, ich hätte eine Fee, die mir alles über die Stadt und die technischen Einrichtungen mitteilt, was ich wissen möchte. Eigentlich ist dazu dieses System im Stadtrechner gedacht. Aber die prinzipielle Möglichkeit, daß die harmloseste Anfrage den letzten, allumfassenden Deadlock bewirken könnte, hält mich davon ab, mich mehr als notwendig mit dem System zu beschäftigen.
Und selbst, wenn das System zuverlässig wäre: Manche Dinge herauszufinden erfordert intensives Manualstudium und langes Experimentieren. Dann sind die gewünschten Informationen schon wieder nicht mehr aktuell. Komisch. Diese Art von Klagen bei Großrechnersoftware, die speziell für einen einzigen Einsatzfall hergestellt wurde, hört man ja schon seit über hundert Jahren.
Zurück zu meiner Hauptseite
Sie sind Leserin dieser Seite Nummer