Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



14. Kapitel



        14.     Softwarekrise

"Das hast du wahrscheinlich ganz richtig erraten."

Paul hat weniger als zwanzig Minuten gebraucht, um in den Turm zu kommen. In der Zwischenzeit hatte ich weiter Gelegenheit, mich über die Lage der Stadt zu informieren. Zur Zeit sieht es so aus, daß in dem Sektor C7 zum Zeitpunkt des Wassereinbruchs wenig Leute beschäftigt waren. Wahrscheinlich gab es überhaupt keine Verluste an Menschenleben, aber das steht noch nicht fest.

Außerdem begreife ich allmählich, wie wenig technisches Personal eine Stadt, die hauptsächlich touristischen Zwecken dient, überhaupt hat. Von den 1.25 Millionen Menschen hier sind es etwa eine halbe Million, die hier ihren ständigen Wohnsitz haben, und noch einmal ebensoviele, die sich in Hotels oder Ferienwohnung für beschränkte Zeit in der Stadt aufhalten. Die restlichen hundertfünfundzwanzigtausend Menschen üben hier einen Beruf aus, oder es handelt sich um Familienmitglieder der hier Berufstätigen. Das heißt, von diesen Menschen arbeiten nur etwa 60 bis 80 Tausend.

Diese paar zehntausend Menschen halten die gesamte Infrastruktur am Funktionieren. Die überwiegende Mehrzahl davon ist Dienstleistungspersonal in den Hotel- und Versorgungsbetrieben. Dann gibt es Berufe, die man bei einer so großen Menge von Menschen ebenfalls immer antrifft: Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, Friseure, Rechtsanwälte, Mitarbeiter in Verwaltung, Verkehrs- und Kommunikationswesen. Also auch Dienstleistungspersonal. Die herstellenden Betriebe und die technische Infrastruktur der Stadt kommt mit sehr viel weniger Leuten aus.

Leute, die wissen, wie man ein Schott abdichtet oder ein Leistungskabel isoliert, die mit Schweißgeräten und Hebebühne umgehen können, die Verdrahtungspläne der Stadt lesen und verstehen können, die einen Hubschrauber fliegen können, die überhaupt mehr als nur einen rohen Grundriß der Stadt im Kopfe haben und die wissen, wo welche Einrichtungen sind, die gibt es in sehr viel geringerer Anzahl. Ich kann über ein paar hundert verfügen. Vielleicht wäre das anders, wenn diese Stadt eine durchschnittliche demographische Zusammensetzung hätte, wie etwa die Städte im Saturnorbit, oder auf Ganymede, oder auf Mars, wo Menschen ihren permanenten Wohnsitz haben.

Ich vermute, daß sich unter den Gästen noch viele fähige Leute finden ließen - Ingenieure, Naturwissenschaftler, Techniker. Aber diese aufzutreiben und einer Aufgabe zuzuführen, einschließlich notwendiger Einarbeitungszeit, das scheint in der zur Verfügung stehenden Zeit aussichtslos.

So stellt es sich heraus, daß die Organisation einer Evakuierung im Sektor C7 wahrscheinlich ungenügend wäre, wenn sich dort mehr Menschen aufhalten würden. Mir wurde berichtet, daß es nicht einmal möglich ist, sicherzustellen, daß da in den oberen Etagen der Stadt nicht wieder jemand in den Sektor hineinläuft. Die wenigen Mitarbeiter können ihre Augen ja nicht überall haben. Ich fürchte, das Problem wird noch schwieriger werden.

"Was habe ich ganz richtig erraten? Ich war in Gedanken."

"Du hast ganz richtig erraten, daß der algorithmische Lastausgleich wieder versagt hat." wiederholt Paul.

"Da war nichts zu erraten. Die Stadt ist beschädigt. Das kann man sich da unten ansehen. Das muß man nicht erraten."

"So meine ich das nicht. Es ist so: Da ist eine Task, die macht den Lastausgleich zwischen den verschiedenen Vortriebsmaschinen. Die funktioniert. Und da ist eine Task, die ein synchrones Herunterfahren der Vortriebsmaschinen organisieren könnte. Diese Task sitzt fest. Deadlock. Sie bekommt keine Rechenzeit und keine Prozessoren, weil sie auf irgend etwas wartet."

"Auf was?"

"Weiß ich nicht. Wir haben ja schon darüber gesprochen, was es sein könnte - aber es waren alles Vermutungen. Auf jeden Fall war es so, daß, als du die scharfe Kurve eingeleitet hast, die Task, die den Lastausgleich macht, festgestellt hat, daß einige der Vortriebsmaschinen - vermutlich die an der Außenseite der Kurve und besonders die in peripheren Bereichen der Stadt gelegenen - eine für ihre technische Spezifikation zu hohe Leistung erzeugen müßten. Das ging nicht. In solchen Fällen bietet es sich an, alle Vortriebsmaschinen in ihrer Gesamtheit herunterzufahren. Die Lastausgleichstask hat also an die andere Task, die das allgemeine Runterfahren hätte bewerkstelligen können, eine entsprechende Anforderung gesendet. Dieser Anforderung wurde allerdings aus den bekannten Gründen nicht entsprochen. - Diese ganze Situation ist bei den flachen Kurven, die wir in den letzten Tagen gefahren haben, nicht eingetreten."

"So." Hört sich plausibel an. Aber mir ist es gleich.

"Übrigens" fährt Paul fort, "haben wir Glück gehabt. Diese Intertask-Handlungsanforderung ist offenbar asynchron programmiert worden. Wäre das nicht der Fall, dann säße die Lastverteilungstask jetzt auch fest. Dann würde es die Stadt vielleicht zerreissen. Dann würden wir heute nacht noch Salzwasser schlucken. Alle, ohne Ausnahme."

"So. Und das gefällt dir, was? Große Katastrophe, gerade noch verhindert, durch dein großartiges Programmsystem, was?"

"Wie bitte?"

Scheiß-Software, denke ich mir. Damit gibts doch immer Ärger. Ich darf nicht zulassen, daß wir uns jetzt schon anschreien.

"Entschuldige, Paul. Es ist nicht deine Schuld. Aber dieses verdammte System hat uns bereits zweimal geschlagen, und wenn wir es abschalten würden, dann schlägt es uns ein letztes Mal, und dann vernichtend. Das ist doch, sag es selbst, das ist doch überhaupt nicht professionell! Das ist doch gepfuscht! Erst verklemmt es uns in seiner logischen Struktur die Ventile für die Auftriebszellen. Dann nimmt es uns die Möglichkeit, den Vortrieb der Stadt abzuschalten. Nicht einmal an die Reaktoren können wir ran. Und jetzt, wo es sich selbst in die Situation des unverzichtbaren Bestandteil des Ganzen gesetzt hat, da reißt es eine Wunde in die Stadt. Eine Wunde, die bald tödlich sein wird. Sowas kann man doch nicht mit gutem Gewissen installieren!"

Paul blickt mich eine Weile an. "Du hast nicht viel Erfahrung in der Software-Herstellung, nicht wahr?"

"Wir haben einen Kurs während der Ausbildung zum Stadttechniker bekommen, mehr nicht. Die Programme, die wir damals geschrieben haben, die funktionierten aber."

"Programme funktionieren." Paul klingt fast spöttisch. "Vierzeiler, was? Ja, ich weiß. Wenn man das erste Mal damit konfrontiert wird, mit dem Begriff des Programms, und der Idee, daß da etwas ist, was funktioniert, ohne sich abzunutzen, dann ist das, als ob man lernt, auf dem Wasser zu schreiten. Ein Programm funktioniert immer, und wenn man es einmal fehlerfrei hat, dann bleibt es fehlerfrei.

"Aber, Joycelyn, die Praxis ist anders. Programme, die etwas sinnvolles arbeiten, sind GROSS. Hunderttausende, vielleicht Millionen Zeilen. So groß waren sie schon vor über hundert Jahren. Daran hat sich seit jener Zeit nichts geändert. Stell dir das vor! Die maximale Größe von Programmsystemen, deren Herstellbarkeit und Wartbarkeit man schon im zwanzigsten Jahrhundert gelegentlich zu beherrschen glaubte, hat sich überhaupt nicht geändert! - Da gab es einmal, im zwanzigsten Jahrhundert, ein Projekt, das nannte sich SDI. Irgendeine reichlich unscharfe Idee bezüglich der automatischen Verteidigung gegen anfliegende Raketen mit Kernwaffen war es, die sich hinter dieser Bezeichnung versteckte. Es hätte Programmsysteme erfordert, die in ihrem Umfange zwei Zehnerpotenzen über dem bis dahin bei den größten Softwaresystemen erreichten lagen. Es hat nie funktioniert! Natürlich hat es viel Geld gekostet, wenn auch nicht ganz soviel wie diese Stadt. Aber Programme in der damals angepeilten Größenordnung hat es nicht nur in diesem Projekt, sondern auch danach NIEMALS gegeben!

"Und seit dieser Zeit hat sich auch an der Unzuverlässigkeit von Programmen nichts geändert. Sie sind unübersichtlich, werden immer mit zu knappen zeitlichen Resourcen erstellt, es wird nicht genau definiert, was diese Programme tun sollen, und das, was definiert wird, verstehen alle Mitarbeiter des Projektes unterschiedlich. Sie, die Auftraggeber und die Manager, wissen nicht einmal, ob das, was das Programm machen soll, überhaupt widerspruchsfrei formuliert worden ist!

"Seit dieser Zeit sind viele neue Ideen aufgetaucht, was die Softwareproduktion betrifft. Neue Programmiersprachen, neue Paradigmen, neue Algorithmen- und Datenabstraktionen, neue Managementmethoden, neue Konfigurationsmethoden. Es hat nichts genutzt.

"Programme haben Fehler. Es gibt glaubwürdige Schätzungen, die besagen, das Softwaresysteme, die im Einsatz sind, und die als zuverlässig gelten, immer noch alle paar Dutzend Zeilen einen Fehler haben! Große Softwaresysteme, die der ständigen Wartung und Weiterentwicklung bedürfen, ernähren immer ein ganzes Team von Programmierern und Systemdesignern, und im allgemeinen geht mehr als die Hälfte der Arbeitsleistung nur für Reparaturen von logischen Fehlern drauf! Große Systeme haben zwischen zehn- und hunderttausend Fehler, und, natürlich, es werden auch ständig neue gemacht, denn die Fehlerbehebung und Weiterentwicklung geschieht ja auch durch Menschen, die Fehler machen können und nach Murphy Fehler machen müssen.

"Ich könnte Stunden darüber reden, was alles bei einem Softwareprojekt daneben gehen kann. Erinnerst du dich noch an deinen Geschichtsunterricht, in der Schule? Ihr habt doch bestimmt vom Untergang der Stadt New-Aberystwyth gehört, im späten einundzwanzigsten Jahrhundert, in der Saturnumlaufbahn? Zwei Städte, jeweils etwa zwei Kilometer im Durchmesser und fast fünfzehn Kilometer lang, haben rotierend aneinander gedockt, so, wie es heute schon lange Routine ist. Damals waren das die größten Städte dieser Art, die man bauen konnte. Man mußte mechanische Instabilitäten dieser Konfiguration numerisch ausgleichen, durch einen Rechnerverbund. Es sind andere mechanische Instabilitäten als im Falle unserer Stadt, die da Schwierigkeiten machen, aber es ist dasselbe Prinzip. Es gab plötzlich eine Regelschwingung, die sich immer weiter aufschaukelte, bis eine der Städte zerbrach und die andere schwer beschädigt wurde. Es hat mehrere Millionen Tote gegeben.

"Weißt du, woran es damals gelegen hat? Zwei Rechner, die untereinander verbunden waren, benutzen ein geringfügig unterschiedliches Format der Zahlendarstellung. Der eine verwendete intern zur Darstellung negativer Zahlen noch das antiquierte Einerkomplement. Und was soll ich dir sagen: Während des ganzen Projektes ist das keinem Menschen aufgefallen!"

Paul ist richtig in Fahrt. Er geht energisch auf und ab, während er redet. Ich habe den Eindruck, daß er nicht das erste Mal über die Zuverlässigkeit von Software redet - er redet ja fast druckreif.

"Jedenfalls ist das die heutige Erklärung. Die beste, die man hat. Bei dem Unglück sind viele Unterlagen zerstört worden, und auch einige der beteiligten Mitarbeiter waren unter den Opfern. Die Aufklärung war sehr schwierig. Man hatte in den Zeiten ja noch genug zu tun, sich überhaupt eine funktionsfähige Lebenssphäre im Weltraum zu schaffen."

"Das interessiert mich jetzt alles nicht," sagte ich, "Frage: Wird sich das, was wir eben erlebt haben, wiederholen?"

Wenn Paul eingeschnappt war, dann ließ er es sich wenigstens nicht anmerken.

"Nein. Wenn wir nicht noch einmal eine so enge Kurve zu fahren versuchen."

"Wird etwas anderes dieser Art passieren?"

"Was genau?"

"Weiß ich nicht. Irgendeine böse Überraschung dieser Art, die durch den Stadtrechner verursacht wird."

"Mit Sicherheit kann man sowas natürlich nie sagen, gerade bei dem Zustand, in dem das System jetzt ist. Ich würde vermuten, daß, wenn sich die Fahrtparameter nicht weiter ändern, der Rechner für alle Zeit so weiterarbeiten würde wie er es jetzt tut. Allerdings - die Fahrtparameter ändern sich ja, wenn die Sache in Sektor C7 wirklich so schlimm ist."

"Sie ist so schlimm. Ich werde die Stadt an der Küste Jütlands auf den Strand setzen. Ich hoffe, daß wir die zweitausend Kilometer noch schaffen."

Paul zeigt Betroffenheit: "Was? Die Stadt abwracken? Und so bald schon? Ist das mit Cammaroto abgesprochen?"

"Wir haben vor dem Zwischenfall heute nacht drüber gesprochen, als Möglichkeit. Als eine der verbleibenden Optionen, wenn sonst nichts mehr zu machen ist. Ich bin sicher, er wird sich meiner Ansicht anschließen."

"Aber - " Paul schien mit dem Plan überhaupt nicht einverstanden "aber wir sitzen doch zu hunderten an dem Problem. Vielleicht finden wir doch noch eine Möglichkeit!"

"Zu Hunderten? Wo haben Sie denn - äh - wo hast du denn diese vielen Mitarbeiter gefunden?"

"Nicht hier. Ich habe Kanäle zu den Außenwelten geschaltet. Fast jeder, der am System mitgearbeitet hat, sitzt dran. Allerdings ist es etwas schwierig, wenn diese Mitarbeiter direkt bei uns im Speicher des Stadtcomputers rumwühlen wollen. Die Mitarbeiter in den Saturnstädten haben zum Beispiel unter einer Signallaufzeit von einer Stunde zu leiden - für eine Strecke. Die Lichtgeschwindigkeit ist für unsere Kommunikation viel zu langsam."

Daran hatte ich noch nicht gedacht. Paul hat doch gute Ideen.

"Ist schon was dabei rausgekommen?"

"Nein. Ausgenommen eine Anfrage vom Direktorium der Betreibergesellschaft der Stadt. Sie wollen wissen, was eigentlich los ist. Die vielen Programmierer, die sich jetzt mit dem Problem beschäftigen, kosten ganz schön."

"Typisch. Erst, wenn es um Geld geht, werden sie wach. Paul, wenn sie nachfragen, sage, daß ich es angeordnet habe. Ich nehm's auf meine Kappe. Vielleicht schwimmt diese Kappe bald kieloben. Dann ist es auch egal."

Einen Moment Schweigen. Draußen, weit weg und schwach, brüllt der Wind.

"Wieso ist denn sonst niemand hier?" fragt Paul.

"Die meisten arbeiten im Sektor C7. Nur in der Leitwarte und hier im Turm passen ein paar auf. Nur hier kann man aus erster Hand erfahren, wenn der Rechner sich wieder eine neue Scheiße ausdenkt. - Der Rest der Stadt schläft."

"Die Glücklichen."

Hoffentlich hat er die Bemerkung über den Rechner nicht als Vorwurf aufgefaßt. Ich bin zwar in der Stimmung, die gesamte Branche der Softwerker zu verdammen, oder besser noch, unter der Stadt kielholen zu lassen, aber Paul würde ich ganz gerne ausnehmen.

Nach einer langen Pause fährt Paul mit seinen Erläuterungen fort, während er versucht, die nächtliche Schwärze draußen vor den dicken Fenstern des Turmes mit seinen Blicken zu durchbohren:

"Ich mache diesen Job ja nicht erst seit gestern. In meiner ganzen beruflichen Laufbahn, erst als Compilerbauer, dann bei der Mitarbeit an diesem Stadtsteuerprogramm, habe ich immer und überall ganz genau dasselbe erlebt. Das Projekt ist immer zu kompliziert, das Geld und die Maschinenausrüstung und ganz besonders die Zeit zu knapp, das Management immer unwissend, sowohl was das fachliche als auch das geistige Arbeiten an sich angeht. Glaub mir, Joycelyn, es ist immer und überall dasselbe. Manager können Mannstunden und Programmzeilen addieren, wir, die wir die wirkliche Arbeit machen, können nicht einmal über die Aufstellung der Terminals in den Büros mitentscheiden. Wie soll da Effektivität zustande kommen? - Programme wachsen, werden immer komplizierter, sogar komplizierter als unbedingt nötig. Die Programmentropie wächst unaufhaltsam, während eines Softwareprojektes."

"Die was?"

"Die Programmentropie. Ein Maß dafür, wie überflüssig kompliziert ein Programm ist, verglichen mit der minimalen Komplexität, die es für eine Aufgabenstellung gerade eben haben müßte. - Das ist ein Versuch, den Entropiebegriff aus der Physik in die Informatik herüberzuretten: Man denkt sich zu einem gegebenen Programm alle anderen Programme aufgeschrieben, die ganz genau dasselbe tun aber höchstens genauso oder weniger kompliziert sind. Das ist notwendigerweise eine subjektive Einschätzung, aber im Software-Engineering ist ja fast alles subjektiv. Diese Programme durchgezählt und, weil es so viele sind, davon den Logarithmus genommen, das gibt eine Zahl. Und die nennt man die Programmentropie."

"Das verstehe ich nicht ganz."

"Stell dir vor, daß du für irgendeine Anwendung tatsächlich das allereinfachste Programm geschrieben hast. Dann gibt es nur ein Programm, nämlich eben dieses, was so kompliziert ist oder weniger kompliziert wie das Programm, von dem die Rede ist. Anzahl dieser Programme also eins, Logarithmus davon ist Null."

"Und das ist gut?"

"Genau. Jedes kompliziertere Programm, also eines mit einer größeren Entropie als Null, hätte zu seiner Erstellung mehr Arbeit erfordert und wird wahrscheinlich mehr Fehler enthalten. Oder jemand, der es lesen und verändern muß, fragt sich, wieso etwas komplizierter als nötig formuliert worden ist und verbraucht deshalb mehr Zeit für seine Aufgabe. Er macht auch leichter neue Fehler. Da gibt es empirische Formeln, die den Zusammenhang mit der Programmentropie beschreiben. Und, darauf will ich hinaus: Ein so großes Programm wie das System im Stadtrechner hat immer eine sehr hohe Entropie. Muß es haben, weil es ja nicht in nur einem einzigen Kopf entstand. Und jedesmal, wenn man etwas an diesem Programm verändert oder verbessert, dann wächst die Entropie weiter. Deshalb nennen wir das auch 'verschlimmbessern'."

"Das alles ist sehr interessant," sage ich, "Aber ich sehe nicht, was uns das jetzt nützt."

"Nichts nützt es uns. Was ich sagen will ist, man sollte sich vielleicht nicht zu sehr auf das geplante Funktionieren des Systems im Stadtrechner verlassen, jetzt, wo es angefangen hat, etwas anderes zu tun als das, was ursprünglich vom Hersteller beabsichtigt wurde! - Keiner weiß, was geschehen kann. Sagen wir einmal so: Wenn wir statt dessen dort nur ein einfaches Programm hätten, daß Zufallszahlen erzeugt, dann könnte man genauer voraussagen, was in den nächsten Stunden passieren wird."

Das Visiophon plärt auf und unterbricht die Unterhaltung. Der junge Mann von vorhin ist dran.

"Sehen Sie sich die Leistungswerte des Reaktors R-480-C7 an! Er fährt runter!"

"Ist das der in ..." fragt Paul von der Seite.

"Genau der." Und zum Visiophon: "Danke. Wir haben es schon erwartet. Ist der Chef zugegen?"

"Nein. Over." Das Visiophon verblaßt.

"Also warten wir?" fragt Paul.

"Ich? Ja. Du - nein. Ich habe dich wieder aus dem Bett getrommelt. Das war ja vielleicht nicht notwendig. Eigentlich ist Rodrigo's Platz hier, wenn schon zwei da sein müssen. Du solltest runtergehen. Wenn du unausgeschlafen bist, dann kannst du nicht arbeiten. Das kann ich nicht verantworten. Ich mache hier oben ja nur einen dummen Managerjob und zähle die Stunden bis zur Strandung. Reine Routine. Das können Manager ja. Ich darf müde sein. Also bleibe ich noch länger wach."

Paul steht eine Weile da, als ob er noch etwas sagen will. Dann geht er mit plötzlichem Schritt zur Tür. Dort bleibt er noch einmal stehen.

"Jütland?" fragt er.

"Ja."

"Noch 2000 Kilometer?"

"Ungefähr."

"Also Mittwoch morgens. Naja. Glaube kaum, daß es in der morgigen Nacht keine Unterbrechungen gibt. Du kannst mich jederzeit ..."

"Schon gut."

"Du kannst wirklich ..."

"Ab in die Falle!"

Das läßt er sich nicht zweimal sagen. Schon ist er weg.

Ich komme mir überflüssig vor. Was muß noch getan werden, was muß ich jetzt noch organisieren, wenn niemand sonst daran gedacht hat?

Gezeitentabellen. Natürlich sollten wir bei Hochwasser auf einem Strand aufsetzen, wenn wir das schon tun müssen. Solche Navigationsaufgaben würde normalerweise der Stadtrechner erledigen, aber selbst, wenn er störungsfrei funktionieren würde, dann wären absichtliche Strandungen und die Optimierung der Bedingungen, unter denen sie stattfinden sollen, wohl kaum als Manöveralternativen vorgesehen gewesen.

Verpflegung, Feldausrüstung. Wer immer an Land gelangt muß irgendwovon leben. Haben wir genug kleine Boote? Die Wasserflugzeuge, das könnte gehen. Oder eine provisorische Brücke. Mehr als eine Million Menschen im Gänsemarsch, das dauert lange. Viel zu lange.

Dann, vorher noch, müssen die Stadtbewohner sich dort aufhalten, wo der Ruck des Auflaufens der Stadt ihnen am wenigsten schaden kann, auch, wenn derselbe bei 36 Stundenkilometer nicht sehr groß ist. Wahrscheinlich müssen alle in den Wald rauf. Bäume sind elastisch und werden von dem Strandungsstoß kaum umfallen. Innerhalb des Stadtrumpfes kann es große mechanische Verformungen und Inneinanderschiebungen von tragenden Strukturen geben. Keiner weiß, welche Gebiete davon am meisten betroffen sein werden. An einem Ort wird man fast nichts von dem Aufprall merken, ein paar hundert Meter weiter schieben sich Gänge und Hallen wie Ziehharmonikas zusammen. Nein. Wenn es so weit ist, müssen alle rauf.

Wer hilft denen, die sich nicht selbst helfen können? Die Krankenhäuser, die Intensivstationen. Behinderte. Mir fällt die Straub ein. Lassen wir die hoffnungslosen Fälle zurück? Wer entscheidet das? Wer entscheidet, wer ein hoffnungsloser Fall ist?

Vorher noch, der Kampf um Sektor C7. Der wird sich ausweiten. Gehen da Signalleitungen durch, die gefährdet sind? Wenn die Leistungssteuerung des Vortriebes des rückwärtigen Teils der Stadt vom Rest der Stadt getrennt wird, dann kann leicht die Stadt in zwei Teile zerreißen. Sollte man alle Bewohner aus dem hinteren Teil der Stadt nach vorne bringen? Das muß jedenfalls auch geprüft werden. Ich fange an, mir Notizen zu machen. Man hätte mit dem Nachdenken für alle Eventualitäten eigentlich schon früher beginnen sollen.

Draußen blinkt ein Licht auf, ganz kurz. Der abnehmende Mond in einer Wolkenlücke. Vielleicht klart das Wetter auf. Was immer das nützen mag.

Noch ein Punkt: Wie sehr hat sich die Geographie der Küstenstriche der Länder um die Nordsee geändert? Schließlich, mit der aufgegebenen Nutzung des Planeten durch den Menschen entfallen auch alle Küstenschutzmaßnahmen. Wenn eine Sturmflut dem Meer einhundert Quadratkilometer Land zurückholen will - niemand wird sie daran hindern. Und niemand weiß, wo sich neue Untiefen gebildet haben könnten. Es wäre peinlich, schon fünfzig Kilometer vor der Küste auf Grund zu laufen.

Das Visiophon meldet sich. Es ist wieder der junge Mann, der es vorhin so eilig mit dem Abschalten hatte.

"Frau Pemberton?"

"Ja?"

"Der Reaktor R-480-C7 hat sich stabilisiert und wieder seine volle Leistung erreicht - eher noch etwas mehr."

"Danke Herr ..."

"Michelson."

"Herr Michelson. Wie sieht es sonst aus?"

"Alles stabil, bis auf Sektor C7. Es scheinen neue Schäden in den angrenzenden Sektoren aufzutreten, und manche Betonwände sind alles andere als dicht. Die Ausbreitung scheint langsam. Die Kollegen vor Ort sind aber sehr sparsam mit ihren Kommentaren."

"Gut. Danke. Die haben genug zu tun." Diesmal schalte ich das Visiophon ab.

Mit anderen Worten: Die Zerstörung in Sektor C7 frißt sich fort wie ein Krebsgeschwür. Wahrscheinlich kann der Herr Michelson deshalb so ruhig sein, weil er es erstens nicht selbst zu Gesicht bekommt, weil er nicht genügend Phantasie hat, und weil recht wenige Meldungen hereinkommen. Und das wiederum liegt daran, daß so wenige Leute vor Ort sind.

Der Reaktor hat also wieder seine volle Leistung, eher noch etwas mehr. Komisch. Woran mag das liegen? Bei den zu erwartenden Störfällen eines Fleischmann-Pons-Reaktors, der in zu intensiven Kontakt mit Seewasser gerät, sollte man eigentlich erwarten, daß seine Leistung kontinuierlich abnimmt. Es sei denn, daß ... in meinem Innern schrillt eine Alarmklingel. Ich hechte zum Visiophon.

"Ja?" fragt ein verblüffter Herr Michelson.

"Wie ist der Reaktor jetzt, leistungsmässig?"

"Leistung steigt weiter. Wahrscheinlich wegen erhöhtem lokalem Strömungswiderstand am Stadtboden. Das ist ..."

"Nein," schreie ich, "Lassen sie den Sektor C7 evakuieren, hören Sie? Sie haben doch Verbindung!"

"Was?"

"Hören Sie nicht, was ich gesagt habe? Lassen Sie C7 ganz räumen!"

Michelson strafft sich: "Wenn Sie meinen, daß ein F-P-Reaktor durchgehen kann, dann muß ich Sie darüber informieren, daß so etwas nicht möglich ist. Bei einem Fleischm -"

Ich spüre den Ärger in mir aufsteigen. Warum haben manche Leute denn sowenig technische Phantasie? Natürlich kann ein Fleischmann-Pons-Reaktor nicht in eine thermonukleare Detonation übergehen, oder in eine Art Kettenreaktion. Aber es gibt noch andere spektakuläre Wege der Fehlfunktion.

"Haben Sie schon mal mit einem Dampfdruckkochtopf etwas zubereitet? Nein? Das sollten Sie mal. Benachrichtigen Sie die Einsatzgruppen, daß sie sich aus der Nähe des Reaktors zurückziehen sollen! Später erkläre ich Ihnen mal etwas über Reaktorbau!"

Ungläubig blendet Michelson das Visiophon aus. Ich versuche, Cammaroto zu erreichen, aber es gelingt nicht. Vielleicht ist er auch im Sektor C7. Dann könnte ich versuchen, mich vom Stadtrechner über den Zustand des Reaktors in C7 informieren zu lassen. Aber da ich das noch nie gemacht habe - es war ja bisher nie notwendig, diese Statusinformationen abzurufen - lasse ich lieber die Finger davon. Ich müßte erst Manuale wälzen, um herauszukriegen, ob und wie das System mir verrät, was ich wissen will. Und außerdem: Weiß ich denn, ob eine selten genutzte Abfrage das System nicht völlig in die Software-Paralyse führt? Bloß jetzt nichts Schwieriges vom Stadtrechner verlangen! Man kommt sich vor, als müßte man ein fähiges, aber jähzorniges Kind bei Laune halten.

Minuten vergehen träge. Niemand von den Einsatzgruppen im Sektor C7 ruft an, um nachzufragen, was ich mit dem Rückruf bezwecke.

Bald muß der Morgen grauen. Ich überlege mir, welche Gründe der Leistungsanstieg in dem Reaktor in C7 haben könnte, und ob eine wirkliche Gefahr besteht. Ein bißchen was weiß ich ja über die F-P-Reaktoren.



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite

Sie sind Leserin dieser Seite Nummer


This page hosted by GeoCities Get your own Free Home Page